Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1a bis 1c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2000
– Drucksache 14/1400 –
Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Finanzplan des Bundes 1999 bis 2003
– Drucksache 14/1401 –
Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Sanierung des
Bundeshaushalts – Haushaltssanierungsgesetz
– Drucksache 14/1523 –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Am 23. Juni hat das Kabinett das Zukunftspro-gramm 2000 beschlossen. Es besteht aus dem Haushalt2000, der mittelfristigen Finanzplanung, den Eckpunk-ten zur Familienförderung, den Eckpunkten zur Öko-steuerreform und den Eckpunkten zur Unternehmen-steuerreform. Zum Gesamtkonzept der Politik dieserRegierung für diese Wahlperiode gehören aber auchdas bereits in Kraft getretene Steuerentlastungsgesetz1999/2000/2002 und die Projekte der Rentenstrukturre-form sowie der Gesundheitsstrukturreform.Jetzt geht es um die Umsetzung des Zukunftspro-gramms. In der vergangenen Woche haben wir die Steu-ergesetze in erster Lesung diskutiert: das Familienförde-rungsgesetz, das Ökosteuergesetz und das Steuerberei-nigungsgesetz. Die weiteren werden folgen. Heute dis-kutieren wir in erster Lesung den Haushalt 2000 und dasHaushaltssanierungsgesetz.Meine Damen und Herren, welche Ausgangslage ha-ben wir vorgefunden? 1,5 Billionen DM Schulden desBundes.
– Ja, meine Damen und Herren, Sie können es nicht hö-ren, man muß es aber immer wieder sagen.
Ich bin heute übrigens gar nicht auf Krawall aus –
damit wir uns da gar nicht mißverstehen –, aber ich mußes sagen.
– Sie brauchen gar nicht unruhig zu werden.
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4650 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Ich stelle übrigens eines fest: Bei allen diesen Gele-genheiten gibt es die verschiedensten Arten, dem Themaauszuweichen. Was da alles an Debatten rechts und linksdaneben geführt wird, nur damit man nicht das zentraleThema diskutieren muß, ist schon verwunderlich.
Wir alle werden aber, und zwar im Interesse des Landes,an diesem Thema nicht vorbeikommen. Denn es gehtnicht nur darum, daß der Bundestag und in der zweitenPhase auch der Bundesrat Entscheidungen treffen. Beidem, was wir vor uns haben, geht es vielmehr darum –da spreche ich als Sozialdemokrat; ich meine das sehrernst, aus der sehr leidvollen Erfahrung der letztenWahlniederlagen –,
daß die Menschen im Lande verstehen, was wirklich losist und warum wir diese Maßnahmen ergreifen müssen.
Deswegen ist eines noch wichtiger: Wir alle kennenden Sachverhalt – ob wir ihn auch wahrhaben wollenund ob wir alle bereit sind, das in unsere politischenKonzeptionen einzubauen, sind ganz andere Fragen –,aber noch längst nicht alle Menschen im Lande kennenihn. Wir müssen also noch viel mehr mit den Menschenreden, um zu zeigen, daß das der Zukunftsweg ist unddaß auch manche bittere Pille geschluckt werden muß,damit wir die Zukunft gewinnen.
Es gibt also 1,5 Billionen DM Schulden, oder andersgesagt: Die Verschuldung ist mehr als dreimal so hochwie das Haushaltsvolumen des Bundes.Es ist ganz wichtig, daß das alle lernen, weil es inDeutschland nur eine einzige Gebietskörperschaft gibt,die noch schlechter dasteht als der Bund: Das ist dasHaushaltsnotlagenland Bremen. Ich weise in Diskussio-nen mit Landespolitikern und Kommunalpolitikern auchmeiner eigenen Partei immer wieder darauf hin – das istja nicht so einfach klarzumachen –: Überlegt euch bittenur einen Augenblick, wie der Haushalt in eurem Landund in eurer Kommune aussieht. Wenn ihr ihn mit demHaushalt des Bundes vergleicht, dann werdet ihr fest-stellen, daß niemand einen so schlechten Haushalt wieder Bund hat, mit Ausnahme von Bremen. Der Bund, fürden die Kriterien des Bundesverfassungsgerichtsurteilsfür eine Haushaltsnotlage ebenfalls gelten, hilft Bremenund dem Saarland allein, während die anderen Länder –ich habe mich als Ministerpräsident des Landes Hessenauch darüber gefreut, keine Zahlungen leisten zu müssen– mit den Händen tief in den Taschen dastehen. Dasmuß klar werden.Nun sage ich – nicht weil ich Krawall machenmöchte, sondern weil wir eine riesige Aufgabe vor unshaben, die wir alle bewältigen müssen –: Der größte Teilvon den 1,5 Billionen DM, nämlich 900 Millionen DM –der Hinweis darauf war immer richtig; ich habe ihn niebestritten; ich habe sogar selber darauf hingewiesen –,ist Folge der Finanzierung der deutschen Einheit. HerrKollege Waigel hat darauf kürzlich in einem Interviewhingewiesen. Das ist richtig. Ich habe das zu jeder Zeitan dieser Stelle, wenn ich über dieses Thema geredethabe, auch zugegeben.
– Nein, wissen Sie, es ist noch etwas anders; seien Sievorsichtig.Ich habe mich über das Interview des Kollegen Wai-gel – sofern ich es richtig verstanden habe – sehr wohlgefreut. Er hat nämlich gesagt: Eigentlich haben wir ge-dacht, wir könnten die Kosten der deutschen Einheit auflängere Zeit über Generationen verteilen. Wenn Sie1990 – deshalb rate ich uns allen, mit so harten Begrif-fen wie „Betrug“, die im Wahlkampf gefallen sind, ganzvorsichtig umzugehen – nicht gesagt hätten, die deut-sche Einheit koste uns nichts,
sondern den Unterschied klargemacht hätten, daß dieeinen die Kosten gleich bezahlen wollten, während dieanderen das der nächsten Generation überlassen wollten,dann hätte dies zu einem redlichen Wahlkampf 1990 ge-führt. Deswegen sollte man vorsichtig sein.
Die 1,5 Billionen Schulden haben unmittelbare Kon-sequenzen für das, was wir uns noch leisten können.Diese Schulden bedeuten 82 Milliarden DM Zinsen indiesem Jahr, Tendenz steigend. Übrigens sage ich immerwieder: Man führt hier einen Mehrfrontenkrieg. Werjetzt nicht eingreift, der wird, wenn er den Weg derweiteren Staatsverschuldung geht, vielleicht erleben, daßdann auch noch die Zinsen zusätzlich steigen. Ichmöchte mir bei der momentan hohen Staatsverschuldungnicht auch noch steigende Zinsen vorstellen müssen. Ichmöchte alles dafür tun, daß die Zinsen im Eurolandniedrig bleiben.
82 Milliarden DM an Zinszahlungen sind der zweit-größte Ausgabeposten im Bundeshaushalt. Das gibt es inkeinem anderen Haushalt. Das heißt, Bewegungsfreiheitist praktisch nicht mehr vorhanden. Das heißt auch, daßder Bürger für 100 DM Steuern, die er zahlt, nur nochLeistungen im Wert von 78 DM erhält. Das ist eineGrundlage für Staatsverdrossenheit. Nicht weil dieStaatsdiener faul wären, sondern weil so viel Geld fürdie Zinsen abgezweigt werden muß, erhalten die Bürgerihre Leistungen nicht. Das macht sie verdrossen. Das istkein gutes Omen für das Verhältnis zwischen Bürgernund Staat.
Bundesminister Hans Eichel
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Wir sind nicht mehr in der Lage, einen verfassungs-gemäßen Haushalt aufzustellen. Wir brauchen jedesJahr 80 bis 85 Milliarden DM für die Zinszahlungen.Diese Summe übersteigt die diesjährigen Investitionenum mehr als die Hälfte. Das ist die Lage. Diese Lagehaben Sie in den letzten Jahren durch einen verfas-sungswidrigen Haushalt im Vollzug ignoriert, übrigensnicht nur beim Bund. Das war für mich Grund – ichweiß ja, daß auch die Situation in den Länderhaushaltennicht gut ist; das bestreite ich gar nicht –, zu sagen: EineSteuerreform mit so riesigen Einnahmeausfällen, wie Siesie konzipiert hatten, verkraften weder der Bundeshaus-halt noch die Länderhaushalte. Eine solche Steuerreformkann man den Menschen nicht verkaufen – vielleicht imWahlkampf; aber sie ist keine verantwortliche Politik.Deswegen mußten wir eingreifen.
Wer will sich eigentlich vorstellen, daß ausgerechnetDeutschland, die größte Volkswirtschaft Europas, er-klärt, es könne den Stabilitäts- und Wachstumspakt nichteinhalten? Als die Italiener eine solche Erklärung abge-geben haben, war das Drama schon groß genug. Daskann sich die Leitwirtschaft in Europa auf gar keinenFall leisten.
Deswegen müssen wir eingreifen. Der gegenwärtige Zu-stand ist auch nicht mehr durch Privatisierungserlöse zuvertuschen. Ich kann verstehen, daß man versucht hat,über das Wahljahr hinwegzukommen. Aber danach wäreSchluß gewesen. Im übrigen – das muß man denjenigensagen, die immer nur über die jetzt anstehenden Fragendiskutieren – ist die Überschuldung des Staates diegrößte Umverteilung von unten nach oben und die unso-zialste Politik.
Sie alle kennen doch die Situation, die wir vorgefun-den haben: Der Normalverdiener, der praktisch seinganzes Einkommen zum Leben brauchte, mußte diemeisten Steuern zahlen. Von den vielen Vergünstigun-gen des Steuersystems, die im Laufe der Zeit massivüberhand genommen hatten, konnte er gar keinen Ge-brauch machen. Ein ähnliches Problem hatten auch diekleinen und mittleren Unternehmen. Sie haben gezahlt.Es liegt doch auf der Hand, daß das Geld, das zu denBanken getragen wird, nicht gerade bei den Sozialhilfe-empfängern und bei den Menschen ankommt, die ihrganzes Geld zum Leben brauchen und keine Geldanla-gen vornehmen können. Deswegen muß mit einer Poli-tik des Marsches in die Staatsverschuldung aus sozialenGründen Schluß gemacht werden.
Der Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts liegthinter uns. Die Bundesregierung will keinen handlungs-unfähigen Staat. Wer einen handlungsfähigen Staat will,wer will, daß der Staat die Schutzmacht der kleinenLeute ist, wenn sie seine Hilfe brauchen, der muß ihmaber auch die Kraft dazu geben. Daran fehlt es heute.
Daß unsere Kinder für das Steuern zahlen, was wir anSchulden gemacht haben, ist nicht unsere Vorstellungvon der Zukunft unserer Kinder. Deswegen müssen wirdie Konsequenzen ziehen. Unserer Kinder wegen, dersozialen Gerechtigkeit heute wegen und der Handlungs-fähigkeit des Staates heute und in Zukunft wegen müs-sen wir heraus aus der Schuldenfalle. Dies geschiehtsehr konkret und sehr praktisch. Es führt kein Weg aneiner konsequenten Haushaltskonsolidierung vorbei.Im Haushalt 2000 machen wir den Anfang. Was vorvier Monaten noch kaum jemand für möglich gehaltenhat, das haben wir geschafft. Wir legen einen Haushaltfür das kommende Jahr vor, in dem wir in einer gemein-samen Kraftanstrengung Einsparungen in Höhe von30 Milliarden DM erzielt haben. Ich sage Ihnen gleich:Die globalen Minderausgaben mit Ausnahme der Effi-zienzrenditen, die auch in Ihrem letzten Haushalt ent-halten waren, werden alle in der parlamentarischen Be-ratung noch belegt werden. Sie können sich diesen Ein-wand sparen.
Mit dem Haushalt 2000 schaffen wir die Umkehr inder Finanzpolitik. Sie haben in der Finanzpolitik 16 Jah-re lang mehr Geld ausgegeben, als Sie eingenommenhaben. Ein Leben über seine Verhältnisse kann als Dau-ereinrichtung überhaupt nicht funktionieren.
Wir haben den Bürgern reinen Wein über denschlimmen Zustand der Staatsfinanzen eingeschenkt unddie Konsequenzen gezogen. Wir betreiben eine verant-wortungsvolle Haushaltspolitik, die in eine umfassendefinanz-, wirtschafts- und sozialpolitische Konzeptioneingebettet ist. Der Haushalt 2000 steht für eine ehrlicheBestandsaufnahme der finanziellen Situation des Bun-des. Der Haushalt 2000 steht – ich sage das mit allerVorsicht – genauso für den Beginn der Rückgewinnungder Zukunftsfähigkeit; denn es ist nicht mit einem ein-maligen Kraftakt getan. Nur mit einer konsequentenPolitik der Ausgabendisziplin, die Ausgaben langsamerals die Einnahmen steigen zu lassen, kommen wir ausder Schuldenfalle heraus. Nur so!
Der Haushalt 2000 steht für eine Politik, die den Bür-gern zwar etwas abverlangt – manchmal auch nicht we-nig –, die ihnen aber auch etwas gibt: soziale Gerechtig-keit und soziale Sicherheit auch in Zukunft, Generatio-nengerechtigkeit, vor allem aber die Voraussetzungenfür eine konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.Es ist ein Irrglaube, zu meinen, die Bürgerinnen undBürger unseres Landes seien zum Sparen nicht bereit.Das Gegenteil ist der Fall; alle Meinungsumfragen zei-gen das. Ich spüre auch bei jedem Gespräch, das ich füh-Bundesminister Hans Eichel
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re, nicht nur Zustimmung, aber doch ein erheblichesMaß an Bereitschaft zum Sparen. Viele Menschenkommen täglich auf mich zu – das gilt auch für Unbe-kannte – und sagen: Das finden wir richtig; halten Siedurch; machen Sie so weiter; diesen Weg muß die Re-gierung gehen.
Das gilt übrigens auch für viele Ihrer Anhänger. Täu-schen Sie sich da nicht!
Daß das großen Gesprächsbedarf auslöst, das habenuns die Wahlergebnisse gezeigt, wobei ich übrigensnicht glaube, daß es allein daran liegt; aber darüber willich jetzt nicht philosophieren. Das gilt auch für all jeneLänder – gestern abend konnten Sie einen Film überSchweden sehen –, in denen die Konsequenzen gezogenworden sind. Am Anfang war dies politisch nicht ein-fach; aber der Erfolg hat sich eingestellt, meine Damenund Herren; das können wir bei unseren europäischenNachbarn beobachten. Ich rate sehr dazu, über den deut-schen Gartenzaun hinwegzusehen und zur Kenntnis zunehmen, was unsere Nachbarn tun.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Op-position, ich glaube, auch Sie wollen, wie die überwie-gende Mehrheit der Bevölkerung, das Ziel der Bundes-regierung nicht ernsthaft in Frage stellen, so bald wiemöglich einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.Auch Sie wissen ganz genau, daß es zu unserem Kurseiner konsequenten Haushaltssanierung keine wirklicheAlternative gibt.
Das ist nicht Rechthaberei, wie uns jetzt gelegentlich dereine oder andere vorwirft. Man kann doch nicht dieschlichten Fakten ignorieren.
Man kann sich natürlich in jedem einzelnen Fall Alter-nativen vorstellen. Ob sie schöner als das sind, was wirvorgeschlagen haben, mag die Debatte ja zeigen. Aberzu dem grundsätzlichen Kurs „Raus aus der Schulden-falle“ gibt es wirklich keine Alternative, jedenfalls keinevernünftige.
Was Sie bisher an Kritik vorgebracht haben, ist fürmich deshalb erst einmal nicht mehr als Wahlkampfge-plänkel – das wird noch ein bißchen andauern; aber dannsind die Auseinandersetzungen für diesen Herbst zu-mindest vorbei –, das nur das Ziel hat, die Bürgerinnenund Bürger in unserem Lande zu verunsichern. Wie mansieht, ist das im Moment ja nicht so ganz erfolglos.
Ernstzunehmende Anregungen habe ich jedenfallsvon Ihrer Seite nicht vernommen, aber das kann sich ja –das hoffe ich – noch ändern. Ich lade Sie ein, konstruk-tive Arbeit zu leisten und mit uns zusammen auf der Ba-sis unseres Konzeptes Lösungen zu suchen. Ansonstensollten Sie wenigstens einen eigenen Vorschlag vorle-gen. Sie sind jetzt gefordert und müssen entscheiden, obSie als Opposition an der Gestaltung der Zukunft unse-res Landes teilhaben wollen
oder ob Sie, wie das in der Zeit Ihrer Regierungsverant-wortung war, angesichts der riesigen Staatsverschuldungeinfach weiterhin den Kopf in den Sand stecken wollen.
Ich habe übrigens das „Spiegel“-Interview in dieserWoche, Herr Kollege Schäuble, wenn es dabei bleibt, soverstanden, daß Sie durchaus bereit sind, konstruktivmitzuarbeiten.
Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, daß HerrKollege Biedenkopf sich schon vor seiner Wahl öffent-lich zur Richtigkeit des Kurses der Bundesregierung be-kannt hat.
Ich habe mit großer Freude zur Kenntnis genommen,daß Herr Kollege Vogel, allerdings erst am Tag nach derWahl, sich zur Richtigkeit dieses Kurses bekannt undgesagt hat, in Thüringen müsse man jetzt genau das ma-chen, was der Bund macht. Das war am Tag nach derWahl; aber Erkenntnisse dieser Art kommen ja nie zuspät.
Auch die Gespräche, die wir nicht für die Öffentlich-keit führen, zeigen mir – das muß übrigens im föderalenStaat auch so sein; er steht jetzt nämlich vor seiner Be-währungsprobe –, daß es eine gemeinsame Vorstellungdavon gibt – ich hoffe, daß sich das dann auch in ge-meinsamen Entscheidungen wiederspiegelt –, was imföderalen Staat die Aufgaben des Staates insgesamt, dieAufgaben der verschiedenen Ebenen und die notwendi-ge Finanzausstattung dafür sind; anderenfalls hätte ich inder Tat Angst um die Konkurrenzfähigkeit des föderati-ven Systems der Bundesrepublik Deutschland im Rah-men der Europäischen Union. Wir müssen beweisen,daß der Föderalismus auch in einer solchen Frage zu-kunftsfähig ist und nicht der Zentralstaat in Europa dasRennen vor dem Föderalstaat macht.
Ich glaube allerdings, daß eine Äußerung, die ich ge-hört habe und die etwa lautete, das Sparpaket werdeimmer kleiner, wenn die SPD jetzt noch ordentlichWahlen verliere – ich möchte den Kollegen, der das ge-sagt hat, nicht zitieren, weil ich kein Öl ins Feuer gießenmöchte –, nicht die richtige Einstellung zu dem Themazeigt, die wir brauchen.Bundesminister Hans Eichel
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4653
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Wir jedenfalls stellen uns mit unserem Zukunftspro-gramm der Verantwortung. Wir werden dafür sorgen,daß der Bundeshaushalt saniert wird. Natürlich, keinerspart gerne, und Politiker – das ist schon so im Kampfum die Gunst der Wähler – geben lieber, als daß sienehmen. Aber davon lassen wir uns nicht leiten undkönnen wir uns auch angesichts der tatsächlichen Ver-hältnisse nicht leiten lassen. Wir müssen die Zukunfts-fähigkeit unseres Landes im Auge haben. Wir müssenalle die bittere Medizin eines konsequenten Konsolidie-rungskurses schlucken, die für die Heilung unabdingbarist. Deswegen bleiben wir auf unserem Weg. Das heißtnicht, daß nicht einzelne Punkte kritisch hinterfragt wer-den können und sollen. Aber wer bestimmte Maßnah-men nicht will, kann nicht den bequemen Ausweg wäh-len, einfach zu sagen: Das nicht. Er muß auch sagen,was an dessen Stelle treten soll. Das Durchmogeln unddas einfache Verneinen hat keine Zukunft.
Der Schuldenstand des Bundes hat sich in den letzten16 Jahren verfünffacht, von rund 300 Milliarden DM in1982 auf 1,5 Billionen DM.Übrigens, weiß ich nicht, was Ihnen noch alles ein-fällt; jetzt war es angeblich Helmut Schmidt. Ich habeheute einen entsprechenden Kommentar in der Zeitunggelesen. Ich glaube, Herr Kollege Kolbe hat das gesagt.Das ist so ungefähr das Abwegigste, aber es zeigt IhreNot, wie Sie um die 1,5 Billionen DM herumkommenwollen. Aber Sie kommen nicht darum herum. StellenSie sich ihnen!
Ich habe darauf hingewiesen, daß die Zinszahlungenbereits der zweitgrößte Etatposten nach dem Sozial-haushalt sind. Ohne die beschlossenen Konsolidie-rungsmaßnahmen hätte der Bund eine Haushaltslückevon 80 Milliarden DM, eine Summe, die fast um dieHälfte über den Investitionen liegt – ein eklatanter Ver-stoß gegen das Grundgesetz.Deshalb haben wir im Bundeshaushalt einen unab-weisbaren Konsolidierungsbedarf von 30 MilliardenDM, der bis zum Ende des Finanzplanungszeitraumesim Jahr 2003 auf 50 Milliarden DM anwächst, wenn wiraus der Politik des ständigen Über-unsere-Verhältnisse-Lebens herauswollen.Eine derart hohe Staatsverschuldung ist zutiefst un-gerecht und gefährdet das demokratische Gemeinwesen.Deshalb war es höchste Zeit, daß wir das Ruder herum-geworfen haben. Ein solch grundsätzlicher Kurswechselkann nicht ohne schmerzhafte Eingriffe abgehen. Bun-deskanzler Kohl – das sage ich jetzt zur anderen Seite –hat damals gemeint, die deutsche Einheit könne man, oh-ne daß es jemanden etwas kostet, finanzieren. Das gingaber nicht. Ich sage jetzt: Auch eine Haushaltskonsolidie-rung, auch den Weg raus aus der Staatsverschuldungkönnen wir nicht erreichen, ohne daß es jemand merkt.Etwas anderes zu behaupten wäre dieselbe Illusion.
Das geht nicht ohne schmerzhafte Eingriffe. Aber dazustehen wir. Denn wer Verantwortung übernimmt, kannsich die Probleme, die gelöst werden müssen, nicht aus-suchen.Die Haushaltskonsolidierung ist dabei ein wesentli-cher Teil unseres Zukunftsprogramms, aber sie ist nichtdas Zukunftsprogramm. Handeln müssen wir auch aufdem Gebiet von Steuern und Abgaben. Wir haben einSteuersystem vorgefunden, das bei hohen Steuersätzenden gutverdienenden Abschreibungskünstler begünstig-te, während der Normalverdiener die meiste Last tragenmußte, der, der nicht ausweichen konnte, sowie die klei-nen und mittleren Betriebe.Damit nicht genug: Hohe Sozialabgaben sind einschwerer Hemmschuh für die Schaffung neuer Arbeits-plätze. Man muß einmal darüber nachdenken, welcherZusammenhang besteht zwischen der Tatsache, daß wirso hohe Sozialabgaben haben, und der Tatsache, daß beiuns, anders als in anderen Ländern, erst bei 2 ProzentWirtschaftswachstum neue Arbeitsplätze geschaffenwerden, während in den Ländern rundum meistensschon ab 1 Prozent neue Arbeitsplätze entstehen. Wirhaben also trotz hoher Produktivität unserer Wirtschaftein großes Problem. Das heißt, wir müssen runter vondem Rationalisierungsdruck.
– Nur, Herr Kollege Merz, wann ist dieser denn entstan-den? Während der ganzen Zeit, als Sie an der Regierungwaren, sind die Lohnnebenkosten gestiegen.
Deshalb umfaßt das Zukunftsprogramm auch dieSenkung von Steuern und Abgaben für Arbeitnehmerund Familien sowie die Gestaltung eines internationalkonkurrenzfähigen Steuersystems bei den Unternehmen,beides übrigens damit verbunden, Steuerschlupflöcher,das heißt Steuervergünstigungen, abzuschaffen, die Ba-sis zu verbreitern, Mißbrauchsmöglichkeiten zu beseiti-gen, um damit im Steuersystem Gerechtigkeit herzu-stellen, damit wieder Besteuerung nach der Leistungsfä-higkeit stattfindet, wie es das Grundgesetz fordert.
Außerdem fördern wir umweltschonendes Verhalten.Eine Politik für sozialen Ausgleich braucht einenhandlungsfähigen Staat und genügend finanzielle Spiel-räume. Indem wir den Weg in den Verschuldungsstaatstoppen, schaffen wir die Grundlage für die Sicherungdes Sozialstaates auch in Zukunft. Mit der konsequentenHaushaltssanierung bekämpfen wir die soziale Unge-rechtigkeit der Staatsverschuldung; denn die extrem ho-hen Zinsausgaben im Bundeshaushalt müssen von denSteuerzahlern finanziert werden und landen bei denBanken. Ich habe darüber schon gesprochen. Es hat kei-nen Zweck, sich um diesen sozialen Tatbestand herum-drücken zu wollen.Bundesminister Hans Eichel
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4654 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Mit der Haushaltssanierung beenden wir auch die un-gerechtfertigte Belastung zukünftiger Generationen mitSchulden, die wir heute anhäufen. Dabei sind wir erstam Anfang. Das sage ich, damit sich keiner täuscht. Wirfahren ja auch keinen Crashkurs. Nächstes Jahr erst,trotz all dieser harten Eingriffe und ohne alle anderenTricks wie eine Vertuschung des Defizits durch Privati-sierungserlöse, steigen die Staatsschulden nicht schnel-ler als die Einnahmen. Erst im Jahr darauf werden wirerstmalig seit langem die Situation haben, daß dieStaatsschulden langsamer steigen als die Einnahmen.Keiner möge sich über den langen Weg, den wir nochvor uns haben, täuschen.Mit der Haushaltssanierung wollen wir also ein Endeder ungerechtfertigten Belastung künftiger Generationenerreichen. Damit sorgen wir heute für soziale Gerechtig-keit wie auch für Gerechtigkeit zwischen den Generatio-nen. Dazu gehört, daß die junge Generation für die ältereVerantwortung übernimmt. Die ältere Generation mußumgekehrt aber auch ihren Beitrag für die Sicherung derZukunft der jüngereren Generation leisten.In jüngster Zeit wurde wieder viel über zunehmendeStaatsverdrossenheit geklagt. Hieran hat auch die hoheStaatsverschuldung ihren Anteil. Arbeitnehmer und ehr-liche Steuerbürger müssen immer mehr für immer weni-ger Leistung bezahlen. Dies senkt die Steuermoral wei-ter und fördert die Unzufriedenheit mit Politik und Staat.Hier müssen wir wieder Vertrauen und Sicherheit schaf-fen. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruchdarauf, daß ihre Steuergelder nicht sinnlos verpuffen,sondern daß verantwortungsvoll mit ihnen umgegangenwird und wir uns nur das leisten, was wir uns leistenkönnen.
Nur so kann die Bereitschaft verstärkt werden, unserGemeinwesen mitzutragen und mitzugestalten.Mit dem Haushalt 2000 haben wir das größte Konso-lidierungsvorhaben in der Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland eingeleitet.
Damit kann der Bundeshaushalt endlich wieder solidefinanziert werden – übrigens ohne Steuererhöhungen.
– Vorsicht mit Ihren Zwischenrufen, sonst komme icheinmal auf die frühen 90er Jahre zu sprechen.Folgende Eckwerte sind vorgesehen: Das Ausgabe-volumen des Haushalts 2000 wird gegenüber 1999 um1,5 Prozentpunkte abgesenkt. Die Nettokreditaufnahmewird gegenüber 1999 um 4 Milliarden DM auf49,5 Milliarden DM zurückgeführt. Sie liegt damit übri-gens um 10 Prozentpunkte unter der Neuverschuldung,die die vorherige Bundesregierung für das Jahr 2000unter Zugrundelegung völlig unrealistischer Annahmenfür das Wirtschaftswachstum und unter Nichtveran-schlagung einer Reihe von Ausgaben, die sie hätte ver-anschlagen müssen, geplant hatte.
Diese deutliche Absenkung der Neuverschuldung wirderreicht, obwohl gleichzeitig die Privatisierungseinnah-men im Haushalt 2000 gegenüber 1999 um rund 10 Mil-liarden DM und gegenüber 1998 sogar um 11 MilliardenDM verringert werden.Mit dem mittelfristigen Finanzplan bis 2003 stelltdie Bundesregierung die Weichen für eine strukturelleund dauerhafte Konsolidierung des Bundeshaushaltes.Das Sparvolumen von 30 Milliarden DM im Jahr 2000wächst bis 2003 auf eine Größenordnung von50 Milliarden DM. Damit umfaßt das Konsolidierungs-volumen in den nächsten vier Jahren insgesamt weitüber 150 Milliarden DM. Die Neuverschuldung wird inden nächsten Jahren Schritt für Schritt zurückgeführt.Sie sinkt von 53,5 Milliarden DM in diesem Jahr biszum Ende des Finanzplanungszeitraums im Jahr 2003auf rund 30 Milliarden DM.Ausgehend vom abgesenkten Ausgabevolumen desBundeshaushaltes 2000, wird der Ausgabenanstieg inden Folgejahren im Durchschnitt auf unter 2 Prozent proJahr begrenzt. Gleichzeitig unterstellen wir – auch hiermußten wir Ihre frühere Planung nach unten korrigieren– ein Wachstum von real 2 Prozent und eine Inflations-rate von 1,5 Prozent, also nominal insgesamt3,5 Prozent. Das heißt, es ist eine ständige Differenz vonmindestens 1,5 bis 2 Prozent zwischen dem Ausgabe-zuwachs und dem Einnahmezuwachs zu erwarten. Da-mit hält sich die Bundesregierung an die Vereinbarun-gen des Finanzplanungsrates.Wir brauchen und wir wollen so schnell wie möglicheinen ausgeglichenen Haushalt ohne neue Schulden.Dieses qualitativ neue Ziel soll in der nächsten Legisla-turperiode erreicht werden. Mit diesem Konsolidie-rungskurs des Bundes und bei einer weiterhin sparsamenAusgabenpolitik von Ländern und Gemeinden erfülltDeutschland auch die Vorgaben des europäischen Sta-bilitätspaktes.Ein Blick über die eigenen Grenzen zeigt, daß wir unsmit dieser Politik in guter Gesellschaft befinden. Andereeuropäische Länder wie Großbritannien, Frankreich, dieNiederlande oder Dänemark haben in den letzten Jahrendeutliche Anstrengungen zur Reduzierung ihrer Defiziteunternommen und haben zum Teil bereits Überschüsseerwirtschaftet. Das beste Beispiel ist Schweden –das war gestern abend zu sehen –, das von einem An-teil des öffentlichen Defizits am Bruttoinlandspro-dukt von 7 Prozent im Jahre 1994 auf fast 2 ProzentÜberschuß im letzten Jahr gekommen ist. Das Pro-gramm, das die Schweden umgesetzt haben, war aller-dings sehr hart.Diesen Exempeln wollen und müssen gerade wirDeutsche als Motor der europäischen Einigung, wennauch nicht in allen Einzelheiten, so doch in der Tendenzfolgen. Wir wollen damit auch ein wichtiges Signal fürdie Stabilität des Euro setzen. Wir wollen, daß inBundesminister Hans Eichel
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Europa die Preise dauerhaft stabil und die Zinsen dauer-haft niedrig bleiben können.
Das Wichtigste ist: Wir reden nicht nur über einensoliden Haushalt, wie es zu Zeiten der alten Koalition andieser Stelle des öfteren getan worden ist, sondern set-zen dies auch um, und zwar ohne zu hoch gerechneteEinnahmen und ohne vergessene Ausgabenposten.
Ein beliebtes Stilmittel der vorigen Regierung war es,Haushaltsrisiken zu ignorieren, sie nicht in den Haus-halt aufzunehmen.
Wir mußten eine Reihe notwendiger Ausgaben in denHaushalt 1999 einstellen, die Sie, meine Damen undHerren von der jetzigen Opposition, schlichtweg verges-sen hatten oder nicht unterbringen konnten, weil Siesonst vor der Wahl hätten aufdecken müssen, daß derHaushalt, den Sie vorgelegt haben, verfassungswidrigwar.
Herr Kollege Waigel, wir beide können darüber gut re-den, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Ichhabe es Ihnen am 25. September, zwei Tage vor derBundestagswahl, als Sprecher der SPD-geführten Län-der im Bundesrat in der Haushaltsdebatte minutiös vor-gerechnet: Im Haushalt wurde keine Vorsorge für dieRisiken aus den Rußlandkrediten getroffen. Diese Risi-ken – nach den Vereinbarungen, die im Pariser Club ge-troffen werden mußten – belasten den laufenden Haus-halt mit mehr als 3 Milliarden DM. Man wußte aber be-reits im vergangen Herbst, daß da etwas getan werdenmußte.
Die Hilfen für die Haushaltsnotlagenländer Bremenund Saarland wurden überhaupt nicht veranschlagt; auchdas sind 3 Milliarden DM. Die notwendigen Leistungenfür die Postunterstützungskassen wurden nicht berück-sichtigt; das sind 6,5 Milliarden DM.
Ferner wurden die Wachstumsraten der Steuereinnah-men zu hoch angesetzt; das macht 3 Milliarden DM aus.Außerdem plante die alte Bundesregierung für diekommenden Jahre eine deutlich höhere Neuverschul-dung; das macht wieder 5 Milliarden DM.
Allein diese Veranschlagungsdefizite, die Gelder, dieSie in den Haushalt hätten einstellen müssen, aber nichteingestellt haben, machen über 20 Milliarden DM aus,meine Damen und Herren.
Mit dieser Art des Durchwurschtelns machen wirSchluß.Ich habe gewisses Verständnis dafür, daß man dieProbleme nicht im letzten Jahr einer Wahlperiode auf-deckt. Sie werden uns dann aber wohl nicht verübeln,daß wir sie aufdecken. Wir müssen dies um einer soli-den Haushaltspolitik willen tun.
Durch das Sparpaket ist es gelungen, die Summe derBelastungen auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren.Grundlage für den Sparerfolg der Bundesregierung ist,daß alle Politikbereiche – ich betone dies; es wird span-nend sein, ob Sie Änderungsanträge stellen und was Sieim Rahmen dieser als Deckungen anbieten –
ihren solidarischen Konsolidierungsbeitrag erbracht ha-ben und den vereinbarten Kurs strikter Haushaltsdiszi-plin in den nächsten Jahren konsequent umsetzen wer-den.Der sich nach den Ausgabekürzungen ergebende Fi-nanzrahmen ist von den Ressorts in eigener Verantwor-tung mit eigenen Prioritäten ausgefüllt worden. Ich dan-ke allen meinen Kabinettskolleginnen und -kollegen fürihre Solidarität, und ich danke auch dem Bundeskanzlersehr herzlich für die nachhaltige Unterstützung, ohne diedas Ganze nicht möglich gewesen wäre.
Bei uns läuft dies anders als zur Zeit bei einigen Landes-regierungen ab – ich beobachte dies mit großem Interes-se –, die vor ähnlichen Problemen stehen. Man liest inder Zeitung, daß sich die Kabinettskollegen gegenseitigdamit traktieren, dies alles ginge gar nicht. Das hat beiuns nicht stattgefunden. Dies war schwer, aber solida-risch.
Meine Damen und Herren, unser Zukunftspro-gramm ist in den letzten Wochen heftig diskutiert undin einzelnen Punkten auch kritisch hinterfragt worden.
Ich halte das für sehr vernünftig und für legitim. Das giltauch für die Kritik von den Interessenverbänden, derenureigenste Aufgabe die Wahrnehmung von Einzelinter-essen ist. Ich bin auch nicht verwundert darüber, daß derkonsequente Konsolidierungskurs, der allen etwas ab-verlangt, keine Begeisterungsstürme hervorruft. Aber erfindet viel Zustimmung. Ich werde mich allerdings nichtdafür entschuldigen – und das wird die gesamte Regie-Bundesminister Hans Eichel
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rung nicht tun –, daß wir den Karren aus dem Dreck zie-hen, den andere dort hineingefahren haben.
Auch wenn Sie mir diesen Satz vielleicht nicht gernerlauben, so – das können Sie nicht verhindern – mußich schon sagen: Nachdem ich mir auch die Haushalts-politik in ein paar Ländern angesehen habe, weil ich zurZeit in den Landeshauptstädten bin – –
– Ja, Hessen zum Beispiel. Sehen Sie, da fängt man an,gleich im ersten Jahr alle Reserven, die die alte Regie-rung angehäuft hat, auszugeben, und dann muß man aufdie Bremse treten.
So fängt man an; klassischer geht es nicht.Dann sage ich Ihnen: Ich habe mir das in Schwerinund in Berlin angesehen. Ich kann Ihnen noch anderePositionen nennen.
Übrigens müßte man auch einmal nach Paris oder nachLondon gehen. Dort haben sich die Konservativen umHaushaltskonsolidierung bemüht. Wo aber in Deutsch-land die Mär herkommt, daß Konservative besser mitGeld umgehen können, ist mir schlicht ein Rätsel. Dasist ein Märchen der Brüder Grimm.
Wenn es jetzt um die Umsetzung geht, so haben wirdafür Sorge zu tragen – wir haben dafür Sorge getra-gen –, daß die notwendigen Belastungen auf vieleSchultern verteilt werden. Außerdem enthält das Zu-kunftsprogramm neben der konsequenten Haushaltssa-nierung auch neue Haushaltsschwerpunkte und steuer-liche Maßnahmen zur Umsetzung einer sozial gerechtenPolitik.Die Schwerpunkte des Haushalts 2000 liegen aufdem Abbau von Subventionen, und zwar insbesondereauf der Beihilfeseite, übrigens auch auf der Steuerseite,wobei das – das will ich hier in aller Offenheit sagen –zu einem Teil durch die Ökosteuer verdeckt wird. Ausdiesem Tatbestand werden wir erst dann herauskommen,wenn wir eine europaweit einheitliche Energiebesteue-rung bekommen. Die Chancen – so ist mein Eindruck –,daß die Spanier sich vielleicht bewegen – sie sind dereigentliche Bremsklotz – , haben sich in letzter Zeit ver-bessert. Die Schwerpunkte des Haushalts liegen bei derStabilisierung des Sozialstaats bei gleichzeitiger Steige-rung seiner Effektivität und einer Straffung des öffentli-chen Dienstes.Bei allem bleibt der Bundeshaushalt 2000 auch undgerade ein Sozialhaushalt. Die Ausgaben des Bundes fürsoziale Sicherung werden im Jahre 2000 196 MilliardenDM betragen, nachdem sie 1998 noch 182 Milliarden DMbetragen haben. Insbesondere im Bereich der Arbeits-marktaufwendungen sind die größten Veränderungen zuverzeichnen. Beispielsweise stehen für aktive Arbeits-marktpolitik 45 Milliarden DM und damit 6 MilliardenDM mehr im Bundeshaushalt zur Verfügung als 1998.
Insgesamt wird die Wiedereingliederung in den Ar-beitsmarkt massiv gefördert.Weitere Maßnahmen sind: Ab dem Jahr 2001 sollendie Wohngeldleistungen für Bezieher von Tabellen-wohngeld deutlich verbessert werden. Das erforderlicheSonderprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslo-sigkeit – das gab es bei Ihnen überhaupt nicht – wirdverlängert.
Damit stellt die Bundesregierung im Jahre 2000 erneut2 Milliarden DM im Rahmen des Zuschusses zur Bun-desanstalt für Arbeit zur Verfügung. Mittlerweile sindfast 178 000 Jugendliche in Maßnahmen dieses Pro-gramms eingetreten. Das sind Perspektiven für 178 000junge Leute.
Deutschland ist an dieser Stelle in Europa ganz vorn –Gott sei Dank. Meine Damen und Herren, auch das mußman berücksichtigen, wenn Sie über unseren Haushaltreden. So etwas war bei Ihnen nie vorgesehen.
Wir werden unser Versprechen umsetzen, die Zu-kunftsinvestitionen in Bildung und Forschung in dennächsten fünf Jahren zu verdoppeln. Das Zukunftspro-gramm schafft hierfür die Voraussetzungen. Wir habenim Haushalt 2000 dafür Sorge getragen, daß der AufbauOst und damit die reale Verwirklichung der DeutschenEinheit auf hohem Niveau fortgeführt wird.
So haben wir bei der regionalen Wirtschaftsförderungdie im Finanzplan vorgesehenen Ansätze aufrechterhal-ten. Die Sonder-Bundesergänzungszuweisungen an dieneuen Länder von 14 Milliarden DM jährlich und dieHilfen im Investitionsförderungsgesetz Ost von 6,6 Mil-liarden DM werden in voller Höhe erhalten. Bei Eingrif-fen in spezielle Programme findet im wesentlichen nureine Anpassung entweder an den Mittelabfluß oder anmögliche Kostensenkungen statt. Wir bemühen uns sehr– auch das liegt im Interesse der ostdeutschen Länder –,Mitnahmeeffekte zu streichen. Denn wer einen dauer-haft getragenen Aufschwung in den neuen Ländern will,der muß dafür sorgen, daß die eigenen Kräfte aktiviertwerden. Deswegen ist staatliche Hilfe eine Hilfe, diegleichzeitig eigene Anstrengungen voraussetzt.
Bundesminister Hans Eichel
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Vor diesem Hintergrund haben wir neue Programmeaufgenommen: nicht nur die Verstärkung der aktivenArbeitsmarktpolitik, und zwar nicht nur bis zur fol-genden Bundestagswahl, sondern auch deren Versteti-gung darüber hinaus, nicht nur ein Programm, das 2Milliarden DM für junge Menschen zur Verfügung stelltund das insbesondere auch in den neuen Ländern an-kommt, sondern auch ein neues Wohnungsmodernisie-rungsprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau miteinem Kreditrahmen von 10 Milliarden DM. Auch hiergilt – das sage ich ausdrücklich –: Die neuen Ländersollen bitte die Hälfte der Zinszuschüsse übernehmen.Denn dann wissen wir, daß dieses Programm wirklichgebraucht wird. Programme, die zu 100 Prozent finan-ziert werden, werden zwar gerne angenommen. Ob sieaber zusätzlich irgend etwas auslösen oder ob sie nichtin erster Linie reine Mitnahmeeffekte bewirken, ist dieFrage. Deswegen muß man mit solchen Programmen aufdiese Art und Weise umgehen.
Besonders umstritten sind die vorgesehenen Maß-nahmen bei der Rente, wonach der Rentenanstieg inden Jahren 2000/2001 auf die Höhe der Preissteigerungbegrenzt werden soll. Damit wird die Rentenversiche-rung in die Lage versetzt – dies ist eine wesentlicheVoraussetzung –, die demographischen Herausforderun-gen zu bestehen. In diesem Zusammenhang muß ichausdrücklich sagen – dies stelle ich fest, damit KollegeRiester nicht in einen falschen Zusammenhang gerät –:Dies ist kein Element der Haushaltssanierung gewesen,sondern ein Element des Rentenkonzeptes, das HerrRiester im Laufe dieses Jahres ohnehin auf den Tisch le-gen wollte und über das dann im Herbst dieses Jahres inaller Ausführlichkeit diskutiert werden kann. Da wiraber den Haushalt für das nächste Jahr aufstellen müs-sen, muß dieser Teil des Rentenkonzepts seinen Nieder-schlag in diesem Haushalt finden.Es kommt übrigens nur zu einer einmalig etwas nied-rigeren Zuführung; denn die Zuführungen aus dem Bun-deshaushalt für den Rentenbereich – das ist die Konse-quenz der Ökosteuer – steigen in diesem Jahr massiv an.Es kommt also nicht zu einem Rückzug aus dem Ren-tensystem. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Es kommtzu einer enormen Befestigung des Rentensystems.
Mit dieser vorübergehenden Begrenzung des Renten-anstiegs leisten die Rentnerinnen und Rentner – dafürbin ich sehr dankbar – einen solidarischen Beitrag zurEntlastung der Beitragszahler. Ich möchte hier ein weitverbreitetes Mißverständnis direkt ansprechen und ausdem Weg räumen: Diese Regelung bedeutet keine Kür-zung der Renten, wie Sie den Menschen immer erzäh-len. Die Renten steigen vielmehr auch in den nächstenbeiden Jahren um die volle Preissteigerungsrate, was inden letzten 5 Jahren Ihrer Regierungszeit nicht der Fallwar, da die Erhöhung der Renten regelmäßig darunter-blieb.
Wenn die vor uns liegenden Wahlen vorbei sind,dann ist dieses Thema hoffentlich aus der jetzigen Ge-fechtslage heraus. Ich bzw. die ganze Bundesregierunghofft, daß wir dann zu einem einvernehmlichen Konzeptkommen. Denn es ist wahr: Generationen gegeneinanderauszuspielen ist das, was unsere Gesellschaft am aller-wenigsten erträgt. Deswegen ist es richtig, bei der Renteeinen breiten Konsens zu finden.
Sie von der Opposition waren doch vor der letzten Bun-destagswahl darauf erpicht, ein Rentenkonzept ohne unsdurchzusetzen.
Das war das erste Mal in der Geschichte der Bundesre-publik. Bis 1992 – also auch in der Zeit, als wir in derOpposition waren – haben wir das einvernehmlich be-schlossen.
– Herr Glos, das ist doch nicht verlogen. Die Wahrheitist ganz einfach: Nach den Wahlen im Frühjahr 1996haben Sie sich für ein Ende des Bündnisses für Arbeitund für Konfrontation entschieden. So ist das Ganze ab-gelaufen.
Meine Damen und Herren, wir müssen neues Ver-trauen in die Zukunftsfestigkeit der Rentenversicherungund unseres gesamten Alterssicherungssystems aufbau-en. Das basiert letzten Endes darauf, daß es in der Ge-sellschaft einen breiten Konsens über die Prinzipien desRentensystems gibt. Das wäre in der Tat die wün-schenswerteste Lösung.Ebenso wie bei den Renten und Pensionen wird sichin den Jahren 2000 und 2001 die Erhöhung anderersozialer Leistungen, wie zum Beispiel die des Arbeitslo-sengeldes und die der Arbeitslosenhilfe, am Ziel derRealeinkommensicherung orientieren. Auch von denBeamten und Pensionären fordern wir einen solchenKonsolidierungsbeitrag. Dies ist keineswegs ein Eingriffin die Tarifautonomie. Darauf lege ich den allergrößtenWert. Aber daß der Staat als Arbeitgeber wie jedesUnternehmen, das ein großes Problem hat, dies bei denTarifverhandlungen berücksichtigen muß und daß alle –wie bei jedem Unternehmen auch – ihren Beitrag leistenmüssen, um aus einer krisenhaften Lage herauszukom-men, ist selbstverständlich. Auch beim Staat ist das so,auch in bezug auf die Einkommen, die der Staat selberzu gewähren hat. Das muß auch bei den Tarifverhand-lungen berücksichtigt werden.Die Einsparungen aus dem „Zukunftsprogramm2000“, die der Regelung durch Gesetz oder Verordnungbedürfen, werden im Haushaltssanierungsgesetz umge-setzt, die übrigen vereinbarten Kürzungen bei den par-lamentarischen Beratungen zum Haushalt 2000. Wirhalten dabei an unserem Konzept fest: Wer einzelneBundesminister Hans Eichel
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Maßnahmen aus dem Sparpaket herausbrechen möchte,muß gleichwertige Einsparmaßnahmen, ich vermute –das ist jedenfalls unsere Position –, im gleichen Ressort-bereich nennen. Das Grundprinzip des Sparkonzeptslautet: solidarische Konsolidierungsbeiträge aller Res-sorts und aller Politikbereiche entsprechend ihrer An-teile am Gesamthaushalt.Wir haben alle zustimmungsbedürftigen und nicht zu-stimmungsbedürftigen rechtlichen Regelungen der Aus-gabenseite in einem Haushaltssanierungsgesetz zu-sammengefaßt. Das Gesetz bedarf der Zustimmung desBundesrates. Hierfür gibt es gute Gründe. Wir wollen,daß sich auch die Länder ihrer Verantwortung für denBund nicht entziehen, so wie der Bund sich seiner Ver-antwortung für die Länder nicht entzieht, wie die Bei-spiele des Saarlands und Bremens extrem beweisen.
Denn nur ein leistungsfähiger Bund mit solide finan-ziertem Haushalt ist in der Lage, den Ländern wirkungs-voll zu helfen. Die Diskussionen der letzten Wochenzeigen, daß bei aller Kritik im Einzelfall eine breitegrundsätzliche Zustimmung zu unserem Konsolidie-rungskurs vorhanden ist. Deswegen bin ich guter Dinge,daß am Ende der Bundesrat dem Gesamtkonzept zu-stimmt. Ich halte diese Hoffnung auch insofern für be-rechtigt, weil wir mit unserem Zukunftsprogramm dieInteressen von Ländern und Gemeinden durchaus imBlick haben, obwohl die Finanzlage des Bundes – ichhabe das schon ausgeführt – deutlich schlechter ist alsdie Finanzlage der Länder und Kommunen. Aus demSparprogramm werden sie zusammen im Durchschnittder Jahre bis 2003 mit rund 600 Millionen DM jährlichentlastet. Länder und Kommunen profitieren zum Bei-spiel erheblich von der Begrenzung der Personalausga-ben. Den Belastungen von Ländern und Kommunen beiden Sozialausgaben stehen spürbare Entlastungen ge-genüber. Beispiele sind geringere Ausgaben bei der So-zialhilfe zum Beispiel durch die Erhöhung des Kinder-geldes und durch die Verstetigung der Arbeitsmarkt-politik. Das gilt gerade für die arbeitslosen Jugendli-chen. Zudem werden Länder und Kommunen entspre-chend ihres Anteils am Steueraufkommen beim Abbausteuerlicher Subventionen begünstigt. Das Steuerberei-nigungsgesetz entlastet die Kommunen zusätzlich. Fallsdie kommunale Ebene bzw. einzelne Kommunen vonBelastungen besonders betroffen sind, kann dies derBund nicht ausgleichen. Allein die Länder besitzen dasfür einen zielgerichteten Ausgleich geeignete Instrumentdes kommunalen Finanzausgleichs.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nochmalsbetonen: Ein solider Bundeshaushalt kommt letztlich im-mer auch den Ländern zugute, vor allem den neuen Län-dern. Dies ist eine Binsenweisheit. Wer hier voneiner Erpressung der neuen Länder spricht – übrigens tundas auch CDU-Ministerpräsidenten nicht –, verkennteines: Es ist nicht die Politik, sondern die ökonomischeWirklichkeit, die die Länder im eigenen Interesse zurUnterstützung dieses Konsolidierungskurses bringen muß.
Der konsequente Konsolidierungskurs ist ein wichti-ger Beitrag zur Förderung von Wachstum und Beschäf-tigung. Der neue „World Economic Outlook“ des Inter-nationalen Währungsfonds, der genauso wie die Bun-desbank und die Europäische Zentralbank unser Zu-kunftsprogramm ausdrücklich lobt, geht von einer ein-setzenden Konjunkturbelebung in Europa und inDeutschland aus. Dies bestätigen auch die Wirtschafts-institute. Insofern passen der Haushalt 2000 und das ge-samte Konsolidierungskonzept in den konjunkturellenRahmen. Es soll ab dem Jahre 2000 greifen. Für das Jahr2000 nehmen alle Institute als Mindestwert des durch-schnittlichen wirtschaftlichen Wachstums 2,5 Prozentan. Das ist mehr, als wir in den 90er Jahren gehabt ha-ben. Wenn man dann nicht mit der Konsolidierung an-fangen kann – das sage ich anderen Kritikern –: Wannkönnte man denn überhaupt den Bundeshaushalt konso-lidieren; wann würde man denn überhaupt aus derStaatsverschuldung herauskommen?
Wir brauchen derzeit kein betont expansives Verhal-ten des Staates. Jetzt kommt es vielmehr darauf an, sta-bile Rahmenbedingungen für Konsumenten und In-vestoren zu schaffen und die finanzpolitische Flanke derGeldpolitik zu sichern. Genau dies wird durch das Zu-kunftsprogramm erreicht; das heißt im Klartext: Es wirdniedrige Zinsen möglich machen. Ein klares Bekenntniszu einem mittelfristig ausgeglichenen Haushalt gibt ebenein klares Signal für dauerhaft niedrige Zinsen, für einennachlassenden Steuer- und Abgabendruck, für stabilePreise und einen stabilen Euro. Wenn wir jetzt die Unsi-cherheit für Investoren und Konsumenten für lange Zeitbeenden, werden wir rasch in eine sich selbst verstär-kende positive Wachstumsdynamik kommen.
So schaffen wir mit unserer Finanzpolitik einen ver-läßlichen Rahmen für kräftiges Wachstum. Unterstütztwird dies durch die Steuerpolitik. Durch die Entlastungkleiner und mittlerer Einkommen tragen wir zusätzlichzu einer Belebung der privaten Nachfrage bei. Im Rah-men des Zukunftsprogramms werden Familien und Ar-beitnehmer erheblich steuerlich entlastet und das Kin-dergeld erhöht. Ich erinnere nur daran, daß der Ein-gangssteuersatz beginnend mit dem 1. Januar dieses Jah-res schrittweise um sechs Punkte von 25,9 Prozent auf19,9 Prozent gesenkt wird.Das Kindergeld ist zum 1. Januar dieses Jahres um 30DM für das erste und zweite Kind erhöht worden undwird ab 1. Januar nächsten Jahres um weitere 20 DM er-höht. Das bedeutet eine Steigerung seit der Regierungs-übernahme um 23 Prozent. Insgesamt ergibt sich für ei-ne Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern bereits in die-sem Jahr eine Entlastung von etwa 1 200 DM, im näch-sten Jahr von 2 200 DM, im Jahr 2002 von bis zu 3 000DM, übrigens unter Berücksichtigung der Wirkungender Ökosteuerreform, meine Damen und Herren.
Bundesminister Hans Eichel
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– Damit auch Sie es noch einmal hören: unter Berück-sichtigung der Wirkungen der Ökosteuer.Hinzu kommt die Entlastung der Unternehmen durchdie Unternehmensteuerreform ab dem Jahr 2001. Mitder vorgesehenen Senkung des Steuersatzes für einbe-haltene Gewinne auf 25 Prozent und der geplanten Net-toentlastung der Unternehmen in einer Größenordnungvon 8 Milliarden DM, die wir im wesentlichen auf diekleinen und mittleren Unternehmen konzentrieren wol-len, wird die Wettbewerbsfähigkeit des Investitions-standortes nachhaltig gestärkt.All dies wird positive Auswirkungen auf den Ar-beitsmarkt haben. Das hat auch der Internationale Wäh-rungsfonds in dem bereits zitierten Bericht bestätigt. DasZukunftsprogramm ist notwendig, um die Arbeitslosig-keit zu senken. Ich sage noch einmal: Ja, über die Frage,warum bei uns zusätzliche Jobs erst bei 2 Prozent undnicht schon bei 1 Prozent Wachstum entstehen, werdenwir noch weiter nachdenken müssen, und dann muß ent-sprechend gehandelt werden.Ich weise aber auch darauf hin – das war bei genaue-rem Hinsehen übrigens schon am Ende ihrer Regie-rungszeit, in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahreswie am Anfang dieses Jahres, das Problem –, daß diedeutsche Volkswirtschaft, obwohl unsere Zukunft imBinnenmarkt Europa liegt, stärker als alle anderen euro-päischen Volkswirtschaften weltweit verflochten ist unddeswegen die Südostasienkrise wie die Südamerikakriseund die Rußlandkrise, die uns besonders finanziell be-trifft, in der deutschen Volkswirtschaft stärker als in je-der anderen europäischen zu Buche schlagen. Ich hoffeaber auch, daß, wenn sie jetzt aus dem Loch heraus-kommen, wie es den Anschein hat, uns das auch wiederhelfen wird, ein stärkeres Wirtschaftswachstum zu be-kommen.Zusätzliche Beschäftigungsgewinne werden sichdurch eine Senkung der Lohnnebenkosten über dieökologische Steuerreform ergeben. Insgesamt, meineDamen und Herren, trägt das Zukunftsprogramm alsokünftig maßgeblich zur Senkung der Arbeitslosigkeitbei. Schon aus diesem Grund steht es für soziale Ge-rechtigkeit, für Wachstum und Beschäftigung. Mit ande-ren Worten: Es steht für die Wende in der Finanzpolitik,die diese Bundesregierung eingeleitet hat.
In diesem Zusammenhang von sozialer Ungerechtig-keit zu sprechen ist falsch.
Ich habe das in allen einzelnen Bereichen bereits darge-stellt. Ich sage wieder zur PDS: Sie müssen bei demThema der Staatsverschuldung anfangen. Dann müssenSie sich ansehen, was im Steuerentlastungsgesetz anSchlupflöchern oben geschlossen worden ist und was anSteuerentlastungen unten gemacht worden ist. Dannkönnen Sie so nicht mehr reden.
Ich sage das in alle Richtungen.Ich wüßte noch ein Steuerschlupfloch, das ich gerneschlösse. Wir werden im Rahmen der Unternehmensteu-erreform nach dem Prinzip „Bemessungsgrundlage breit,Sätze niedrig“ auch noch eine Reihe von solchen Fragenzu diskutieren haben. Da bleibt die Besteuerung der Ka-pitalerträge in Europa. Das ist ein wahnsinnig schwieri-ges Thema. Ich bin froh, daß es endlich wenigstens ei-nen ersten Vorschlag der britischen Regierung dazu gibt.Aber ich bekenne ausdrücklich: Mit dem Vorschlag, derauf dem Tisch liegt, können wir vor die Bürger Europasnicht treten. Denn daß wir die Kleinanleger besteuernund die großen nicht, das will mir nun wirklich nicht inden Kopf.
Wie wir es hinbekommen, daß es anders wird, werdenwir noch intensiv zu diskutieren haben. Aber da müssenwir voran.Meine Damen und Herren, ich weiß, daß von allenSeiten – auch das ist eine der Ablenkungsdiskussionenin diesem Sommer, damit man sich nicht mit der Sachebeschäftigen muß – der Vorwurf der sozialen Unausge-wogenheit kommt. Wenn er von der Opposition kommt,finde ich das allerdings besonders stark. Denn gerade dieUmverteilungspolitik der letzten 16 Jahre ist es, die wirkorrigieren müssen, die wir mit diesem Konzept ange-hen.
Wir reden nicht nur von sozialer Gerechtigkeit, wirtun auch sehr konkret etwas dafür. Wir flüchten unsnicht in Wolkenkuckucksheime und verdrängen ein paarProbleme. Ich erinnere nur an die Wiedereinführung derLohnfortzahlung im Krankheitsfall, an die Senkung derArzneimittelzuzahlungen, an die Wiedereinführung desZahnersatzes für Jugendliche und an die Streichung desKrankenhausnotopfers. Ist es nicht diese Bundesregie-rung, die im Rahmen der ökologischen Steuerreformerstmals in Deutschland überhaupt die Lohnnebenkostensenkt?
Es ist auch diese Bundesregierung, die die Steuer-schlupflöcher – ich habe das schon gesagt – stopft undMißbrauchsmöglichkeiten zur Steuervermeidung ein-dämmt. Endlich werden damit auch Einkommensmillio-näre wieder zur Finanzierung der Staatsaufgaben ent-sprechend ihrer Leistungsfähigkeit herangezogen, undso muß es auch sein.
Meine Damen und Herren, soziale Gerechtigkeit, Zu-kunftsfähigkeit, Generationengerechtigkeit und vor al-lem die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind für unsnicht nur Schlagworte, sie sind unser Programm, unddieses Programm bestimmt unser Handeln. Wir brau-chen in Zukunft weniger Egoismus der einzelnen undder Gruppen, mehr Gemeinsinn und ein gemeinsamesBundesminister Hans Eichel
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Verständnis davon, daß nur eine gerechte Gesellschaft,in deren Mittelpunkt die Würde des einzelnen Menschensteht und seine Fähigkeit und Bereitschaft, für andereeinzustehen, eine lebenswerte und zukunftsfähige Ge-sellschaft ist,
und das bei allen Belastungen, die wir den Menschenauf diesem Weg notwendigerweise zumuten müssen,weil wir aus den Schwierigkeiten heraus müssen.Ich lade Sie ein, bei diesem Zukunftsprojekt mitzu-machen. Teilen Sie mit uns die Verantwortung für einegute Zukunft dieser Gesellschaft!
Meine Damen und
Herren ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat nun
der Kollege Friedrich Merz, CDU/CSU.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, Sie ha-ben im Verlauf Ihrer Rede beklagt, daß die CDU/CSU inden zurückliegenden Wahlkämpfen die Wählerinnenund Wähler in Deutschland verunsichert habe und Siedeswegen nicht den aus Ihrer Sicht verdienten Wahler-folg erzielt hätten. Ich sage Ihnen: Wir haben nicht dieWählerinnen und Wähler verunsichert,
sondern es war überall dort, wo in den letzten WochenWahlen stattgefunden haben, festzustellen: Die Wähle-rinnen und Wähler in Deutschland haben von Ihrer Poli-tik und der Art Ihres Auftretens, Herr Bundeskanzler,die Nase gestrichen voll.
Sie haben – wie auch in der letzten Woche – erneutauf die Entwicklung der öffentlichen Finanzen und ins-besondere des Schuldenstandes hingewiesen. Es kam,wie es nicht anders zu erwarten war. Sie haben gesagt –ich habe es wohl richtig mitgeschrieben –, es sei Ihnenein Rätsel, wie man Konservativen unterstellen könne,sie könnten konsolidieren. Weil ich das genauso erwar-tet habe, habe ich mir nicht nur die Zahlen der letztenJahre, sondern die Zahlen von 1949 bis 1998 herausge-sucht.Herr Eichel, in den Jahren von 1949 bis 1969 hat dieVerschuldung in Deutschland praktisch keine Rolle ge-spielt. Wir hatten eine Zins-Steuer-Quote in den öffent-lichen Haushalten von 2,8 Prozent. Nach 1969 – deswe-gen war das, was der Kollege Kolbe dazu gesagt hat,völlig berechtigt und notwendig –, in der Zeit der sozi-alliberalen Koalition, ist die Verschuldung des Bundesin einem Zeitraum von 13 Jahren von 45 Milliarden DMauf über 300 Milliarden DM angestiegen.
In dieser Zeit, der ersten langen Regierungszeit einersozialliberalen Koalition, ist die Zins-Steuer-Quote desBundeshaushaltes von 2,8 Prozent auf 12,1 Prozent ge-stiegen. Die eigentlich dramatische Veränderung in denöffentlichen Finanzen hat es in der Verantwortung dersozialliberalen Koalition von 1969 bis 1982 gegeben.
In der Zeit von 1982 bis 1989 – ich teile ganz bewußtdie von Ihnen immer wieder zitierten, als Einheit darge-stellten 16 Jahre in zwei Zeitabschnitte – konnte dieNettokreditaufnahme des Bundes von 37,2 MilliardenDM auf 19,2 Milliarden DM zurückgeführt werden. Eshat in der Zeit von 1982 bis 1989 eine Halbierung derNettokreditaufnahme des Bundes gegeben. Hätte esnicht – ich werde darauf zu sprechen kommen – dieaußergewöhnlich hohen, von vielen – auch von uns – indiesem Umfang nicht so eingeschätzten zusätzlichenBelastungen durch die Überwindung der deutschenTeilung gegeben, hätten wir heute in Deutschland einenausgeglichenen Bundeshaushalt.
Es ist wahr, es kam in den Jahren 1989/90 eine Her-ausforderung auch auf die deutsche Finanzpolitik zu, diein diesem Umfang und in diesem Ausmaß nicht vorher-zusehen war. Gleichwohl ist es in den Jahren von 1990bis 1998 entgegen vielen Befürchtungen nicht nur ge-lungen, den Geldwert stabil zu halten, sondern es istauch gelungen, einen großen Teil der Erblasten aus40 Jahren real existierendem Sozialismus in eine geord-nete Finanzpolitik in der Bundesrepublik Deutschlandzu überführen.
Meine Damen und Herren, es hat in diesen Jahreneinen breiten politischen Konsens im Bundestag und imBundesrat darüber gegeben, daß diese Erblasten aus40 Jahren Sozialismus in der alten DDR in einem außer-halb des regulären Bundeshaushaltes geführten Titel zu-sammengefaßt werden, den wir damals Erblastentil-gungsfonds und Fonds Deutsche Einheit genannt ha-ben. Dieser Titel, dessen Volumen sich zum Ende desJahres 1998 auf insgesamt mehr als 500 Milliarden DMaddiert, ist außerhalb des regulären Bundeshaushalts ge-führt worden.Herr Bundesfinanzminister, es ist unredlich, wenn Sieheute diese Zahlen, in den Gesamthaushalt, in einenTitel einbeziehen und nicht die Differenzierung danachvornehmen, welches Schulden aus der alten DDR sind
und welches die laufenden Schulden der öffentlichenHaushalte, insbesondere des Bundeshaushaltes ausma-chen.Meine Damen und Herren, in der Zeit von 1990 bis1998 ist dieses Land, ist diese Volkswirtschaft in derBundesminister Hans Eichel
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Lage gewesen, 5 Prozent seines Bruttoinlandproduktsfür den Aufbau der neuen Bundesländer auszugeben.Wir sind in der Lage gewesen, in acht Jahren Zinser-stattungen in Höhe von 80 Milliarden DM aus demHaushalt zu zahlen, Tilgungen in Höhe von 18 Milliar-den DM vorzunehmen und zusätzlich Sondertilgungenin Höhe von 25,5 Milliarden DM aus den Bundesbank-gewinnen dem Erblastentilgungsfonds zuzuführen.Sie haben nicht nur den Fonds Deutsche Einheit undden Erblastentilgungsfonds in den allgemeinen Bundes-haushalt überführt, sondern Sie haben in diesem Jahr,1999, die mögliche Tilgung in einem Umfang von 8Milliarden DM dem Erblastentilgungsfonds gar nichtmehr zugeführt.
Wir hätten heute eine höhere Beseitigung der Schuldenaus 40 Jahren real existierendem Sozialismus in einerGrößenordnung von 8 Milliarden DM, die dem Erbla-stentilgungsfonds zusätzlich zugeführt worden wären,wenn Sie nicht den Erblastentilgungsfonds und denFonds Deutsche Einheit in den allgemeinen Bundes-haushalt überführt hätten. Das ist die Wahrheit.
Ich finde es schon ein bemerkenswert dreistes Stück,wenn Sie heute ständig über die nächste und die über-nächste Generation reden, aber verschweigen, daß Sieim Jahre 1999 die 8 Milliarden DM Tilgung, die mög-lich gewesen wären, in den allgemeinen Bundeshaushaltüberführt haben. Dies ist ein bemerkenswert dreistesStück.
Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren,lagen wir Ende 1998 – das war das letzte Jahr dieserschrecklichen 16 Jahre, die Sie immer beschreiben –dem Tilgungsplan zum Erblastentilgungsfonds um20 Milliarden DM voraus. Wir hatten also Ende 199820 Milliarden DM mehr getilgt, obwohl im Jahre 1997entgegen dem ursprünglichen Tilgungsplan für denErblastentilgungsfonds die Tilgungen einmal ausgesetztworden sind.Diese Bundesregierung hat das Sparen nicht erfun-den; sie spart in Wahrheit auch nicht. Im Bundeshaus-halt des Jahres 2000 sind Ausgaben in einer Größenord-nung von 478 Milliarden DM veranschlagt. Das sind ge-genüber dem laufenden Haushalt 1999 nicht 30 Milliar-den DM, sondern nur ganze 7 Milliarden DM weniger.Der laufende Haushalt des Jahres 1999 beläuft sich auf485 Milliarden DM. Für das Jahr 2000 haben Sie Aus-gaben von 478 Milliarden DM veranschlagt. Das sindnicht 30 Milliarden DM, sondern nur 7 Milliarden DMweniger. Ich werde auf eine Reihe von ungedecktenSchecks noch zu sprechen kommen.Auch hier der Vergleich zu dem, was war: Im Haus-halt 1998 – und zwar im vollzogenen Haushalt des Jah-res 1998 – belaufen sich die Bundesausgaben auf455 Milliarden DM. Im ersten Jahr des Bundesfinanz-ministers Hans Eichel gibt die BundesrepublikDeutschland nicht 30 Milliarden DM weniger, sondern22 Milliarden DM mehr aus als im letzten Bundeshaus-halt der alten Regierung. Das ist die Wahrheit.
Dieser Betrag von 7 Milliarden DM, den Sie gegen-über dem laufenden Haushalt 1999 sparen wollen, istmit einer ganzen Reihe von ungedeckten Schecks finan-ziert. Ich will nur auf den größten Posten zu sprechenkommen: Sie wollen im Bereich des Wohngeldes fürSozialhilfeempfänger die Länder und die Kommunen indie Pflicht nehmen. Allein in diesem Bereich wollen Sienicht 2,25 Milliarden DM einsparen, sondern auf dieKommunen verschieben. Wenn Sie weitere Titel, die aufdie Kommunen verschoben werden sollen, hinzuneh-men, dann können Sie feststellen, daß allein 4,5 Milliar-den DM, möglicherweise sogar 5 Milliarden DM, nichtwirklich gespart, sondern auf die Kommunen verscho-ben werden. Herr Bundesfinanzminister, Verschieben istkein Sparen,
sondern eine Lastenverschiebung auf die unteren staatli-chen und kommunalen Ebenen.Sie weisen in Ihrem Sparpaket globale Minderausga-ben in einer Größenordnung von 5 Milliarden DM aus.Das heißt, ein ganz erheblicher Teil des Sparvolumens,das Sie realisieren wollen, ist nicht spezifiziert. Sieüberlassen es jetzt dem Parlament und den Ressorts,Einsparungsvorschläge in einer Größenordnung von5 Milliarden DM zu machen, von denen Sie heute schonwissen, daß sie nicht realistisch sind.Ich nenne Ihnen ein ganz konkretes Beispiel: Sie ma-chen insbesondere den Bundesverteidigungsminister fürEinsparungen in seinem Bereich verantwortlich, um da-mit einen großen Teil dieser sogenannten globalen Min-derausgabe zu decken. – Herr Scharping ist im Augen-blick nicht anwesend.
– So wird es sein. – Mit dem, was der Bundeswehr imRahmen dieses Sparpaketes zusätzlich zugemutet wird –entgegen allen Versprechungen, die ihr und ihremAmtsinhaber, der gegen seinen Willen dieses Amt er-halten hat, gemacht worden sind; Ende des letzten Jahreshieß es, die Bundeswehr werde von den jetzt als not-wendig angesehenen Sparmaßnahmen ausgenommen –,wird ihre Funktionsfähigkeit im Kern beschädigt.
Möglicherweise schließt sich gerade der Bundesau-ßenminister mit dem Bundesverteidigungsminister kurz.Es macht nämlich keinen Sinn, über internationale Ver-pflichtungen der Bundeswehr zu sprechen und weitereBeiträge der Bundesrepublik Deutschland zu internatio-nalen Friedensmissionen in Aussicht zu stellen,
Friedrich Merz
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4662 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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wenn nicht gleichzeitig auch die Bundeswehr bezüglichihrer Personalsituation und technischen Ausrüstung indie Lage versetzt wird, einen solchen Auftrag wahrneh-men zu können.
Herr Kollege Poß, die Lautstärke Ihrer Zwischenrufeist diametral entgegengesetzt der Überzeugungskraft,mit der Sie Ihre Politik im eigenen Wahlkreis vertreten.
Ich habe mir mit großem Interesse die Wahlergebnissevom letzten Sonntag angesehen. Gerade in den früherenHochburgen der SPD im Ruhrgebiet ist zu beobachten –diese Tatsache verdient es, daß eine breitere Öffentlich-keit von ihr Kenntnis nimmt –, daß die größten Verluste,die die SPD dort am letzten Sonntag erlitten hat, imWahlkreis des Kollegen Poß in einer Größenordnungvon 14,1 Prozent gegenüber der letzten Kommunalwahllagen.
Es wird noch besser – ich habe mir die Ergebnisse genauangesehen –: Herr Poß, vielleicht haben Sie diese Zahlnicht so genau im Kopf. Gegenüber der Bundestagswahlhaben Sie 20,7 Prozent verloren. Das ist ein Beleg fürdie Überzeugungskraft des Kollegen Poß in seinem ei-genen Wahlkreis.
– Da hinten ruft einer, der es noch besser kann als Sie.Aber auch da finden demnächst Wahlen statt.
Ich komme zurück auf den Bundeshaushalt des Jahres2000. Sie beziehen – nicht nur in den Haushalt des Jah-res 2000, sondern auch in die mittelfristige Finanzpla-nung – eine erhebliche Begrenzung des Einkommens-zuwachses bei den Abschlüssen für die Beamten ein.Herr Eichel, die ÖTV und andere haben Ihnen bereitsklar gesagt, daß das mit ihnen nicht zu machen ist.
Ganz objektiv wird es in einer ganzen Reihe von Bun-desländern gar nicht so gehen können, wie Sie das wol-len. Denn Sie haben offensichtlich übersehen, daß inSachsen und in anderen ostdeutschen Bundesländern eingroßer Teil der öffentlich Bediensteten, die Sie in IhreRechnung einbezogen haben, nicht Beamte, sondernAngestellte des öffentlichen Dienstes sind.
Sie können also von einer solchen Begrenzung des Zu-wachses bei den Einkommen der Beamten und andererMitarbeiter des öffentlichen Dienstes objektiv nicht aus-gehen.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nocheinmal auf das Thema Ökosteuer zu sprechen kommen,jenseits aller steuerrechtlichen und sozialpolitischen Er-wägungen: Wenn das Wirklichkeit wird, was Sie mit derÖkosteuer in den nächsten fünf Schritten geplant haben,dann werden Sie am Ende dieses Zeitraums im Bundes-haushalt Ausgaben – gesetzliche Verpflichtungen! – ineiner Größenordnung von 150 Milliarden DM eingestellthaben, über die Sie nicht mehr verfügen können, es seidenn, Sie stellen die Finanzierung der Rentenversiche-rung über die Ökosteuer zu einem späteren Zeitpunkt inFrage.Herr Eichel, das sind rund ein Drittel der Auszahlun-gen des Bundeshaushaltes. Wenn Sie – ich widersprecheIhnen nicht – beklagen, daß die Handlungsspielräumedes Staates durch zu viele Vorfestlegungen bei den öf-fentlichen Ausgaben zu schmal werden, dann sage ichIhnen: Mit diesem Konzept der Ökosteuer werden Siesich auf der Ebene des Bundeshaushaltes endgültig jedesHandlungsspielraumes begeben, weil Sie mit der Quer-subventionierung der Rentenversicherung durch dieÖkosteuer Festlegungen getroffen haben, von denen Sie,wenn Sie das Wirklichkeit werden lassen, nie wieder he-runterkommen.
Sie haben in diesem Zusammenhang gesagt, durchdieses Ökosteuerkonzept sei es erstmalig gelungen, dieAbgaben zu senken.
Herr Eichel, Sie senken doch keine Abgaben. Sie habenfür die Probleme der Rentenversicherung, die unbestrit-ten sind und über die wir ja schon lange diskutieren,nicht eine Problemlösung, sondern nur eine neue Finan-zierungsquelle gesucht.
Sie versuchen, mit einer eleganten Verpackung – werwolle bestreiten, daß die Formulierung „ökologisch-soziale Steuerreform“ geschickt gewählt ist: jeder ist fürÖkologie, jeder ist gerne sozial –
zu verdecken, daß Sie in Wahrheit ein zusätzliches, undzwar dauerhaftes, Problem für den BundeshaushaltFriedrich Merz
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schaffen, wenn Sie Ausgaben aus dem Bundeshaushaltin diesem Umfang für die Zukunft festlegen.
Meine Damen und Herren, wir werden im Bereichder Sozial- und Rentenpolitik und anderer sozialer Si-cherungssysteme nicht um grundlegende Veränderungenherumkommen.
– Wissen Sie, Herr Kollege Wagner, bei Ihren Zwi-schenrufen wenden sich mittlerweile schon Ihre grünenKoalitionspartner entsetzt ab. Sie sind wirklich nichtmehr anzuhören. Ich habe größtes Verständnis dafür,daß Sie nach dem Wahlergebnis im Saarland vom vor-letzten Sonntag hier besonders zerknirscht sind. Sie sindja noch nie ein Ausbund großer Fröhlichkeit gewesen.Aber Sie belästigen uns mit der Art und Weise, wie Siedazwischenrufen.
Meine Damen und Herren, wir werden um grundle-gende Strukturreformen der sozialen Sicherungssystemenicht herumkommen. Wir werden das auch deswegennicht vermeiden können, weil die Beschäftigungs-schwelle auf dem Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik– die Sie, Herr Eichel, zu Recht beklagt haben – außer-gewöhnlich hoch ist. Die Beschäftigungsschwelle sagtetwas darüber aus, ab welchem Wirtschaftswachstum inder Bundesrepublik Deutschland oder in einer anderenVolkswirtschaft eine Zunahme an Beschäftigung aufdem Arbeitsmarkt zu erwarten ist.Die Beschäftigungsschwelle in Deutschland ist in derTat hoch. Sie ist höher als in den meisten Industrielän-dern dieser Welt. Woran liegt das? Sie haben wohlweis-lich in diesem Zusammenhang nicht darüber gespro-chen, daß die Beschäftigung in Deutschland im laufen-den Jahr 1999 wieder deutlich abgenommen hat. Im üb-rigen war auffallend, daß Sie in Ihrer fast einstündigenRede das zentrale Thema Ihrer Regierung, nämlich dieBeseitigung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt, immernur im Zusammenhang mit Haushaltskennziffern ge-nannt haben.Wir werden auch in der Haushalts- und Finanzpolitiksehr viel mehr über die wirtschaftspolitischen Grundfra-gen unseres Landes sprechen müssen. Zu diesen wirt-schaftspolitischen grundsätzlichen Herausforderungengehört, daß in der Bundesrepublik Deutschland die so-genannte Beschäftigungsschwelle gesenkt werden muß.Das geht aber nur, wenn Sie die Zutrittsbarrieren zumArbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland senkenund nicht weiter erhöhen.
Diese Bundesregierung hat zum Anfang ihrer Regie-rungstätigkeit genau das Gegenteil von dem getan, waszur Senkung der Zutrittsschwellen zum Arbeitsmarkt inDeutschland notwendig gewesen wäre.Sie haben sich immer wieder selbst dafür gelobt, daßSie Versprechungen gehalten haben. In der Tat ist esnicht ehrenrührig, Versprechungen zu halten. Sie habenaber, meine Damen und Herren, von Anfang an die fal-schen Versprechungen abgegeben.
Sie haben nämlich der deutschen Öffentlichkeit – inso-weit sind Sie jetzt Gefangene Ihrer eigenen Wahlkampf-rhetorik des letzten Jahres – den Eindruck vermittelt,man könne auch mit sehr hohen Kündigungsschutz-schwellen, mit einer sehr umfangreichen Lohnfortzah-lung im Krankheitsfall und mit weiteren Rigiditäten aufdem Arbeitsmarkt das Problem nur dadurch lösen, wennman das vorhandene Volumen an Arbeit möglichst ge-recht verteilt. Meine Damen und Herren, die Bundesre-publik Deutschland hat aber nicht in erster Linie einVerteilungsproblem, sondern ein nachhaltiges Investi-tions- und Wachstumsproblem.
Sie werden selbst bei einer besseren Entwicklung derKonjunktur, die in der Tat auch ohne Ihr Zutun im näch-sten Jahr zustande kommen wird, nicht vermeiden, daßdie Beschäftigungsschwelle in der BundesrepublikDeutschland nach wie vor oberhalb des Zuwachses desrealen Bruttoinlandsproduktes liegen wird.Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland –darauf, Herr Eichel, haben Sie überhaupt keine Antwortgegeben – zur Absenkung der Beschäftigungsschwelleund für die Möglichkeit, mehr Beschäftigung zu organi-sieren, eine höhere Flexibilität des Arbeitsmarktes. Wirbrauchen mehr Möglichkeiten, um auch im unterenLohnbereich Beschäftigung zu organisieren. Wenn Siemit diesen hohen Zutrittsbarrieren zum Arbeitsmarktfortfahren, dann werden Sie dieses zentrale Problem un-seres Landes, das Sie zum zentralen Anliegen Ihrer Re-gierung gemacht haben, nicht lösen.
Richtigerweise haben Sie in Ihrer Rede immer wiederdie Steuerpolitik angesprochen. Sie haben gesagt, Siewollten in der Bundesrepublik Deutschland ein Steuer-system nach Leistungsfähigkeit und Sie wollten in derBundesrepublik Deutschland ein gerechtes Steuersy-stem, das mehr Beschäftigung ermögliche. Herr Eichel,ich habe in guter Erinnerung, wie die Angriffe aus denReihen der Sozialdemokraten und aus den Reihen dersozialdemokratisch geführten Bundesländer gegen unserSteuerkonzept in den Jahren 1996 und 1997 gelaufensind, als wir genau das, was Sie heute reklamieren,schon einmal machen wollten. Ich könnte Ihnen heutenoch Briefe vorlesen, die Kollegen aus der SPD-Bundestagsfraktion aus den Küstenländern verfaßt ha-ben. Ich könnte Ihnen einen Brief vorlesen, den die nochamtierende Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein geschrieben hat, als wir genau das machenwollten, was Sie heute reklamieren, nämlich die zahlrei-chen Ausnahmetatbestände in unserem Steuersystem zuFriedrich Merz
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beseitigen. Ich nenne nur das Beispiel der Schiffsbetei-ligungen. Wir wollten das im Jahr 1997 angehen; wirwollten die steuerliche Bemessungsgrundlage soverbreitern, daß eine Besteuerung nach Leistungsfähig-keit in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich ver-wirklicht wird.
Diejenigen, die das verhindert haben, sitzen hier auf derlinken Seite, meine Damen und Herren.
Ich finde es ja schon fast amüsant, wie häufig an dieOpposition appelliert wird, jetzt nicht zu blockieren.Offensichtlich haben Sie Angst davor, daß die heutigeOpposition die gleichen Verhaltensmuster wie die frühe-re Opposition anwendet.
Ich sage Ihnen: Wir werden das nicht tun. Im Gegenteil:Ich mache Ihnen zwei konkrete Angebote. Ich macheIhnen das Angebot, daß wir mit Ihnen zusammen beizwei zentralen innenpolitischen Fragen gemeinsameKonzepte erarbeiten und kurzfristig umsetzen.Erstens. Wir sind bereit, mit Ihnen darüber zu spre-chen, ob nicht die nebeneinander stehenden und häufigauch im Widerspruch zueinander stehenden Systeme derArbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe in der Bundesre-publik Deutschland zu einem Transfersystem zusam-mengefaßt werden sollten.
Die Ausgaben für die Sozialhilfe bewegen sich ineiner Größenordnung von 50 Milliarden DM und für dieArbeitslosenhilfe in einer Größenordnung von 30 Milli-arden DM. Im Arbeitslosenhilfesystem besteht nicht dieMöglichkeit, jemanden zu entsprechender Beschäftigungheranzuziehen und zur Aufnahme gemeinnütziger Tä-tigkeit zu verpflichten. Die Behörden, die diese sozialenSysteme zu verwalten haben, stehen nebeneinander,teilweise sogar gegeneinander. Sie schieben sich dieFälle gegenseitig zu. Durch ein einheitliches Transfersy-stem könnte man hier nicht nur einen erheblichen Teilder Ausgaben einsparen, sondern auch eine konsistentePolitik für diejenigen betreiben, die diese Systeme tat-sächlich brauchen. Wir bekennen uns ausdrücklich dazu:Auch in Zukunft ist Sozialhilfe für diejenigen notwen-dig, die verschuldet oder unverschuldet ein Problem ha-ben. Wir sind ausdrücklich bereit, zugunsten einer neuenMöglichkeit der Finanzierung, die auf unterer Ebenegehalten werden muß, die Systeme der Sozialhilfe undder Arbeitslosenhilfe zu einem System zusammenzufas-sen.
Kollege Merz, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fuhrmann?
Der Kollege Fuhr-
mann? – Gerne.
Herr Merz, habe ich Sie
richtig verstanden, daß es im Bundessozialhilferecht
keine Möglichkeit gibt, zu gemeinnütziger Arbeit heran-
gezogen zu werden? Das irritiert mich jetzt.
Ich habe Verständnisdafür, Herr Kollege Fuhrmann, daß Sie das irritiert. Siealle waren damals, als wir diese Regelung eingeführthaben, dagegen. Trotzdem haben Sie dies nach dem Re-gierungswechsel – richtigerweise – nicht geändert. Abernach den Bestimmungen des Sozialhilfegesetzes könnenSozialhilfeempfänger zu gemeinnütziger Arbeit heran-gezogen werden. Wenn Sie dieser Verpflichtung nichtFolge leisten, müssen sie eine erhebliche Kürzung ihrerLeistungen akzeptieren. Darauf habe ich ausdrücklichhingewiesen.
– Entschuldigung, wenn es ein Mißverständnis gegebenhat. Ich habe es ausdrücklich gesagt.Ich habe darauf hingewiesen – Ihre Frage ist deswe-gen richtig und notwendig, weil sie mir Gelegenheitgibt, es noch einmal zu erklären –, daß von der Mög-lichkeit, Leistungen zu kürzen, im Rahmen der Arbeits-losenhilfe kein Gebrauch gemacht werden kann. Ichbiete ausdrücklich an, daß die bisher nebeneinander ste-henden Sozialsysteme – Arbeitslosenhilfe und Sozialhil-fe – zu einem einheitlichen Sozialhilfesystem – wie im-mer Sie es nennen wollen – zusammengefaßt werden.Wenn das geschieht, muß auch die Möglichkeit wie imheutigen Sozialhilferecht gegeben sein, Empfänger vonArbeitslosenhilfe zu gemeinnützigen Arbeiten heranzu-ziehen.
Wir machen der Bundesregierung ein zweites kon-kretes Angebot der Zusammenarbeit. Wir sind bereit,mit Ihnen vorurteilsfrei auf der Basis aller bis zum heu-tigen Tag erarbeiteten fachlichen und wissenschaftlichenVorschläge in der Bundesrepublik Deutschland kurzfri-stig eine Steuerreform für Wachstum und Beschäfti-gung umzusetzen.
Ich weise darauf hin: Die zentralen Probleme unseresLandes – nicht dieser Regierung; die wird den nachfol-genden Generationen völlig gleichgültig sein – bestehendarin, daß das wirtschaftliche Wachstum zu gering ist,daß es keine Investitionen gibt und daß die Beschäfti-gungsschwelle zu hoch ist. Wir müssen in der Bundes-republik Deutschland ein Steuersystem verwirklichen,das den Forderungen nach mehr Wachstum und mehrBeschäftigung Rechnung trägt.Wenn Sie die Fragen stellen: „Was ist sozial? Was istsoziale Gerechtigkeit?“ – vorausgesetzt, dies soll mehrals Worthülsen sein, mit der Sie Wahlkampf führen –,Friedrich Merz
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dann müssen wir antworten: Sozial gerecht ist das, wasBeschäftigung in Deutschland schafft.
Diese Antwort bedeutet – bedauerlicherweise ist auchder Kollege Struck bei der Diskussion über dieses The-ma nicht im Saal –, ein Steuersystem zu verwirklichen,das im wesentlichen dem entspricht, was wir in der letztenLegislaturperiode durchzusetzen versucht haben. Wir sindbereit – ich wiederhole das –, vorurteilsfrei auf der Basisaller fachlich erarbeiteten Vorschläge eine grundlegendeReform des Steuersystems in der BundesrepublikDeutschland mit Ihnen durchzusetzen, und zwar zu einemZeitpunkt, an dem Sie sich, Herr Eichel, mit Ihrem ge-planten Betriebssteuerkonzept in den Fallstricken desSystems offensichtlich völlig verfangen haben.
Wir sind bereit, das mit Ihnen gemeinsam zu machen.Wir sind bereit, das zu tun, wovon der Kollege Struckvöllig zu Recht gesprochen hat, nämlich eine Steuerre-form in Deutschland auf den Weg zu bringen, die diesenNamen wirklich verdient.
Wir sind sogar bereit, mit Ihnen zusammen ein Ver-sprechen einzuhalten, das Sie und nicht wir abgegebenhaben, nämlich eine solche Steuerreform mit einer Net-toentlastung zum 01.01.2000 kurzfristig in Kraft zu set-zen. Das ist möglich. Wenn es gelänge, dann ginge einwirklicher Ruck für mehr Wachstum, für mehr Beschäf-tigung und für mehr Arbeitsplätze durch dieses Land.
Sparen ist zwar grundsätzlich richtig, aber wenn Siees nur auf der Basis Ihrer verkorksten Haushaltslage, dieSie selbst zu Beginn des Jahres 1999 mit 30 MilliardenDM Mehrausgaben gegenüber dem Vorjahr herbeige-führt haben,
wenn Sie nur Ihre eigenen Probleme lösen und nicht da-zu beitragen, daß wir in Deutschland mehr Wachstumund mehr Beschäftigung bekommen, dann wird jedeSparoperation umsonst sein, dann werden die Problemedieses Landes nicht gelöst.Herzlichen Dank.
Werter Kollege
Wagner, ich möchte Ihnen eine Empfehlung ausspre-
chen: Gehen Sie mit dem im Zwischenruf gemachten
Vorwurf „Sie lügen“ etwas sparsamer um! Man könnte
beweispflichtig werden. Es handelt sich um eine herzli-
che Bitte.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Joachim Poß,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Man kann zutreffende Feststellungen unter-schiedlich ausdrücken;
man muß nicht das Wort „Lüge“ gebrauchen. Ich werdeim Rahmen meiner Ausführungen darauf zu sprechenkommen, daß bei Herrn Merz die Fähigkeit zur Formu-lierung spitzfindiger Sottisen weitaus ausgeprägter alsder Hang zur Wahrhaftigkeit oder auch zu klarem, kon-zeptionellem Denken ist.
Eines ist nicht zu leugnen: Wir werden derzeit beiWahlen für die Abtragung der Erblast bestraft, die HerrMerz heute morgen versucht hat wegzudefinieren. Fürdiese Hypotheken werden wir bestraft.
Das muß man schlicht und einfach feststellen.Im übrigen, Herr Merz, bezogen auf meinen Wahl-kreis: Ich stand da nicht zur Wahl. Zur Wahrhaftigkeitgehört auch, das zu sagen.
Welche Zielmarke Sie und ich erreichen, das wird sichim Jahre 2002 herausstellen, Herr Merz. Das wollen wireinmal sehen. Meine letzte Zielmarke waren 65,4 Pro-zent. Ich glaube, Sie sind im Sauerland stärker eingebro-chen. Haben Sie das schon vergessen? Das war am 27.September. Herr Merz, die Konkurrenz zwischen unstragen wir wieder im Jahre 2002 aus. Dann können wirim Deutschen Bundestag Bericht erstatten, wie dieseKonkurrenz ausgegangen ist.
Wir haben hier eine Premiere erlebt. Die Rede vonHerrn Merz war eine Rede mit Ansage. In der „Welt“war heute zu lesen, er werde Herrn Eichel mit einerZahlenreihe entlarven. Was haben wir hier erlebt? HerrMerz hat versucht, mit verschiedensten Zahlen zu bele-gen, es gebe gar keine Kohlsche Erblast, es gebe nureine Erblast der sozialliberalen Koalition und eine derehemaligen DDR. Kohl und die ehemalige Regierungs-koalition hätten nie in der Verantwortung gestanden.Das war die Quintessenz der Beweisführung.Wenden wir uns doch einmal den Fakten und nichtden Vernebelungen, die hier mit eloquenter Blasiertheitvorgetragen wurden, zu.
Zu den Fakten zählt, daß in der ersten Hälfte der Regie-rungszeit von Helmut Kohl – diese Differenzierungwurde von Herrn Merz vorgenommen – die Schuldenverdoppelt wurden. In der zweiten Hälfte der Regie-rungszeit von Helmut Kohl wurden die Schulden ver-Friedrich Merz
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vierfacht. Herr Merz, Sie können reden, was Sie wollen,das sind die Fakten.
Herr Eichel hat immer die richtigen Zahlen und Datengenannt.Herr Merz, Sie haben über unsere Regierungszeit ge-sagt, wir hätten von Anfang an die falschen Verspre-chungen abgegeben. Nein, Sie haben im Zusammenhangmit der deutschen Einheit die falschen Versprechungenabgegeben.
Sie haben 1990 gesagt, die Einheit werde aus der Porto-kasse finanziert. Auf diese Weise haben Sie sich am Zu-sammenwachsen von Ost und West versündigt.
Mit Ihrer Herangehensweise haben Sie so getan, als seidie Einheit ohne Anstrengungen zu finanzieren. Für die-ses historische Versäumnis stehen Sie, Herr Merz, undandere; Herr Waigel natürlich mehr als Sie. Zu jenerZeit spielten Sie noch keine große Rolle, und die Regie-rungszeit haben Sie nicht lange genießen können. AberHerr Kohl, der vorhin hier saß, und Herr Waigel spieltenneben der F.D.P. dabei eine wichtige Rolle.Wir haben die richtigen Versprechungen abgegeben.Wir haben vor der Wahl gesagt, wir würden Arbeitneh-mer wieder in den alten Stand setzen, was ihre Rechteangeht. Dazu stehen wir Sozialdemokraten; auch wenndas manche in den eigenen Reihen oder von Gewerk-schaften ungerechtfertigterweise anders sehen. Wir ha-ben nach der Wahl das gemacht, was wir vor der Wahlgesagt haben. Wir sind wahrhaftig geblieben. Natürlichkann man über die einzelnen Maßnahmen streiten. Siedagegen haben vor der Wahl 1990 der deutschen Bevöl-kerung die Unwahrheit gesagt. Das ist die Wahrheit,meine Damen und Herren.
Es unterscheidet diese Koalition von Ihnen, daß wirnach der Wahl das machen, was wir vor der Wahl gesagthaben.
Wenn man nicht ein kurzes Gedächtnis hat, muß mandas doch zugestehen.Herr Merz hat auch gesagt, es sei nicht richtig, jetztden Erblastentilgungsfonds in den Haushalt aufzuneh-men; anderenfalls hätten wir 8 Milliarden DM tilgenkönnen. Herr Merz, es hat doch nie reale Tilgungen ge-geben. Die Tilgungen wurden durch zusätzlichen Schul-denaufbau finanziert. Das ist die Wahrheit. Es war keinechtes Tilgen.
Dann haben Sie gesagt, Sie hätten das großzügigeAngebot einer großen Steuerreform gemacht. Sie habendoch jetzt die Chance, bei den Schritten mitzuwirken,die anstehen. Wir haben den Entwurf eines Familienför-derungsgesetzes. Wir bekommen Anfang nächsten Jah-res den Entwurf einer Unternehmensteuerreform. Beidem größten Reformvorhaben, das je realisiert wurde,beim Steuerentlastungsgesetz, haben Sie doch perma-nent gegen das Schließen von Schlupflöchern gestimmt.Das gehört auch zur Wahrheit; das kann man doch imProtokoll nachlesen, Herr Merz.
Ich weiß gar nicht, welchen Eindruck Sie hier derdeutschen Öffentlichkeit vermitteln wollen. Wir realisie-ren derzeit die größte Steuerreform aller Zeiten im Zu-sammenwirken von Steuerentlastungsgesetz, Familien-förderungsgesetz, Unternehmensteuerreform und Fort-setzung der Ökosteuerreform. Ein solches Paket hat es inder Bundesrepublik Deutschland bisher noch nicht ge-geben.
Nein, es ist wirklich schizophren: Seit elf Monaten sindwir dabei, die höchste Arbeitslosigkeit, den höchstenSchuldenberg sowie die höchste Steuer- und Abgaben-last abzuarbeiten. Dabei werden wir von Ihnen so be-gleitet, wie wir es gegenwärtig erleben. Sie müssenwirklich eine andere Haltung annehmen.
Sie können doch nicht mit dem kurzen Gedächtnis derMenschen rechnen und so tun, als hätten alle vergessen– viele haben es ja leider schon vergessen –, welchenScherbenhaufen Sie uns hinterlassen haben.
Deshalb ist das Zukunftsprogramm richtig undwichtig. Über Einzelheiten des vorgelegten Zukunfts-programms wird sicher noch geredet und gestritten wer-den. Gesamtrichtung und Gesamtkonzept müssen jedochBestand haben. In dieser Frage gibt es Konsens in derSPD-Fraktion und auch bei den SPD-geführten Bun-desländern.Das Zukunftsprogramm bricht endgültig mit der Ver-schuldungspolitik der Regierung Kohl;
es stellt eine Zäsur dar. Die Zahlen hat Herr EichelIhnen genannt. Aber ich wiederhole sie; man kann sie janicht oft genug nennen. Von 350 Milliarden DM im Jah-re 1982 ist die Staatsverschuldung allein beim Bund auf1,5 Billionen DM angestiegen – eine riesige Summe,die, auf den einzelnen Bundesbürger gerechnet, einenSchuldenbetrag von etwa 19 000 DM bedeutet. Das istalarmierend.Joachim Poß
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Wenn der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, HerrDr. Schäuble, im ZDF vor Millionen von Menschen be-hauptet, mit den Staatsfinanzen sei es gar nicht soschlimm, die Lage der Bundesfinanzen werde von unsdramatisiert, dann ist das eine unzulässige – ich sage so-gar: verantwortungslose – Verharmlosung der wahrenLage.
Aber weil die abgelöste Koalition nicht den Mut undnicht die Standfestigkeit hatte, eine nachhaltige Haus-haltskonsolidierung zu betreiben, bleibt dem Partei- undFraktionsvorsitzenden Schäuble gar nichts anderes üb-rig, als zu behaupten, alles sei nicht so schlimm. Nur,zukunftsfähig ist das nicht, was er da macht.
Wenn auf Grund der aufgetürmten Schulden heutedie Zinszahlungen nach den Sozialausgaben der zweit-größte Etatposten des Bundes sind, dann ist die finanzi-elle Handlungsfähigkeit des Bundes in Gefahr. Da beißtdie Maus keinen Faden ab; das ist der Tatbestand. Jedevierte Steuermark des Bundes muß heute für Zinsenverwendet werden. Dieses Geld steht für Zukunftsauf-gaben, wie zum Beispiel für Bildung, Forschung und In-frastruktur, nicht mehr zur Verfügung. Deshalb müssenwir umsteuern. Deshalb muß unser Zukunftsprogrammeinen umfangreichen Spar- und Konsolidierungsteil ent-halten. Darüber müßte eigentlich parteiübergreifendKonsens bestehen.
In einer Welt, in der die sozialen Spannungen eher zu-als abnehmen, in der durch Globalisierung und immerrasantere Produktivitätsentwicklung auch in ZukunftArbeitsplätze gefährdet werden, muß der Staat in erheb-lichem Maße finanziell handlungsfähig bleiben.Auch das Volumen des von der Regierung vorge-schlagenen Konsolidierungspaketes ist richtig und un-vermeidlich. Würden nicht im Jahre 2000 30 Milliar-den DM und im Finanzplan bis 50 Milliarden DM ge-spart, würde die Nettokreditaufnahme des Bundes abdem Jahre 2000 Jahr für Jahr auf ein Niveau von etwa80 Milliarden DM oder höher steigen. Nur zur Erinne-rung: Den traurigen Rekord bei der jährlichen Kredit-aufnahme des Bundes hält ebenfalls die RegierungKohl/Waigel mit 78 Milliarden DM im Jahre 1996.
Die frühere Koalition hat uns einen Haushalt hinter-lassen, der in erschreckender Weise gegen das grundle-gende Prinzip der Haushaltswahrheit verstoßen hat. Sowurden zum Beispiel vor der Bundestagswahl die wirt-schaftliche Entwicklung zu positiv eingeschätzt, um dieSteuereinnahmen optisch nach oben zu treiben, die nöti-gen Ausgaben für den Arbeitsmarkt zu gering veran-schlagt, Risiken ignoriert – zum Beispiel in der Frageder Gewährleistungen – und feststehende Verpflichtun-gen nicht etatisiert – zum Beispiel beim Kohlekompro-miß. Erst als dies von der neuen Regierung bereinigtworden ist – denn darum geht es: wir haben nicht denHaushalt aufgebläht, sondern wir haben für Haushalts-klarheit und -wahrheit gesorgt, Herr Kollege Merz,nichts anderes –,
ist das Gesamtausmaß der Haushaltsmalaise deutlichgeworden.Zu den Schattenhaushalten habe ich schon etwasgesagt. Sie haben die Schattenhaushalte gebildet, um dasAusmaß der Haushaltsprobleme zu verschleiern. Auchdas haben wir beendet. Uns vor diesem Hintergrund eineexpansive Haushaltspolitik vorzuwerfen und uns zu un-terstellen, wir sammelten jetzt ein, was wir 1999 „drauf-gelegt“ hätten,
obwohl wir nur Haushaltswahrheit und -klarheit herge-stellt haben, wie Recht und Gesetz es vorschreiben,grenzt schon an Demagogie.
Was die Struktur der Sparmaßnahmen angeht,Herr Merz – wegen Ihrer Bemerkung zu einzelnenHaushalten, zum Beispiel Verteidigung –, so kann derHaushalt im notwendigen hohen Umfang nur dann kon-solidiert werden, wenn die neben den Zinsausgabengrößten Ausgabeblöcke im Bundeshaushalt – die Sozial-ausgaben, die Verteidigungsausgaben und auch die Aus-gaben für Verkehr und Bauwesen – begrenzt werden. Eswird sich in den kommenden Diskussionen im einzelnenzeigen, daß für die vom Kabinett vorgelegte Struktur derKonsolidierungsmaßnahmen gute Argumente bestehen.Es ist zum Beispiel durchaus überzeugend, in welcherWeise Arbeitsminister Riester seine Prioritäten setzt. Beider aktiven Arbeitsmarktpolitik und beim Programm ge-gen Jugendarbeitslosigkeit wird auf Einsparungen undSchnitte verzichtet. Dafür muß allerdings vorübergehendder Anstieg von Sozialleistungen begrenzt werden.Schmerzhaft und von uns nur im Hinblick auf den Ge-winn von Zukunftsperspektive akzeptabel sind sicherlichdie vorgesehenen Einsparungen bei den Arbeitslosenhil-feausgaben.Eine grundsätzliche Alternative zum eingeschlage-nen Konsolidierungskurs kann ich nicht erkennen. Erin-nern wir uns doch: Noch im Frühjahr war es beim politi-schen Gegner, teilweise auch in der eigenen Koalition –jedenfalls bei einzelnen – und auch bei den Medien eineausgemachte Sache, daß wir, um überhaupt einen ver-fassungsmäßigen Haushalt aufstellen zu können, dieMehrwertsteuer um mehrere Prozentpunkte anhebenmüßten. Aber allein aus konjunkturellen Gründen wäredas doch verheerend gewesen, meine Damen und Her-ren. Wer wie wir die Steuern gerade der Bezieher klei-ner und mittlerer Einkommen, der Familien und desMittelstandes senken will, der kann nicht gleichzeitigden Haushalt über Steuererhöhungen konsolidierenwollen. Deshalb machen wir das auch nicht.
Joachim Poß
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4668 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Die Opposition kündigt fast täglich an, sie wolle sichkonstruktiv an der Haushaltskonsolidierung beteiligen.Nur fehlen bisher ernstzunehmende Vorschläge. Wir hö-ren nur, dieses dürfe nicht gekürzt, jenes dürfe nicht zu-rückgefahren werden. Nur in einem Bereich wird dieCDU/CSU deutlich: So fordert Herr Merz im „Focus“,den Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit gleich umviele Milliarden DM zurückzufahren. Das würde be-deuten: weniger Geld für das äußerst erfolgreiche Pro-gramm gegen Jugendarbeitslosigkeit, weniger Geld füraktive Arbeitsmarktpolitik in West- und vor allem inOstdeutschland.Oder wollen Sie etwa auf die Vorschläge der HerrenProtzner und Uldall zurückgreifen? Sie forderten: keinGeld für Arbeitslose mehr im ersten Monat ohne Job, inder Krankenversicherung nur noch begrenzte Leistun-gen, erhöhte Zuzahlungen und Selbstbehalt. Es mußdoch allen klar sein: Wenn die alte Koalition bestätigtworden wäre, wäre das, was jetzt Uldall und Protznerfordern, Bestandteil des Drehbuchs für die Koalitions-vereinbarungen geworden.
Die Menschen müssen doch erfahren und es muß ih-nen klar werden, was ihnen bei Fortsetzung einerschwarzgelben Koalition gedroht hätte; dann können siezwischen jenem und dem, was wir jetzt an sozialenHärten in unserem Zukunftsprogramm formulieren, ab-wägen.
Für diese Form von konstruktiver Mitarbeit werden Sieunseren Beifall nicht finden – und wohl auch gar nichternsthaft erwarten.Die Debatte um Zukunftsprogramm und Konsolidie-rung wird insgesamt zu einseitig geführt. Konsolidie-rung und Zukunftsgestaltung sind zwei Seiten einer Me-daille. So gelingt es uns durch unseren Konsolidierungs-kurs, bereits im Jahre 1999, im Haushalt 2000, aber auchim Finanzplan bis 2003 starke Akzente für mehr Inno-vation, mehr Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit zusetzen.So wird die Bundesrepublik Deutschland ihrer Ver-antwortung für die Sicherung des Friedens und denWiederaufbau in Südosteuropa gerecht. Deshalb stellenwir im Finanzplanungszeitraum für den StabilitätspaktSüdosteuropa außerhalb des militärischen Bereichs1,2 Milliarden DM zur Verfügung. Das Programm zur Bekämpfung der Jugendar-beitslosigkeit, dessen Erfolg bereits jetzt unübersehbarist, wird auch im Jahr 2000 fortgeführt und erneut mit2 Milliarden DM ausgestattet. Insgesamt bleibt die akti-ve Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau.Die Zukunftsinvestitionen in Forschung, Bildung undWissenschaft werden sukzessive erhöht.Ab dem 1. Januar 2001 wird für Bezieher von Tabel-lenwohngeld das Wohngeld erhöht. Acht Jahre lang ha-ben vier Bauminister von CDU/CSU und F.D.P. immerwieder eine Wohngeldreform versprochen und nichtsgetan. Die neue Regierung handelt dagegen auf diesemFelde.
Beginnend mit dem Jahr 1999 wird der Einsatz re-generativer Energien von uns massiv durch zinsverbil-ligte Darlehen und/oder Investitionskostenzuschüsse ge-fördert. Schwerpunkte bilden dabei das auf sechs Jahreangelegte 100 000-Dächer-Solarstromprogramm und einMarktanreizprogramm zugunsten erneuerbarer Energien.Insgesamt werden dafür im Finanzplanungszeitraumrund 1,1 Milliarden DM aufgewendet.Mit dem bereits in Kraft getretenen Steuerentla-stungsgesetz, das finanzwirtschaftlich in einem engenZusammenhang mit der haushaltspolitischen Konsoli-dierung gesehen werden muß, werden lohnsteuerpflich-tige Arbeitnehmer bis zum Jahre 2002 um 46 MilliardenDM entlastet. Das entspricht einer Absenkung derLohnsteuerbelastung gegenüber dem bisher geltendenRecht um 14 Prozent. Dies ist eine bedeutende undgrundlegende Kurskorrektur in der deutschen Steuerpo-litik. Zu einer solchen sozialen Korrektur ist es durch diealte Bundesregierung nie gekommen; dazu wäre sie auchnie in der Lage gewesen.
Zu den großen gesellschaftspolitischen ProblemenDeutschlands gehört auch die Benachteiligung der Fa-milien mit Kindern. Das ist nicht nur, aber auch eingravierendes finanzielles Problem. Kinder sind nochimmer oft genug Armutsrisiko Nummer eins. Auch hierhaben wir bereits die Trendwende vollzogen: mit demSteuerentlastungsgesetz, mit der Anhebung des Kinder-geldes. Mit dem Familienförderungsgesetz wird eineweitere Anhebung des Kindergeldes um 20 DM vorge-nommen; auch die Erhöhung des steuerlichen Freibe-trags auf knapp 10 000 DM ist darin vorgesehen.Eine Familie mit zwei Kindern hat ab dem Jahre 2000inklusive der Grundfreibetragsanhebung und der Wer-bungskostenpauschale ein steuerfreies Einkommen vonknapp 50 000 DM.
Von einer solchen steuerlichen Entlastung konnten Fa-milien unter der Regierung Kohl nur träumen.
Für unsere Kinder zu sparen, auch wenn es manchmalschmerzhaft ist, ist Zukunftsprogramm in seiner reinstenForm. Das Steuerentlastungsgesetz enthält ebenfalls Steu-erentlastungen für kleine und mittlere Unternehmen.Nach einer Untersuchung des arbeitgebernahen Institutsder deutschen Wirtschaft werden kleine und mittlereUnternehmen um 12,3 Milliarden DM entlastet. Die ge-plante Unternehmensteuerreform soll daneben ab demJoachim Poß
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4669
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1. Januar 2001 zusätzlich rund 8 Milliarden DM netto anSteuererleichterungen bringen. Das belegt eindrucksvoll,daß nicht nur Arbeitnehmer und insbesondere Familienmit Kindern durch unsere Reformgesetze steuerlich be-günstigt werden. Auch die Wirtschaft wird spürbar undnachhaltig entlastet.All dies geht aber nur, wenn gespart wird, wenn dasZiel unserer Haushaltspolitik auch weiterhin heißt: Zu-kunftsgestaltung und Konsolidierung. Das ist die großegesellschaftliche Aufgabe, vor der wir stehen. DieSchaffung von Arbeitsplätzen kann nur mit einem finan-ziell handlungsfähigen Staat gelingen. Wir sind auf demguten Weg, einen solchen Staat hinzubekommen.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kol-
legen Günter Rexrodt, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, in Ihrer
Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 heißt es:
Der Schlüssel zur Konsolidierung der Staatsfinan-
zen ist die erfolgreiche Bekämpfung der Arbeitslo-
sigkeit.
An der Arbeitslosigkeit werden wir Sie messen – heute
und in anderem Zusammenhang. Die Bilanz, die Sie
heute vorweisen können, ist über alle Maßen dürftig.
Mit Ihrer Politik wird sie auch dürftig bleiben.
– Wir haben die Wende in der Arbeitsmarktentwicklung
geschafft. – Weil sie so dürftig ist, kaprizieren Sie sich
heute darauf, die finanzielle Hinterlassenschaft der Re-
gierung Kohl als Wurzel allen Übels darzustellen. Damit
wollen Sie glauben machen, daß der schlingernde Kurs
und die handwerkliche Unzulänglichkeit Ihrer Finanz-
politik gewissermaßen zwangsläufig die Folge der ver-
meintlichen Haushaltsmisere der Regierung Kohl seien.
Herr Eichel, Sie machen das zuweilen sehr geschickt,
weil Sie die Dinge aus dem Zusammenhang reißen;
dann nämlich sind sie formal nicht falsch. Wir alle aber
wissen: Dadurch wird es nicht richtig. Deshalb sind dies
Halbwahrheiten. Und Halbwahrheiten sind das Gefähr-
lichste und das Demagogischste, was es gibt – auch im
Zusammenhang mit der Haushaltspolitik.
Ich will Ihnen das an einem Beispiel darstellen. Sie
stellen die Bundesschuld von 300 Milliarden DM im
Jahre 1982 einer Schuld von 1,5 Billionen DM im Jahre
1998 gegenüber. Das schockt. Das müssen wir aufräu-
men, sagen Sie. Sie müssen da mithelfen, setzen Sie
hinzu. Das klingt staatstragend.
Tatsache ist, daß die Schulden des Bundes zwischen
1982 und 1989 bei einem enorm gestiegenen Sozialpro-
dukt um 59 Prozent gestiegen sind und daß in derselben
Zeit die Staatsquote von über 50 Prozent auf 45,5 Pro-
zent gesenkt werden konnte. Das war ein Riesenerfolg,
und das war auch ein Stück Aufräumarbeit.
Kollege Rexrodt, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwan-
hold?
Nein, ich würde sehrgern im Zusammenhang vortragen, Herr Präsident.Tatsache ist auch – das geben wir zu – , daß die Ver-schuldung des Bundes nach 1990 enorm angewachsenist. Aber jeder weiß, daß das wiedervereinigungsbedingtwar.Die neue Bundesregierung hat nun, um die Zahlen zudramatisieren, die Erblastentilgungsfondsschulden undden Fonds Deutsche Einheit in die Bundesschuld inte-griert. Das ist haushaltstechnisch in Ordnung. Aber dergetrennte Ausweis wäre nach meiner Überzeugung klü-ger gewesen. Ich glaube auch, eine Tilgung über die Zeithätte mit Blick auf die Generationen ihre innere Be-gründung gehabt.Darüber hinaus – das halte ich für entscheidend – istdieser Anstieg auch darauf zurückzuführen, daß sich diealten Bundesländer nur unzulänglich am Aufbau derneuen Länder beteiligt haben.
Da waren sich alle im Prinzip einig. Aber die sozialde-mokratischen Bundesländer, die immer die Fahne derSolidarität hochhalten, haben sich in diesem Zusam-menhang in besonderer Weise schwergetan.
Das war im übrigen, Herr Bundeskanzler, die Zeit, alsder niedersächsische Oppositionsführer Gerhard Schrö-der davon sprach, daß man die da drüben wohl nicht denPolen zuschlagen könne.Im Jahre 1982 konnte der Bund 48,4 Prozent der Ge-samtsteuereinnahmen auf sich ziehen. Heute sind es 40,9Prozent. Gebetsmühlenartig tragen Sie vor – auch heutewieder – , Bundeskanzler Kohl hätte den Leuten sagenmüssen: Die Wiedervereinigung kostet viel Geld; alsoSteuererhöhung gleich zu Beginn. Wahr ist, daß damalskaum einer übersehen konnte, wieviel Investitionen inden Aufbau Ost fließen mußten. Aber tun Sie von derRegierung nicht so, als ob Sie gewußt hätten, wo eslanggeht und wieviel Geld Sie hätten aufwenden müs-sen.Joachim Poß
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4670 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Nicht die gesamte, aber große Teile der SPD und derGrünen haben damals nur auf das Kostenargument ge-setzt und auf die Steuererhöhungen gelauert, weil Siedamit hätten Stimmung machen können gegen die Wie-dervereinigung Deutschlands, die in großen Teilen IhrerPartei gar nicht gewünscht worden war.
Sie haben nur darauf gelauert, daß wir mit dem Steuer-erhöhungsargument kommen.
Kollege Rexrodt, ge-
statten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte ger-
ne im Zusammenhang vortragen.
Kollege Urbaniak,
Sie haben gehört.
Ach, Feigling. Nun-
mehr kann in einem fortgeschrittenen Stadium der Wie-
dervereinigung festgestellt werden, daß in Deutschland
eine Staatsschuld von insgesamt 60 Prozent des Brutto-
sozialprodukts besteht. Daß wir im internationalen Ver-
gleich im unteren Mittelfeld liegen, ist Ausdruck der
enormen Anstrengungen der Menschen in Ost und West.
Das ist Ausdruck der enormen Leistungskraft dieses
Landes. Das, meine Damen und Herren, dürfen wir in
dieser Diskussion nicht vergessen.
Natürlich sind Staatsschulden in Höhe von 60 Pro-
zent des Bruttosozialprodukts zu hoch, viel zu hoch.
Natürlich hat das nichts mehr mit Generationengerech-
tigkeit zu tun, und natürlich muß diese Finanzlast zu-
rückgefahren werden. Da besteht ein überparteilicher
Konsens; das ist gar keine Frage. Tun Sie von der Ko-
alition aber nicht so, als ob Sie die ersten wären, die die-
ses Staatsziel überhaupt verfolgt hätten.
Tatsache ist, daß schon im Jahre 1998 bei Theo Wai-
gel die Gesamtausgaben im Bundeshaushalt unter denen
des Jahres 1993 gelegen haben.
– 1,5 Billionen DM Schulden sind aus den Gründen ent-
standen, die ich soeben dargestellt habe. Sie hängen mit
der Wiedervereinigung zusammen und damit, daß sich
vor allem – aber nicht nur – die sozialdemokratischen
Länder nicht anständig am Aufbau der neuen Länder
beteiligt haben. Das ist der Fakt.
Meine Damen und Herren, bei uns wären die Einspa-
rungen mit einer Steuerreform einhergegangen, die für
Bürger und Unternehmen eine Nettoentlastung in Höhe
von 30 Milliarden DM gebracht hätte. Aber dieses Re-
formpaket haben Sie – auch Sie, Herr Eichel – im Bun-
desrat blockiert.
Übrigens sind zur Amtszeit des Ministerpräsidenten
Eichel in Hessen die Landesschulden um 59 Prozent
gewachsen; auch das sollte man sich in Erinnerung ru-
fen.
Wir sind nicht gegen den Sparkurs. Ihr eigenes Versa-
gen in Hessen, Herr Eichel, stelle ich einmal hintan. Es
geht aber darum, ob das, was Sie uns als Sparpaket
verkaufen, eine Mogelpackung ist oder nicht. Ange-
sichts dessen möchte ich dem Bundesfinanzminister sa-
gen: Herr Eichel, es ist schon dreist, welch zusammen-
gewürfelte Mixtur ganz verschiedener Sachverhalte Sie
uns als Sparpaket verkaufen wollen. Auf einen Punkt
gebracht hat das Professor Peffekoven, der Mitglied
des Sachverständigenrates ist, als er gesagt hat – ich zi-
tiere –:
Mit dem Sparprogramm nimmt also Eichel im we-
sentlichen das zurück, was sein Vorgänger Lafon-
taine im Haushalt 1999 draufgesattelt hat.
Aber nicht einmal das schaffen Sie. Von dem Spar-
volumen in Höhe von rund 30 Milliarden DM sind allein
5,5 Milliarden DM globale Minderausgaben. Das
heißt, Sie sind – zumindest bis jetzt – nicht in der Lage,
dies konkret zu belegen. Ich hätte es für richtig gefun-
den, daß einem Parlament, dem ein solches Paket vor-
gelegt wird, konkret gesagt wird, um was es geht.
5,5 Milliarden DM sind kein Pappenstiel. Angesichts
dessen wollen wir wissen, ob und wie Sie es schaffen,
diesen enormen Betrag in den Haushalten zu sparen. Ich
glaube nicht, daß Sie überhaupt in der Lage sind, dies zu
schaffen.
Herr Kollege Rex-
rodt, es gibt noch eine Bitte um eine Zwischenfrage,
diesmal von seiten des Kollegen Wagner.
Da Sie, Kollege Wag-
ner, Mitglied des Haushaltsausschusses sind, lasse ich
diese Zwischenfrage als einzige zu. Dann möchte ich
meine Rede im Zusammenhang fortführen.
Ich möchte nur wis-sen, Herr Kollege Rexrodt, was Sie als damaliger Mi-nister erfahren haben, als Herr Waigel im Kabinett dasErfordernis einer globalen Minderausgabe in Höhe von5,2 Milliarden DM begründet hat, und welche Erfahrun-gen Sie dahin gehend gesammelt haben, wie sie aufge-Dr. Günter Rexrodt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4671
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bracht worden ist. Nach meinem Kenntnisstand sind dieBeträge nie realisiert worden, sondern sind in das näch-ste Jahr hinübergerettet worden.
Herr Wagner, IhrKenntnisstand ist falsch. Es handelte sich um einen sehrviel geringeren nicht belegten Betrag. Als wir darüber inden Ressorts gesprochen haben, standen die Strukturen,wo diese Minderausgaben zu erbringen sind, weitgehendfest. Sie sind auch erbracht worden. Das waren Beträge,die in der damaligen Zeit aus dem Haushalt zu erbringenwaren. Damals war ein bißchen mehr Fett auf den Rip-pen. Deshalb war unser Vorgehen solide und konkret.Sie aber haben nicht die geringste Vorstellung davon,wie dies umgesetzt werden soll.
Das Entscheidende ist ja, daß Sie mit diesem sogenann-ten Sparhaushalt in der Öffentlichkeit Furore machenund sagen: Das ist eine neue Konzeption bzw. eine neueRichtung. Wie Sie mit dieser riesigen Summe umgehen,wie Sie sie als eine Luftbuchung für einen Sachverhalteinrechnen, den Sie überhaupt noch nicht erfüllt haben,das ist nicht seriös, Herr Wagner.
Sie sprechen vom Sparen und verlagern bisherigeAufgaben des Bundes auf andere öffentliche Haushalte.Das ist eine weitere Dreistigkeit. Dazu gehört der Weg-fall der originären Arbeitslosenhilfe. Dazu gehört derWegfall des Wohngeldes für Sozialhilfeempfänger. Da-zu gehört die kräftige Beteiligung der Länder am soge-nannten Unterhaltsvorschuß. Allein diese drei Positio-nen addieren sich jetzt auf 3,5 Milliarden DM und fürden Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung auf15 Milliarden DM.Man kann ja im Einzelfall darüber nachdenken, obsolche Verlagerungen angebracht sind oder nicht. Aberam Ende bleibt hier der Eindruck: Das ist ein Verschie-bebahnhof hinsichtlich anderer öffentlicher Haushalte;das hat nichts mit gesamtwirtschaftlichem Sparen undeiner Neuorientierung Ihrer Politik zu tun. Das ist einVerschiebebahnhof. Hinzu kommen die Luftbuchungen.Das kann man nicht nach draußen und vor diesem Ho-hen Hause als Sparhaushalt verkaufen.
Aus meiner Sicht ist die Entwicklung der Staatsquo-te, die für das Verhältnis zwischen Bürger und Staateine sehr aussagekräftige Rechengröße ist, das einzigwichtige Kriterium; daran muß man den Erfolg und dieSeriösität einer Finanz- und Haushaltspolitik messen.Über die Staatsquote habe ich von Ihnen, Herr Eichel, inden letzten Monaten gar nichts gehört.Die Liste läßt sich fortsetzen. Diese Liste läuft aufden Eindruck hinaus: Das ist eine Mogelpackung undein Verschiebebahnhof. Sie kürzen im nächsten Jahr dieZuschüsse an die Rentenversicherung um 8 Milliar-den DM. Auch darüber kann man reden. Aber solangedas fehlende Geld von den Sozialkassen übernommenwerden muß, hat das nichts mehr mit Sparen zu tun. Dasist ein Faktum.Es ist Ihnen auch noch folgender ganz besondererTrick eingefallen: Sie rechnen die sogenannten Perso-nalverstärkungsmittel zunächst bis 2003 fiktiv auf14 Milliarden hoch, und im Haushaltssanierungsgesetz,in dem Sie nicht mehr auf eine solche Weise „gestalten“können, setzen Sie diese Personalverstärkungsmittel aufeinmal mit 2,2 Milliarden DM an. Die Differenz zwi-schen einer aufgeblasenen Zahl und den realistischen2,2 Milliarden bezeichnen Sie dann als Sparsumme. Dasmöge man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen,was uns da präsentiert wird: Man rechnet den entspre-chenden Posten intern fiktiv auf über 14 Milliarden DMhoch, dann setzt man ihn – das ist realistisch – auf2 Milliarden fest und bezeichnet anschließend die Diffe-renz von 12 Milliarden als Sparsumme! So können Siedas mit uns nicht machen.
Vor diesem Hintergrund – ich habe nur eine Auswahlvon Luftbuchungen, Verschiebebahnhöfen und Trickse-reien vorgetragen – wird dieser Haushalt Ihrem löbli-chen Anspruch – ich sage das ohne Ironie – nicht ge-recht: Pfusch und Flickschusterei an vielen Stellen. Ansich müßte man das Zahlenwerk zurücknehmen. Einesmüßten Sie ganz bestimmt tun, nämlich vorsichtig sein,dieses Machwerk als Sparpaket zu bezeichnen.
In Wirklichkeit sind fast zwei Drittel der angekün-digten Einsparungen nicht seriös und nicht belegbar. Esist ein Verschiebebahnhof.
Das muß man im Kern über das sagen, womit Sie
nach einem chaotischen Jahr rotgrüner Politik jetzt IhreGlaubwürdigkeit wiedererlangen wollen.
Die Menschen erkennen das. Wenn die Menschen dasnicht im Detail, in all seinen filigranen Verästelungenerkennen, dann spüren sie es. Die Wahlergebnisse derletzten Wochen haben Ihnen das gezeigt.
– Das hat andere Gründe. Das liegt daran, daß wir dieWahrheit sagen und eine schwierige Botschaft haben.Hans Georg Wagner
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4672 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Ihnen, meine Damen und Herren von den Regie-rungsfraktionen, will ich eines sagen: Sie tun ständig so,als ob Ihnen die Wähler weglaufen, weil Sie ein schwie-riges Sparpaket zu präsentieren haben. Wissen Sie, wasdie Wirklichkeit ist? Die Wirklichkeit ist, daß Sie seiteinem Jahr Flickschusterei betreiben und ein Chaos an-richten, daß Sie die Menschen verunsichern, was ihreRente und ihre Steuerzahlungen angeht, und die Wirk-lichkeit ist, daß die Menschen merken, daß sich dieserBundeskanzler nicht für Inhalte interessiert.
Deswegen bekommen Sie jeden Sonntag die Rechnungpräsentiert. Das sind die Fakten. Das hat überhauptnichts mit dem Sparkurs und Ihrer angeblichen Tapfer-keit zu tun, sondern mit dem Pfusch und der Flick-schusterei, die Sie in den letzten Monaten verursacht ha-ben.
Nun, meine Damen und Herren, würde ich gern aufdie weiteren vier Elemente Ihrer Finanz- und Haushalts-politik eingehen.
– Das ist ein sachlich starkes Argument, Herr von Lar-cher, sehr stark.Die Steuerpolitik der rotgrünen Koalition ist eineschlichte Zumutung,
nicht nur, weil sie unser Steuerrecht weiter kompliziertoder, wie in den Fällen der §§ 2 und 2 b des Ein-kommensteuergesetzes, ganz und gar unanwendbarmacht.
Rufen Sie einmal die Finanzämter an, und fragen Sie,wie es um die Mindestbesteuerung steht, wie man mitdiesem Sachverhalt vorankommt. Die Finanzämter sindratlos. Sie sagen Ihnen: Wir wissen nicht, wie wir dieseGesetze anwenden können. Das sind die Tatsachen.Greifen Sie zum Hörer, Sie werden es erleben. Das istFlickschusterei, und das ist Pfusch der letzten Jahre.
Konzeptionell verunsichern Sie den Mittelstand unddiejenigen, die Arbeitsplätze schaffen. Das ist keine Po-litik aus einem Guß. Wir haben Ihnen eine Steuerreformaus einem Guß vorgelegt,
die eine Entlastung beim Eingangssteuersatz, in derMitte und beim Spitzensteuersatz ermöglicht hätte. Daswäre eine Steuerreform gewesen, die Arbeit geschaffenhätte.
Sie haben sie verhindert. Sie machen jetzt eine Entla-stung im unteren Bereich. Das ist im übrigen berechtigt,und das wäre im übrigen okay,
wenn es im Kontext erfolgt wäre. Aber Sie meinen ja,Sie können sich einen Lorbeerkranz flechten, indem Sievon oben nach unten umverteilen.
Sie vergessen und übersehen dabei, daß Sie die Men-schen, die dafür Sorge tragen, daß in Deutschland Ar-beitsplätze entstehen, nämlich die mittleren und kleinenUnternehmen, verunsichern und vor den Kopf schlagen.
Weil Sie merken, daß Sie die Karre gegen die Wandfahren, kündigen Sie nun eine Unternehmensteuerre-form an.
– Dann war es eben mitbedacht. – Aber ich bitte Siedarum, einmal über folgendes nachzudenken, weil eshier nicht darum geht, ob ein Steuersatz einen Prozent-punkt höher oder niedriger ist, oder um eine Geschichte,die Sie in den Sand gesetzt haben, wie bei den630-Mark-Jobs, die aber korrigierbar ist.
Bei der Unternehmensteuerreform geht es um viel mehr.Diese Reform birgt meines Erachtens die Gefahr, daßunsere personenbezogenen Unternehmensstrukturenüber den Haufen gerannt werden.
Ich sehe in dem, was man bisher erkennt, die Gefahr,daß Erträge – steuerpolitisch bedingt – an nicht optima-ler Stelle im Betrieb eingesperrt werden. Dies müßtezwangsläufig zu einem volkswirtschaftlich bedenklichenund falschen Investitionsverhalten führen. Das sind dieFakten, meine Damen und Herren.
Es geht hier um die Weichenstellung in unserem Land –steuerpolitisch und auch mit Blick auf die Unterneh-mensverfassung über Jahre hinweg.Herr Eichel, ich möchte Sie hier abseits von demSchlagabtausch, den wir über tagespolitische Themenführen, sehr herzlich bitten, diese Dinge, was die Unter-nehmensverfassung und die Spreizung der Steuersätzeangeht – personenbezogene Unternehmensstrukturenversus Optierung für die Kapitalertragsteuer und alleFolgen, die daraus resultieren –, schon in der Konzepti-Dr. Günter Rexrodt
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onsphase auch mit uns zu besprechen und verantwor-tungsvoll anzugehen. Das ist mehr als die Gestaltungeines Steuersatzes. Hier geht es um die verfassungskon-formen unternehmenspolitischen Formen in unseremLand.
An dritter Stelle nennen Sie in Ihrem finanzpoliti-schen Konzept die Verteuerung des Ressourcenver-brauchs. Das ist auch Steuerpolitik, meine Damen undHerren. Beim Bürger kommt dieses Steuerkonzept ganzschlicht an als Abkassieren, und zwar verpackt undüberhöht durch zwei Argumente, die sich ganz schnellals falsch und bedenklich erweisen. Es sei doch viel bes-ser, den Verbrauch natürlicher Ressourcen und nicht denFaktor Arbeit in Gestalt von Sozialabgaben zu verteu-ern, so heißt es. Das klingt gut, aber die Wahrheit istdoch: Wenn von der Erhöhung des Benzinpreises, wennvon der Erhöhung des Strompreises wirklich eine ökolo-gische Steuerungsfunktion ausgehen soll, dann sind Sieganz schnell bei den 5 DM der Grünen pro Liter Benzinund bei 1 DM pro Kilowattstunde Strom. Damit würdenSie den Menschen ein gutes Stück Lebensqualität verha-geln. Das trauen Sie sich aber nicht. Ich habe Verständ-nis dafür, daß Sie sich das nicht trauen. Statt dessen er-höhen Sie die Preise bis zur vermeintlichen Schmerz-grenze. Das hat jedoch mit Ökologie nichts, aber auchgar nichts zu tun.
Sagen Sie den Leuten doch: Wir brauchen Geld, undhier meinen wir, daß wir noch draufsatteln können. Daswäre wenigstens ehrlich, und das würde Ihnen eher undbesser abgenommen als Ihre verquasten Argumente zursogenannten Öko-Steuerreform.
Es ist ein ganz gefährlicher Weg, den Sie hinsichtlichdes vierten Elements Ihrer Finanz- und Haushaltspolitik,der sogenannten Senkung der Lohnnebenkosten, gehen.Genauer gesagt geht es um die Beiträge zu den Sozial-versicherungssystemen. Diese müssen in der Tat gesenktwerden, zumindest müßten sie stabilisiert werden.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Aber es geht bei der
Reform der Versicherungssysteme, wie wir mittler-
weile übereinstimmend wissen, nicht um immer höhere
Steuerbeträge, die in die Versicherungssysteme zu pum-
pen sind – mittlerweile sind es 126 Milliarden DM; das
ist ein Viertel des Gesamthaushalts –, es geht vielmehr
darum, daß die Versicherungssysteme wirklich refor-
miert werden. Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet.
Jetzt begeben Sie sich, abgesehen von den zwei Jahren,
in denen Sie die Leute über den Tisch ziehen, auf den-
selben Kurs.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, daß Herr La-
fontaine, als wir die sogenannte demographische Kom-
ponente in die Rentenformel einbrachten, an diesem Pult
stand und sagte: Diese Art der Rentenpolitik ist Betrug
an den Rentnern. Das ist „sozialer Betrug“, so hat er
wörtlich gesagt.
– Eine „soziale Sauerei“.
Jetzt bewegen Sie sich, abgesehen von dem Trick, den
Sie zwischendurch praktizieren, auf demselben Kurs.
Ihre Redezeit ist ab-
gelaufen.
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluß.
Das Desaster Ihrer Haushalts- und Finanzpolitik liegt
auf der Hand. Es ist ein Hickhack. Ich führe dabei aus
zeitlichen Gründen gar nicht an, was Sie mit der Bun-
deswehr machen.
Dann würde ich Ih-
nen auch das Wort entziehen. Sie haben Ihre Redezeit
bereits um zwei Minuten überschritten.
Ich führe gar nicht an,
was Sie bei den Straßenbaumitteln machen.
Betreiben Sie eine berechenbare Politik, eine Politik,
die darauf hinausläuft, dieses Land zu modernisierern!
Beenden Sie Ihren Streit zwischen Traditionalisten und
Modernisierern! Dann kommen wir auch bei den Ar-
beitsplätzen vorwärts, dann können wir Vertrauen bei
unseren Bürgern und ausländischen Investoren finden.
Dazu ist aber eine Veränderung dieser Politik,
die ein Desaster und ein Hickhack ist, notwendig. Bege-
ben Sie sich auf diesen Weg! Es wird für Sie ein langer
Weg sein.
Nun erteile ich dasWort dem Kollegen Oswald Metzger. Dann werden si-cherlich auch diejenigen in den ersten Reihen, die offen-siv Zeitung gelesen haben, das ein wenig einstellen. Dassieht nicht gut aus, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herr Metzger, Sie haben das Wort.Dr. Günter Rexrodt
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4674 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Kollege Rexrodt, zu dem Zu-sammenhang von Ökonomie und Sparpaket fallen mirzwei Anekdoten ein. Erstens. Gestern hat ein Ex-Minister der Unionsfraktion im Fahrstuhl gesagt: Men-schenskinder, daß ich das erleben muß; am Montag sin-ken der Euro-Kurs und der DAX, wenn wir am Sonntagdie Wahl gewonnen haben und die SPD verloren hat.– Was hier paradox wirkt, zeigt doch folgendes: DieMärkte erwarten, daß das Sparkonzept in Deutschlanddie Investitionsbereitschaft stärkt und positive Signalefür die europäische Wirtschaft setzt. Sie waren imWahlkampf als Opposition quasi der Abstauber einerPolitik, die Sie in der Vergangenheit selbst häufig ge-predigt haben. Jetzt stehen Sie plötzlich als Verteilungs-politiker da und wollen nichts mehr von der Strukturre-form in der Rentenversicherung wissen. Statt dessenziehen Sie mit dem Schlagwort „Rentenlüge“ durch dieLande, obwohl Sie wissen, daß wir die Strukturreformbrauchen. So weit ist es gekommen.
Zweitens. Der „Economist“ hat letzten Samstag in derSchlußpassage eines Artikel mit der Überschrift „Schrö-der angeschlagen“ geschrieben: Das derzeitige Zu-kunftsprogramm oder das Sparpaket und die Absicht, imJahre 2001 die Unternehmenssteuern auf ein internatio-nal konkurrenzfähiges Maß zu senken, sind der richtigeWeg, damit sich in Deutschland im nächsten Jahr dieChance eröffnet, in Richtung eines wirtschaftlichenWachstums von 3 Prozent, also in Richtung einer Ver-doppelung der Wachstumsquote, zu marschieren.Deshalb freuen sich alle aus der Opposition zu früh,die meinen, dieser Mann, der im Moment nicht hier ist,sei ausgezählt. Er – und mit ihm diese Koalition – kannsich durchaus erholen, und die Opponenten von heutekönnen sich blutige Nasen holen. Das ist die Einschät-zung der internationalen Wirtschaftspresse. Das solltenSie sich, Herr Kollege Merz, durchaus merken, weil Sieso ökonomisch argumentiert haben.
Dritter Gesichtspunkt: Wenn ich hier zuhöre, habe ichden Eindruck, daß die Roten und die Grünen sagen: Essind die Schulden der Schwarzen, und Sie sagen: Daswaren die Schulden aus der sozialliberalen Ära in den70er Jahren. – Dies ist angesichts der Wirklichkeit ab-surd. Es handelt sich um die Lasten, die wir als Volks-wirtschaft, als Bevölkerung gemeinsam zu tragen haben.Schauen Sie, Kollege Merz, Kollege Rexrodt: In den90er Jahren hatten wir in diesem Land trotz der eini-gungsbedingten Sonderkonjunkturen 1990 und 1991 eindurchschnittliches Wirtschaftswachstum von nur 1,8Prozent, das deutlich unter der Beschäftigungsschwellelag. In den 90er Jahren haben in diesem Land aber fastneun Jahre lang CDU und F.D.P. regiert, nicht wir.Glauben Sie doch nicht, daß der wirtschaftliche Ab-schwung des dritten und vierten Quartals 1998 und desersten und zweiten Quartals dieses Jahres ausschließlichvon dieser Regierung herrührte! Dieser war die Folgeder Finanzkrisen in Südostasien und in Rußland.Auch das bestätigen fast alle Wirtschaftswissenschaftlerund die Wirtschaftspresse.Im Augenblick haben wir eine Trendwende. Diesewird unter anderem dadurch herbeigeführt, daß dieserRegierung etwas gelingt, was Sie in der Vergangenheitnicht geschafft haben, nämlich das strukturelle Defizitauszugleichen, tatsächlich zu konsolidieren und nichtnur Privatisierungserlöse einzustellen und Lastenver-schiebungen in die Zukunft vorzunehmen. Dies ist eineLeistung, die Ihnen unterschwelligen Respekt abnötigt.Deswegen haben Sie es, Kollege Merz, nicht sonderlichleicht, hier anzugreifen. Dabei habe ich gedacht: Heutekommt aus der Opposition Substanz in Sachen Konsoli-dierung. Wissen Sie, was Sie vorgeschlagen haben? –Sie wollen eine Reform im Bereich der Arbeitslosen-und Sozialhilfe. Hierüber kann man grundsätzlich dis-kutieren. Aber zum Sparpaket haben Sie nur einen Ver-riß ohne eigenen substantiellen Beitrag geliefert.
Das klingt genauso wie letzte Woche im Bundesrat.Ich habe den Antrag der Länder Baden-Württemberg,Bayern, Thüringen und Sachsen sowie Bremens – groß-koalitionär regiert – gelesen, in dem steht: Sparen istprinzipiell richtig, aber das ist das falsche Sparpaket.Dann werden alle Mehrausgabenwünsche bzw. Nicht-einsparungen der unionsgeführten Länder aufgelistet.Wissen Sie, was das ist? – Das ist ein Sich-aus-der-Verantwortung-stehlen. Das ist die Bankrotterklärungeiner Opposition, die uns vorwirft, daß wir mit demKonsolidierungskurs ernst machen wollen. So weit istes!
Sich nur hinzustellen und zu sagen, wir blockierennicht – wie früher angeblich die alte Konstellation –,wird Ihnen die Öffentlichkeit nicht durchgehen lassen.
Hier im Raum sitzt der designierte Finanzminister einesLandes, Herr Jacoby aus Ihrer Fraktion. Ich bin ge-spannt, wie er als saarländischer Finanzminister imVermittlungsausschuß im Rahmen des Verhandlungspa-kets agieren wird;
denn man weiß ja, daß das Saarland auf Grund seinerHaushaltsnotlage von Bundesergänzungszuweisungenlebt und der Bund jetzt selber die Voraussetzungen dafürschafft, daß der Staat überhaupt wieder handlungsfähigwird.
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Ich komme zu einem Bereich, den man durchausnoch einmal beleuchten muß, wenn man in die Vergan-genheit schaut. Heute hat die Höhe der Verschuldung,die in den 90er Jahren einigungsbedingt explodiert ist,eine sehr große Rolle gespielt. In dem Zusammenhang,Kollege Merz, haben Sie einige Ausführungen gemacht,an denen ich merke, daß Sie der finanzpolitische Spre-cher Ihrer Fraktion und nicht der Haushaltspolitikersind. Sie haben zum Beispiel behauptet, die Integrationdes Erblastentilgungsfonds in den Bundeshaushalt ha-be den Bundeshaushalt 1999 entlastet. – Das stimmtnicht. Für 1999 sind genau 18,9 Milliarden DM an Zins-zahlungen für den Erblastentilgungsfonds eingestellt.Im alten Etat des Finanzministers Waigel – damals warder Erblastentilgungsfonds noch nicht im Bundeshaus-halt integriert – waren für dieses Jahr nur Zahlungen inHöhe von etwas über 16 Milliarden DM an den Erbla-stentigungsfonds aus dem Bundeshaushalt eingeplant.Daran wird deutlich, daß in diesem Jahr durch die In-tegration des Erblastentilgungsfonds der Bundeshaushaltsogar belastet und eben nicht entlastet wird. Das ist daseine.Zum zweiten haben Sie behauptet, daß der Fonds„Deutsche Einheit“ in den Bundeshaushalt integriertworden sei. Das stimmt nicht. Die 80 Milliarden DMsind als Sondervermögen erhalten geblieben, weil sichin diesem Fall der Bund und die Länder die Lasten tei-len.Zum dritten kann ich Ihnen sagen, daß der Erblasten-tilgungsfonds, der am Anfang dieses Jahres einenSchuldenstand von 305 Milliarden DM hatte, am Jahres-ende einen Schuldenstand von 254 Milliarden DM ha-ben wird, weil die Bundesbankgewinne von über 7 Mil-liarden DM weiterhin dort hineinfließen und weil derBund, so steht es im Haushaltsgesetz, alle Anschlußfi-nanzierungen für auslaufende Kredite des Erblastentil-gungsfonds ablöst. Deswegen wird der Erblastentil-gungsfonds in der Tat in relativ kurzer Zeit getilgt. AmEnde des Finanzplanungszeitraumes im Jahre 2003 stehtder Schuldenstand des Erblastentilgungsfonds bei nurnoch etwa 100 Milliarden DM.
Diese Tatsache wurde von der Opposition bisher nichtzur Kenntnis genommen; sie muß aber deutlich heraus-gestellt werden.
Kollege Merz, das „Handelsblatt“ hat im letzten Jahrden Sachverständigenrat mit der Frage zitiert, wie manTilgungen mit Zuschüssen aus einem Bundeshaushalt,der im Durchschnitt der letzten vier Jahre jährlich 60Milliarden DM bis 65 Milliarden DM neue Schuldenaufwies, vornehmen könne. Die Sachverständigen habeneinfach recht. Deshalb führt Ihre heutige Behauptung zunichts anderem als zu einer großen Verwirrung der Öf-fentlichkeit.
Zum Spar- und Konsolidierungskurs gibt es keineAlternative. Die „Zeit“ hat letzte Woche den Kanzler alsden Populist des Unpopulären beschrieben. In einemnachdenkenswerten Aufmacher hat Klaus Hartung amSchluß geschrieben, daß wir in der Gesellschaft dasThema „soziale Gerechtigkeit“ wieder so definieren unddiskutieren müssen, daß der Anspruch des Bürgers anden Staat mit dem Anspruch korrespondiert, den dieGemeinschaft an den einzelnen stellen kann, weil ande-renfalls das Gemeinwesen vor die Hunde ginge.Das gleiche gilt auch für die parlamentarische Aus-einandersetzung um die Finanzpolitik eines Staates.Handlungsfähigkeit muß wieder neu in dem Sinne defi-niert werden, daß der Staat nicht bei immer mehr Bürge-rinnen und Bürgern ständig höhere Steuern und Abga-ben verlangt und sie umverteilt und daß am Schluß nichtdurch eine unpräzise Zuordnung von sozialen Leistun-gen ein relativ großer Teil dieser Einnahmen verschwin-det.Durch die hohe Steuer- und Abgabenquote reprodu-ziert sich die Arbeitslosigkeit. Dieser Mechanismus istbekannt. Deshalb führt keine Alternative daran vorbei,die Staatsquote zu senken. Wir befinden uns in derglücklichen Situation, daß sowohl der Wirtschafts- alsauch der Finanzminister im Rahmen des Stabilitätspro-gramms der Regierung das Ziel formuliert haben: her-unter mit der Staatsquote auf 45 Prozent. Am Ende die-ser Legislaturperiode werden wir dieses Ziel durch unserKonsolidierungspaket erreicht haben.Herr Kollege Merz, schauen Sie sich doch eine ande-re erfreuliche Nachricht von letzter Woche an! Entspre-chend der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung derEU haben wir im letzten Jahr ein Defizitquorum von1,7 Prozent gehabt.
Wir werden dieses Defizitquorum in den nächsten Jah-ren weiter reduzieren. Dieses Ziel der Regierung ist sta-bilitätspolitisch absolut richtig. Dadurch wird die EZBin die Lage versetzt, eine Politik zu machen, die zukünf-tig – derzeit ist die Tendenz eher expansiv – bei steigen-dem Wachstum konjunkturneutral ist. Andererseits wirddiese Politik der Staatsquotensenkung dazu führen, daßallen staatlichen Ebenen, also Bund, Ländern und Ge-meinden, wieder eine ausreichende Finanzausstattungfür Investitionen gegeben wird, weil weniger Geld fürZinszahlungen auf Grund alter Schulden ausgegebenwerden muß. Damit kann auch in den sozialen Aus-gleich der Gesellschaft, die nicht auseinanderdividiertwerden darf, investiert werden.Im Rahmen dieser Debatte sollte man in keiner Weisehämisch über die Auseinandersetzungen in einer Volks-partei reden, die darum ringt, einen Kurs zwischen so-zialer Gerechtigkeit einerseits und notwendiger Konso-lidierung andererseits zu finden. Zu der Grundwahrneh-mung von politischen Parteien gehört beispielsweise,daß viele Bürgerinnen und Bürger, auch wenn sie nichtWähler der SPD sind, durchaus sagen würden: Die SPDist für die Solidarität zuständig, für einen Ausgleich derInteressen zwischen Gutsituierten und weniger gut Si-Oswald Metzger
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4676 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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tuierten. Diesen Ruf in der Bevölkerung hat sich die So-zialdemokratie über einen langen Zeitraum erworben.In der SPD-Fraktion wird jetzt darum gestritten, wieman diesen sozialen Ausgleich hinbekommt, wie man esschafft, daß die jetzigen Konsolidierungsbemühungenvon der Bevölkerung nicht als Kaltherzigkeit im Sinneeines blanken Neoliberalismus verstanden werden –nach dem Motto: Hauptsache, die Kurse an den Aktien-börsen steigen, egal welche Auswirkungen das auf dieArbeitsmärkte hat oder wie sich die Einkommenssituati-on der Unterprivilegierten darstellt.Dieser Kurs ist schwierig. Aber, meine Damen undHerren von der Union und von der F.D.P., beide Regie-rungsfraktionen werden, so glaube ich, diesen Kurs derÖffentlichkeit vermitteln können. Denn die Menschenwerden in den nächsten Monaten merken, daß die wirt-schaftliche Erholung tendenziell auch am Arbeitsmarktnicht spurlos vorübergeht und daß, Kollege Merz, nichtnur die Demographie, sondern auch die Konjunkturent-wicklung hilft. Sparen ist kein Selbstzweck. Vielmehrschaffen wir damit eine Perspektive für die öffentlicheFinanzlage in unserem Land.
Ich spreche bewußt noch einmal das Beispiel Rentean. Denn auch daran sieht man den Zusammenhang zwi-schen ökonomischer Entwicklung, sozialer Gerechtig-keit und langfristiger Finanzierbarkeit. Einer ihrer Ein-wände, Kollege Merz, war absolut richtig. Ich sage das,um hier im Parlament zu einer guten Diskussionskulturbeizutragen und auf Argumente einzugehen, obwohl Siein Teilbereichen durchaus ordentlich Polemik abgefeuerthaben. Rentenzuschüsse, die über die Ökosteuer finan-ziert werden, führen dazu, daß der Anteil der Ausgabenim Bundeshaushalt, der für die Rente aufgewendet wer-den muß, steigt. Das ist absolut richtig. Das habe ichsowohl zu Oppositionszeiten als auch in verschiedenenHaushaltsdebatten des Bundestages in diesem Jahr ge-sagt.Deshalb ist für uns Grüne eine Rentenstrukturreform,die den auf Grund der steigenden Lebenserwartung stei-genden Ausgaben Rechnung trägt, eine unabdingbareVoraussetzung, um zu der Regelung in diesem Sparpa-ket, daß die Rentnerinnen und Rentner in den nächstenzwei Jahren nur einen Inflationsausgleich erhalten, ja zusagen.
Das war aber schon immer klar. Das hat unsere Fraktionim Bundestagswahlkampf gesagt, und das steht sogar inunserem damals vielgeschmähten „Magdeburger Pro-gramm“ des letzten Jahres.
Angesichts der Tatsache, daß es hier um rund 18Millionen Menschen geht, die derzeit Rente beziehen,kommen wir gar nicht an einem größtmöglichen gesell-schaftlichen Konsens vorbei. Wir Grüne bieten dadurchaus an, die Position des Vermittlers zu überneh-men: zwischen den Verweigerern der Vergangenheit, diedie Demographie nicht wahrnehmen wollten, und denVerweigerern von heute, die einen Demographiefaktoreingeführt hatten und jetzt im Wahlkampf auf denMarktplätzen die eigenen vorgesehenen Einschnitte indie Rente verschweigen
und nur noch von einer „Rentenlüge“ der heutigen Re-gierung sprechen. Das ist unglaubwürdig.
Ich selber habe Ihren Fraktionsvorsitzenden Schäublein Potsdam über die Rente sprechen hören und warwirklich zerknirscht darüber, daß jemand, der noch imletzten Jahr in Auseinandersetzungen im Bundestag fürdie Einführung eines Demographiefaktors gestritten hat,es jetzt plötzlich schlichtweg unter den Tisch fallen läßt,daß auch er die Renten weniger stark steigen lassenwollte. Diese Form von Populismus geht mir gegen denStrich.
Die Menschen im Lande vertragen Aufrichtigkeit, unddeswegen sollte man dies alles deutlich sagen.
Wir werden in diesem Herbst – der Arbeitsministerist dabei – ein Rentenkonzept diskutieren, das eine ausunserer Sicht abgewandelte Rentenformel beinhaltet,die der steigenden Lebenserwartung Rechnung trägt. Esist logisch – keine Frage! –, daß es dazu verschiedeneWege gibt. Bezüglich des konkreten Weges sind wirnicht festgelegt. Wir wissen nur: Die steigende Lebens-erwartung führt dazu, daß das heutige nettolohnbezoge-ne Rentensystem nicht bleiben kann.Lösbar ist dies zum Beispiel im Wege der Familien-politik. Die Familienpolitik dieser Regierung ist ja we-sentlich großzügiger als die der alten Regierung.
Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen die Notwen-digkeit von Korrekturen ja mehrfach ins Stammbuch ge-schrieben.Wir werden auf jeden Fall im Herbst eine restruktu-rierte Formel auf die politische Agenda setzen. Denn:lediglich Inflationsausgleich für die nächsten zwei Jahreohne eine neue Rentenformel – das wird nicht greifen.Unsere Fraktion wird ihren Teil beitragen. Ich denke,ähnliches gilt auch für die SPD. Sie unterschätzen dieBeweglichkeit der SPD, was die Anerkenntnis der Ent-wicklungen in dieser Gesellschaft betrifft.
Oswald Metzger
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Die Volkspartei SPD ist derzeit in der Situation, daßsie sich stärker reformiert und restrukturiert als dieUnion.
Die Union ist in alte volksparteiliche Widersprüchlich-keiten zurückgefallen.
– Wissen Sie, Wahlergebnisse sind ja immer differen-ziert zu beurteilen. Kollege Merz, immerhin wissen wir– so ehrlich kann man doch in einer Parlamentsdebattediskutieren –, daß es bei uns im Hinblick auf die Fünf-Prozent-Hürde ums politische Überleben geht;
bei der SPD geht es „nur“ um den Machterhalt. Es stelltsich die Frage, wie wir aufrichtig mit einer Situationumgehen, in der wir alle wissen, daß an unserem Kon-zept praktisch kein Weg vorbeiführt, und in der die Be-völkerung unterschwellig ein Gespür dafür hat, daß die-se Politik aufrichtiger als vieles von dem ist, was wir inden letzten Jahren erlebt haben.
Ich vertrete übrigens die Auffassung, daß das kon-krete Sparkonzept nicht der entscheidende Grund dafürwar, daß beide Regierungsfraktionen in den Landtags-wahlen der letzten Wochen so abgestraft worden sind.Vielmehr gab es eine Geschichte vor dem Sparpaket.Ich behaupte im Gegenteil: Das Spar- und Konsoli-dierungsprogramm mit der Unternehmensteuerreform,mit den Aspekten der Steuerentlastung für mittlere unduntere Einkommen und mit der Familienkomponentewird uns aus dem Tal der Tränen herausführen. Bereitsbei den Wahlen des nächsten Frühjahrs weiß ich nicht,ob Ihre Seite so triumphierend durch die Hallen schlei-chen kann. Denn die Verfallszeit von politischen Stim-mungen ist außerordentlich kurz. Sobald sich an derwirtschaftlichen Lage etwas ändert, sobald die Ökono-mie anzieht, werden wir in eine bessere Ausgangssitua-tion kommen. Darauf kann ich Ihnen Brief und Siegelgeben.
– Kollege Merz, Hochmut kommt vor dem Fall. Sie sindzur Zeit Profiteure der Performance dieser Regierung.Sie werden nicht auf Grund Ihrer eigenen Stärke ge-wählt. Ich sage Ihnen nochmals: Ihnen wächst im Bun-desrat jetzt eine Verantwortung zu, die Ihnen noch man-che schlaflose Nacht bereiten wird.
Die Grundkonzeption der Strategie dieser Regierung istnämlich tragfähig. Viele Ihrer Kollegen in den Ländernsehen das ähnlich.Der Finanzminister hat in den letzten Tagen zu Rechtdarauf hingewiesen, daß von dem ganzen 30-Milliarden-DM-Konzept 17 Milliarden DM auf das Haushaltssanie-rungsgesetz und 13 Milliarden DM auf Einschränkungenin Leistungsgesetzen entfallen. Von der gesamten Sum-me von 30 Milliarden DM sind – wenn Sie so wollen –maximal 6 Milliarden DM zustimmungspflichtig. Siewerden den Konsolidierungskurs also nicht aufdröselnkönnen. Der Bund hat auch Möglichkeiten, einmal mitden Ländern auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln,auch wenn wir wissen, daß das Verfassungsorgan Bun-desrat die Rechte der Länder – dazu sind die Regierun-gen der Länder gewählt – zu vertreten hat. Der Gesamt-verantwortung für die öffentlichen Finanzen können sichdie Länder nicht entziehen.
Deswegen werden Sie auch nicht an der Tatsachevorbeikommen, daß der Bund – das hat übrigens derKollege Adolf Roth bei jeder sich bietenden Gelegenheitin den Haushaltsdebatten in der Unionsregierungszeiterwähnt – durch das föderale Konsolidierungspro-gramm, das seit dem 1. Januar 1995 gilt und das 1993 –also zu Zeiten, in denen Theo Waigel Finanzministerwar – beschlossen wurde, den seit ewigen Zeiten gering-sten Anteil an allen staatlichen Steuereinnahmen hat.Die Länder haben Steuereinnahmenzuwächse gehabt.Das wurde nur durch die Erosion der Steuerbasis in IhrerRegierungszeit kaschiert.
Der übliche Steuerzuwachs, auf den die öffentlicheHand immer gesetzt hat – es liegt bei wirtschaftlichemWachstum in der Natur der Sache, daß die Einnahmenaus Verbrauchsteuern, aber auch aus progressiver Lohn-und Einkommensteuer bei Zuwachs der Einkommen an-steigen –, war nicht vorhanden. Trotzdem muß mankonstatieren, daß sich der Bund bei den finanzwirt-schaftlichen Kennzahlen in der Tendenz verschlechterthat und die Länder profitiert haben. Bei einer zwischen-staatlichen Finanzverteilung muß man dieser TatsacheRechnung tragen. Als Bundespolitiker kann man nichtdie Interessen der einzelnen Finanzminister der jeweili-gen Länder vertreten, sondern muß gesamtstaatlich agie-ren. – An dieser Stelle müßten die Bundespolitiker ei-gentlich klatschen, denn es geht um die Interessenlagedes Bundes.
– Kollege Poß, das gestehe ich Ihnen gerne zu.
Oswald Metzger
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Zur Steuerpolitik: Wenn Kollege Merz – er mußtegehen; er hat sich vorher bei mir entschuldigt; das warsehr kollegial – für die Union eine Diskussion über dieUnternehmensteuerreform angeboten hat, dann muß ichfeststellen, daß das ein schöner Blitzableiter in einer Si-tuation ist, in der die Frage nicht beantwortet wird, wieder Staat sich konsolidieren soll. Plötzlich taucht wiederdie Fata Morgana auf, wir könnten jetzt eine Einkom-mensteuerreform zum 1. Januar 2000 mit einer giganti-schen Nettoentlastung auf den Weg bringen. Es wird sogetan, als könnten wir wie der Nikolaus durch das Landziehen und jedem gut situierten und weniger gut situier-ten Bürger schlagartig einige Tausend DM pro Jahr anSteuergeschenken machen. Das wird nicht funktionie-ren. Dafür haben die Leute auch das Gespür. Über70 Prozent haben bei einer Emnid-Umfrage letzte Wo-che gesagt, daß an dem Konsolidierungskurs kein Wegvorbeiführt, daß also der Staat sparen muß. Wenn manin dieser Situation so tut, als könne man die alten Pe-tersberger Versprechen aus dem Hut zaubern, dann kannich nur lachen.Wir machen zumindest in einem konkreten Bereich,nämlich im Bereich der Unternehmensteuerreform fürdas Jahr 2001, ein Angebot, über das die Fachwelt unddie Wirtschaft urteilen: Damit können wir leben. ZurZeit gibt es schon einen überdurchschnittlichen Anstiegder Ausrüstungsinvestitionen. Das wird sich verstärken,weil die Betriebe, die die positiven Konjunkturerwar-tungen an den Märkten spüren, im nächsten Jahr Inve-stitionen vorgezogen tätigen werden, um noch die altenhohen Abschreibungssätze zu nutzen, während die er-warteten Gewinne in Zeiten realisiert werden, in denendie Steuertarife sinken. So ist der ökonomische Mecha-nismus. Den können Sie von CDU und F.D.P. nicht be-klagen, im Gegenteil: Auch Sie weisen auf ihn immerhin. Wenn wir auf ihn in dem jetzigen Zusammenhanghinweisen, ist das berechtigt. Wir verfolgen also imUnternehmensbereich ein Ziel, mit dem die gesamteKonjunktur stimuliert wird.Wenn die Wirtschaft stimuliert ist, tritt das ein, wasder Finanzminister schon letzte Woche im Plenum vor-sichtig angedeutet hat. Es ist ja nicht so, daß die heuti-gen Steuertarife sozusagen eine Unendlichkeitsgarantiehaben; vielmehr muß man während der gesamten Steu-erdebatte daran denken, daß selbst am Ende dieser Le-gislaturperiode der Eingangssteuersatz immer noch beifast 20 Prozent liegen wird. Wenn man den Eingangs-steuersatz und die Sozialversicherungsbeiträge als Ein-stiegshemmnisse in den ersten Arbeitsmarkt betrachtet,dann muß man feststellen – ich denke, in der SPD wirdes hiermit grundsätzlich keine Probleme geben –, daßder Eingangssteuersatz weiter gesenkt werden muß.Über den gesamten Tarifbereich muß nachgesteuertwerden, und man muß über die Neujustierung von Ver-brauchssteuern und direkten Steuern reden.
Es ist doch keine Frage, daß die Regierung mit ihremKonsolidierungsprogramm das Pulver noch nicht ver-schossen hat; vielmehr ist dieses Konsolidierungspro-gramm der Einstieg in eine Finanzpolitik, die durchsteuerliche Maßnahmen die Angebotsbedingungen ver-bessert und damit die Konjunktur verstetigt. Aber dasgilt nicht nur für oben, für den Spitzensteuersatz. Dasdarf nicht ideologisch gesehen werden. Vielmehr bietetdas jetzt vorliegende Konsolidierungspaket auch dieMöglichkeit, soziale Gerechtigkeit ins Steuerrecht zubringen und Steuerehrlichkeit dadurch zu schaffen, daßdie Tarife im gesamten Verlauf gesenkt werden. Da-durch verbreitert man die Bemessungsgrundlage. Wenndas geschieht, zahlen auch diejenigen wieder Steuern,die sich bisher entzogen haben. Das wissen wir alle.Dieses Wissen ist Allgemeingut in der Gesellschaft.Aber es wird noch zu wenig umgesetzt. Hier gibt esnoch Handlungsbedarf. Das wissen auch unsere und dieSPD-Finanzpolitiker.Zum Punkt der Glaubwürdigkeit. Ich habe schon dar-auf hingewiesen: Im Bundesrat hat die Opposition bisdato keine Vorschläge unterbreitet. Ich als haushalts-politischer Sprecher der Grünen-Fraktion kann belegen,daß meine Fraktion während der parlamentarischen Op-positionszeit die Finanzlage des Staates bereits genausoschonungslos beschrieben hat, wie sie es heute in derRegierung tut. Wir haben in allen HaushaltsberatungenKürzungsanträge eingebracht, zum Beispiel auf Sub-ventionsabbau und auf Abschaffung der Gasölbeihilfefür die Landwirtschaft. Wir haben auch Einschnitte inder Beamtenversorgung gefordert. Die Gestaltung derBeamtenversorgung kommt nach meiner Sicht in der öf-fentlichen Debatte viel zu kurz. Es wird zwar viel überdie Renten diskutiert, aber die Grundstruktur der Beam-tenversorgung wird im Gesamtkontext nicht angespro-chen.Alle diese Anträge wurden von der damaligen Regie-rung abgelehnt. Ich wünsche mir heute, daß Sie Spar-vorschläge einbringen, die wir in unserem Konsolidie-rungsprogramm noch nicht haben. Man könnte danneinmal erleben, ob wir es Ihnen gleichtun würden undSparvorschläge, die im konsumtiven Bereich notwendi-ge Restrukturierungen nach sich ziehen, ablehnen wür-den. Es ist unbedingt notwendig, den Haushalt zu sanie-ren und in Teilbereichen trotzdem Akzente zu setzen.Ich möchte einige für unsere Fraktion wichtigePunkte ansprechen. Wir stellen das Gesamttableau über-haupt nicht in Frage; wir stehen aus Überzeugung hinterder Konsolidierung, weil Generationengerechtigkeitauch heißt, daß man die Staatsfinanzen langfristig trag-fähig hält. Aber wir fragen durchaus: Ist es nicht not-wendig, daß man, wenn im Einzelplan 60, allgemeineFinanzverwaltung, 2 Milliarden DM für den Verteidigeretatisiert werden, in einem Jahr, in dem dieses Landerstmals Kriegspartei war, auch für zivile Konfliktprä-vention Mittel im Etat einstellt?
Diese Frage muß gestellt werden.Ist es richtig, daß in Zeiten, in denen Personalabbauim öffentlichen Dienst Bestandteil dieses Konsolidie-rungskonzeptes ist – Stellenkürzungen um 1,5 Prozentim gesamten Bereich –, die Nachrichtendienste, die Ge-Oswald Metzger
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heimdienste und den gesamten Sicherheitsbereich vonden Kürzungen komplett auszunehmen?
Ist es in Ordnung, wenn die Ökosteuer-Einnahmen dau-erhaft steigen, aber die Ausgaben für Programme zurMarkteinführung erneuerbarer Energien bei 200 Mil-lionen DM festgesetzt sind? Darüber muß man im Detaildiskutieren. Auch in der SPD-Fraktion gibt es denWunsch nach anderen Akzentuierungen.
Eines ist klar: Die Grünen sind in den schwierigennächsten Wochen und Monaten ein verläßlicher Partner,wenn es darum geht, dieses Konsolidierungsprogrammdurch das Parlament zu bringen und aus Überzeugungdafür zu streiten, daß wir das heutige Geld nur in Ver-antwortung vor künftigen Generationen ausgeben kön-nen. Wir glauben, daß wir mit der Politik zu Lastenkünftiger Generationen Schluß machen müssen, daß wirAnreize für Investitionen schaffen müssen und daß wirtrotzdem die soziale Gerechtigkeit dabei nicht verges-sen. Wir stehen aus Überzeugung hinter dem Konsoli-dierungsprogramm.Vielen Dank.
Das Wort hat nun
die Kollegin Professor Dr. Luft.
Frau Präsidentin! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Diese erste rotgrüne Bun-desregierung ist ein knappes Jahr im Amt und verant-wortet in der 50jährigen Geschichte der BundesrepublikDeutschland – ich bedaure, das sagen zu müssen – zweientscheidende Zäsuren. Die erste Zäsur war die grund-gesetzwidrige Beteiligung am Kosovo-Krieg. Die zweiteZäsur sind die angeblich alternativlosen tiefen Ein-schnitte in das, was in der Bevölkerung als soziale Ge-rechtigkeit und als gesellschaftliche Solidarität empfun-den wird.
Das hat Wählerstimmen gekostet und wird nochweitere kosten. Im Unterschied zu den Fraktionen vonCDU/CSU und F.D.P. sind wir darüber nicht schaden-froh. Wir empfinden darüber keine Häme. Wir bedauerndas; denn die Hoffnung in der Bevölkerung auf eine Al-ternative erfüllt sich – jedenfalls vorerst – nicht.
Herr Minister, Sie sagen, Regierung und Koalitions-fraktionen müßten den Menschen im Lande noch vielbesser erklären, daß die Zinslasten drückend sind – für-wahr –, daß die öffentlichen Kassen klamm sind und daßEinschnitte daher unvermeidlich sind. Ich sage Ihnen,Herr Minister: Die Bevölkerung ist in ihrer MehrheitTatsachen gegenüber nicht ignorant. Die Bevölkerungerkennt doch, daß es an den Börsen boomende Kursge-winne gibt. Die Bevölkerung erkennt, daß es bei großenUnternehmen, bei Banken und bei Versicherungsgesell-schaften steigende Gewinne gibt. Die Bevölkerung er-kennt, daß es eine Konzentration von privatem Vermö-gen in immer weniger Händen gibt. Auf solche Faktenaber reagiert die Bundesregierung leider überhauptnicht.
Es ist ja richtig, was Sie gesagt haben, Herr Minister:Die deutsche Einheit ist von der VorgängerregierungKohl kredit- statt steuerfinanziert worden, weil sie lieberin vollem Glanze dastehen wollte. Warum aber setzenSie jetzt die Steuersenkungspolitik gegenüber jenen fort,die zehn Jahre lang trocken unter dem Regen durchge-kommen sind?
Große Unternehmen, Banken und Versicherungsgesell-schaften sind zehn Jahre lang geschont worden. Sie ha-ben sogar seit 1994 von der Kohl-Regierung pausenlosSteuersenkungen bekommen, ohne daß es auf dem Ar-beitsmarkt zu entsprechenden Wirkungen gekommenwäre. Sie setzen das jetzt fort. Warum eigentlich könnendie Unternehmen nach beendeter Schonfrist nun nichtim nachhinein noch herangezogen werden, um endlichihren Obolus zu leisten? Warum sollen für die hohenZinslasten – sie sind fürwahr sehr hoch und drückend –jene bluten, die nicht in dem Maße wie die großen Un-ternehmen, Banken und Versicherungskonzerne vonSteuerentlastungen profitiert haben?Die soziale Schieflage ist der Knackpunkt in diesemHaushalt und auch in der mittelfristigen Finanzplanung.Es geht doch nicht nur um die quer durch alle Einzel-etats verordnete Ausgabenkürzung in Höhe von7,4 Prozent; das ist die eine Sache. Es geht um System-brüche, die auf vielen Gebieten vorgenommen werden,ohne daß verläßlich gesagt werden kann, wie denn dieneuen Systeme in der Zukunft aussehen sollen. Das führtzu einer beträchtlichen Verunsicherung in der Bevölke-rung.Ein drastisches Beispiel für diese Systembrüche istdie veränderte Bezugsbasis für die Anpassung der Ren-ten, der Arbeitslosenhilfe, des Übergangsgeldes und desUnterhaltsgeldes. Herr Minister, die davon betroffenenBevölkerungsgruppen haben ihren Konsolidierungsbei-trag, ihren Solidarbeitrag für die Gesellschaft dochschon geleistet, indem sie beispielsweise von der Öko-steuer zusätzlich belastet, aber nicht entlastet werden.Das ist die Schieflage.Ein Systembruch findet auch statt, wenn sich derBund dadurch entlastet, daß er von ihm getragene Aus-gaben in Höhe von etwa 9 Milliarden DM auf dieKommunen abwälzt. Von der Bundesregierung wäredoch zu erwarten, daß sie bei den Bundesländern umeine Wiedererhebung der Vermögensteuer wirbt, stattOswald Metzger
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4680 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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hier abzuwiegeln. Von den Einnahmen aus einer Ver-mögensteuer könnten die Kommunen direkte Zuflüssebekommen, mit denen sie beispielsweise wieder freiwil-lige Aufgaben finanzieren könnten, die sie heute nichtmehr finanzieren können. Daß man Kinder- und Jugend-arbeit, Kultur und Sport, überhaupt soziokulturelle Ar-beit, als freiwillige Aufgabe bezeichnet, tut mir schonweh. Besonders schlimm ist es, wenn ich weiß, daß dasjetzt alles unter den Hammer kommt.
Ich wage mir nicht vorzustellen, wie dieses Gemeinwe-sen in zehn oder 15 Jahren aussehen wird. Wenn die so-genannten freiwilligen Aufgaben der Kommunen wei-terhin nicht mehr finanzierbar sein werden, welchesGemeinwesen werden wir dann in zehn oder 15 Jahrenhaben?Zweifellos setzt dieser Haushalt einige Akzente, diedie Unterstützung meiner Fraktion finden werden. Dasgilt selbstverständlich für das höhere Kindergeld, die fürdie aktive Arbeitsmarktpolitik eingestellten Mittel unddas Sofortprogramm für Ausbildung und Beschäftigungjunger Leute, wenngleich ich mir sehr gut vorstellenkönnte, daß es an der Zeit ist, die Ausbildungsplatzab-gabe als Umlagefinanzierung einzuführen und die2 Milliarden DM, die im Bundeshaushalt zur öffentli-chen Finanzierung der Ausbildung vorgesehen werden,für andere Zwecke zu verwenden.
Ich nenne auch das Programm „Die soziale Stadt“ oderdas Inno-Regio-Programm.Insgesamt aber ist der Haushaltsentwurf weit davonentfernt, eine finanzielle Untersetzung der Wahlverspre-chen von SPD und Bündnisgrünen zu sein. Das bundes-tagswahlentscheidende Versprechen war die engagierteBekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Das sollte derSchlüssel zur Haushaltskonsolidierung sein. Inzwischenist die Haushaltskonsolidierung – das ist jedenfalls meinEindruck – über weite Strecken zum Selbstzweck ge-worden und hat kontraproduktive Wirkungen auf denArbeitsmarkt, weil öffentliche Investitionen reduziertwerden, weil die Kommunen zusätzlich belastet werdenund folglich als Auftraggeber für kleine und mittlereUnternehmen weitestgehend ausfallen, weil das Eigen-kapitalhilfeprogramm für Existenzgründer nach wie vornicht ausfinanziert ist und weil Mittel für die neuenLänder von Kürzungen nicht ausgenommen sind.Im übrigen, Herr Minister: Ich hoffe, es ist nur einGerücht, daß Sie sich der Zustimmung der CDU-Ministerpräsidenten von Thüringen und Sachsen, vonHerrn Vogel und Herrn Biedenkopf, versichern wollen,indem Sie ihnen die Aufstockung von Strukturhilfenzum Aufbau Ost zu Lasten der Strukturhilfen für Meck-lenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt versprechen.Herr Biedenkopf und Herr Vogel meinen jedenfalls,Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern bekä-men zuviel, und das sei ungerecht. Ich hoffe wirklich,daß das nur ein Gerücht ist.Unbestritten ist, daß dieser Bundeshaushalt konsoli-diert werden muß. Entgegen allen Unterstellungen undUnkenrufen, die immer zu hören sind, die PDS würdenur mit einem Programm „Wünsch dir was“ durch dieGegend laufen, sage ich: Wir werden nicht bedenkenloseine Erhöhung der Neuverschuldung fordern. Wir wis-sen um deren fatale Umverteilungswirkungen zugunstenVermögender. Von den Zinsen auf die Staatspapiere, de-ren Gesamtvolumen in Deutschland inzwischen über2 Billionen DM beträgt, profitieren die vermögendenSchichten überdurchschnittlich. Zur Aufbringung vonTilgung und Zins wird nun das allgemeine Steuerauf-kommen herangezogen, das sich vorwiegend aus derLohnsteuer abhängig Beschäftigter und der Mehr-wertsteuer, die die 80 Millionen hier lebenden Konsu-menten aufbringen, zusammensetzt.Wir sind für den sorgfältigen Umgang mit öffentli-chen Geldern. Wir machen auch Ausgabenkürzungs-vorschläge. Das sind zum ganz großen Teil andere alsdie der Regierung. Aber wir machen Vorschläge; meineKollegin Höll wird in der Debatte im einzelnen darübersprechen. Herr Kollege Merz – der leider nicht mehr daist, aber er hat ja im Auftrage der Fraktion gesprochen –hat in dieser Debatte jedenfalls keine Kürzungsvor-schläge unterbreitet. Er hat davon gesprochen, daß fürdie Bundeswehr und die Beamtenbesoldung mehr Gel-der eingestellt werden müssen. Ich halte es wirklichnicht für fair, wenn man in der Debatte auf der einenSeite die Regierung für den sogenannten Sparkurs lobtund auf der anderen Seite selbst eine Menge von Ausga-benerhöhungen vorschlägt, ohne selbst eine eigene Kür-zungsidee einzubringen. Wir werden unsere Vorschlägenoch in dieser Debatte vorstellen.Keine ökonomisch stichhaltige Begründung gibt esnach unserer Auffassung dafür, daß man sich bei derHaushaltskonsolidierung nur auf die Ausgabenseite be-schränkt und Einnahmeerhöhungen als Konsolidierungs-strategie außer acht läßt. Es steht auch nirgendwo ge-schrieben, daß mit Brachialgewalt binnen weniger Jahreeine Neuverschuldung von 0 DM realisiert werdenmüßte, gerade wenn man sagt, daß dieses Land das ein-zige in Europa ist, das die Wiedervereinigung von frühergetrennten Teilen zu bewältigen hat.Wir fordern, die Einnahmen zu erhöhen. Dazu liegenebenfalls unsere Vorschläge vor, die wir Herrn Eichelauch schriftlich übergeben werden. Eine mittel- undlangfristig nachhaltige Haushaltskonsolidierung läßt sichmit kurzfristigen Eingriffen in Sozialleistungen unddurch Ausgabenverlagerungen auf die Kommunen nichterreichen.
Notwendig sind aus unserer Sicht strukturelle Reformen,die von der SPD während ihrer 16jährigen Oppositions-zeit offenbar aber leider nicht konzeptionell ausreichendvorbereitet worden sind.
Denken Sie bitte an
Ihre Redezeit.
Ja, ich komme zum Ende.Dr. Christa Luft
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Ich nenne dafür nur die Besteuerung aller Vermö-gensarten, die Umbasierung der Sozialversicherungs-beiträge auf die Wertschöpfung, eine beschäftigungsori-entierte Wirtschaftsförderung und die Einrichtung einesdauerhaften Non-Profit-Sektors, in dem arbeitsloseMenschen zu einer vernünftigen, existenzsicherndenArbeit kommen können.Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktio-nen, verspielen Sie nicht endgültig die Chance auf eineAlternative zu der Politik, die am 27. September ver-gangenen Jahres abgewählt worden ist!Danke schön.
Nun hat das Wort
der Kollege Hans Georg Wagner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Wenn Sie, Frau Präsidentin,oder jemand von Ihren Kolleginnen und Kollegen heuteabend die Sitzung schließen, dann hat Hans Eichel be-reits 220 Millionen DM an Zinsen an die Banken über-wiesen. Auch morgen wird er 220 Millionen DM über-weisen, ebenso übermorgen und all die Tage.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU undF.D.P., das ist die Erblast Ihrer Regierung: 220 Millio-nen DM müssen jeden Tag an Zinsen gezahlt werden;davon profitieren nur die Banken.
Sie haben mit Ihrer Politik dafür gesorgt, daß einemBaby, das in dieser Sekunde geboren wird, eine Schul-denlast von 19 000 DM auferlegt ist. Auch die Frau, diekürzlich 106 Jahre alt geworden ist, um das andereSpektrum darzustellen, hat 19 000 DM Bundesschuldenauf ihrem alten Rücken. Das ist das Ergebnis Ihrer Poli-tik; das müssen Sie sich einmal ansehen und anerken-nen. An Alternativvorschlägen ist dazu von Ihnen bisjetzt noch nichts gekommen.Die Bundesschuld ist mittlerweile der zweitgrößteEinzelplan des Bundeshaushaltes nach dem Sozialhaus-halt, der mit 196 Milliarden DM natürlich ein ganz gro-ßes Pfund ist, mit dem man wuchern muß. Angesichtsdieser Höhe kann von Abbau von Sozialleistungen über-haupt keine Rede sein, weil alles erhalten wird, wasnotwendig ist. Auch das ist ein Punkt, den man in der öf-fentlichen Diskussion etwas stärker hervorheben sollte.– Zur Rente werde ich nachher noch etwas sagen.Herr Kollege Merz, der nicht mehr da ist, hatte javorhin eine Aussage von mir zum Wahlergebnis imSaarland gebracht. Ich gebe zu, wir haben die Wahl imSaarland verloren.
Aber bei einer Wahl spielen ja nicht allein die erzieltenProzentanteile eine Rolle, sondern auch die Stimmen.Wählerstimmen hat aber die CDU im Saarland wie inThüringen verloren. Sie hat nur wegen der geringenWahlbeteiligung Prozente gewonnen, aber Stimmenverloren. Sie sind also nicht so glorreiche Sieger, wieSie sich gerne darstellen. Kollege Metzger hat voll-kommen recht, wenn er sagt: Hochmut kommt vor demFall. Warten Sie einmal ab, wie uns, wenn sich die wirt-schaftlichen Daten verbessern, nächstes Jahr wieder je-der zujubelt und sagt, wir machen eine vernünftige undrichtige Politik.
Die brutale Altlast der abgewählten Bundesregierungbesteht nun einmal aus den 82 Milliarden DM an Zin-sen, die wir Jahr für Jahr aufbringen müssen, ohne daßmit diesem Geld überhaupt irgend etwas gestaltet wer-den kann. Nur die Banken sind froh, daß sie dieses Geldbekommen. Diese Erblast haben Sie uns hinterlassen.Jetzt vom Brandstifter zum Biedermann zu werden, daswird Ihnen nicht gelingen. Sie haben dies verschuldetund müssen auch in der jetzigen Zeit, wo wir in schwe-res Wasser geraten sind, dafür geradestehen. Durch IhrePolitik haben Sie die Zukunft unserer Kinder aufs Spielgesetzt. Wir sind dabei, durch eine Konsolidierung desHaushalts diese Zukunftsmöglichkeiten wiederherzu-stellen. Diese Aufgabe müssen wir erfüllen.
Deutschland muß für die Zukunft fit gemacht werden.Nun zum Etat der Bundeswehr: Sie sagen, man darfbei der Bundeswehr nichts kürzen. Aber was haben Sieeigentlich mit der Bundeswehr angestellt? An denStandorten meines Wahlkreises müssen völlig veralteteMaschinen gewartet werden, Lastwagen und Transport-fahrzeuge, die so alt sind wie die BundesrepublikDeutschland selber. Es wurden keine Neuanschaffungengetätigt. Sie haben bei der Bundeswehr alles verrottenlassen. Ich wundere mich, warum 6 000 Bundeswehran-gehörige dieser Tage hier demonstriert haben, wo dochdas Chaos, das Rühe und andere vorher angerichtet ha-ben, für jedermann sichtbar war.
Wir haben die Familien zum 1. Januar steuerlichentlastet. Wir haben das Kindergeld in 13 Monaten um50 DM erhöht – und werden es weiter erhöhen. Sie wa-ren 16 Jahre lang nicht dazu fähig, dies zu tun.
Wir haben die Bezieher kleinerer Einkommen steuerlichbessergestellt. Der Eingangssteuersatz ist gesenkt wor-den,
das Existenzminimum ist erhöht worden. Das geschahalles zugunsten der Bezieher kleiner und mittlerer Ein-kommen.Zu Ihren Bemerkungen zum Saarland möchte ichIhnen sagen: Diese Bundesregierung verhält sich solida-risch gegenüber dem Saarland und Bremen, denn sie hatderen Teilentschuldung in den Bundeshaushalt aufge-nommen, während Sie das verweigerten. Wenn derDr. Christa Luft
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Kollege Jacoby noch da wäre, könnte ich ihm als desi-gniertem Finanzminister des Saarlandes prophezeien,
daß er jetzt die Teilentschuldung umsetzen wird, indemer sich das Geld bei Hans Eichel wahrscheinlich persön-lich – das könnte ich mir gut vorstellen – abholt. Das istjedenfalls eine Tat dieser Bundesregierung und nichtderjenigen, die jetzt im Saarland zufälligerweise einmaldie Wahlen gewonnen haben.
Wir haben eine ganze Serie von Steuerschlupflö-chern gestopft. Während Ihrer Regierungszeit war es jamöglich, daß in Korea innerhalb von drei Tagen 180Schiffe zu Abschreibungszwecken bestellt wurden. Die-ses Steuerschlupfloch wurde gestopft. Wir haben auchdie Steuerschlupflöcher für Abschreibungen in den neu-en Ländern gestopft. Jetzt sitzen die Kameraden auf ih-ren Ruinen und stellen fest, daß sie fehlinvestiert haben.Das geschah aber auf Kosten der deutschen Steuerzah-ler. Das ist Ihr Verdienst, meine Damen und Herren, andieser ganzen Geschichte.
Wir wollen die Nettokreditaufnahme bis zum Jah-re 2003 auf 30 Milliarden DM senken und haben vor, siein der nächsten Legislaturperiode gegen null zu führen.Diese Aufgabe, die wir übernommen haben, ist wirklichschwierig. Ich bin aber sicher, daß es uns gelingt, wennwir an dem Sparkurs festhalten. Ich sage hier für dieSPD-Fraktion: Wir werden bei diesen 30 Milliarden DMnicht wackeln. Es soll sich keiner einbilden, daß daranetwas geändert wird. Das Ziel, 30 Milliarden DM einzu-sparen, bleibt bestehen.
Wir haben das Sparpaket ohne Steuererhöhungendurchgesetzt; Herr Eichel hat das heute morgen schongesagt. Wie war das denn in den letzten Jahren mit IhrerMineralölsteuererhöhung? Wie war das denn mit derMehrwertsteuer, die wir gemeinsam mit Ihnen erhöhthaben, damit die Rentenversicherungsbeiträge unter20 Prozent fallen konnten? Sie waren doch auf GrundIhrer ideenlosen und zukunftslosen Politik auf dem be-sten Weg, diese Beiträge auf 22 Prozent ansteigen zulassen.Übrigens: Herr Rexrodt, Sie haben von einem Entla-stungsvolumen von 30 Milliarden DM seitens Ihrer Re-gierung gesprochen. Davon waren allein durch dieMehrwertsteuererhöhung schon 15 Milliarden DMverbraten. Es wären noch 15 Milliarden DM übrigge-blieben; für diese haben Sie nie eine Gegenfinanzierungdargestellt.
Deswegen ist es gut, daß wir hier für Klarheit gesorgthaben.
Sie haben gesagt, die Ökosteuer sei verwerflich. Ichsage Ihnen eines, Herr Kollege Rexrodt: Wir haben dieÖkosteuer zur Finanzierung der Renten- und Sozial-versicherung eingeführt. Damit wird für die Rentnerin-nen und Rentner auch in der Zukunft Sicherheit geschaf-fen.
Jetzt komme ich zu den Renten, meine Damen undHerren. Ich habe nie eine unsinnigere Diskussion ge-führt als diese und habe nie eine verlogenere Diskussionseitens der CDU/CSU gehört als die zu diesem Punkt.
CDU/CSU und F.D.P. haben eine, wie sie es nannten,Rentenreform beschlossen, die vorsah, das Rentenniveauvon 70 Prozent auf 64 Prozent zu senken. Das war IhrBeschluß. Jede Rentnerin und jeder Rentner, die in denletzten Tagen bei den Landtagswahlen – vielleicht auchkünftig – ihre Stimme nicht abgegeben oder die CDUgewählt haben, haben sich ganz tief ins eigene Fleischgeschnitten; denn das, was Sie wollten, ist doch vielschlimmer als das, was jetzt diskutiert wird.
Ihre Handlungsweise in den letzten Jahren sprichtdoch Bände. Im vergangenen Jahr beispielsweise lag diePreissteigerungs- bzw. Inflationsrate bei 1 Prozent; dieRentenerhöhung betrug 0,4 Prozent. Wir wollen jetztendlich sicherstellen, daß die Rentnerinnen und Rentnerkeine Kaufkraftverluste mehr hinnehmen müssen undsehen deshalb für die nächsten zwei Jahre vor, die Rentein Höhe der Inflationsrate heraufzusetzen. Damit ver-dreifachen wir die Rentenerhöhung in Relation zu dem,was Sie gemacht haben, und schaffen Sicherheit für dieRentnerinnen und Rentner. Niemand nimmt ihnen Geldab. Deswegen halte ich es für verrückt, dies im Zusam-menhang mit dem Sparpaket zu diskutieren. Das eine hatdoch mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. DieRenten werden doch nicht deshalb „nur“ in Höhe der In-flationsrate angehoben, um den Haushalt sanieren zukönnen, sondern um sie zukunftssicher zu machen, auchfür die nächsten Jahrzehnte.
Sie müssen einmal einen Blick in das Grundgesetzwerfen, Herr Kollege Zwischenrufer. Im Grundgesetzder Bundesrepublik Deutschland steht:Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokrati-scher und sozialer Bundesstaat.Was haben Sie eigentlich in Ihrer Regierungszeit ausdem demokratischen und sozialen Bundesstaat gemacht?
Sie haben ihn ruiniert. Sie haben ihn handlungsunfähiggemacht für die Zukunft. Wir sind jetzt dabei, in schwie-rigen Diskussionen und mit schwierigen Entscheidun-gen, den Haushalt wieder zukunftssicher zu machen.Dem Land muß eine Zukunft gegeben werden.Hans Georg Wagner
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Ich habe Herrn Biedenkopf und Herrn Vogel so ver-standen, daß sie sagen: Wir müssen das Sparpaket dis-kutieren, aber auch unterstützen, damit der Bund hand-lungsfähig wird und im Jahr 2004 die Ostförderungweitergeführt werden kann. Dies wäre bei Ihrer Politiknicht mehr möglich gewesen. Bei Ihnen wäre mit derFörderung im Jahre 2004 Schluß gewesen. Das müssenSie sich immer wieder vor Augen führen.
Nun noch zu den Investitionen. Frau Kollegin Lufthat gerade gesagt, die Investionsquote sinke. Man mußsich dies schon einmal genau ansehen: Durch die Über-nahme der Postunterstützungskassen ist der konsumtiveBereich des Bundeshaushalts vergrößert worden. Da-durch ist die Investitionsquote relativ gesunken. InWirklichkeit aber bleibt es bei den 58 Milliarden DM,die wir in der mittelfristigen Finanzplanung zur Finan-zierung der Investitionen jährlich vorgesehen haben;daran wird nichts geändert. Wir werden jedem Versuchwiderstehen, etwas daran zu ändern. Das wird schwierigwerden, meine Damen und Herren; denn es gibt Haus-haltsrisiken.Herr Kollege Rexrodt, Sie haben sich darüber echauf-fiert, daß die globalen Minderausgaben im Verteidi-gungshaushalt, im Verkehrshaushalt und im Sozialhaus-halt nicht belegt werden. Ich kann Ihnen versichern: DieKoalition wird dies spätestens in der Bereinigungssit-zung belegen, und zwar auf den Pfennig. Das kann ichIhnen für beide Partner zusagen.
Was die globale Minderausgabe von 3,4 MilliardenDM im Verteidigungshaushalt betrifft, so habe ichHerrn Scharping wohl falsch verstanden, wenn es so ist,wie Sie es auslegen. Er hat mir gesagt, er habe die 3,4Milliarden DM im Gespräch mit dem Finanzministerbelegt. Er habe Schwierigkeiten, das zu belegen – nichtwegen der Demonstration am vergangenen Sonntag,sondern weil in der Beschaffung Lücken klafften unddie Bewaffnung der Bundeswehr unter aller Kanone sei.
Das ist etwas, was die Verteidigungspolitiker IhrerPartei ja auch wissen. Herr Rühe hat als Verteidigungs-minister – mit Blick auf die Nachfolgeregelung Kohl –Aufträge nach Bayern geschoben, um sich Herrn Waigelgesonnen zu halten. Das waren die Transportfahrzeugefür das Heer, das waren die Eurofighter, das waren dieKampfhubschrauber Uhu usw. Das waren Dinge, die mitdem eigentlichen Auftrag der Bundeswehr nur schwer inEinklang zu bringen sind.
Wenn man darüber diskutiert, wie die Sicherheitspo-litik der Bundesrepublik Deutschland aussehen soll,stellt man fest: Man muß eine Bundeswehr haben, dieim Verteidigungsfall bereit und in der Lage ist, mit allentechnologischen Geräten ausgestattet, anzutreten. Dasalles haben Sie versiebt.Ich will jetzt nicht darauf eingehen, wie es im Kosovoaussieht, daß dort Panzer ausgeschlachtet werden muß-ten, damit wenigstens die eine Hälfte funktionsfähigwar. Am Schluß hat man dann festgestellt, daß man garkeine Waffen an Bord hatte. Das sind Dinge, bei denendie Versäumnisse so eindeutig bei Ihnen liegen, daß eseigentlich verwunderlich ist, daß Sie das Wort Verteidi-gungshaushalt hier überhaupt in den Mund nehmen.
Herr Kollege Rexrodt, Sie haben eben gesagt, eswürden Beanstandungen auf die Gemeinden abgewälzt.
Die Zinslastquote des Bundes liegt bei 22 Prozent. Jedevierte Mark geht für Zinsen weg. Sie haben die Zahl ge-nannt: 82 Milliarden DM. Bei den Ländern und Ge-meinden liegt sie durchschnittlich nur bei 11 Prozent.Bei den Gemeinden ist sie noch geringer als 11 Prozent.Nur Bremen ist etwas schlechter dran. Das heißt, die de-solateste Haushaltssituation hat der Bund, und zwar vonIhnen verursacht. Wir versuchen, davon wegzukommen.Deshalb sollten Sie uns nicht diffamieren, sondern unsin diesen schwierigen Zeiten unterstützen.
Wir haben auch für die Gemeinden Entlastungen vor-gesehen. Das werden Sie, wenn Sie ehrlich und fair sindund sich das Haushaltssanierungsgesetz genau ansehen,zugeben müssen. Die Erhöhung des Kindergeldes etwaverringert die Aufwendungen bei der Sozialhilfe. Dasgeht zugunsten der Gemeinden. Der Umfang, in dem dieGemeinden von dem Paket profitieren, beläuft sich aufungefähr 350 Millionen DM jährlich. Das gilt nicht fürdie ersten beiden Jahre. Aber dann profitieren sie davon,weil langfristig eine Entwicklung eingeleitet wird, die inder Tat zu einer Entlastung in diesem Bereich führt.Ich möchte zu der Beamtenbesoldung noch etwas sa-gen.
– Das wird neu formuliert, ganz klar. Das haben wir jaauch gemacht.
Ich frage Sie: Warum haben Sie es zugelassen, daßim Gesetz für den sozialen Wohnungsbau steht, daß dersoziale Wohnungsbau Sache der Länder ist? Wenn jetztder Bund sagt, wir halten uns daran, dann sagen Sie:Geht nicht! Ihr legt alles auf die Gemeinden um. – Siemüssen einmal unterscheiden lernen und sich klarma-chen, welches wirklich die Ebene ist, die hier zählt.
Es hat neulich Diskussionen gegeben, weil ich in ei-ner Pressekonferenz gesagt habe, daß im Zuge der An-passung der Rentenentwicklung an die Inflationsratein den nächsten zwei Jahren natürlich auch die Pensio-Hans Georg Wagner
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4684 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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näre, die Beamten, die Minister, die Staatssekretäre unddie Abgeordneten mit zwei Nullrunden auskommenmüßten, weil das alles auf Pump finanziert ist. Das hatzu erregten Briefen geführt, weil man sich ärgerte. Aberdie Beamten und wir alle werden auf Pump bezahlt.Meine Damen und Herren, alle, die wir hier sitzen, ha-ben kreditfinanzierte Einkommen, die der Bund finan-ziert. Der Bund muß Geld aufnehmen, um unsere Diätenzu bezahlen; so einfach ist das. Deshalb ist ein Solidar-beitrag auch von den Gruppen einzufordern, die bisherdazu nicht bereit waren. Sie müssen lernen, daß Solida-rität keine Einbahnstraße ist, sondern daß es ein solidari-sches Verhalten geben muß, um dieses Paket über dieBühne zu bringen und den Staat wieder handlungsfähigzu machen.
Herr Kollege Kampeter, Sie, der Sie ständig dazwi-schenrufen, waren doch gegen die Änderungen bei derLohnfortzahlung. Sie waren dafür, die Lohnfortzahlungim Krankheitsfall einfach einzusparen. Sie haben es jabeschlossen. Wir haben vor der Wahl gesagt, daß wirdas ändern werden, und wir haben die Lohnfortzahlungim Krankheitsfall wiederhergestellt. Das war die Ein-haltung eines Versprechens.Vor der Wahl haben wir versprochen, daß wir die un-selige Kündigungsschutzbestimmung, die Sie be-schlossen haben, wieder aufheben. Das haben wir getan.In der letzten Sitzungswoche fand die erste Lesung be-züglich einer Neuregelung des Schlechtwettergeldesstatt. Sie sind mit dem Schicksal Tausender Bauarbeiterumgegangen, als seien diese keine Menschen; denn Siehaben sie in die Arbeitslosigkeit entlassen und damit zuLasten der Bundesanstalt für Arbeit finanzieren wollen.Wir haben gesagt, daß wir eine Schlechtwettergeldre-gelung durchsetzen werden, die das ganzjährige Ein-kommen der Bauarbeiter sicherstellt. Auch dieses Ver-sprechen haben wir eingehalten.
Letzte Woche hat Herr Schäuble im ZDF gesagt, daßdie Lage der Bundesfinanzen gar nicht so schlimm sei,wie wir sie darstellen würden. – Ich sage das so, weilmir der Präsident heute morgen verboten hat, wahr-heitswidrig das Wort Lüge zu gebrauchen.
Auch ich fände es
nicht schön, wenn Sie dies täten, Herr Kollege.
– Das hatte ich ver-mutet, Frau Präsidentin. Deswegen habe ich es vorsorg-lich anders formuliert – aber das war schlichtweg gelo-gen.
Denn es bestehen Schulden in Höhe von 19 000 DMpro Kopf der Bevölkerung. Das sind schwarzgelbeSchulden, die wir abbauen müssen. 1982 betrug dieSchuldenlast 350 Milliarden DM. 1990 betrug sie etwa700 Milliarden DM. Am Ende Ihrer Regierungszeit wa-ren es 1,5 Billionen DM. Ich formuliere es einmal an-ders – Herr Kampeter, damit auch Sie es begreifen –:1 500 Milliarden DM Schulden.
Diese haben wir von Ihnen übernommen. Jetzt müssenwir schmerzhaft versuchen, diese Schulden abzutragen.
Trotz des Wahlergebnisses im Saarland bleiben wir –Kollege Jacoby wird das bestätigen – liebenswerte, lie-benswürdige, freundliche Menschen. Sie können gernezu uns in das Saarland kommen. Sie sind herzlich will-kommen. Aber diffamieren Sie uns nicht permanent! Siesollten aufpassen, was Sie Herrn Jacoby sagen werden,wenn er einmal auf der Bundesratsbank sitzen sollte under für das Saarland weiterhin die Teilentschuldung ein-fordern müßte, weil sich die Finanzsituation im Saarlandseit 1985 so verschlechtert habe.Die CDU/CSU fordert – das habe ich Ihren Vorstel-lungen entnommen, die Sie auf Ihrer Klausurtagung inBerlin entwickelt haben –, die Zuschüsse für die Bun-desanstalt für Arbeit drastisch zu senken. Das müssendie Arbeitslosen draußen im Land wissen. Das müssenauch diejenigen, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen inAnspruch nehmen, wissen! Die CDU/CSU möchte, daßdie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kassiert bzw. nichtmehr ausgeführt werden und daß die Menschen weiter inder Arbeitslosigkeit verharren. Sie haben mit dem Be-schluß, den Ihre Arbeitsgruppe gefaßt hat, entschieden,daß Sie das Programm zur Bekämpfung der Jugendar-beitslosigkeit nicht fortführen wollen. Sie wollen esstreichen. Ich finde das einen Skandal; denn 178 000junge Menschen haben von unserem Programm profi-tiert. Die wollen Sie wieder in die Arbeitslosigkeit, indie Konzeptionslosigkeit, in die Zukunftslosigkeit ent-lassen. Das ist wirklich eine sehr progressive Politik, dieSie uns hier vortragen.
Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen. Erbetrifft die kleinen und mittleren Unternehmen. DasInstitut der deutschen Wirtschaft hat am 28. Juli 1999erklärt, daß die Koalition, die jetzige Regierung aus SPDund Grünen, eine Entlastung der kleinen und mittlerenUnternehmen in einer Größenordnung von 12,3 Milliar-den DM erreicht hat. Am 1. Januar 2001 kommen weite-re 8 Milliarden DM hinzu. Daran ist erkennbar, daß wiretwas geändert haben. Wir setzen auf kleine und mittlereUnternehmen. Sie sind auf dem Markt beweglicher alsHans Georg Wagner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4685
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Großunternehmen. Deshalb haben sie unsere volle Un-terstützung. Mehr als eine Entlastung in Höhe von 20Milliarden DM für kleine und mittlere Unternehmen –das sollten Sie einmal schaffen, davon sollten Sie sicheinmal ein Stück abschneiden! Sie waren dazu zu kei-nem Zeitpunkt in den 16 Jahren Ihrer Regierung in derLage.
Ich stelle fest: Wir werden darauf bauen und daraufvertrauen, daß Sie in den Beratungen des Haushaltsaus-schusses konstruktiv mitarbeiten. Den Kollegen Merz,der an diesen Beratungen noch nie teilgenommen hat,lade ich ausdrücklich zu einer Teilnahme ein, damit ersich einmal informiert, wie es dort zugeht. Dann werdenwir Ihre Alternativvorschläge ergebnisoffen diskutieren.Wenn sie vernünftig sind, werden sie umgesetzt; wennsie unvernünftig sind, werden sie abgelehnt. So ist dasnun einmal im politischen Leben.
Wir bauen darauf, daß Sie zu einer konstruktiven Mitar-beit zurückkehren.Schönen Dank.
Ich erteile nun der
Kollegin Dr. Höll, PDS-Fraktion, das Wort.
– Oh, Entschuldigung, Herr Kollege. Ich hatte Ihren
Namen auf der Rednerliste schon durchgestrichen, Sie
also schon abgehakt, Herr Kollege.
Denn ich dachte, Sie hätten schon geredet.
Das Wort hat der Kollege Dietrich Austermann.
Frau Präsiden-
tin, das könnte Ihnen so gefallen.
Es ist heute ein erfreulicher Tag, nicht nur, weil der
Finanzminister eine solch schlechte Rede gehalten hat.
Vielmehr hat Kollege Adolf Roth heute Geburtstag.
Herzlichen Glückwunsch!
Ich glaube, das gan-
ze Haus wird sich den Glückwünschen gern anschließen.
Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege!
Das kann mansich ganz leicht merken: Der Kollege hat an dem TagGeburtstag, an dem Konrad Adenauer sein Amt ange-treten hat. Das ist heute vor fünfzig Jahren gewesen. Icherwähne das deshalb, weil ich glaube, daß dies noch eineZeit war – daran erinnert man sich gern –, als Politikgemacht wurde, die wirklich Visionen verfolgte und dieversuchte, Visionen durchzusetzen.
Ich glaube schon, daß es richtig ist, sich daran zu erin-nern. Im übrigen möchte ich noch bemerken: Es ist mirschwergefallen, den Platz zu verlassen, auf dem ich ge-sessen habe. Ich saß eben neben Peter Jacoby, dem neu-en Finanzminister des Saarlandes.
Mein Vorredner wäre es möglicherweise gern geworden.Jeder, der seine Rede gehört hat, weiß, warum er esnicht geworden ist.
Auf der anderen Seite neben mir saß der künftige Mini-sterpräsident des Landes Schleswig-Holstein, VolkerRühe.
Ich finde, das ist durchaus ein erfreulicher Tag für uns.Ich komme jetzt zum Inhaltlichen, zu dem, was inzwei, drei wesentlichen Punkten heute immer wiederangesprochen worden ist, und will mich damit auseinan-dersetzen.Herr Kollege Wagner hat – genau wie der Bundesfi-nanzminister – versucht, die Verschuldung des Bundeseindeutig zuzuordnen. Er hat von den schwarzgelbenSchulden gesprochen.
Das ist sicher falsch, wenn man sich vor Augen führt,wie diese Schulden entstanden sind.
Das hängt aber auch davon ab, wer von der rotgrünenKoalition gerade redet. Herr Metzger hat es ein bißchenanders dargestellt und gesagt, daß er das mit der Erblastschon nicht mehr hören kann. Andere stellen das aber sodar.Wir haben 1982 350 Milliarden DM Schulden über-nommen – die Zinsen rechne ich noch gar nicht hinzu –,übrigens von Helmut Schmidt, der in der „Welt amSonntag“ gesagt hat, daß er sich mittelmäßig regiertfühlt. Ich denke, daß es zum Umgang unter Parteifreun-den gehört hat, daß er nicht schärfere Worte gebrauchthat.
Hans Georg Wagner
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4686 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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„Mittelmäßig regiert“ ist, glaube ich, ein Ausdruck, dereiniges aussagt. Wir haben also 1982 jene 350 Milliar-den DM Schulden von Helmut Schmidt übernommen.Dann kamen, nachdem wir über Jahre hinweg bis 1989vernünftige Haushalte eingebracht haben, 500 bis600 Milliarden DM aus der kommunistischen Erblast hin-zu. Deswegen bin ich jedes Mal befremdet, wenn die Er-ben der SED hier auftreten und Forderungen aufstellen.Jeder, der sich heute in Berlin-Mitte bewegt, weiß, welcheLeistungen erbracht worden sind. Weiterhin sind noch je-ne 600 Milliarden DM zu erwähnen, die inzwischen indie neuen Bundesländer hineingesteckt worden sind.Wenn das so ist, daß es sich dabei um schwarzgelbeSchulden handelt, dann sage ich: Wir übernehmen gerndie Verantwortung, weil hinter dieser Aussage das Ein-geständnis steckt, daß wir für diese positive Entwick-lung unseres Landes in den letzten zehn Jahren verant-wortlich sind.
Jeder, der sich davon lossagt, sagt sich auch von derVerpflichtung zum Aufbau Ost los, die wir miteinanderübernommen haben.
– Zu dieser Zahl komme ich gleich, Herr Kollege. Siemüßten ja eigentlich deutlich machen, wie denn die Ar-beitslosigkeit während Ihrer Regierungszeit zurückge-gangen ist.Ich fange mit diesem Punkt an. Eine wesentlicheAufgabe von Politik muß doch heute in die Richtunggehen, daß sie die Bedingungen für mehr Arbeitsplätzeverbessert und daß man das auch dokumentieren kann.Politik – auch das Sparen – sollte heute dazu beitragen,daß die Bedingungen für zusätzliche Arbeitsplätze inDeutschland verbessert werden. Das, was Sie bisher inden ersten elf Monaten gemacht haben, bewirkte genaudas Gegenteil: Arbeitsplätze sind verlorengegangen; Be-schäftigung ist zurückgegangen. Sie haben nicht mehrArbeitsplätze geschaffen, sondern Sie haben Arbeits-plätze vernichtet. Das kann man mit einem Vergleichzum Vorjahr oder mit Vergleichen auf Monatsbasis be-weisen.
Wenn Sie sich die gesamte Statistik anschauen, wer-den Sie merken: Das, was Sie gemacht haben – die Re-gelungen zur Scheinselbständigkeit, zu den 630-Mark-Arbeitsverhältnissen, die zusätzlichen Steuerbelastun-gen –, hat dazu beigetragen, die Bedingungen für mehrArbeitsplätze zu verschlechtern, Herr Kollege Schwan-hold.
– Schauen Sie sich doch die Statistik an. Wir haben imJahr 1998 die Arbeitslosigkeit um 400 000 – –
– Können Sie den Brüller nicht ein bißchen deckeln,Frau Präsidentin?
Herr Austermann
hat das Wort. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen
wollen, sollten Sie sich melden, Herr Kollege. Aber Zu-
rufe sind hier schon erlaubt, Herr Austermann.
Vielen Dank,Frau Präsidentin.Im Jahre 1998 ist die Arbeitslosigkeit gegenüber demVorjahr um 400 000 zurückgegangen. 400 000 Arbeits-lose weniger! Die Beschäftigung ist um 150 000 gestie-gen. Wenn Sie den Vergleich heute ziehen, elf Monatenach dem Regierungswechsel, werden Sie feststellen,daß dieser Rückgang von 400 000 von Monat zu Monatabschmilzt, und können absehen, wann Sie unter der Li-nie des Vorjahres liegen. Dabei ist noch nicht berück-sichtigt, daß 200 000 Menschen, demographisch be-dingt, aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind. Dasheißt, Sie haben heute weniger Beschäftigung als voreinem Jahr; Sie haben heute mehr Arbeitslose als voreinem Jahr. Das ist die Folge Ihrer Politik, und daranmüssen Finanz-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik ge-messen werden.
Das Programm, das der Bundesfinanzminister hiervorstellt, wird gelegentlich mit unterschiedlichen Titelnversehen, unter anderem wird es auch als „Zukunfts-programm“ bezeichnet. Ich habe den Eindruck, dasWort Zukunft wird jetzt zum Unwort des Jahres, wenndas Zukunft sein soll, was dort vorgestellt wird – es seidenn es wird jetzt tatsächlich gespart und gestaltet.Ich kann es Ihnen nicht ersparen, noch einmal dieZahlen vorzutragen, weil selbst Journalisten, die sichtäglich mit dem Thema befassen, bis heute noch nichtalle erkannt haben, daß Herr Eichel in der Tat gar nichtspart.
Ich nehme auf, was Kollege Merz vorhin gesagt hat: DerBundeshaushalt des letzten Jahres lag, ganz grob, bei457 Milliarden DM. Das war im übrigen das Niveauder letzten fünf Jahre. 1993 haben wir mehr ausgegebenals im letzten Jahr. Sie können sich vielleicht noch erin-nern, daß Sie uns vorgeworfen haben, wir würden eineEllbogengesellschaft propagieren, soziale Kälte schüren,eine soziale Schieflage herbeiführen und den Staat ka-puttsparen. Dies waren doch ständig die Vokabeln, mitdenen Sie uns vorgeworfen haben, wir würden zuvielsparen.
Jetzt sagen Sie, wir hätten nicht genug oder an derfalschen Stelle gespart und hinterließen einen gewalti-gen Schuldenberg. Sie haben die Behauptung aufge-stellt, wir hätten damals nicht genug getan, während Siejeden Tag neue Forderungen erhoben haben, die unserenHaushalt belastet hätten. Jetzt predigen Sie das Sparen.Dietrich Austermann
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Wie sieht es in diesem Jahr aus? Lafontaine bzw. Ei-chel geben 30 Milliarden DM mehr aus. Im nächstenJahr geben sie 22 Milliarden mehr aus als im letztenJahr. Wenn Sie den gesamten Finanzplanungszeitraumbis zum Jahr 2003 nehmen – auch wenn Eichel dannnicht mehr Finanzminister sein wird –, dann stellen Siefest: Nach Ihrer Vorstellung steigen die Bundesausgabengegenüber unserem Ansatz des letzten Jahres um 50Milliarden DM, steigen die Schulden – Herr KollegeWagner, Sie machen sich ja Sorgen um die Belastungder Bürger, was verständlich ist – bis zum Jahr 2003 um220 Milliarden DM. Eichel ist aber dann nicht mehr imAmt, denn es gibt eine gewaltige Rotation in der Regie-rung: Drei sind schon weg, die nächsten werden wahr-scheinlich irgendwann folgen. Wenn die ganzen Verlie-rer hier Platz nehmen sollen, wird wahrscheinlich dieKabinettsbank zu eng.
Es werden also in den nächsten vier Jahren 220 Milliar-den DM neue Schulden gemacht.Herr Poß, jetzt kommt das entscheidende Thema,wenn man die Berechnungen sieht. Herr Eichel sagt, ertrage dazu bei, daß es den Familien jetzt gutgehe. Ichh
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was haben die Bürger und die Betrie-
be nach Ihrem vorgelegten Programm im nächsten Jahr
mehr in der Tasche? Ausweislich seiner Antwort sieht
die Nettorechnung für die Steuerentlastung des kom-
menden Jahres so aus: 2,7 Milliarden DM weniger
nimmt der Staat an Steuern ein. Jetzt muß man dagegen-
rechnen, daß die Betriebe mit etwa 1 Milliarde DM zu-
sätzlich ein bißchen ausgeplündert werden. Das heißt,
um 3,7 Milliarden DM werden die Familien entlastet.
Jetzt teile ich die 3,7 Milliarden DM durch die 15 Mil-
lionen ersten und zweiten Kinder; das Kindergeld wird
ja nur für das erste und zweite Kind erhöht. Teile ich al-
so 3,7 Milliarden DM durch diese 15 Millionen Kinder,
ergibt sich ein Betrag von 233 DM im Jahr. Er sprach
von 1 800 DM, 2 800 DM – und und und. 233 DM im
Jahr machen grob gerechnet 20 DM im Monat aus.
Jetzt rechne ich die gewaltige Belastung gegen, die
Sie den Bürgern mit Ihrem irren Renten- und Ökosteu-
erkonzept – das ist wirklich ein irres Konzept, weil es
unterm Strich zu zusätzlicher Belastung, also in die fal-
sche Richtung, führt – aufbürden.
Sie kassieren in diesem Jahr 9,5 Milliarden DM durch
die Ökosteuer und im nächsten Jahr 17,6 Milliarden
DM. Diesen Betrag müssen Sie abziehen. Was heißt das
für Familien mit zwei Kindern? Zusätzliche Belastung.
Sie sprachen von Erblasten, deshalb sage ich Ihnen:
Wir haben die Familien in unserer Regierungszeit durch
den Familienleistungsausgleich um 50 Milliarden DM
entlastet.
– Das kann ich Ihnen leicht vorrechnen. Im Jahr 1982,
als Sie die Regierung abgegeben haben, betrug das Kin-
dergeld für das erste Kind 50 DM, als wir aufgehört ha-
ben, betrug es 220 DM. Sie haben den Kinderfreibetrag
abgeschafft; das Bundesverfassungsgericht hat deshalb
Kritik geübt. Wir haben ihn auf zirca 6 000 DM gestei-
gert; die genauen Zahlen spielen keine Rolle. Das alles
summiert ergibt eine zusätzliche Leistung für die Fami-
lien von 50 Milliarden DM. Sie kommen im nächsten
Jahr mit 3,7 Milliarden daher, klopfen sich auf die
Schulter und sprechen von Zukunftsvisionen.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kressl?
Nein.
Ich glaube, die Zahlen kann jeder nachvollziehen. FrauKressl kann sich ja später zu einer Kurzinterventionmelden und ihren Beitrag leisten.Mir geht es darum, deutlich zu machen, daß ein we-sentlicher Teil dessen, was Sie an Argumenten vorgetra-gen haben, nicht zutrifft. Es sind Scheinargumente. Da-zu gehört das Thema Sparen. Wenn ich Hans Eichelüber das Sparen reden höre, kommt es mir so vor, alskäme jemand mit einem Lendenschurz daher und sagte:Guck mal, habe ich nicht einen schönen neuen Anzugan? Denn die Dimensionen stimmen nicht. Hier wird nurein bißchen gespart. Ich kann das vorrechnen: Im näch-sten Jahr werden 7,5 Milliarden DM weniger als in die-sem Jahr ausgegeben, davon sind 5,6 Milliarden DMnicht gedeckt.Ich komme jetzt zum Thema Bundeswehr, weil dieBundeswehr ein besonderes Opfer für das Sparenerbringen muß. Es ist das erste Mal in der Geschichteder Bundeswehr, daß Soldaten gegen ihren Chef, gegenihren Minister bzw. die Bundesregierung, aufbegehren.Es ist in der Nachkriegszeit noch nicht vorgekommen,daß sich 5 000 Soldaten versammeln und friedlich gegendas protestieren, was ihnen von dieser Regierung ok-troyiert werden soll.Ich glaube, das macht deutlich, daß die Entscheidun-gen für die Bundeswehr während unserer Regierungszeitin die richtige Richtung gegangen sind. Wir könnennichts dafür, daß seit Oktober des letzten Jahres keinBeschaffungsprojekt mehr umgesetzt wurde, wenngleicheinige Projekte in der Vorbereitung waren. Ich kannmich auch nicht erinnern, daß Sie den Jäger 90 wiederabbestellt hätten. Jahrelang haben Sie daraus Honig ge-saugt und gesagt, das Projekt sei falsch. Projekte, die wirim letzten Jahr beschlossen haben, sind bis heute nichtumgesetzt worden, weil das Geld fehlt, bestimmte Vor-gaben umzusetzen. Kasernenküchen werden geschlos-sen, weil sie in diesem Jahr nicht mehr saniert werdenkönnen. Die Situation spricht doch Bände. Wir wollten,daß sich unsere Bundeswehr auch in Zukunft kontinu-ierlich weiterentwickeln kann.Lassen Sie mich nun etwas zu unserer Alternative sa-gen. Sie haben danach gefragt, und Parlamentsdiskus-Dietrich Austermann
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sion heißt, jeder trägt das vor, was er in der Argumenta-tion mit anderen austauschen will.Vorher möchte ich aber noch etwas zum Thema Ren-te sagen, weil ich das für wichtig halte. Auch hier stelltsich die Frage: Wie entwickelt sich die gegenwärtigeFinanzlage der Renten? Im letzten Jahr hat der Bund Zu-schüsse in Höhe von 100 Milliarden DM an die Renten-kasse gezahlt, am Ende des Finanzplanungszeitraumswerden es 150 Milliarden DM sein müssen. 50 % mehrRentenzuschüsse in vier Jahren – das kann keine richtigePolitik sein.Sie bürden den Bürgern an anderer Stelle Lasten auf.Was bedeuten denn die zusätzlichen Steuern, die soge-nannten Ökosteuern, die mit Öko wenig zu tun haben,für die weitere Entwicklung:für Pendler, für Flächenlän-der und Betriebe, die energieintensiv arbeiten? Sie sindeine deutliche zusätzliche Belastung. Als wir vor knappeinem Jahr abgetreten sind, betrug der Benzinpreis1,50 DM. Heute liegt er bei 1,80 DM. Wenn Sie soweitermachen, liegt er bald bei 2,20 DM. Ich kann nichterkennen, daß das dazu beiträgt, die Spediteure, diePendler, die Menschen, die in der Fläche wohnen und inden Großstädten arbeiten, kräftig zu entlasten. Dies istübrigens eine Belastung, die Arbeitslose, Rentner undkleine Beamte besonders stark trifft. Das machen Sie,um damit die zusätzlichen Ausgaben bei der Rente zufinanzieren. Ich glaube, jeder sollte erkennen, daß dasfalsch ist. Das Konzept muß weg. Wir brauchen eineNettoentlastung der Menschen und keine zusätzlicheBelastung durch die Steuern.
Über viele Wirkungen, die Ihre Politik hat und die fürden Arbeitsmarkt schädlich sind, kann man lange reden.Ich nehme einmal Ihr Programm zur Bekämpfung derJugendarbeitslosigkeit, weil es hier angesprochen wor-den ist. Nachdem gesagt worden ist, diese Regierunggebe mehr für aktive Arbeitsmarktpolitik aus, müßtenSie den Bürgern zunächst einmal erklären, weshalb zudiesem Zeitpunkt 70 000 Menschen weniger als voreinem Jahr in ABM, FuU und Strukturanpassungsmaß-nahmen sind, obwohl Sie die Ausgaben der Bundesan-stalt für Arbeit mit dem Ziel aufgebläht haben, denzweiten Arbeitsmarkt zu puschen, was immer zu Lastendes ersten Arbeitsmarktes geht.Jetzt kommen Sie mit Ihrem Milliardenprogramm fürjunge Leute. Wir haben gestern in der Zeitung lesenkönnen, was Sie damit tatsächlich anrichten. Pro Person,die gefördert wird, sind 220 000 DM aufzuwenden. Dasist doppelt so viel, wie ein Kohlekumpel kostet. Diessoll ein Zukunftsprogramm sein? Damit werden jungeLeute in die Warteschleife geschickt. So haben Sie dasfrüher immer genannt.
Ausbildungsplätze gleich Null. Was hat eigentlich dasBündnis für Arbeit, bezogen auf Ausbildungsplätze, bis-her gebracht?
– Nichts, völlig richtig, Herr Kollege. – Es hat keine zu-sätzlichen Ausbildungsplätze für Jugendliche gebracht.Sie haben kein Herz für junge Leute. Das haben dieWahlergebnisse der letzten Monate gezeigt.
Die Zustimmung gerade der jüngeren Generation zurUnion war im Bereich derer, die Sie mit falschen Re-zepten ansprechen wollten, besonders stark. Das erfülltuns mit Genugtuung, weil sich hier zeigt, wer wirklichan die Zukunft denkt.Wenn Sie über Steuern reden, macht es gar keinenSinn, mit dem Neidargument zu arbeiten. Wir bekom-men die Wirtschaft nur dann wieder in Gang, wir be-kommen nur dann wieder das Wachstum, das wir nochim letzten Jahr hatten – wir hatten im letzten Jahr einWachstum von 3 Prozent trotz der Krisen weltweit,Kollege Metzger –, wenn wir erkennen, daß es um haus-gemachte Fehler dieser Regierung geht, die ganz ein-deutig in die falsche Richtung weisen. Das können Siean praktisch jeder Haushaltszahl ablesen. Andere Länderum uns herum haben ein höheres Wachstum. Deutsch-land und Italien stellen in bezug auf das Wachstum dieSchlußlichter dar. Sind die weniger oder stärker als an-dere von der Entwicklung in Südostasien betroffen? Daskann doch nicht wahr sein. Ich möchte noch etwas dazu sagen, ob tatsächlichgespart wird. Sieht man sich den Haushalt im Detail an,stellt man fest: Man könnte eine Fülle von Beispielendafür finden, daß selbst diejenigen, die viel vom Sparenreden, es nicht tun. Herr Schwarzer ist noch da, soll aberdemnächst entlassen werden, weil er zufällig gehört hat,daß Hans Eichel zu Oskar Lafontaine vor der Wahl inHessen gesagt hat: Bitte, lieber Oskar, vor der Wahlnicht bei etwas sparen, was in Hessen Auswirkungenhat. Ich kann verstehen, daß man an sein Wahlergebnisdenkt und daß man Zeugen, die bestätigen, daß man frü-her mit Sparen am Hut nichts gehabt hat, am liebsten ausdem Wege räumt.Die Frage ist aber: Was macht er heute? Dazu habeich mir seine Verfügungsmittel angesehen. Wiesoeigentlich muß Gerhard Schröder doppelt so hohe Mittelzur privaten Verfügung haben wie sein Vorgänger inden 16 Jahren?
Wieso eigentlich muß der Bundesfinanzminister mehrVerfügungsmittel haben? Wieso eigentlich müssen dieAusgaben für Öffentlichkeitsarbeit steigen? Wieso müssenwir eigentlich 1,8 Millionen DM zusätzlich für die medi-engerechte Ausstattung des Kanzleramtes bereitstellen?Kann mir das einmal jemand erklären? Wieso müssen jedeWoche Millionen für Anzeigen ausgegeben werden, umdie Arbeit der Regierung in einem anderen Licht darzu-stellen, als sie tatsächlich steht? Eine Anzeige kostet Mil-lionen. Und da redet man hier vom Sparen? Machen Sie esdoch ganz einfach: Sie können sich jede Mark für Öf-fentlichkeitsarbeit sparen, wenn Sie ordentlich regieren.
Dietrich Austermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4689
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Nur derjenige, der Mist macht, muß erklären, warum erMist macht.
Ich habe gesagt, daß wir verstärkt eigene Akzentesetzen wollen.
– Herr Kollege, Sie können nachher gern reden und mirdann erzählen, woran es eigentlich liegt, daß wir keinwirtschaftliches Wachstum wie im Vorjahr und wenigerBeschäftigte als im Vorjahr haben.
Sie können dann bitte auch den Menschen erklären,weshalb zur Zeit niemand bereit ist, über die aktuelleBeschäftigungslage Auskunft zu geben.Das Statistische Bundesamt und die Bundesanstalt fürArbeit erklären, daß sie keine Zahlen vorliegen haben.Ich gehe einmal davon aus, daß man versucht, die Be-schäftigten mit 630-Mark-Jobs nach dem Motto „Jetztsind es ja sozialversicherungspflichtig Beschäftigte“ indie Arbeitsmarktstatistik einzubauen. Auf einen Schlaghätten Sie damit 2,5 Millionen Menschen mehr in IhrerBeschäftigungsstatistik. Damit dies nicht sofort auffällt,gibt es seit einem halben Jahr keine Zahlen für Beschäf-tigung in Deutschland mehr. Diese Vorgehensweisekann man eindeutig nachvollziehen. Heute gibt es150 000 Beschäftigte weniger als vor einem Jahr. Ger-hard Schröder ist mit der Aussage „Messen Sie mich ander Zahl der Arbeitslosen!“ angetreten. Wir messen ihndaran und müssen feststellen, daß er sozusagen zu kleinist.
Die jetzigen Maßnahmen reichen nicht aus. Deswe-gen müssen andere Akzente gesetzt werden. Alternati-ven
hat der Kollege Merz schon dargestellt.
– Vielleicht sind Sie an dieser Stelle eingenickt. Er hatdiese Alternativen deutlich herausgestellt.Ich will noch einen weiteren Punkt nennen: UnserZiel ist es, die Steuerbelastung der Bürger und Betriebeim kommenden Jahr um mindestens weitere 10 Milliar-den DM zurückzuführen.
– Sie können uns in diesem Punkt gerne übertreffen. Wirwürden uns Ihnen dann wahrscheinlich anschließen.Unser Ziel ist auch, die Konsumausgaben zu dros-seln. In diesem Zusammenhang habe ich kleine, aberdoch signifikante Beispiele erwähnt. Wenn die Zahl derArbeitslosen demographisch bedingt zurückgeht, dannbraucht die Bundesanstalt für Arbeit nicht die vorgese-henen Mittel. Streichen wir diese Mittel! Es ist besser, inden ersten Arbeitsmarkt zu investieren, als den zweitenArbeitsmarkt aufzublähen.
Dies macht etwa 10 Milliarden DM aus.Wir wollen zusätzliche Mittel für den Straßenbau undfür die Verbesserung der Infrastruktur.
Wenn man den scheidenden Verkehrsminister daranmißt, welche Perspektiven wir für die Verbesserung derInfrastruktur in Deutschland haben, dann kommt man zudem Schluß, daß seine Bilanz schlecht ist. Ich nenne einBeispiel: Das für ganz Norddeutschland wichtige Pro-jekt A 20 soll auf Eis gelegt werden, weil in diesem Jahrbeim Straßenbau 500 Millionen DM und im nächstenJahr weitere 500 Millionen DM gekürzt werden. Das istder falsche Weg.
Wir brauchen mehr Geld für Projekte zur Verbesserungder Infrastruktur.
Wir brauchen auch mehr Geld für die Forschung. Ichwill Sie an Ihre eigenen Versprechungen erinnern, dieetwa lauteten: Wir werden die Investitionsausgaben fürForschung in den nächsten vier Jahren verdoppeln. –Wenn Sie die globale Minderausgabe aufgelöst haben,dann geben Sie in diesem Jahr weniger Geld für For-schung aus. Ich habe vor wenigen Tagen mit einemkompetenten Mitarbeiter aus dem Wirtschaftsministeri-um gesprochen. Er sagte mir, daß heute noch Problemebestünden, die globale Minderausgabe dieses Jahres auf-zulösen. Bei der Kohle kann nicht gespart werden. Esbleiben nur die Bereiche Handwerk, Existenzgründun-gen, neue Technologien und – Ihr Lieblingskind – er-neuerbare Energien übrig. In diesen Bereichen wird ein-gespart werden. Damit kommt unter dem Strich wenigerfür neue Technologien und für Forschung heraus, als beiuns vorgesehen war.Diese Feststellung gilt auch für den Haushalt vonFrau Bulmahn, von deren Seite nur relativ wenig überzukunftsweisende Technologien zu hören ist. Das giltauch für andere Bereiche.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Jawohl.Wir wollen mehr Geld für neue Technologien, für In-frastruktur und Forschung ausgeben.
Dietrich Austermann
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Wir wollen ferner die Ungerechtigkeit gegenüber derLandwirtschaft ausräumen. Man hat eine Strafaktion fürfalsches Wahlverhalten durchgeführt, indem man 500Millionen DM bei den Bauern gekürzt hat. So darf esnicht weitergehen.
Wenn Sie unseren Vorschlägen folgen und die da-durch entstehenden steuerlichen Mehreinnahmen undMinderausgaben addieren würden, dann würden Sie er-kennen, daß es mehr wirtschaftliches Wachstum, mehrBeschäftigung und mehr Erneuerung geben würde, alses durch das Sparen im Rahmen Ihres sogenannten Zu-kunftsprogramms der Fall ist.In diesem Sinne appelliere ich an Sie: Seien Sie so of-fen, wie Sie es vor den Haushaltsberatungen waren! Icherinnere mich: Nachdem Sie die Regierung übernom-men hatten –
Herr Kollege.
– Letzte Be-
merkung –, war es oft so, daß wir Beschlüsse fassen
mußten, bevor uns die Unterlagen vorlagen. Mit der Ar-
roganz der Macht haben Sie alles weggewischt. Jetzt
backen Sie etwas kleinere Brötchen. Ich kann nur hof-
fen, daß dies dazu führt, daß wir gemeinsam einem gu-
ten Weg folgen werden. Das ist der, den wir vorgegeben
haben.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Metzger.
Kollege Austermann, es ist unglaublich, mit welchen
Argumenten Sie als Obmann der größten Oppositions-
fraktion im Haushaltsausschuß hier im deutschen Parla-
ment die Leute für dumm verkaufen.
Erstens. Sie sprechen von der Ökosteuer und verwei-
sen einfach auf die Nominalpreise an den Tankstellen.
Sie müssen doch wissen, daß die OPEC derzeit mit mehr
als 22 Dollar pro Barrel den höchsten Rohölpreis seit
vielen Jahren durchgesetzt hat. Der Anteil der Mineral-
ölsteuererhöhung schlägt nur mit 7 Pfennig – eine ver-
gleichsweise bescheidene Zahl – durch, während die Er-
höhung der Rohölpreise mehr als 25 Pfennig ausmacht.
Das ist die Wahrheit. Für diese 25 Pfennig kann die Re-
gierung nichts; die Mineralölkonzerne geben diese Er-
höhung einfach nur weiter. Das müßten sie auch tun,
wenn Sie an der Regierung wären.
Zweitens. Sie behaupten hier frank und frei, diese
Regierung plane, im Zeitraum der mittelfristigen Fi-
nanzplanung mehr als 220 Milliarden DM neue Schul-
den zu machen. Rechnen Sie doch einmal die Nettokre-
ditaufnahme der nächsten vier Jahre zusammen! Ich
komme da auf etwa 160 Milliarden DM. Dagegen hat
die CDU/CSU-Regierung, Kollege Austermann, in den
letzten vier Jahren 260 Milliarden DM Schulden aufge-
nommen. Das ist die Wahrheit, und das muß man der
Bevölkerung sagen.
Außerdem – Ihre Aussagen werden auch durch
x-malige Wiederholung nicht wahrer –: Die Haushalte
sind nur vergleichbar, wenn die Vorbelastungen auf
Grund der Steuergesetzgebung, die die alte Koalition
mit zu vertreten hat, hineingerechnet werden. Sie haben
am 1. April des letzten Jahres die Mehrwertsteuer er-
höht, um genau das zu tun, was wir dieses Jahr mit der
Einführung der Ökosteuer zum 1. April beabsichtigt ha-
ben: den Anstieg des Rentenversicherungsbeitrages –
damals von 20,3 auf 21,0 Prozent – zu verhindern. Wir
haben dieses Jahr den Rentenversicherungsbeitrag von
20,3 auf 19,5 Prozent gesenkt und damit mit der Sen-
kung der Lohnnebenkosten ernst gemacht.
Das Ganze hat eine weitere finanzielle Konsequenz:
Eine Mehrwertsteuererhöhung in diesem Umfang bringt
innerhalb eines Dreivierteljahres rund 6 Milliarden DM
weniger als eine Erhöhung für ein ganzes Jahr. Dieses
Jahr greift die Mehrwertsteuererhöhung, die Sie be-
schlossen haben, erstmals für das ganze Jahr. Also ist es
logisch, daß das Volumen dieses Haushalts um 6 Milli-
arden DM höher sein mußte als das des letzten Jahres.
Hinzu kommen Unteretatisierungen von Posten, von de-
nen Sie genau wußten, daß sie nach dem Grundsatz von
Haushaltsklarheit und -wahrheit korrigiert werden muß-
ten, zum Beispiel die Unterstützungshilfen für Bremen
und das Saarland oder die Postunterstützungskassen in
Höhe von 8 Milliarden DM.
Deshalb sind Ihre Aussage, die Aussage des Kollegen
Merz und der Inhalt auf der Internetseite der Bundesge-
schäftsstelle Ihrer Partei nicht wahr. Das Konzept mit
einem Volumen von 30 Milliarden DM, das wir jetzt
vorlegen, hat in der Tat eine echte Konsolidierungs-
wirkung. Deshalb reagiert die wirtschaftsnahe Presse,
die sonst Sie hochjubelt, so positiv, genauso wie In-
vestmentfonds. Wenn wir eine Scheinbuchung machen
würden, würden die Märkte nicht reagieren, wären Euro
und DAX am Montag, nach Ihren Wahlerfolgen, nicht
abgestürzt. Nach Ihrer Lesart hätte die Wirtschaftspresse
jubeln müssen, weil die Union endlich wieder in der La-
ge ist, vernünftige ökonomische Konzepte durchzuset-
zen.
Also: Bleiben Sie bei der Wahrheit! Dazu, daß Politik
in der Bevölkerung ein schlechtes Image hat, hat Ihre
Rede wieder anschaulich beigetragen.
Herr Kollege Au-stermann, Sie können erwidern. Bitte sehr.Dietrich Austermann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4691
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Vielen Dank.
Kollege Metzger, Sie haben sich bemüht, das, was ich
gesagt habe, zu widerlegen. Ich fange einmal bei den
Benzinpreisen an: Ist es falsch, daß die Ökosteuer in
diesem Jahr mit der Begründung eingeführt wurde, man
müsse etwas für die Renten tun, und von den Bürgern so
insgesamt 9,5 Milliarden DM abkassiert wurden?
Ist es falsch, daß die vorgesehene weitere Erhöhung der
Ökosteuer – ich habe von einem Benzinpreis von
2,20 DM in der Zukunft gesprochen – zusätzliche Mehr-
einnahmen bringt: einschließlich der Mehrwertsteuer im
nächsten Jahr 17,6 Milliarden DM, im übernächsten Jahr
23,6 Milliarden DM, dann 29,2 Milliarden DM und
schließlich, im Jahr 2003, 35 Milliarden DM? Wenn
man das auf den Rentenversicherungsbeitrag umrechnet,
müßte dieser im Jahre 2003 um zwei Prozentpunkte sin-
ken. Er wird aber statt bei 20 Prozent – dem Wert, der
sich bei Realisierung unseres Konzeptes mit der Einfüh-
rung eines Demographiefaktors ergeben hätte – bei
19,1 Prozent liegen. Das heißt, Sie kassieren 35 Milliar-
den DM für eine Absenkung des Rentenbeitrages um
0,9 Prozent.
– Ja, das tut weh. Die Ökosteuer wird also verwendet,
um den Haushalt zu sanieren.
Jetzt zu dem nächsten Punkt, der Nettoneuverschul-
dung. Minister Hans Eichel wollte sparen. In diesem
Jahr sollte die Nettokreditaufnahme neu, sollten also die
zusätzlichen Schulden 53,5 Milliarden DM betragen, im
nächsten Jahr 49,5 Milliarden DM, im Jahr 2001
46,1 Milliarden DM, im Jahre 2002 41,2 Milliarden DM
und 2003, wenn er nicht mehr im Amt ist, 30,4 Milliar-
den DM.
Wenn ich das addiere, komme ich auf 219,7 Milliar-
den DM an zusätzlichen Schulden in Ihrer Regierungs-
zeit, angefangen am 1. Januar dieses Jahres bis 2003. Sie
machen also eine Politik von mehr Schulden und mehr
Steuern und weniger Entlastung der Bürger.
Das Wort hat nun
die Kollegin Dr. Höll, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Das Kurzzeitgedächtnis der CDUist wirklich verblüffend. Wenn Ihre Rezepte, die Siebisher, als Sie in Regierungsverantwortung waren, im-mer vorgelegt haben, nicht so versagt hätten, wären Sieja vor einem Jahr wahrscheinlich nicht abgewählt wor-den.
Die F.D.P. reagiert noch besser: Gestern abend hatteich das Vergnügen einer Diskussionsrunde mit HerrnRexrodt, der nur noch herumbrüllte. Heute läßt er nichteinmal mehr Zwischenfragen zu – auch sehr bezeich-nend!
Bei der Diskussion am heutigen Tage erstaunt michein bißchen, daß die vorgetragene Kritik nicht auf denPunkt kommt. Gerade die Entscheidung der SPD-Grünen-Koalition zur Frage der Rente – ein zentralesund sehr sensibles Thema – ist letztlich dieselbe, dieauch Sie in der letzten Legislaturperiode getroffen ha-ben. Damals haben Sie gemeinschaftlich die Ver-brauchsteuer Mehrwertsteuer erhöht; jetzt erhöht dieneue Koalition die Energiesteuern. Ökologisch ist dasvöllig sinnlos; darüber sind wir uns völlig einig. Es istauch nicht richtig, weil es zu einer Belastung von Haus-halten mit einem geringeren Einkommen führt. Ich habedas einmal ausgerechnet: Ein Vier-Personen-Haushaltmuß ein Einkommen von mindestens 6 000 DM bis8 000 DM monatlich haben, damit aus Ökosteuer undSenkung der Versicherungsbeiträge per Saldo null he-rauskommt. Alle Menschen, die ein geringeres Ein-kommen haben, erfahren eine Mehrbelastung. Wennman dann noch arbeitslos, Student, Rentnerin oderRentner ist, wird man bei dieser Regierung doppelt bela-stet, weil für diese noch weitere Sparvorschläge im Pa-ket enthalten sind. Das ist unsozial.Da sich Herr Eichel heute hierhergestellt und gesagthat, der Rentenvorschlag der Regierung habe überhauptnichts mit dem Haushalt zu tun, muß ich sagen, daß erwohl zu denken scheint, daß die Mehrheit der Bevölke-rung mit dem Klammerbeutel gepudert ist. Denn zufälli-gerweise soll die Regelung ja nur nächstes und über-nächstes Jahr gelten. Im Wahljahr 2002 soll die Renten-steigerung wieder an die Nettolohnentwicklung ange-bunden werden. Es ist doch offensichtlich, was damitbezweckt wird! Aber es ist auch offensichtlich, daß da-mit ein eklatanter Systembruch eingeleitet wird, ohnedaß tatsächlich ein modernes Rentenkonzept auf denTisch gelegt wird, welches die solidarische Finanzierungbeinhaltet.
Wir reden dabei über die Lebensarbeitsleistung vonFrauen und Männern; sie wird zur Spielmasse des Fi-nanzministers gemacht.In Ihrem Paket werfen Sie nur auf die Seite der Ein-nahmeerhöhung ein Auge. Ansonsten gilt nur: ein-sparen, einsparen, einsparen. Die PDS vermißt aber ganzstark die Umsetzung der Vorschläge, die Sie als Op-position noch eingebracht haben. Wir vermissen dieStreichung der Mittel für den Eurofighter; dafür müssenwir im nächsten Jahr nicht über 1 Milliarde DM ausge-ben.
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4692 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Wir vermissen die Streichung der Mittel für den Trans-rapid. Wir vermissen eine ganze Reihe weiterer mögli-cher Streichungen; das betrifft die Öffentlichkeitsarbeit– auch die der Regierung –, aber auch weitere Aufrü-stungsvorhaben im Verteidigungshaushalt.Ganz stark vermissen wir ein Augenaufmachen beider Einnahmenseite. Vorhin haben wir noch einmal dasBeispiel der neuen Bundesländer gehört. Sicher warenes politische Mehrheitsentscheidungen, auf Grund dererprivates Kapital in die neuen Bundesländern gegangenist. Dafür wurden die Aufwendungen steuerlich subven-tioniert. Man muß auch zur Kenntnis nehmen, daß dasvielfach fehlgelaufen ist: Zum Beispiel haben wir inLeipzig einen hohen Büroleerstand; das ist etwas, waswir überhaupt nicht brauchen. Damit sind aber auchgroße Vermögenswerte geschaffen worden – natürlichnur von Leuten, die so viel privates Kapital hatten, daßsie es einsetzen konnten. Das bedeutet aber, daß jetztVermögen vorhanden ist. Deswegen frage ich mich fol-gendes: Wenn in der Staatskasse nun wirklich kein Geldvorhanden ist, warum gehen wir dann nicht an die gro-ßen Vermögen heran? Warum scheuen Sie sich als Ko-alition mit aller Macht, an die wirklich Vermögenden,an Banken und Versicherungen, die auch und gerade imProzeß der deutschen Einheit unwahrscheinlich viel ge-wonnen haben, heranzugehen? Die Polarisierung desVerhältnisses zwischen Einkommen und Vermögen hatin den letzten neun Jahren mit einer rasanten Geschwin-digkeit zugenommen. Es wäre Ihre Pflicht, dagegen tat-sächlich etwas zu unternehmen.
Richtigerweise – das verkennt die PDS überhauptnicht – ist der Eingangssteuersatz gesenkt worden. DerGrundfreibetrag ist angehoben worden. Gut, aber daskommt nicht nur demjenigen mit einem Jahresein-kommen von 20 000 DM, sondern auch dem Vermö-gensmillionär zugute. Warum muß der Vermögens-millionär auch noch zusätzlich in den Genuß eines ge-senkten Spitzensteuersatzes gelangen? Die Senkungdieses Steuersatzes pro Prozentpunkt kostet 1 MilliardeDM, auf die Herr Eichel trotz knapper Kassen frankund frei verzichten möchte. Das sollten Sie der Bevöl-kerung erklären, ehe Sie sozial ungerecht handeln undIhren eigenen Ansprüchen, die Sie sich auch bezüglichdes Kindergeldes gesetzt haben, nicht mehr gerechtwerden.Auch wenn Sie immer so tun, als hätte die PDS keineeigenen Vorschläge einzubringen: Wir haben unsere ei-genen Sparbücher erstellt, die ich jetzt auf die – leider –sehr leere Regierungsbank – offenbar will sich die Re-gierung der Diskussion nicht stellen – lege, damit Siesich mit unseren Vorschlägen auseinandersetzen könnenund sie nicht wie sonst vom Tisch wischen.Danke schön.
Das Wort hat jetzt
der Staatsminister Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! In der heutigen Debatte geht es um den Entwurf fürden Bundeshaushalt 2000; es geht um die Finanzsituati-on des Bundes. Seit vielen Wochen rennen viele Oppo-sitionsabgeordnete in Ostdeutschland umher, werfenNebelkerzen und verbreiten Hiobsbotschaften über dieFortsetzung des Aufbaus Ost. Ihr Vorgehen – ich machedas auch an Ihrem Redebeitrag, Frau Höll, fest – wirdnoch nicht einmal vom Parteibuch bestimmt. Die ge-samte Opposition spricht davon, daß der Etat für denAufbau Ost um 3 Milliarden bis 8 Milliarden DM ge-kürzt werden soll. Es wird befürchtet – so wird gesagt –,daß die Mittel für die SAMs – die Strukturanpassungs-maßnahmen –, die Eigenkapitalhilfe und für die BvS ge-kürzt werden sollen.Ich möchte als erstes klarstellen: Wir werden wederdie Mittel für die Strukturanpassungsmaßnahmen imOsten noch für das Eigenkapitalhilfeprogramm, nochfür die BvS, die sich um in Not geratene Unterneh-men kümmert, kürzen. Wir werden in den nächstenJahren keine Leute nach Hause schicken. Wir werdendie Hilfen nicht versagen; vielmehr werden wir siekontinuierlich fortsetzen. Wir werden die Hilfen ge-währleisten, zu denen wir gesetzlich verpflichtet sind.Wir werden die Unterstützungsmaßnahmen, die wirauch lokal gewähren, selbstverständlich bereitstel-len. Hören Sie mit Ihrer Angstkampagne auf! Dazukann ich Ihnen nur nachdrücklich raten. Hören Sieauf, Verunsicherung zu verbreiten! Schauen Sie sichdie Haushaltstitel genau an. Machen Sie sich sachkun-dig!
Allerdings möchte ich auch klar sagen: Es gibt keineAlternative dazu, daß die Bundesrepublik selber etwasdafür tut, um finanzpolitisch wieder handlungsfähig zuwerden. Ich sage das auch und gerade aus der Sichteines Ostdeutschen und vor dem Hintergrund der ost-deutschen Probleme. Es geht weniger um die abstrakteZahl – auch wenn sie in der heutige Debatte eine großeRolle gespielt hat – von 1,5 Billionen DM Schulden desBundes; vielmehr geht es um viele konkrete und prakti-sche Dinge, deren Realisierbarkeit letztendlich von derStaatsverschuldung abhängt. Ich möchte dazu ein Bei-spiel bringen: Wir debattieren mittlerweile über zweiStunden. Während dieser Zeit mußten auf Grund derStaatsverschuldung 20 Millionen DM an Zinsen gezahltwerden. Das ist genau die Summe, die im Rahmen derAbsatzförderung für ostdeutsche Unternehmen für dasgesamte Jahr 1999 bereitgestellt werden kann. Das istein ganz konkretes, praktisches Beispiel.Die Tatsache, daß die ostdeutschen Unternehmeneine schwache Eigenkapitaldecke haben und so ertrags-schwach sind, daß ihnen Hilfe auch in den nächsten Jah-ren gewährt werden muß – daran ändert sich auchnichts, wenn wir uns darüber beschweren –, hat selbst-verständlich auch Konsequenzen für einen handlungsfä-higen, hilfegewährenden Bundesstaat. Das bedeutetdann auch, daß wir eine wirklich finanzierbare Unter-nehmensteuerreform auf den Weg bringen müssen. Dain Ostdeutschland – ich greife Ihr Beispiel, Frau Höll,Dr. Barbara Höll
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auf – der Anteil der Familien an der Bevölkerung über-proportional hoch ist, ebenso wie der Anteil derjenigen,die finanziell schwächer gestellt sind, müssen wir eingroßes Interesse an einem ordentlichen finanziellenLastenausgleich für die Familien haben. Wenn wires schaffen – wir wollen es auf den Weg bringen –, daßdie vierköpfige Durchschnittsfamilie in Ostdeutsch-land – der Vater hat noch Arbeit; er verdient dasDurchschnittseinkommen, die Mutter ist arbeitslos; zweierziehungspflichtige Kinder sind vorhanden – in dennächsten vier Jahren über 7 600 DM mehr im Porte-monaie hat, dann ist das eine gute und ordentliche Lei-stung, insbesondere auch für Ostdeutschland.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Ich würde gern im Zusammenhang vortragen. Ich be-antworte die Zwischenfrage gern am Schluß meinerRede.Das hat natürlich auch etwas mit der Schwäche einerRegion zu tun. Dies darf nicht verschwiegen werden.Wir müssen über die Dauer der Hilfe in Verbindung mitder Leistungsfähigkeit des Bundes reden. Ich bin völligsicher, daß das in Ihren eigenen Reihen, insbesonderebei der CDU/CSU, völlig klar ist. Der CDU-Wirtschaftsminister in Sachsen, Herr Schommer, sagtegegenüber der „Mitteldeutschen Zeitung“, angesichtsder Notwendigkeit radikaler Reformen in Deutschlandverdiene jeder, der diese schwierige Aufgabe anpacke,Unterstützung. Herr Schommer räumte ein, daß die Pro-bleme wesentlich von der alten Bundesregierung ausCDU/CSU und F.D.P. mitverschuldet worden seien.Damit sei Deutschland nicht zukunftsfähig. Die Aussagevon Herrn Schommer endet mit dem Satz – wörtlichesZitat –: „Deshalb werde ich unabhängig von der Partei-zugehörigkeit jene unterstützen, die die dringend not-wendigen Reformen durchsetzen wollen.“ Dazu sageich: Bravo, das ist Klartext; so ist die Situation, auchwenn Sie in dieser Debatte offensichtlich nicht dazu fä-hig sind, das zu artikulieren.
Es ist in den zurückliegenden Tagen und Wochensehr viel über die Kraftanstrengung gesprochen worden.Ich sage deswegen noch einmal ausdrücklich: Der Auf-bau Ost braucht einen handlungsfähigen Bundesstaat.Wir haben ein vitales Interesse daran, den Bundeshaus-halt in den nächsten Jahren zu konsolidieren. Der Auf-bau Ost wird im Bundeshaushalt 2000 höchste Prioritätbesitzen. Wir werden einen anderen Kurs einschlagenals den, den wir in den letzten Jahren bei Haushaltsauf-stellungen – damals saßen wir noch in der Opposition,und Sie haben regiert – kennengelernt haben. Als Ost-deutscher erinnere ich mich noch sehr gut daran, daß beijedem Haushaltsentwurf sofort der Rotstift über demThema Aufbau Ost kreiste.
Fragen Sie doch einmal die ostdeutschen Kollegen in Ih-rer Fraktion. So war es, selbstverständlich!In unserem Haushaltsentwurf ist dies nicht der Fall.Wir werden einen Konsolidierungshaushalt mit 30 Mil-liarden DM als Gesamtumfang des Konsolidierungsnot-wendigen auf den Weg bringen, und wir werden denAufbau Ost in Stabilität und Kontinuität fortsetzen. Dasist eine enorme Leistung dieser Bundesregierung, aufdie ich ein Stück weit stolz bin.
Wir müssen uns in diesem Zusammenhang allerdingssehr intensiv darüber unterhalten, was künftig als Auf-bau Ost überhaupt noch definiert werden kann. Wennder Ministerpräsident von Baden-Württemberg, HerrTeufel, vor kurzem die Forderung nach der Rückführungder Hilfen für Ostdeutschland mit der Begründunggarniert hat, daß jährlich 150 Milliarden DM nach Ost-deutschland transferiert werden, dann zeigt das genau, inwelchem Dilemma wir mittlerweile auf Grund überzo-gener und überhöhter Darstellungen aus der vergange-nen Haushaltspraxis in der gesamtdeutschen Diskussionstecken.Ich plädiere dafür, daß wir ab sofort, beginnend mitdem Bundeshaushalt 2000, eine andere Praxis pflegen.Wir haben in den letzten neun Jahren bei der Vorgänger-regierung ein reines Territorialprinzip erlebt. Alles,was irgendwie, direkt oder indirekt, territorial Ost-deutschland zuzuordnen war, wurde in eine großeKlammer gepackt, wurde addiert – dabei sind die be-rühmten dreistelligen Milliardenbeträge herausgekom-men –, und darüber wurde „Aufbau Ost“ oder gegebe-nenfalls – was noch schmerzlicher ist – „Transfer“ ge-schrieben. So war die Situation.Ich sage Ihnen: Davon müssen wir weg.
Nach meiner Auffassung enthielten die Bundeshaus-haltspläne der Vergangenheit Dinge, die mit dem Auf-bau Ost im engeren Sinne überhaupt nichts zu tun hat-ten, zum Beispiel das Erziehungsgeld, zum Beispiel dasBAföG für einen Bundesbediensteten in der Oberfi-nanzdirektion in Bayern. Auch das Geld für die Sanie-rung einer Kaserne im bayerischen Raum wird bei unsnie als eine Transferleistung definiert werden, währenddiese Praxis in den zurückliegenden Jahren für Ost-deutschland gang und gäbe war.
Der Bund hat sich ständig auf die Schultern geklopftund hat riesige Summen, dreistellige Milliardenbe-träge, zusammengerechnet, um letztendlich – natürlichtaktisch – zu dokumentieren, welche großen Leistungenvollbracht worden sind.Staatsminister Rolf Schwanitz
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4694 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Meine Damen und Herren, kein Bayer, kein Baden-Württemberger würde sich so etwas gefallen lassen, undden ostdeutschen Menschen ist das auch nicht mehr an-zutun. Da sind viele Verletzungen, viele mentale Be-schädigungen entstanden, weil sich der Ostdeutsche na-türlich fragt, ob er denn überhaupt nicht die Kraft habe,irgend etwas zu erwirtschaften, und ob denn alles ge-brachtes Geld sei. Der Westdeutsche hingegen hat ange-sichts dreistelliger Milliardenbeträge das Gefühl, über-fordert zu sein, wodurch natürlich die Debatte losbricht,wie lange das Ganze noch weitergehen soll.
Deswegen muß Schluß mit der regierungsamtlichenSelbstbeweihräucherungspolitik sein. Ich schlage Ihnenvor, im Bundeshaushalt 2000 nur noch das dem AufbauOst zuzurechnen, was im engeren Sinne zusätzlicheAufbauhilfen sind, und all das aus den Listen herauszu-nehmen, worauf Ostdeutsche einen Rechtsanspruch ha-ben, wie es bei Bürgern, die in Bayern, Baden-Württemberg oder in anderen Teilen Deutschlands le-ben, auch der Fall ist,
und solche Dinge herauszunehmen, bei denen der Bundletztendlich normale Bundesleistungen erfüllt und seinenPflichten nachkommt, die natürlich auch gegenüber Ost-deutschland bestehen. Das ist ein Stück Ehrlichkeit, einStück Respekt und auch ein Stückchen Hinwendung ge-genüber den Leistungen der Menschen, die das Ganze zuschultern haben.Meine Damen und Herren, ich möchte, daß wir künf-tig – das ist mein Vorschlag – von fünf Säulen spre-chen, die den Aufbau Ost ausmachen. Diese fünf Säu-len werde ich mit Mark und Pfennig benennen, wobeiich auch den Vergleich zu 1998 ziehen werde, da geradeaus Ihrem Kreis immer der Vorwurf kommt, alles brecheweg, alles werde heruntergefahren, alles gehe den Bachhinunter.Die erste Säule, um die es mir geht, umfaßt all das,was im Bundeshaushalt 2000 für Forschungs- undTechnologieförderung enthalten ist. Hier geht es alsoum jene innovativen Prozesse, die eine Zukunftsfragefür ostdeutsche Unternehmen darstellen.
Wir werden im Bundeshaushalt 2000 knapp3,1 Milliarden DM für den Gesamtkomplex Forschung,Technologie und Innovationsförderung für Ostdeutsch-land zur Verfügung stellen. Das sind exakt 200 Milli-onen DM mehr, als die Vorgängerregierung im Wahl-kampfhaushalt 1998 für die neuen Länder zur Verfü-gung gestellt hatte.In diesen Ansätzen sind bewährte Dinge enthalten,aber auch neue Dinge, zum Beispiel das mittlerweile gutangelaufene Programm Inno-Regio, über das ich michsehr freue. Wir können in den nächsten Jahren25 Modellregionen fördern. 400 Anträge liegen vor;400 Regionen sehen darin eine Chance, ihre Kräfte zubündeln. Das zeigt, daß dieses Programm richtig ist. Ichwiederhole: Bei dieser ersten Säule gibt es keinen Ab-bruch und nicht nur eine Verstetigung, sondern sogar ei-ne Verstärkung.
Meine Damen und Herren, die zweite Säule umfaßtdie klassische Wirtschaftsförderung, in der die GA-Ost und die Absatzförderung enthalten sind. Im Haus-halt 2000 haben wir eine Gesamtsumme von 2,3 Milli-arden DM etatisiert. Das sind 460 Millionen DM weni-ger, als 1998 von der alten Bundesregierung veran-schlagt worden waren. Dieser Sinkflug hat natürlich et-was damit zu tun, wie die Titel veranschlagt wordensind. Sie wissen, daß die GA-Ost immer entsprechendden Verpflichtungsermächtigungen der Vorjahre etati-siert wird. Insoweit ist ein Sinkflug vorprogrammiert.Außerdem werden wir erstmalig – anders als Sie – überzusätzliche Förderungen aus den EFRE-Mitteln den ost-deutschen Ländern 300 Millionen DM Jahr für Jahr zurVerfügung stellen. Mit der Stabilität und Verstärkungauch an dieser Stelle gibt die Bundesregierung einwichtiges Signal.
Die dritte Säule umfaßt den Infrastrukturausbau:alles, was mit Straße und Schiene zusammenhängt,ebenso das – ich erweiterte es für mich –, was mit Städ-tebau- und Wohnungsförderung zusammenhängt. Auchhier will ich Ihnen die Zahlen nicht verschweigen: ImHaushalt 2000 stellen wir für diesen Bereich eine Ge-samtsumme von 19,1 Milliarden DM für Ostdeutschlandzur Verfügung. Das sind 800 Millionen DM mehr, alsvon der Vorgängerregierung im Wahlkampfjahr 1998zur Verfügung gestellt werden konnte. Das wird aller-dings nicht die bittere Botschaft des Bundesverkehrswe-geplanes heilen, die Sie hinterlassen haben, nämlich dieUnterdeckung in Höhe von 90 Milliarden DM gegen-über den angekündigten Projekten. Das bleibt ein großesProblem, über das wir schmerzliche Diskussionen voruns haben. Wir lassen nicht die Kräfte erlahmen, son-dern erhöhen die Ausgaben um 800 Millionen DM. Dassind Zukunftsinvestionen.
Damit komme ich zur vierten Säule: aktive Arbeits-marktpolitik. Es gibt – im Gegensatz zu Ihnen – einengroßen Konsens im „Bündnis für Arbeit“, auch mit denArbeitgebern, daß wir sie entsprechend der Arbeits-marktsituation brauchen. Wir etatisieren für 2000 insge-samt 11,9 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitikin Ostdeutschland. Das ist, gemessen an dem, was Sie inder Finanzplanung hatten, eine Verdoppelung des Bun-deszuschusses. Wenn man das umsetzen würde, was Siein der Finanzplanung hatten, könnte man in vielen Re-gionen in Ostdeutschland, in vielen Beschäftigungsge-sellschaften nur noch das Licht ausmachen. Das machenwir nicht. Hier muß stabilisiert werden; denn wir wissen,daß das Schaffen von Arbeitsplätzen keine leichte undauch keine in zwei, drei Wochen oder Monaten zuschulternde Angelegenheit ist.Staatsminister Rolf Schwanitz
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Damit komme ich zur fünften Säule, mit der in der öf-fentlichen Argumentation sehr viel Schindluder getriebenworden ist. Für mich ist alles das, was im Zusammenhangmit der Wismut, mit der Treuhand-Nachfolgeeinrichtung,der BvS, und mit der Braunkohlesanierung passiert, dasfünfte Standbein des Aufbaus Ost. Für dieses fünfteStandbein haben wir im Haushalt 2000 eine Summe von1,7 Milliarden DM vorgesehen. Das sind exakt180 Millionen DM mehr, als Sie 1998 bereit waren, dafürauszugeben. Deswegen sage ich: Wir sorgen für Klarheit,Stabilität und höchste Priorität für den Aufbau Ost.Ich glaube, wir müssen diesen unbequemen Schritttun. Bundespolitik darf sich nicht permanent durchkünstliche Hochrechnungen selber auf die Schulter klop-fen. Es ist etwas ungewöhnlich, ein solcher Schritt hinzu mehr Transparenz und Offenheit. Das Aufaddierenhat gespalten, das hat uns innerlich auseinandergetrie-ben. Sich unsere fünf Säulen anzuschauen lohnt sehr,übrigens auch, weil wir für 2000 mit insgesamt2,6 Milliarden DM über dem liegen werden, was Sie alsVorgängerregierung 1998 für die fünf Säulen zugunstendes Ostens bereit waren auszugeben.Wir konsolidieren, wir machen den Bundesstaat fit,und wir gewährleisten, daß der Aufbau Ost höchste Prio-rität hat. Daß das auch viele Kollegen aus Ihren Reihenso sehen, weiß ich.Ich möchte Ihnen ein Zitat aus der Konferenz der ost-deutschen Wirtschaftsminister zur Kenntnis geben. DieKonferenz hat im Juli dieses Jahres getagt und sich mitdem Thema beschäftigt, das wir jetzt hier diskutieren.Die Minister haben nicht nur gesagt, daß es notwendigsei, die Finanzen zu konsolidieren, sondern sie habensich auch zum Aufbau Ost geäußert. Da haben sie fest-gestellt – und das sind nicht nur Sozialdemokraten –:Die Wirtschaftsminister der ostdeutschen Länderwürdigen, daß die Bundesregierung dem AufbauOst höchste Priorität einräumt.
So ist es. Wenn die Nebelkerzen eingepackt sind,wird das vielleicht auch bei Ihnen aussprechbar sein. Ichbin dankbar für ein so klares Wort über die Parteigren-zen hinaus, auch wenn Sie das heute hier nicht findenkonnten.Schönen Dank.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Gerda Has-
selfeldt von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr KollegeSchwanitz, auch wenn Sie verkünden und gebetsmüh-lenartig wiederholen, daß die Bundesregierung demAufbau Ost höchste Priorität zumißt: Das, was Sie tunund was Sie entschieden haben, ist etwas anderes. Ichnenne als Beispiel nur die Streichung der ICE-Trasse imThüringer Bereich und der Investitionen im Verkehrsbe-reich. Sie schaden damit der weiteren wirtschaftlichenEntwicklung in den neuen Ländern.
Lieber Herr Wagner, Sie haben in Ihrer Rede, auchfast gebetsmühlenartig, die Erblast der früheren Regie-rung angesprochen.
Auch durch ein noch so häufiges oder ständiges Wie-derholen wird das nicht richtiger. Sie lenken damit nurvon Ihrem eigenen finanzpolitischen Chaos und von denDefiziten Ihrer gescheiterten Umverteilungspolitik ab.Wenn wir von Erblast reden, müssen wir gemeinsamvon der Erblast von 40 Jahren Sozialismus reden. Mitdieser Erblast haben wir es zu tun.
Es ist von den Vorrednern schon deutlich gemacht wor-den, wie sich die darauf aufbauenden Kosten zusam-mensetzen: Es waren keine Kosten der Einheit, sondernKosten der Teilung. Darauf will ich deutlich hinweisen.
Unsere Aufgabe ist und wird es sein, darauf hinzuarbei-ten, daß die Menschen in unserem Land künftig von So-zialismus und Staatsdirigismus verschont bleiben undihnen die Erfahrungen, die sie in den Gebieten der ehe-maligen DDR gemacht haben, erspart bleiben.Die Aufgaben der Wiedervereinigung finanziell zuschultern war nur möglich, weil wir ab 1982 eine konse-quente und erfolgreiche Konsolidierungspolitik betrie-ben haben. Wir haben in dieser Zeit trotz Konsolidie-rung auch viele Schwerpunkte gesetzt.
Ich nenne als Beispiele im familienpolitischen Bereichdie Einführung des Erziehungsgelds und die Einführungvon Erziehungszeiten in der Rentenversicherung sowiedie großartige Steuerreform Ende der 80er Jahre, dieauch ihre Wirkung in bezug auf Wachstum nicht ver-fehlt hat. Diese Konsolidierungspolitik war auch bitternötig. Was Sie uns überlassen hatten – das wissen nichtnur wir und die Fachleute, sondern hat auch in IhremKollegenkreis mittlerweile Eingang gefunden –, war al-les andere als eine solide Basis. Ich zitiere den KollegenMetzger – er scheint momentan nicht im Saal zu sein –,der vor wenigen Monaten, nämlich im März 1999, in ei-nem Interview in der „Woche“ wörtlich gesagt hat:Wir zahlen heute die Zeche der sozialliberalen Ko-alition in den 70er Jahren, die die Sozialleistungenund den öffentlichen Dienst aufgebläht hat, alslebten wir in Schlaraffia.Besser kann man es nicht sagen. Wo der Mann recht hat,hat er recht.
Trotz dieser Erblast und trotz internationaler Finanz-krisen haben wir die öffentlichen Finanzen nicht mitStaatsminister Rolf Schwanitz
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Schieflage übergeben, sondern bis 1998 jährlich eindurchschnittliches Wachstum von 2,4 Prozent erzielt.Damit lagen wir besser als der Durchschnitt in der Euro-päischen Union. Wir haben für Preisstabilität gesorgt,und – das wird in der ganzen Diskussion heute schonwieder vergessen – es war Theo Waigel, der es trotzdieser Schwierigkeiten und enormen Herausforderungengeschafft hat, daß Deutschland die Maastricht-Kriterienfür die Aufnahme in die europäische Währungsunion er-füllt hat. Das war nicht selbstverständlich, sondern isteiner harten Konsolidierungspolitik zu verdanken.
Was ist heute daraus geworden? Heute haben wirnicht ein Wachstum von 2,4 Prozent, wie wir es damalshatten, sondern von gerade noch 0,8 Prozent. Wir habensteigende Arbeitslosenzahlen und sinkende Beschäfti-gungszahlen, die Investitionen sinken, und vor allem isteine Verunsicherung in der Wirtschaft und ein Riesen-vertrauensverlust in der Bevölkerung festzustellen.
Dieses ist auch überhaupt kein Wunder angesichts derGesetzgebungsarbeit, die Sie in den vergangenen Mo-naten geleistet haben. Ich will Ihnen nur einige Beispielenennen: das Steuerentlastungsgesetz von vor wenigenMonaten, das 630-Mark-Gesetz, das Gesetz über dieScheinselbständigkeit, die Einführung einer sogenanntenÖkosteuer, die nichts anderes als eine Erhöhung derStrom- und Mineralölsteuer ist, das Hinausschieben derUnternehmensteuerreform und nun das vorliegende so-genannte Sparpaket.All diese Maßnahmen sind nicht geeignet, zusätzlicheArbeitsplätze zu schaffen, zusätzliche Investitionen an-zukurbeln und zusätzliches Vertrauen, das notwendigwäre, zu schaffen. Im Gegenteil, mit diesen Maßnahmenwird das Abkassieren und das Umverteilen fortgesetzt.Durch diese Maßnahmen werden Arbeitnehmer undmittelständische Betriebe weiter geschröpft. Die not-wendige Nettoentlastung der Steuerpflichtigen und einImpuls für Wachstum und Beschäftigung bleiben aus.
Nun, meine Damen und Herren, ein paar Anmerkun-gen zu dem 630-Mark-Gesetz. Ich zitiere Ihnen hierzuden Bundeskanzler Schröder, der am 19. November1998 hier in diesem Hause öffentlich –
– in Bonn, aber im Bundestag.
Ist Ihnen das denn wirklich wichtig, Herr Poß? – zu den630-Mark-Arbeitsverhältnissen gesagt hat:Diese Arbeitsverhältnisse bleiben steuerfrei, undzwar unabhängig von weiteren Einkünften.Was ist daraus geworden? Diese Arbeitsverhältnissesind bei weiteren Einkünften eben nicht steuerfrei. Eswird doppelt zur Kasse gebeten: sowohl durch die Sozi-alversicherung als auch durch die Steuer.
Man muß sich einmal fragen: Was gilt eigentlich nochdas Wort dieses Bundeskanzlers?
Bei der Rente haben wir es erlebt, auch bei den 630-Mark-Jobs und verschiedenen anderen Dingen: Die Un-glaubwürdigkeit kommt deutlich zum Ausdruck. Es istdoch kein Wunder, daß die Wähler haufenweise davon-laufen.
Ein zweites Beispiel: die sogenannte Ökosteuer. Esklingt so schön, aber man fragt sich, was das mit Ökolo-gie zu tun hat. Von Ökologie kann keine Rede sein. Eshandelt sich um eine weitere Erhöhung der Stromsteuerund der Mineralölsteuer.
Noch vor einem halben Jahr haben Sie gesagt: Die wei-teren Stufen werden EU-weit abgestimmt. Davon istheute keine Rede mehr. Vor der Wahl hat der Bundes-kanzler gesagt: 6 Pfennig und nicht mehr! Auch dies giltnicht mehr. Weitere Erhöhungen erfolgen in vierSchritten. Sie kassieren von den Steuerpflichtigen, denAutofahrern und den Haushalten über die Stromsteuerund die Mineralölsteuer im Jahr 2000 zusätzlich5,1 Milliarden DM, zuzüglich der Mehrwertsteuer. Biszum Jahr 2003 kassieren Sie nur durch die Erhöhungender Mineralöl- und der Stromsteuer 105 Milliarden DMzusätzlich.
Davon, meine Damen und Herren, fließt keine müdeMark in die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur.Auch dies muß einmal erwähnt werden.
In diesem Zusammenhang wird immer gesagt: Ja,aber wir senken doch die Beiträge zur Rentenversiche-rung. Auf die grundsätzliche Problematik der Steuerfi-nanzierung dieser Versicherung hat der Kollege Merzschon hingewiesen. Ich will einen anderen Punkt an-sprechen: Mit diesen vier Stufen, die Sie zusätzlich pla-nen, kassieren Sie bis zum Jahr 2003 schon ohne die er-ste Stufe 56,6 Milliarden DM.
Diesen Betrag geben Sie aber nicht voll an die Renten-versicherung weiter, sondern nur zu einem geringenTeil. Sie haben zwar noch keinen Gesetzentwurf vorge-Gerda Hasselfeldt
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legt, aber in Ihrem sogenannten Haushaltssanierungsge-setz sehen Sie dafür nur 44,4 Milliarden DM vor. Mankann natürlich über den Grundsatz der Weitergabestreiten. Wenn Sie aber schon immer verkünden, daßdieses Geld an die Rentenversicherung weitergegebenwird, dann sollten Sie dies bitte auch tun. Sie aber erhö-hen diese Steuern, und diese Steuererhöhungen betreffenalle Steuerpflichtigen.Im übrigen sind diejenigen, die von der geringfügigenSenkung des Rentenversicherungsbeitrages nicht betrof-fen sind, die Hauptleidtragenden. Und das sind wiederdie Rentner, die Sozialhilfeempfänger, die Studentenund Hausfrauen und die Familien mit geringem Ein-kommen: Sie werden durch die Senkung der Rentenver-sicherungsbeiträge nicht entlastet, aber durch die Erhö-hungen der Strom- und Mineralölsteuer in besondererWeise belastet, ganz zu schweigen von den vielenPendlern, die auf das Auto angewiesen sind und keinÄquivalent bei der Kilometerpauschale und ähnlichemhaben.
Diese sind ganz massiv betroffen. Dies alles passiertnur, weil Ihnen der Mut zu echten Reformen fehlt.
– Natürlich, weil Sie nur umschichten, nur umverteilen.Unsere Rentenstrukturreform haben Sie zurückgenom-men. Nun wollen Sie die Rentenerhöhungen nur noch inHöhe der Inflationsrate vornehmen. Eine Rente nachKassenlage, nach Willkür ist das. Das ist alles andere alseine zuverlässige, berechenbare Größe.
Ich will nun noch einige Sätze zur Unternehmen-steuerreform, die seit langem versprochen wird, verlie-ren. Sie haben großspurig versprochen, die Unterneh-mensteuerreform werde zum Jahr 2000 in Kraft treten.Mittlerweile ist sie auf das Jahr 2001 verschoben.
– Warum haben Sie sie dann großspurig für dasJahr 2000 versprochen? Warum haben Sie noch vor we-nigen Monaten bei der Verabschiedung des sogenanntenSteuerentlastungsgesetzes, im Frühjahr dieses Jahres, imNamen der Fraktion und auch der Bundesregierung im-mer wieder öffentlich versprochen, die Reform kommezum Jahr 2000?
Erst nachdem dieses Gesetz beschlossen war, haben Siegesagt: Jetzt doch nicht, Kommando zurück. Jetzt ma-chen wir es ein Jahr später.
So war das. Wir sollten ehrlich miteinander umgehen.
Aber das Schlimmere ist, daß das Konzept, so wie esjetzt angedacht ist, im wesentlichen nur ein Plan für dieKapitalgesellschaften ist. Alles, was den Mittelstand be-trifft, was die 90 Prozent Personenunternehmer in unse-rem Land betrifft, was das Handwerk und den Handelbetrifft, ist noch offen. Das, was Sie hier andenken, dieTrennung von Unternehmens- und Unternehmerbesteue-rung, die Bevorzugung des einbehaltenen Gewinns imVergleich zum entnommenen Gewinn, ist wegen desLock-in-Effekts nicht nur volkswirtschaftlich unsinnig.Das ist auch praktisch kaum durchführbar und in Ver-lustjahren bei Personenunternehmen in der Realität völ-lig unmöglich.
Der Bundeskanzler hat vor wenigen Wochen auf ei-ner Veranstaltung in Frankfurt wörtlich gesagt:Wir wollen eine Senkung der Unternehmensteuern.Wir wollen aber keine Senkung der Unternehmer-steuern.Ich frage mich, meine Damen und Herren, wo lebtder Mann eigentlich? Weiß er, daß fast 90 Prozent derdeutschen Unternehmen nicht als anonyme Kapitalge-sellschaften, sondern von Unternehmern, von Personengeführt werden? Offensichtlich weiß er das nicht. Sonstwürde er nicht so daherreden.
Sie haben durch Ihren falschen Ansatz wertvolle Zeitverloren, nur weil Sie ideologische Barrieren aufgestellthaben, über die Sie nicht springen wollen. Ihr Steuerkurshat auch keine Linie. Sie schlängeln sich durch die Pro-bleme hindurch. So beschlossen Sie im Frühjahr 1999mit dem sogenannten Steuerentlastungsgesetz rückwir-kend Steuergesetze, die Sie wenige Monate später wie-der korrigierten, unvollständig korrigierten. Mit diesenunvollständigen Korrekturen lassen Sie die Finanzver-waltung, die Berater und die Steuerpflichtigen in weitenBereichen weiterhin im unklaren, weil viele Teile desbeschlossenen Gesetzes nicht durchführbar, nicht an-wendbar sind. Ich nenne nur die Bereiche Verlustzuwei-sungsgesellschaft, Mindestbesteuerung, Mehr-Konten-Modell. Es wäre notwendig gewesen, das so schnell wiemöglich zu korrigieren. Das haben Sie aber nicht ge-macht.
Sie reden von Steuerentlastung und beschließen Steu-ererhöhungen, beispielsweise bei der Ökosteuer. Sie ar-beiten parallel an weiteren Erhöhungen, beispielsweisebei der Erbschaftssteuer. Bei dieser chaotischen Vorge-hensweise in der Finanz- und Steuerpolitik brauchen Siesich nicht zu wundern, wenn die Menschen verunsichertGerda Hasselfeldt
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sind und wenn Ihnen die Wähler haufenweise davon-laufen.
Unser Angebot steht. Wir sind bereit, mit Ihnen eineSteuerreform, die wirklich den Namen „Steuerreform“verdient, zu machen, eine Steuerreform, die aber nichtan der Umverteilung ausgerichtet ist, sondern die ausge-richtet ist an dem Ziel, weitere Impulse für Wachstumund Beschäftigung zu geben, die ausgerichtet ist an einerNettoentlastung für alle Steuerpflichtigen, und damit dennötigen Schwung auf dem Arbeitsmarkt bringt.
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Dr.
Barbara Höll von der PDS-Fraktion.
Da Herr Schwanitz vergaß,
daß er mir während seiner Rede eine Frage gestatten
wollte, möchte ich jetzt folgendes formulieren. Ich glau-
be, es ist notwendig, bei den Aussagen zur Entlastung
der Familien zu konkretisieren, daß von seiten der Re-
gierungskoalition die Entlastung, was das Kindergeld
bzw. den Kinderfreibetrag angeht, und die Entlastung
durch den Grundfreibetrag sowie die Senkung des Ein-
gangsteuersatzes, was alle abhängig Beschäftigten bzw.
zur Einkommensteuer Veranlagten betrifft, immer zu-
sammengerechnet werden. Das heißt, die Summen, die
Sie hier ausweisen, sind nicht familienspezifisch, son-
dern es handelt sich um eine Vermengung allgemeiner
steuerlicher Maßnahmen mit tatsächlich kinderspezifi-
schen Maßnahmen. Ich meine, das ist nicht redlich.
Das wird noch deutlicher, wenn man sich dann an-
schaut, was Ihnen das Leben mit Kindern in Form einer
Entlastung wert ist. Bis zum Jahre 2002 sind das 6,7
Milliarden DM. Das ist aber zum großen Teil die Ver-
wirklichung eines durch das Verfassungsgericht bestä-
tigten Rechtsanspruchs. Es ist also keine großartige
freiwillige Leistung. Im Vergleich dazu planen Sie, die
ertragsstarken Unternehmen um fast doppelt soviel, um
über 13 Milliarden DM zu entlasten.
Ich möchte bemerken, daß ich mit Freude von ver-
schiedenen Seiten, auch von Herrn Schwanitz, zur
Kenntnis genommen habe, daß sich immer mehr die Er-
kenntnis durchsetzt, daß die alte Regierung bis kurz vor
dem Regierungswechsel in bezug auf die Transferlei-
stungen in die neuen Bundesländer mit Bruttozahlen und
nicht mit Nettozahlen gerechnet hat und daß auf diese
Art und Weise versucht wurde, eine neue Mauer zwi-
schen Ost- und Westdeutschland aufzubauen, gegensei-
tig Neid zu schüren bzw. die neuen Bundesländer als
Verursacher der Finanzmisere darzustellen. In Wahrheit
war es eine verfehlte Finanzpolitik. Es ist Ihre Aufgabe,
diesen Kurs zu korrigieren.
Herr
Kollege Schwanitz, wollen Sie antworten? – Bitte schön.
Frau Kollegin Höll, ich bitte um Nachsicht. Ich habe in
der Tat vergessen, Ihnen eine Fragemöglichkeit einzu-
räumen.
Ich freue mich über Ihre Zustimmung zu meiner
Konkretisierung dessen, wie der Aufbau Ost künftig
aussehen soll. Ich werbe sehr dafür, daß sich dies als ei-
ne flächendeckende Position im Haus durchsetzt. Ich
glaube, daß dies in der Tat der richtige Weg ist.
Bezogen auf die Familienentlastung schlage ich Ihnen
vor, daß wir einfach einmal die Zahlen abgleichen. Die
von mir vorgestellte Zahl ist eine seriös gerechnete Zahl,
die im übrigen nicht nur die Entlastungs-, sondern sehr
wohl auch die Belastungselemente einkalkuliert, also
auch die Belastungen durch die ökologische Steuerre-
form, und die dies für das ostdeutsche Durchschnittsein-
kommen bilanziert. Dies können wir gerne individuell
abgleichen, und wir können nachprüfen, ob – Sie ver-
muten das; ich glaube das nicht – etwas vergessen wor-
den sein sollte.
Bezogen auf das, was Sie – ich möchte es einmal mit
meinen Worten sagen – als unausgewogen oder gegebe-
nenfalls sozial schieflastig kritisiert haben, bitte ich dar-
um, daß sehr wohl das mit in die Bilanz hineingerechnet
wird, was die Bundesregierung unmittelbar nach ihrem
Regierungsantritt zum Beispiel im Rahmen des Steuer-
entlastungsgesetzes 1999 getan hat, in dem wir gerade
bei kleinen und mittleren Einkommen massive Entla-
stungen im Steuerrecht organisiert haben, die wir durch
eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage erreicht
haben. Das Gesamtvolumen betrug – wenn ich die Zah-
len richtig in Erinnerung habe – etwa 35 Milliarden DM.
Das war ein Beitrag hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit,
in dessen Rahmen Leistungen erzielt worden sind, die
auch Sie, wenn Sie Bilanz ziehen bzw. wenn eine solche
These aufgestellt wird, mit im Blick haben müssen.
Als vor-
aussichtlich letzte Rednerin zu diesem Themenbereich
gebe ich der Kollegin Nicolette Kressl von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr ge-ehrte Damen und Herren! Statt von den Oppositionsred-nern ein auch nur annähernd durchgehendes Konzept, indem Alternativen vorgestellt werden, zu hören, habensich Herr Austermann und Frau Hasselfeldt zu einer An-sammlung von Behauptungen verstiegen, die so einfachnicht wahr sind.
Drei davon – es bleibt mir wirklich nichts anderes üb-rig – will und muß ich hier aufgreifen.Erstens. Frau Hasselfeldt, Sie müßten doch wissen –ich weiß nicht, ob Sie das tun, weil Sie es nicht besserwissen, oder ob Sie es tun, obwohl Sie es besser wissen;das erste wäre schlecht in bezug auf Ihre Kompetenz,das zweite wäre charakterlich etwas problematisch –,Gerda Hasselfeldt
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daß diese Bundesregierung in bezug auf das Kindergeldwesentliche Schritte unternommen hat, während Siebzw. Herr Austermann behauptet haben – Herr Thielehat dies letzte Woche auch schon getan –, Sie hätten dasKindergeld von 70 auf 200 DM erhöht. Das ist ja wohlein Witz.
Sie wissen doch ganz genau, daß das Kindergeld zuBeginn Ihrer Regierungszeit 70 DM betrug, daß Sie dieSteuerfreibeträge hinzugerechnet haben und daß das ei-ne mit dem anderen nichts zu tun hat. Ich kann mir nichtvorstellen, daß Sie so wenig von der Steuerpolitik ver-stehen, daß Sie etwas Falsches sagen.
– Ich habe in diesem Fall Herrn Austermann und HerrnThiele gemeint. Herr Austermann müßte – er ist ordent-liches Mitglied des Haushaltsausschusses – die Grund-lagen des Steuerrechts so weit kennen, daß er hier nichteinfach die Unwahrheit erzählt. Sie haben das Kinder-geld nicht von 70 auf 200 DM erhöht. Sie haben viel-mehr die Steuerfreibeträge hinzugerechnet und das hin-terher insgesamt als Kindergeld bezeichnet. Das ist et-was völlig anderes. Das ist die erste Unwahrheit.
Zweitens. Sie behaupten immer wieder, die Einnah-men aus der Ökosteuer verblieben im Haushalt. Das isteinfach nicht wahr. Sie können sich die Zahlen nocheinmal anschauen. Wir werden in den Jahren 2000 bis2003 jeweils Steuermehreinnahmen haben; ich mache esIhnen einmal am Beispiel der Jahre 2002 und 2003 klar:Wir werden in diesen Jahren Steuermehreinnahmen inHöhe von 21,2 Milliarden DM haben. Mit Ausnahmevon 200 Millionen DM, die für ein Förderprogramm fürregenerative Energien eingesetzt werden, werden exakt19,3 Milliarden DM in die Taschen der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer und Arbeitgeber zurückgegeben.Das geschieht durch die Senkung der Rentenversiche-rungsbeiträge auf sagenhafte 18,5 Prozent. Davon habenSie in Ihren 16 Jahren nur träumen können.
Hören Sie einfach auf, zu behaupten, das sei Abkassie-ren, wenn wir es vollständig – minus diese 200 Millio-nen – zurückgeben.Dritte Unwahrheit. Sie behaupten in bezug auf dieUnternehmensteuerreform, wir würden uns nicht umdiejenigen Unternehmerinnen und Unternehmer küm-mern, die nicht in einer Kapitalgesellschaft tätig sind.Das ist absolut lächerlich. Sie wissen erstens, daß wirmit dem Steuerentlastungsgesetz die Unternehmer, dieim Rahmen der Einkommensteuer veranlagt werden –wie alle anderen auch –, schon entlastet haben, undzweitens wissen Sie, daß wir Konzepte suchen
bzw. Konzepte prüfen lassen, mit denen wir die ange-sprochenen kleinen und mittleren Unternehmen entla-sten können.
Wenn Sie sagen, daß Sie Konzepte haben, dann kannich nur lachen. Ihre Alternative, den Körperschaftsteuer-satz zu senken, bedeutet nichts anderes, als daß Sie nurgroße Unternehmen entlasten wollen.
Was Sie uns vorwerfen, wollen Sie selber machen.
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Grund?
Ja.
Herr
Kollege Grund, bitte schön.
Frau Kollegin, Sie
sprachen davon, daß die Einnahmen aus der Energie-
steuer voll an die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in
Form der Senkung des Rentenversicherungsbeitrages
weitergegeben werden. Was sagen Sie zu den Zahlen,
die ich letzte Woche aus dem Finanzministerium be-
kommen habe – sie beziehen sich auf die neuen Bun-
desländer – und die besagen, daß dort bis zum Ende die-
sen Jahres durch die Energiesteuer 1,6 Milliarden DM
eingenommen werden, daß aber die Senkung des Ren-
tenversicherungsbeitrags nur einen Umfang von 1,3
Milliarden einnimmt? Man muß also sagen: Es werden
300 Millionen DM Mehreinnahmen nicht weitergege-
ben; sie werden wahrscheinlich von Ost nach West
transferiert. Das widerspricht klar Ihrer These, daß diese
Mehreinnahmen voll an die Arbeitnehmer und Arbeit-
geber weitergegeben werden.
Wir sind angetreten, um ei-ne Politik für alte und für neue Bundesländer zu ma-chen. In diesem Fall heißt das für uns, daß wir uns dieGesamteinnahmen und Gesamtausgaben anschauenmüssen. Ich habe Ihnen die Zahlen schon vorgelesen,nämlich daß 19,3 Milliarden zurückgegeben werden. Ichhalte es für völlig verfehlt, auf der einen Seite spezielleNicolette Kressl
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Forderungen für die neuen Bundesländer aufzustellen,auf der anderen Seite aber immer wieder bestimmteZahlen herauszurechnen und das nicht als Gesamtpaketzu sehen. Sie können ja an dem, was ich Ihnen geradevorgelesen habe, sehr deutlich ersehen, daß nichts vonden Ökosteuereinnahmen im Bundeshaushalt verbleibt.Ich gebe Ihnen nachher dieses Blatt gern herüber, fallses Ihnen nicht vorliegen sollte.
Sie haben keine Konzepte vorgelegt, wir müssen an-dauernd Ihre Unwahrheiten richtigstellen.Ich möchte jetzt zu der Gesamtschau und zu demThema kommen, das wir heute zu besprechen haben.Wir, die Regierung und die Regierungsfraktionen, wol-len mit dem Haushalt, den wir hier vorlegen – bildlichgesprochen –, Wege bereiten, von denen man sagenkann, daß sie richtige Wege für unsere Gesellschaft sind.Wir beginnen doch heute mit dem, was Sie 16 Jahre langhätten in Angriff nehmen sollen, aber was Sie nicht ge-tan haben,
nämlich damit, einen Bundeshaushalt vorzulegen, indem deutlich wird, daß wir Verantwortung, auch Ver-antwortung für die nächsten Generationen übernehmenwollen. Aber Verantwortung für die nächsten Genera-tionen zu übernehmen bedeutet auch, daß wir natürlichnicht den Diskussionen mit denen aus dem Wege gehen,die von Einzelmaßnahmen betroffen sind. Die Menschenerwarten von uns nicht, daß wir solchen Diskussionenaus dem Wege gehen, und sie erwarten auch nicht, daßwir ausschließlich bequeme Wege suchen. Das ist füruns jetzt keine leichte Aufgabe, aber es wird sich natür-lich auszahlen, wenn die Menschen erkennen, daß wirnicht immer bequeme Wege gehen.Was Sie in den letzten 16 Jahren immer gemacht ha-ben, wenn Sie Haushalte aufgestellt haben, war, die be-quemen Wege zu suchen, weil Sie nie deutlich gemachthaben, daß ein Haushalt auch Solidarität zwischen ver-schiedenen Gruppen und zwischen verschiedenen Gene-rationen untereinander bedeutet,
weil Sie jeweils Ihre Grüppchen und Ihre Klientel be-treut und bedacht haben.
Wir haben übrigens nicht nur von 1,5 Billionen DMSchulden zu reden. Was Sie an Nichtsolidarität produ-ziert haben, ist der zweite Schuldenberg, den wir Stückfür Stück mit unserer Politik abzuarbeiten haben. Ichglaube, das ist mindestens genauso schwer, wie dieSchulden in D-Mark abzuarbeiten.
Selbstverständlich – das ist heute schon ein paarmalsehr deutlich geworden – kann Haushaltskonsolidie-rung kein Selbstzweck sein. Es kann nicht darum gehen,nur für sich Zinsbelastungen zu reduzieren. Ich will Ih-nen drei Punkte nennen, die ich für ganz wesentlichhalte, warum wir diese Haushaltskonsolidierung hinbe-kommen müssen.Erstens: Wenn wir es schaffen, daß nicht mehr jedevierte Mark für Zinsen ausgegeben werden muß, könnenwir bald wieder entscheiden, welche politischen Schwer-punkte wir setzen wollen. Dann können wir das tun undnicht nur davon reden. Wenn wir hier nicht eine Kehrt-wende hinbekommen – das machen wir gerade –, ver-spielen wir doch auf Dauer die Chance, daß Politiküberhaupt noch Einfluß nehmen kann. Die Menschenerwarten zu Recht, daß die, die Politik machen, nichteinfach tatenlos zusehen, wie wir durch steigende Zins-lasten immer handlungsunfähiger werden. Sie erwartenzu Recht von uns, daß wir wieder finanziellen Spiel-raum schaffen, damit wir in Universitäten, in For-schung, in die Entwicklung neuer Technologien, in dieUmwelttechnik und im Ergebnis damit auch in neue Ar-beitsplätze investieren können. Sie hatten sich da dochjeder Chancen Jahr für Jahr beraubt.
Man kann das auch auf einen sehr einfachen Nennerbringen: Vorsorge in den Haushalten für die nächstenGenerationen ist soziale Gerechtigkeit.Zweitens: Zu Recht haben wir Sozialdemokraten deralten Regierung immer angelastet, daß sie bei ihrenSteuergesetzen die Entlastung der unteren und mittlerenEinkommen massiv vernachlässigt hat. Wir haben mitdem Steuerentlastungsgesetz ganz entscheidendeSchritte nach vorne gemacht.
Wir haben mit der Senkung des Eingangssteuersatzes,mit der Erhöhung des Grundfreibetrages, mit der Kin-dergelderhöhung die Schwerpunkte der Entlastung indiesen Bereich gelegt. Anders als bei Ihren Steuervor-schlägen haben wir allerdings auf eine seriöse Finanzie-rung geachtet. Uns war nämlich immer klar: Es machtüberhaupt keinen Sinn, den großen Luftballon aufsteigenzu lassen, auf dem Steuerentlastung steht, in Wirklich-keit aber die nächste Generation zu belasten, weil Steu-erentlastungen auf Pump gemacht werden.
Was wären denn die nicht finanzierten 45 MilliardenDM bei Ihrer Steuerreform gewesen? Das wären dochNicolette Kressl
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Steuerentlastungen auf Pump und Belastungen für dienächste Generation gewesen.
Wenn Herr Merz uns jetzt wieder den gleichen Vor-schlag vorlegen will, hat er es offensichtlich immer nochnicht kapiert.
Natürlich sind wir bereit, auf Vorschläge einzugehen,aber doch nicht auf solche, bei denen wir wieder damitrechnen müssen, daß wir 30, 45 Milliarden DM nicht fi-nanziert haben. Und dann kommt womöglich bei demVorschlag wieder die kleine Fußnote der Mehrwertsteu-ererhöhung heraus. Darauf freuen wir uns natürlich be-sonders.Eine seriöse Finanzierung von Steuerentlastungen istübrigens auch kein Selbstzweck, sondern ebenso eineFrage der sozialen Gerechtigkeit. Ziel für uns ist selbst-verständlich: Wir wollen den Menschen, besonders auchden Familien, dadurch Freiraum geben, daß sie von denEinkommen durch Erwerbsarbeit oder durch unterneh-merisches Engagement möglichst viel selbst behaltenkönnen. Das ist für uns sozialdemokratisch. Dann kön-nen sie sich auch an Vermögen und Unternehmen betei-ligen. Sie können sich dann für eine zusätzliche Säule inder Altersversorgung entscheiden. Sie können sich inder Gesellschaft engagieren, und sie können dann Wei-terbildung und gleiche Ausbildungschancen in der Ge-sellschaft wahrnehmen.Aber auch das kann nicht auf Pump sein. Das mußdurch umsichtiges Handeln vorbereitet werden. Mit je-dem Jahr, in dem wir Haushaltskonsolidierung vorneh-men, haben wir wieder mehr Freiraum, um den Men-schen netto mehr zu lassen. Nur dann ist es auch ernst-haft, seriös und verantwortungsvoll gemacht.
Damit wir die Wege zu dieser seriösen Steuerentla-stung weiter ebnen können – zusätzlich zu dem, was wirschon gemacht haben –, müssen und wollen wir das Zu-kunftsprogramm auf den Weg bringen. Wir machen esanders. Wir hängen keine bunten Luftballons auf – ichhabe es vorhin schon gesagt –, auf denen Steuerentla-stung steht, sondern wir sorgen dafür, daß Steuerentla-stungen ein solides Fundament bekommen.Drittens. Deutschland braucht Zukunftsinvestitio-nen. Wir haben bereits in den engen Grenzen, die Sieuns durch Ihre Verschuldungspolitik gesteckt haben,Schwerpunkte gesetzt: in Forschung und Bildung und inProgrammen für regenerative Energien. Mit jedem Jahr,in dem es uns gelingen wird, den Haushalt zukunftssi-cherer zu machen, gelingt es uns gleichzeitig, den Spiel-raum zu gewinnen, den wir brauchen, um noch mehrAkzente zu setzen.Allein diese Ziele sind es wert, sich an diese Aufga-ben zu machen. Wir erleben – das ist wahr –, daß esnicht einfach ist. Wir haben aber auch sehr viele Steinewegzuräumen, die Sie uns auf den Weg gelegt haben,indem Sie Ihre Haushalte nicht am Gemeinwohl, son-dern – ich wiederhole mich – an dem Interesse orientierthaben, einzelne Gruppen speziell zu bedienen.Ich will noch einen Blick auf die Aufräumarbeitenwerfen, die unsere Regierung schon geleistet hat. Wirhaben im Steuerentlastungsgesetz eine Aufgabe ange-packt, die dringend notwendig war. Wir haben die unte-ren und mittleren Einkommen entlastet und Maßnah-men umgesetzt, mit denen ungerechtfertigte Steuerver-günstigen abgebaut worden sind. Nachdem Sie das hierimmer bestritten haben, will ich mir nichts ausdenken,sondern einfach das ausführen, was Sie alle im „Spie-gel“ dieser Woche lesen konnten. Es ging darum, wasbis zum Jahr 2002 für die unteren und mittleren Ein-kommensbezieher geschehen wird. Ein Kfz-Mechanikermit einem zu versteuernden Einkommen von 60 000DM wird im Jahr 2002 netto 2 106 DM mehr im Geld-beutel haben. Das sind fast 22 Prozent Steuerersparnis.Wenn er zwei Kinder hat, wird er über 30 Prozent Er-sparnis haben. Überlegen Sie sich das einmal.
Wir haben eine Steuerreform vorgenommen, die dafürsorgt, daß er 30 Prozent Steuerersparnis haben wird.Dabei ist die weitere Stufe der Familienentlastung übri-gens noch nicht einmal eingerechnet.Ein Spitzenverdiener mit einem zu versteuerndenEinkommen von 250 000 DM wird 4,8 Prozent wenigerzahlen. Es ist also nicht wahr – wie Sie immer behaup-ten – daß wir bei den Spitzenverdienern zuschlagenwürden.Der Bereich, in dem wir etwas gemacht haben, ist dasdritte Beispiel aus dem „Spiegel“: Ein Architekt, dersein zu versteuerndes Einkommen bisher auf Null ge-rechnet hat, wird das nicht mehr tun können und eineentsprechende Mehrbelastung von über 150 000 DM imJahr haben. Der tut mir aber auch nicht leid. Wir alle –auch Sie – haben das gefordert, und wir haben das um-gesetzt.
Diese Beispiele machen deutlich, daß diejenigen, diedurch eigene Leistung oder unternehmerisches Engage-ment Einkommen erwirtschaften, auf jeden Fall entlastetwerden, daß aber diejenigen, die sich durch reine Ab-schreibungsmodelle bedient haben, nicht weiter die „Ge-scheiten“ in der Gesellschaft sind, sondern daß auch siezur Kasse gebeten werden.Sie haben uns bei den Aufräumarbeiten noch ein paarganz dicke Brocken hinterlassen: Familienentlastung.Es ist mir aufgefallen, daß Frau Hasselfeldt bewußt nurdas Erziehungsgeld genannt hat; denn sie weiß wahr-scheinlich sehr genau, daß sie auf den Bereich der Steu-erentlastung wahrhaftig nicht stolz sein kann. Eigentlichhätte es des Verfassungsgerichtsurteils nicht mehr be-durft, um zu zeigen, daß Sie ein Weglein bereitet habenund keinen Weg für die Solidarität der Generationen.Das Urteil hat es aber noch einmal sehr deutlich ge-macht.Nicolette Kressl
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Was für eine mühsame Arbeit war es denn, Sie vonjeder Verbesserung für die Familien zu überzeugen!
Nicht nur, daß Sie die Erhöhung des Kindergeldes auf220 DM wieder zurücknehmen – obwohl wir sie schonbeschlossen hatten – und nur 200 DM Kindergeld zahlenwollten, nicht nur daß Sie auch kleine Verbesserungen,die wir im Ausschuß beantragt hatten, immer abgelehnthaben und wir das jetzt sehr schnell umgesetzt haben,
sondern auch, daß Sie, Frau Hasselfeldt, noch im Januardie Kindergelderhöhung, die wir gemacht haben, ob-wohl wir das Urteil nicht kannten,
ein Weihnachtsgeschenk genannt haben. Der Witz dabeiist, daß jetzt überall die christdemokratischen Politikeraufstehen und sagen: Wir möchten aber mehr Kinder-geld. Dies kann wirklich nur als schizophren bezeichnetwerden.
Diese Entscheidungen für steuerliche Entlastungender Familien haben uns übrigens eine sehr große Kraft-anstrengung gekostet. Dies ist logisch. Wenn man einenHaushalt vorfindet, der so wenig Spielraum läßt, kostetes viel Kraft, Bewegungsfreiraum für Familien und de-ren steuerliche Entlastung zu schaufeln.Hier schließt sich der Kreis auch wieder, weil wir ge-nau aus diesem Grund, nämlich um für Familien weitereEntlastungen schaffen und diese vielleicht auch nochmehr fördern zu können, einen konsolidierten Haushaltbrauchen.Wir wissen, daß es noch eine ganze Reihe von Auf-gaben geben wird, für die wir die Unterstützung durchdie Bürgerinnen und Bürger brauchen und wesentlichmehr brauchen, als wir sie bisher haben. Wir wissenauch, daß es nicht einfach sein wird, diese Menschendavon zu überzeugen, daß es der richtige Weg ist.Ich stelle mir unter Politik vor, endlich wieder ent-scheiden zu können, wo ich politische Schwerpunktesetze, und nicht durch Haushaltszwänge gebunden zusein, so daß ich mich nicht so entscheiden kann, wie iches möchte. Wenn es das ist, was die Menschen von Po-litik erwarten, dann weiß ich, daß es sich lohnen wird,dafür zu kämpfen, die Menschen von diesem Ansatz zuüberzeugen.
– Ich kann Sie trotz Ihres Gebrülls nur dazu auffordern,diesen Weg mit uns zu gehen.Vielen Dank.
WeitereWortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nichtvor.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Wirtschaft und Technologie,Einzelplan 09. Das Wort hat als erster Redner der Bun-desminister Werner Müller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Seit dem zweiten Quartal des letzten Jahres ver-flachte das Wirtschaftswachstum und war bis zumAmtsantritt der neuen Bundesregierung stetig rückläu-fig. Seitdem kommt das Wirtschaftswachstum aus derTalsohle des vierten Quartales heraus, wenn auch zu-nächst nur zögerlich.Inzwischen haben wir einen gesamtwirtschaftlichenDatenkranz, der uns berechtigt, auf eine deutliche Kon-junkturbelebung zu vertrauen. Es ist das Ziel der Wirt-schaftspolitik dieser Bundesregierung, den aktuellenKonjunkturaufschwung in einen stabilen, sich selbst tra-genden Wachstumspfad unserer Volkswirtschaft zuüberführen.
Es liegt nun an uns allen, ob wir diese notwendigenund günstigen Rahmenbedingungen für die Wachstums-politik wider besseres Wissen zerreden wollen undzerreden lassen. Der Wirtschaftsminister will das nicht,denn die Bundesrepublik wird auf Grund der Reformendieser Bundesregierung ein wieder attraktiver Investiti-onsstandort.Das müssen wir auch sein, damit wir den Abbau derzu hohen Arbeitslosigkeit bewältigen.
Vier Millionen Arbeitslose sind zuviel, jeder einzelneArbeitslose ist einer zuviel. Jeder vermiedene Arbeitslo-se ist ein einzelner Erfolg. Deshalb bitte ich auch zu se-hen, daß angesichts des Wachstumsverlustes seit demzweiten Quartal letzten Jahres die Arbeitslosigkeit beimPolitikverständnis früherer Jahre bis heute kräftig ange-stiegen wäre. Die Arbeitslosigkeit ist aber trotz Wach-stumsverlusten nicht gestiegen, sondern leicht rückläufig,was die Wirkungsmöglichkeit der aktiven Arbeitsmarkt-politik belegt, die diese Bundesregierung unternimmt.
So ist es zum Beispiel in kurzer Zeit gelungen, dieJugendarbeitslosigkeit ganz erheblich abzubauen.Wenn man diesen Erfolg in dieser kurzen Zeit sieht,wird deutlich, wie unverantwortlich es über Jahre gewe-sen ist, dieses große gesellschaftspolitische Problem derJugendarbeitslosigkeit nicht schon viel früher bekämpftzu haben.
Nicolette Kressl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4703
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Ich will das Wort Erblast der alten Regierung nichtüberstrapazieren; denn die neue Regierung ist gewähltworden, um diese Erblasten wegzuarbeiten. Es stimmtmich aber doch nachdenklich, wenn ich beobachte, wiedie, die für diese Erblasten verantwortlich sind, heutemit ihrer Hinterlassenschaft umgehen. Wenn diese Re-gierung die Inflationssicherung der Renten erreichenwill, dann nennt das die heutige Opposition einen Ein-schnitt in der Rentenpolitik. Dabei hat es bei der altenRegierung seit 1995 keine Inflationssicherung der Ren-ten mehr gegeben.
Jedes Jahr wurden die Renten aufs neue abgewertet.Als die alte Regierung abgewählt wurde, waren dieRenten 5 Prozent weniger wert als 1994.
Wenn die seit Jahren erstmalig durchgeführte Inflations-sicherung heute von CDU/CSU als Einschnitt bezeich-net wird,
dann muß ich sagen, daß die CDU/CSU seit Jahren beiden Renten Kahlschlag betrieben hat.
Wie gesagt: Es stimmt mich nachdenklich, wie manzu der Hinterlassenschaft steht. Nehmen Sie den Haus-haltsentwurf für das Bundesministerium für Wirtschaftfür das Jahr 2000. Diesen hat die alte Regierung imRahmen der noch geltenden Finanzplanung des Bundesbereits einmal aufgestellt. Obwohl gerade erst bindendeVerträge mit dem Bergbau geschlossen worden waren,hat die alte Regierung die Absatzhilfe für die Steinkohleviel zu gering veranschlagt. Das ist nur ein kleines Bei-spiel dafür, wie die Haushalte aufgestellt wurden, damitdie Neuverschuldung nicht uferlos wurde.Heute muß man sich aber anhören, daß der Haus-haltsentwurf 2000 der neuen Bundesregierung angeblichnur geringfügig unter dem Entwurf der alten Regierungliege.
Man muß sich vorhalten lassen, daß das Einsparvolumenvon 30 Milliarden DM getürkt sei. In aller Klarheit:Getürkt war die Haushaltsplanung der alten Regierung.
Am Beispiel der viel zu gering etatisierten Steinkohlezeigt sich: Es wurden Einsparungen verbucht durch ein-geplante Vertragsbrüche. Deswegen sage ich in allerKlarheit: Diese Bundesregierung wird die erste sein, diedie Verträge mit dem Bergbau einhält.
Nun stand ich vor dem ganz praktischen Problem, dieSteinkohlehilfen einerseits nach oben zu setzen und an-dererseits über 1 Milliarde DM im Gesamthaushalt ein-zusparen. Konkret: Die Summe aller Haushaltspositio-nen – außer Kohle – beträgt im Haushalt 1999 7,8 Milli-arden DM, wovon 1,3 Milliarden DM einzusparen wä-ren.
Herr
Minister, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Uldall zulassen?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Ja.
Bitte
schön, Herr Uldall.
Angesichts der Tatsa-che, daß Sie sich so vehement für die Steinkohlesubven-tionen einsetzen, muß ich fragen:
Schließen Sie es aus, daß im Laufe des Vollzuges desHaushalts 2000 seitens der Regierung Kürzungen beiden Steinkohlesubventionen vorgenommen werden?Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Sie greifen meiner Rede voraus, HerrUldall. Ich komme jetzt auf diesen Punkt zu sprechen.Im Grundsatz habe ich Ihnen schon gesagt: Vertragsbrü-che planen wir nicht ein.
Da viele Ausgaben im Haushalt 2000 schon gebun-den sind, ist die Aufgabe, 1,3 Milliarden DM von 7,8Milliarden DM zu sparen, mit denkbar ungünstigen Ein-schnitten bei einzelnen Positionen verbunden. Ich habemich mit diesem Problem – ich sage noch einmal: be-gründet durch die zu geringe Veranschlagung der Koh-lehilfen in der Planung der alten Regierung – an denBergbau gewandt: an Unternehmen, an die Gewerk-schaft und an den Bergbauverband. Für den bisherigenGesprächsverlauf bin ich dankbar, zumal wir wohl hin-sichtlich der Behandlung einiger seit Jahren erörterterFragen zur Abrechnung von Bilanzhilfen früherer Jahreeine Annäherung finden.Ferner bat ich zu prüfen, ob wir die vertraglich fürdas Jahr 2000 zustehenden Hilfen zu einem sehr gerin-gen Prozentsatz etwas verzögert zur Auszahlung bringenkönnen, weil ich damit für den Haushalt im Jahr 2000ungünstige Brüche vermeiden kann.Bundesminister Dr. Werner Müller
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4704 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Die Gespräche mit dem Bergbau stehen kurz vor demAbschluß, so daß ich in Kürze dem Haushaltsausschußvorschlagen kann, wie die im Moment noch ausgewie-sene globale Minderausgabe im Haushaltsentwurf 2000weitgehend aufgelöst wird.
Damit darüber gar nicht erst ein Mißverständnis auf-kommt, sage ich noch einmal, daß die Kohlevereinba-rungen vom 13. März 1997 und die damit verbundenenpolitischen Ziele, insbesondere die sozialverträglicheAnpassung, sowie der vereinbarte Finanzrahmen unver-ändert umgesetzt werden.
Im Gegensatz zum Bergbau, bei dem bis 2005 dieSubventionen deutlich zurückgefahren werden, der alsoSubventionsabbau akzeptiert, muß man sich hier und dain der Wirtschaft noch daran gewöhnen, daß mancheStaatshilfe in meinem Haushaltsentwurf niedriger ange-setzt wird.
Ich hatte die Wirtschaft frühzeitig darauf hingewiesen,daß sie mit dem Abbau von Subventionen, seien esSteuersubventionen oder direkte Hilfen, rechnen muß,damit Steuern und Abgaben auf breiter Front gesenktwerden können und damit die Neuverschuldung langfri-stig abgebaut werden kann.Ich habe oft den Eindruck, daß der Schuldenstanddes Bundes beim Regierungswechsel nicht so recht be-griffen wird, wenn man immer nur die Zahl von 1,5 Bil-lionen DM hört. Vielleicht wird es etwas plastischer,wenn ich sage: Wir haben uns den Haushalt des Bun-deswirtschaftsministers bereits rund einhundertmal vonunseren Enkeln und Kindern geliehen. Schulden machenist bequem, aber nur für die, die das geliehene Geld aus-geben. Viel unbequemer ist es, das zu erarbeiten, wasman ausgeben will. Es wäre für die Zukunft verhängnis-voll, wenn die heutige Opposition das weitere Verschul-den noch einmal zum bequemen Prinzip einer Regie-rungspolitik ausrufen wollte.
Mit solcher Bequemlichkeit mag man offensichtlichaktuell Wahlen gewinnen, aber die Zukunft gewinntman nicht.
Zum unbequemen Sparpaket dieser Bundesregierunggibt es im Grundsatz keine Alternative. Das müßte allenSeiten dieses Hauses klar sein. Also sind im Haushaltdes Bundeswirtschaftsministers gegenüber dem laufen-den Haushalt 1999 rund 1,3 Milliarden DM einzusparen.Das bedeutet nun aber keineswegs Kahlschlag bei denFördermaßnahmen. Sinnvolles wird auf hohem Niveaufortgesetzt. Das gilt nicht bloß für die Gemeinschafts-aufgabe in Ost und West, das gilt insbesondere auch fürdie Mittelstandsförderung, deren Volumen wir durchBündelung und Zusammenführung bei der DeutschenAusgleichsbank aufrechterhalten und mit mehr Effizienzversehen. Das Fördervolumen von rund 11 MilliardenDM werden wir so auch in Zukunft beibehalten.In der Energiepolitik strebt die Bundesregierung einemoderne Energieversorgung auf der Grundlage vonMarkt und Wettbewerb an. Dazu gehört auch das Ziel,langfristig zu subventionsfreien Versorgungsstrukturenzu kommen. Bei den erneuerbaren Energien haben wireine zielgerichtete Anschubförderung vorgesehen. Fürdas Anfang des Jahres gestartete 100 000-Dächer-Solarprogramm geht der Bund bis zum Jahr 2004 Ver-pflichtungen in Höhe von mehr als 1 Milliarde DM ein.
Wir wollen der Photovoltaik in Deutschland zum breitenDurchbruch verhelfen. Das neue Marktanreizprogramm,das im September gestartet worden ist, legt die Schwer-punkte auf Solarkollektoren und Biomasseanlagen. Wirstellen dafür jedes Jahr 200 Millionen DM zur Verfü-gung, und zwar zunächst bis zum Jahr 2003.
Energiepolitik ist langfristig nur tragfähig, wenn sievon Politik und Gesellschaft getragen wird. Deshalbmüssen wir dort zu Hilfen bereit sein, wo der neueWettbewerb Unternehmen vor Probleme stellt, die nichtsmit mangelnder Vorbereitung auf den Wettbewerb odernichts mit sonstigen unternehmerischen Fehlleistungenzu tun haben. Die Sicherung der ostdeutschen Braun-kohleförderung und -verstromung gehört dazu, ebensodie Tatsache, daß einzelne kommunale Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen auf Steinkohlebasis im Wettbewerbentwertet werden, aber wegen der Fernwärmeversor-gung der Bürger nicht einfach abgestellt werden können.Bei solchen Problemen wird es Hilfen geben müssenund geben, die weder Wettbewerbsvorteile für alle ver-hindern noch mißbraucht werden können.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit den Beschlüs-sen für diesen Haushalt und das gesamte Zukunftspro-gramm setzt die Bundesregierung ein klares Signal fürein zukunftsfähiges Staatsverständnis. Wir müssen diestaatlichen Aktivitäten auf die zentralen Aufgaben zurSicherung des Sozialstaates konzentrieren und könnendadurch mehr Freiraum für Eigeninitiative, für Eigen-verantwortung und für mehr unternehmerisches Enga-gement schaffen. Indem wir die Staatsfinanzen sanierenund die sozialen Sicherungssysteme auf eine solide Fi-nanzierungsbasis stellen, stärken wir auch die Solidaritätder Generationen.
Eines muß man noch deutlich sagen: Der Generatio-nenvertrag wird nicht dadurch in Frage gestellt, daßjemand die eigenständige Altersversorgung als dritteSäule ins Gespräch bringt. Der GenerationenvertragBundesminister Dr. Werner Müller
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wird vielmehr von denjenigen in Frage gestellt, die denAnstieg der Lohnkosten und die Aushöhlung der Sozial-kassen hingenommen und der Abwanderung von Unter-nehmen und Leistungsträgern ins Ausland tatenlos zuge-sehen haben.
Die Vorlage zum Haushalt, die dem Parlament zumJahresende vorzulegende Unternehmensteuerreform unddie Reform der Altersvorsorge sind notwendige Be-standteile des Gesamtkonzeptes für die Zukunftsfähig-keit Deutschlands. Eines muß ich der Opposition nochzu bedenken geben: Unternehmer, Wirtschaftsverbände,die Bundesbank und die wissenschaftlichen Institute se-hen das genauso.Damit das Fundament für den WirtschaftsstandortDeutschland für das nächste Jahrtausend zukunftsfähiggemacht wird, bitte ich um die Zustimmung zu dieserHaushaltsvorlage als wichtigen Beitrag für mehr Wach-stum und Beschäftigung in unserem Land.Vielen Dank.
Der
Kollege Austermann hat die Ausführungen des Herrn
Bundesministers mit einem Wort qualifiziert, das ich
nicht wiederholen will, welches aber unparlamentarisch
war.
Als nächster Redner hat der Kollege Dankward Bu-
witt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich möchte mit zwei Bemer-
kungen auf die Ausführungen von Frau Kressl zurück-
kommen. Sie verlangt von den Menschen sehr viel; sie
verlangt von den Menschen vor allen Dingen, daß sie
alles vergessen. Wer das Wort Solidarität in den Mund
nimmt – gerade bei der Frage Aufbau Ost –, muß be-
denken: Herr Eichel ist ja noch mit einem guten Ge-
dächtnis versehen; er hat heute vormittag gesagt, bei
dieser Frage hätten die westlichen Länder die Hände
ganz tief in den Taschen gehabt. Herr Schröder hat dazu
etwas ganz anderes gesagt; er hat gesagt, es gebe keine
Mark niedersächsischer Steuerzahler für den Aufbau der
neuen Bundesländer. Das ist Solidarität, wie Sie sie ver-
stehen.
Wenn Sie sich darauf auch noch beziehen, ist das wirk-
lich traurig genug.
Zur Frage des Selbstfinanzierungseffektes einer
Steuerreform. Wer sich die Zahlen der Jahre 1986 bis
1990 ansieht und erkennt, was in dieser Zeit durch Steuer-
entlastungen angeschoben worden ist – neue Arbeits-
plätze und damit höheres Wirtschaftswachstum; mehr
Menschen, die eigenes Einkommen haben; eine Entla-
stung des Staates und der Sozialkassen –, und dann dar-
an nicht glaubt, der braucht gar keine Steuerreform zu
machen. Was für einen Sinn sollte sie sonst haben, wenn
man damit keine bezahlte Arbeit befördern könnte?
– Herr Fischer, Ihre Zwischenrufe von der Regierungs-
bank sind nicht besser geworden und waren von den
Abgeordnetenplätzen früher auch schon nicht besonders.
– Ach, er hat gestöhnt? Ja, er hat auch allen Grund dazu.
Wenn man heute die Reden von Herrn Müller, von
Herrn Eichel und von der rotgrünen Koalition insgesamt
hört, dann kann man feststellen, daß zwei Botschaften
rübergebracht werden. Die eine lautet: Früher war alles
schlecht, heute ist alles in Ordnung. Die andere lautet:
Die Bürger haben es nur nicht verstanden.
Zunächst einmal kann ich nicht bestätigen, daß zur
Zeit alles in Ordnung ist; das möchte ich sogar bestrei-
ten. Zudem geht es auch gar nicht darum, ob die Leute
es verstehen, sondern darum, daß die Leute diese Politik
nicht haben wollen. Wenn der Finanzminister sagt – das
klingt ja schon fast rührend –, die Leute kämen zu ihm
und sagten, er solle ruhig so weitermachen, dann muß
ich feststellen: Die Wahlergebnisse sagen etwas anderes.
Wenn jemand mir in dieser Situation solche Ratschläge
gibt, dann würde ich doch überlegen, ob derjenige es mit
mir gut meint oder mir sogar ein Bein stellen möchte.
– Das lassen Sie doch meine Sache sein, um das ganz
deutlich zu sagen.
Über den Wirtschaftshaushalt ist gar nicht viel zu sa-
gen. Der Wirtschaftsminister selber hat in erster Linie
über die Renten gesprochen.
– Herr Präsident, wer soll reden? Ich oder die anderen?
Ein paarZwischenrufe müssen Sie schon ertragen.Bundesminister Dr. Werner Müller
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4706 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Zwischenrufe ertra-
ge ich gerne.
Ihnen
steht ein Mikrofon zur Verfügung. Mit dessen Hilfe
können sie sich durchsetzen.
Der Wirtschaftsmi-nister hat hier über die Renten gesprochen. In der„Welt“ hat er ausgeführt: Mich widert an, was die CDUzu den Renten sagt. – Nun muß man feststellen, daß Siezwar kein SPD-Mitglied sind. Trotzdem dürften Sienicht so zurückgezogen gelebt haben, daß Sie keineNachrichten gehört und keine Zeitungen gelesen haben,bevor Sie in die Regierung eingetreten sind. Wir wollteneinen demographischen Faktor einfügen. Das haben wirauch getan. Sie haben das rückgängig gemacht. Der An-stieg der Renten sollte langfristig abgeflacht werden.Herr Schröder sagt, daß er die zutiefst unanständigeRentenreform rückgängig machen wolle. Das ist einesvon vielen falschen Versprechen, die er gemacht hat unddie ihm schon heute leid tun. Aber der Bundeskanzlerhat auch gesagt – das ist eine ganz andere Sache –: Ichstehe dafür, daß die Renten in Zukunft weiterhin so stei-gen werden wie die Nettoeinkommen. Davon kann dochim Moment überhaupt keine Rede mehr sein. Wenn Sie,Herr Müller, das alles gewußt hätten, dann hätten Siesagen müssen: Mich widert der Rentenbetrug meiner ei-genen Regierung an. SPD und Grüne haben den Rent-nern – nicht nur diesen – viel versprochen. Sie haben siegetäuscht. Sie sind dabei, sie zu betrügen.
Jetzt stellt sich die Frage: Welchen Beitrag leistet derWirtschaftshaushalt, um die Wirtschaft in Gang zu brin-gen und das Wirtschaftswachstum zu fördern?
1998 gab es ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent.1998 gab es 400 000 Arbeitslose weniger als heute. Daswaren Entwicklungen, die auf Grund der Rahmenbedin-gungen möglich waren, die die letzte Regierung in die-sem Hause – also in Bonn, falls Sie das wieder fragenwollen – beschlossen hat.
Was ist nach dem Regierungswechsel geschehen? Esgehörte nicht viel dazu, wenn Herr Fischer – vielleichthat er es ironisch gemeint – sagte: Der Aufschwung wirdbis zum 27. September anhalten. Das ist richtig: Sie ha-ben den Aufschwung kaputtgemacht und vernichtet.
Sie haben die Maßnahmen, die wir für ein größeresWirtschaftswachstum und für mehr Arbeitsplätze getrof-fen haben, zurückgenommen.
– Ich meine die Maßnahmen zur Lohnfortzahlung imKrankheitsfall, die Maßnahmen für Existenzgründungenund die Maßnahmen zum Schlechtwettergeld. Diese Li-ste könnte man beliebig fortsetzen. Diese Maßnahmenhaben Sie alle rückgängig gemacht. Deshalb dürfen Siesich nicht wundern, daß dadurch die wirtschaftlicheEntwicklung zurückgegangen ist. Sie beziehen sich im-mer auf europäische und internationale Entwicklungen.Aber richtig ist, daß Deutschland im Vergleich zu ande-ren am Ende der Entwicklung des Wirtschaftswachs-tums steht. Warum ist das so?
– Deutschland hat in diesem Jahr ein schlechteres Wirt-schaftswachstum als alle anderen Länder aufzuweisen.Das können Sie überhaupt nicht bestreiten. Das sind dieFolgen der Politik, die Sie betrieben haben.
Sie dürfen sich also nicht wundern, daß sich beimThema „Abbau der Arbeitslosigkeit“, das Sie zu ihremThema machen wollten, überhaupt nichts bewegt. Siereden über das Thema kaum noch. Noch im Frühjahrhaben Sie sich darüber gestritten, ob man den Stand derArbeitslosigkeit Monat mit Monat vergleichen sollte;denn Sie wollten sich den Rückgang gegenüber 1998gutschreiben lassen. Jetzt vergehen im Laufe des Jahresdie Monate, und der Vergleich Monat mit Monat istschon nicht mehr so schön, und natürlich unterlassen Sieihn.Der Minister hat hier dargestellt, daß alles so fortge-setzt wird. Das stimmt nicht; meine elf Minuten Rede-zeit reichen nicht aus, um all das vorzulesen, was dasbelegt. Wer sich den Haushalt ansieht, der erkennt, daßes diesbezüglich viele Posten gibt. Es geht um die Mit-telstandsförderung, es geht um den Aufbau Ost, und esgeht um all das, was für die Schaffung von Arbeitsplät-zen einen Anstoß bewirkt. Die Ausgaben hierfür sind indiesem Haushalt zurückgeführt worden, und zwar immermit der Bemerkung: Die Förderkonditionen wurden ge-strafft. – Sie haben sich diese Möglichkeit geschaffen,um die Veränderungen durchzuführen.
– Doch, das alles ist im Haushalt enthalten. Sie habenihn nur nicht gelesen; das ist das Problem. Wenn Sie denHaushalt gelesen hätten, dann hätten Sie diese Aussagegefunden. Das ist nicht mein, sondern Ihr Problem.Es gibt wenig im Haushalt, worüber man verhandelnkann. Wie der Minister richtig dargestellt hat, liegen diepauschalen Minderausgaben bei 600 Millionen DM.Obendrein müssen 38,6 Millionen DM als Effizienzren-dite erwirtschaftet werden. Dies alles sind zur Zeit un-gedeckte Schecks.Aber die Lösung zeichnet sich ab. Im ersten Teil sei-ner Rede sprach Herr Müller von den unglaublichenVertragsverstößen im Bereich der Kohle. Im zweitenTeil seiner Rede sagte er, er werde sich gütlich einigen.
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Es handele sich um einen kleinen Betrag von 500 Mil-lionen DM, der zur Sanierung des Haushalts freiwilligzur Verfügung gestellt wird. Wie dies zusammenpassensoll, frage ich mich sehr ernsthaft.Bei den letzten Haushaltsberatungen haben Sie sichvehement dagegen gewehrt, daß vom Verkauf der Roh-ölreserve Geld in den Haushalt eingestellt wird. Sie ha-ben den richtigen Zeitpunkt verpaßt: Sie fangen jetzt imSeptember an zu verkaufen; Sie hätten ab Juni mit gu-tem Gewinn verkaufen können. Aber noch besser ist: Sieerwarten im nächsten Jahr eine Einnahme von560 Millionen DM. Diese Einnahme ist im Haushalt garnicht enthalten. So sieht Ihr Beitrag zu Haushaltswahr-heit und Haushaltsklarheit aus.Die Absatzförderung im Osten wird ab dem Jahre2001 auf Null gesenkt. Der Osten blüht schon so, daßalles von alleine geht: Forschungsförderung neuerTechnologien, Hilfen für den Mittelstand, Geld für dieAuslandsvertretungen und Geld für die Messen. Dort,wo dem Mittelstand geholfen werden kann, werdenwir ganz genau darauf schauen, was wir machen kön-nen.Im Bereich des Normenwesens –
– Sie selber sagen in Ihrem Haus „Normenwesen“; Siewissen wohl nicht, was das ist; aber das muß nicht jederwissen – wäre es auf internationaler Ebene ausgespro-chen wichtig, daß die Arbeit verstärkt wird. Was ma-chen Sie? Sie beauftragen das DIN mit dieser Aufgabe.Sie kürzen in diesem Jahr nicht von 20 oder 30 Millio-nen DM, sondern von 9,9 Millionen DM um 3 MillionenDM, und im nächsten Jahr kürzen Sie um 2 MillionenDM. Aber die Aufgabe soll mit weniger als der Hälftedes Geldes verstärkt werden.Zum Tourismus, von dem Sie im Frühjahr gesagthaben, er müsse verstärkt unterstützt werden und für ihnmüsse mehr Geld ausgegeben werden. Das Ergebnis ist:In diesem Haushalt wird weniger Geld ausgegeben, ob-wohl die EU reklamiert, daß wir gerade im Dienstlei-stungsbereich großen Nachholbedarf haben. Wenn derTourismus gefördert wird, dann werden im Hotelbe-reich, im Gaststättengewerbe, im Dienstleistungsbereichinsgesamt und im Einzelhandel sofort Arbeitsplätze ge-schaffen. In der Tourismusförderung führen Sie dieMittel zurück, obwohl Sie im Frühjahr angekündigt ha-ben, dafür sorgen zu wollen, daß dort mehr passiert. Ichglaube, in Ihrem Haus passiert zwar vieles, aber vieles,das Sie entweder nicht steuern oder gar nicht so gewollthaben.Recht herzlichen Dank.
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist mit demHaushalt insgesamt sehr zufrieden; denn er verbindetoptimal die Ansätze des Sparens und des Gestaltens.Auch der Wirtschaftshaushalt muß einen Beitrag zumSparen leisten; auf der anderen Seite wird der Anspruchaufrechterhalten, gestalterisch tätig sein zu können. Ichnenne dafür als Beispiel – Herr Müller ist schon daraufeingegangen –, daß wir die Mittel für die marktnahenerneuerbaren Energien wie Solarthermie und Biomasseim Vergleich zur alten Bundesregierung verzehnfachthaben.
Auch wenn wir im großen und ganzen sehr zufriedensind, gibt es doch ein paar Unterpunkte wie den For-schungsetat „Erneuerbare Energien“, über die wir nochsachlich und solidarisch miteinander diskutieren müs-sen. Wir haben uns daher entschlossen, in diesem Teilder Haushaltsdebatte den Schwerpunkt auf die Frage derZukunft der Energiewirtschaft zu legen, und zwar nichtnur deshalb, weil dieser Bereich für die Grünen beson-ders wichtig ist – dieser Wirtschaftszweig hat sehr vielmit dem Umweltschutz zu tun, der uns besonders amHerzen liegt –, sondern auch deshalb, weil sich geradedieser Wirtschaftszweig heute im größten Umbruch be-findet, den es in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland jemals gegeben hat. Die Aufbrüche, Um-brüche, Abbrüche in diesem Bereich machen es durch-aus notwendig, daß man intensiv darüber diskutiert.Als Grüne haben wir die Liberalisierung immer be-grüßt und gefördert. Ich selbst bin ja die erste BürgerinDeutschlands, die die freie Wahl des Stromlieferantendurchgesetzt hat, so daß ich schon seit längerem „grünenStrom“ bekomme. Wir haben Anträge eingebracht, dieaufzeigen, wie die Liberalisierung beschleunigt und derMarkt optimal und fair gestaltet werden kann. Wir ste-hen für Wettbewerb und Marktwirtschaft im Energiebe-reich und sind davon überzeugt, daß sie für wesentlichmehr Effizienz sorgen werden. Was im Augenblick aufdem Markt geschieht, zeigt, daß große Effizienzspiel-räume vorhanden waren. Wir glauben ferner, daß diesdie Entwicklung von Innovationen beschleunigt und daßes richtig ist, daß heutzutage der Bürger als Stromkundenicht mehr ein Gefangener ist, sondern selbst darüberentscheiden kann, bei wem er welche Art von Stromkauft.
Deswegen sagen wir ein eindeutiges Ja zur Liberalisie-rung des Marktes.Allerdings sind Sie, die Sie die Liberalisierung eben-falls begrüßen, dieses Problem sehr dilettantisch ange-gangen. Sie waren nämlich auf einem Auge blind undhaben nur die niedrigen Preise gesehen. Als Politiker,der Verantwortung trägt – wir alle tragen Verantwortung–, hat man sein Augenmerk auch auf die Frage der Zu-kunftsfähigkeit unserer Energieversorgung zu richten:ob die Energieversorgung Stück für Stück umweltver-Dankward Buwitt
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4708 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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träglicher wird – die Energieversorgung leistet ja einengroßen Beitrag zur Verstärkung des Treibhauseffektes;auch müssen wir auf die Endlichkeit der RessourcenRücksicht nehmen – und ob wir Rahmenbedingungenschaffen, die in die richtige Richtung weisen. Auf die-sem Auge aber waren Sie bei der von Ihnen vorge-schlagenen Novellierung des Energiewirtschaftsge-setzes hundertprozentig blind; auf diesem Gebiet müs-sen wir jetzt vieles nacharbeiten. Uns geht es nicht nurum niedrige Preise. Unser Ziel ist es vielmehr, denMarkt über den Wettbewerb mit dem Umweltschutz zuversöhnen.Die aktuellen Probleme dabei sind sehr groß. DieStadtwerke schalten teilweise jetzt schon die Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen ab, obwohl es sich dabei umhocheffiziente Energieerzeugungstechnologien handelt.Für die Erzeugung regenerativer Energien vergeben dieBanken keine Kredite mehr, weil die Einspeisungsver-gütungen nach dem Stromeinspeisungsgesetz drastischsinken werden, da sie an die allgemeinen Strompreisegekoppelt sind, und dann das Betreiben von Wind- undvon Biomasseanlagen nicht mehr rentabel sein wird.Wenn wir jetzt nicht aufpassen, werden uns Technikender hocheffizienten Energieerzeugung wegbrechen undwird der Aufbruch bei den erneuerbaren Energien zumStillstand kommen. Hier muß also sofort gehandelt wer-den.Von der Opposition gibt es keine Vorschläge; ich ha-be jedenfalls bisher kein Wort dazu gehört. Der ein-zige Vorschlag, der von Ihrer Seite gekommen ist, sahvor, eine Enquete-Kommission „Energie“ zu bil-den, die dann drei Jahre tagt. Das würde aber bedeuten,daß dann, wenn sie zu Ende getagt hat, der Markt fürdiese Bereiche kahlgefegt wäre. Das ist nach demMotto: Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gründeich einen Arbeitskreis. Ich bin nicht gegen die En-quete-Kommission, aber ich glaube, daß wir nicht mehrdrei Jahre Zeit haben, um die Fragen Umweltver-träglichkeit und Markt zusammenzubringen, denn dannist der Zug abgefahren. Wir müssen in dieser Fragerelativ schnell handeln und Ihren Gesetzentwurf nach-bessern.
Was die Diskussion in der SPD zu diesem Punkt an-geht, kann ich nur sagen: Ich verstehe durchaus IhreSorgen, was die Stadtwerke betrifft. Die Stadtwerkesind jetzt natürlich hochgradig gefordert, wenn es umWettbewerb geht. Sie haben es mit Konkurrenten zu tun,die auf Grund der Monopolwirtschaft wahrlich prall ge-füllte Kassen haben. Aber man muß sagen: Zum einensind Stadtwerke nicht unbedingt gleich Umweltschutz.Es gibt auch Stadtwerke, die nicht sehr umweltverträg-lich produzieren. Zum anderen kann es nicht angehen,daß man in einem Wettbewerb Unternehmen stützt, we-der indem man Schutzzäune um diese Unternehmenzieht, noch indem man sie in irgendeiner Form subven-tioniert,
weder große noch kleine, weder öffentliche noch priva-te. Die Unternehmen müssen auf dem Markt diskrimi-nierungsfrei, aber wettbewerbsneutral agieren.Was wir im volkswirtschaftlichen Interesse für denUmweltschutz tun können, ist, mit marktkonformenMitteln bestimmte Technologien zu fördern, wie dieKraft-Wärme-Kopplung oder auch die erneuerbarenEnergien. Das ist ein gangbarer Weg, wenn man markt-konforme Instrumente findet. Aber bestimmte Unter-nehmen im Markt zu subventionieren oder Schutzzäunezu ziehen ist, glaube ich, der falsche Weg.
Von daher kann man sagen: Die Ziele bleiben, aberder Weg in der Energiepolitik muß sich ändern, sonstwird man auch die Ziele nicht erreichen. Herr Müller hatin diesem Zusammenhang vorgestern einen sehr interes-santen Vorschlag auf den Markt gebracht. Herr Müller,Sie wissen selbst, daß dieser Vorschlag weder mit demEU-Recht kompatibel ist noch jemals praktiziert werdenkann. Es würde von den Bürgern in keiner Weise ak-zeptiert werden, daß der Bürgermeister einer Stadt sagt:„Ich entscheide, daß es in dieser Kommune keine freieWahl gibt“, aber eine Straße weiter die freie Wahl mög-lich ist. Die verschiedenen Unternehmen werben, ob fürgrünen, gelben, roten oder blauen Strom, bundesweit,und der Bürger darf nicht wählen, weil der Bürgermei-ster entscheidet: Bei uns nicht. Das ist nicht praktikabel,das würde keine einzige Kommune machen. Von daherist Ihr Vorschlag sehr schlitzohrig.
Ich glaube, daß dieser Vorschlag keinerlei Chancehat, jemals Recht zu werden.
Soweit ich weiß, ist das auch nicht die Position der SPD.Damit sollte die Debatte über diesen Vorschlag endgül-tig abgeschlossen sein. Dieser Vorschlag muß endgültigvom Tisch.
Ernsthaft diskutieren muß man die Frage, wie manmit der Versorgungssicherheit umgeht. Das bewegt dieSPD teilweise. Ich glaube, daß das überhaupt kein Pro-blem ist. Das Problem, daß irgend jemand keinenStromlieferanten findet, wird es auf dem zukünftigenMarkt angesichts der Überkapazität nicht geben. Des-wegen glaube ich auch nicht, daß man irgendeine Absi-cherung für die Versorgungssicherheit in diesem Be-reich braucht. Man braucht ebenso niemanden, auch dieStadtwerke nicht, der im Zweifelsfall Stand-by steht unddem Bürger, der keinen Stromlieferanten findet, denStrom liefert.Von daher sagen wir auch in bezug auf die Diskus-sion um Garantielieferanten: Das wird mit uns nicht zuMichaele Hustedt
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machen sein. Eine Art Gebühr für den Wechsel desStromlieferanten ist nicht marktkonform und paßt nichtin das System. Deswegen lehnen wir auch diesen Vor-schlag ab.
Ich glaube aber, daß wir in vielen Punkten entlang derLinie tatsächlich etwas tun können. Wir wollen denUmweltschutz im Markt erhalten. Da möchte ich einmaleinige Punkte nennen, die wir gemeinsam machen kön-nen und auf die wir uns aus meiner Sicht sehr schnellverständigen sollten. Gut wäre es natürlich, wenn wirdas noch vor der Demonstration der Stadtwerke am27. September schaffen würden.Das erste ist die Novellierung des Stromeinspei-sungsgesetzes. Da spreche ich jetzt auch die Kollegender Opposition an, denn das haben wir zusammen ge-macht. Vorher waren wir in der Opposition und Sie inder Regierung.
– Nein, Herr Uldall, bei Ihnen nicht, das stimmt.
Das Stromeinspeisungsgesetz haben wir hier ein-stimmig verabschiedet. Ich hoffe und würde es mir sehrwünschen, daß uns dies, Herr Austermann, Herr Hircher,Herr Carstensen, Herr Ramsauer und wie Sie alle hei-ßen, mit denen wir immer aktiv und produktiv zusam-mengearbeitet haben, auch diesmal gelingt. Nach unse-ren Vorstellungen müssen die Preise unbedingt stabili-siert, nicht erhöht werden, damit sie nicht drastisch sin-ken; gleichzeitig müssen wir, um den EU-Anforderungen gerecht zu werden, aber auch differen-zieren. Das heißt, daß es für windstärkere Standorte ehereine niedrigere Einspeisevergütung gibt und für wind-schwächere Standorte länger der erhöhte Einspeisever-gütungssatz gilt. Das wäre eine Möglichkeit, zu diffe-renzieren und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß Wind-und Biomasseanlagen auch in Zukunft rentabel auf demMarkt betrieben werden können.Ein weiterer Beitrag im Rahmen des Stromeinspei-sungsgesetzes wäre, demnächst, also wahrscheinlichschon im nächsten Jahr, einen 5-Prozent-Deckel greifenzu lassen. Dann könnten Anlagen von 190 Megawatt ander Küste nicht mehr gebaut werden. Hier bestehtHandlungsbedarf. Wir haben ja schon gemeinsam überverschiedene Vorschläge diskutiert; es wird wohl zu ei-ner bundesweiten Umlage kommen, durch die die regio-nalen Unterschiede zwischen Nord und Süd und vorallem zwischen dem Norden und der Mitte ausgeglichenwerden können. Ein Ausgleich der regionalen Un-gleichgewichte wäre neben der Regelung der Netzan-schlußkosten und anderer Punkte ein wichtiger Be-standteil. Wir sollten auch die Geothermie aufnehmenund die Biomasse vielleicht noch ein bißchen besser-stellen, damit das von uns angeschobene Förderpro-gramm noch Unterstützung durch das Stromeinspei-sungsgesetz erhält.All diese Punkte halte ich für sehr sinnvoll. Ich würdemich freuen, wenn das ganze Haus hierbei wieder zu-sammenarbeitet und diesen Gesetzentwurf gemeinsamauf den Weg bringt.
Ein zweiter Punkt ist sehr wichtig: In absehbarer Zeit– Ende September – läuft die Verbändevereinbarungfür den Netzzugang aus. Wir haben immer gesagt:Wenn sie sich bewährt, ist alles in Ordnung, wenn siesich aber als schlecht herausstellt, muß es dringend eineNetzzugangsregelung geben. Was ich bisher gehört ha-be, hört sich gar nicht schlecht an, aber jetzt ist der Zeit-punkt, Kriterien dafür zu definieren, was gut undschlecht ist. Kriterien wären meines Erachtens dieTransparenz, die Börsengängigkeit oder auch die Frage,ob dezentrale Stromerzeuger deutlich geringere Durch-leitungsgebühren als Großkraftwerke bezahlen müssen.Dabei handelt es sich nicht um eine Subventionierungoder Bevorzugung, sondern es geht schlicht und einfachum Kostengerechtigkeit.Die Hoch- und Höchstspannungsnetze müssen näm-lich nur deshalb aufrechterhalten werden, weil beimAusfall eines Großkraftwerks von einem anderen Groß-kraftwerk auf einen Schlag sehr viel Strom in das betref-fende Gebiet geleitet werden muß. Bei dezentralerStromerzeugung wären diese Netze nicht notwendig.Deswegen sollen die dezentralen Erzeuger auch nichtzur Finanzierung dieser Netze herangezogen werden,und deswegen
ist es richtig, von den dezentralen Erzeugern eine gerin-gere Vergütungssumme zu verlangen. Wenn das gelingt,wäre das ein sehr modernes und marktkonformes Mittel,um umweltverträgliche Energieerzeugung zu unterstüt-zen, denn diese geschieht fast immer dezentral.
– Sie werden ja sehen, ob es abenteuerlich ist. Ich höre,daß bei den Beratungen zur Verbändevereinbarung ge-nau über diesen Punkt diskutiert wird und die Wahr-scheinlichkeit, daß wir uns bei dieser Frage durchsetzen,sehr groß ist. Sie können die Verbändevereinbarungdann ja als abenteuerlich bezeichnen und ablehnen. Daswerden wir ja sehen.
Auf jeden Fall ist das eine Chance für die Kraft-Wärme-Kopplung und die erneuerbaren Energien. Wennes für diese Energiearten noch einmal eine um 2 Pfenniggeringere Durchleitungsgebühr gibt, bedeutet das, daßeine Kilowattstunde aus Kraft-Wärme-Kopplung aufdem Markt besser dasteht als eine Kilowattstunde ausAtomkraftwerken oder großen Kohlekraftwerken. Hierinliegt auch eine Chance für die Stadtwerke. Deswegen istdies ein wichtiges Instrument, um die Stadtwerke zustützen. Ich weiß, daß auch der Verband kommunalerUnternehmen dieses Kriterium für sehr wichtig hält.Michaele Hustedt
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Ein dritter Punkt ist, daß die Kraft-Wärme-Kopplung wahrscheinlich noch weitere Sicherungsin-strumente braucht. Herr Müller hat vorgeschlagen, einModernisierungsprogramm für Fernwärme und Kohleaufzulegen. Ich finde das gut, weil, egal was wir tun,gerade diese Kraftwerke noch eine Zeitlang Pro-bleme haben werden. Ihnen zu helfen, sich umzustellenund auf den Wettbewerb einzustellen, wäre der optimaleWeg.Sicherlich ist bei der Ökosteuer eine entsprechendeAusgestaltung wichtig, damit die Kraft-Wärme-Kopp-lung nicht durch eine Doppelbesteuerung von Gas undStrom benachteiligt wird. Das haben wir im Kabinettschon beschlossen.Drittens müssen wir diskutieren, ob diese Maßnah-men reichen oder ob nicht doch eine Quote für dieKraft-Wärme-Kopplung notwendig ist. Diese Quotemüßte allerdings wettbewerbskonform ausgestaltet sein:Derjenige, der zertifizierten Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung anbietet, muß den Zuschlag erhalten. Und ander Börse muß der ökonomisch effizienteste Strom ge-kauft werden können, der auf dem Markt angebotenwird. Das darf keine Ausnahmeregelung sein.
Frau
Hustedt, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ja.
Ich glaube, mit diesen Maßnahmen können wir es tat-
sächlich schaffen, die Liberalisierung bis zum letzten
Bürger durchzusetzen. Gleichzeitig sorgen wir dafür,
daß die umweltverträgliche Energieerzeugung nicht un-
ter die Räder der Liberalisierung kommt. Das ist der
richtige Weg für die Zukunft. Ich hoffe, bezüglich dieses
Punktes werden wir in nächster Zeit zu einem gemein-
samen Antrag kommen.
Danke.
Als
nächster Redner hat der Kollege Rainer Brüderle von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Herr Minister Müller, letzte Wochewar die Stunde der Wahrheit. Das Statistische Bundes-amt hat das reale Wachstum festgestellt: 0,8 Prozent.Das ist die Bilanz Ihrer bisherigen Tätigkeit. Damit sindwir in Europa das Schlußlicht.Daher rührt es auch, wenn renommierte Wirtschafts-fachzeitungen wie der „Economist“ schreiben, daßDeutschland der „kranke Mann des Euro“ sei. DieSchwäche Deutschlands ist die Schwäche von Euro-Land. Weil wir zu wenig Dynamik haben, geht der Zugnicht richtig voran. Die Arbeitslosigkeit stagniert aufunerträglich hohem Niveau; saisonbereinigt nimmt siesogar zu.Gestern kam vom Statistischen Bundesamt die Mel-dung, daß das Handwerk, entscheidende Stütze unsererWirtschaft, Herzstück des Mittelstands, Arbeitsplätzeabbaue. Beim Handwerk gehen Arbeitsplätze verloren.Wie soll es denn zu einer Veränderung kommen? Heutewurde gesagt, man solle den Standort nicht schlechtre-den. Ja, das soll man nicht. Sie können ihn aber auchnicht gesundbeten. Sie können doch nicht über die Pro-bleme hinweggehen; so glaubt Ihnen keiner mehr. DieAbstimmung auf den Märkten ist die Abstimmung überFehlentscheidungen.
Die nüchterne, ja ernüchternde Bilanz des fast voll-endeten ersten Jahres Ihrer Regierungstätigkeit ist einetraurige. Sie reden sich aber immer wieder heraus.Sie versuchen, alles auf die Vorgänger zu schieben. Die-se Erblastlüge kann man aber nicht beliebig langevor sich herschieben. Es sind Ihre Arbeitslosen, es istIhre Konjunkturflaute. Damit müssen Sie fertig wer-den.
Das ist doch alles durchschaubar: Sie kommen an dieRegierung und reden alles schlecht, an allem seien dieVorgänger schuld. Damit versuchen Sie, über Ihre eige-ne Untätigkeit hinwegzutäuschen.Offiziell rechnen Sie mit einer Wachstumsrate von1,6 Prozent. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-schung – nicht gerade regierungskritisch, Ihnen sehrgewogen – rechnet mit 1,3 Prozent. Im „Spiegel“ ver-gangener Woche konnte man es nachlesen: Auch in in-ternen Papieren Ihres Hauses heißt es – ich zitiere –:Bereits ein Jahresdurchschnitt von 1,3 Prozent setzteine sehr spürbare Belebung im Verlauf des Jahresvoraus.Wo ist denn die spürbare Belebung? Man spürt nichtsdavon. Deshalb werden Sie Ihre Ziele nicht erreichen.Diese verfehlte Wirtschaftspolitik schlägt sich auch inIhrem Haushalt nieder. Sparen ist notwendig, aber Spa-ren kann nicht buchhaltermäßig heißen: einfach kürzen.Selbst beim Sparen braucht man Verstand und Kreativi-tät. Auch Sparen muß man richtig machen.
– Daß Ihnen das weh tut, verstehe ich; aber es ist dieWahrheit. Einer muß es Ihnen doch sagen.Zum Subventionsabbau: An die Kohlesubventionentrauen Sie sich nicht heran; denn da geht es um Ihre so-zialdemokratischen Kernländer. Vielleicht wird diesjetzt im Saarland geschehen; denn da gibt es eine neueMehrheit. Sie geben pro Beschäftigten im Bergbauüber 100 000 DM an Subventionen aus. Sie verhinderndamit den Strukturwandel. Sie schaffen so keine Ar-Michaele Hustedt
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beitsplätze, und Sie verhindern das Entstehen neuerArbeitsplätze.
Was könnte man mit 8 Milliarden DM
beispielsweise hinsichtlich Existenzgründungen ma-chen? Nein, es wird eisern daran festgehalten und ver-brämend gesagt: Wir sind vertragstreu. – Sie habeneinen Amtseid auf dieses Land geleistet. Sie müssenhandeln, damit Sie herunterkommen von dieser Fehl-entwicklung, damit Sie eine neue Entwicklung in unse-rem Lande einleiten.
Sie haben da tolle Ideen.
– Ich möchte bei zehn Minuten Redezeit keine Zwi-schenfrage zulassen. Sie können anschließend eineStunde reden.
Herr
Brüderle, gilt das generell?
Ich lehne generell jede
Zwischenfrage ab, weil ich die zehn Minuten am Stück
reden will.
Es ist
nur so, daß die Zeit nicht angerechnet wird.
Alles klar.Zum Subventionsabbau haben Sie ja tolle Vorschlä-ge. Das soll nicht mehr die Regierung tun, sondern beiIhnen sollen die Subventionsempfänger die Subventio-nen abbauen. Da können wir die Stelle des Wirtschafts-ministers doch ganz sparen – da sparen wir wenigstensein paar Mark –, wenn sie alles selbst machen sollen.
Sie haben nicht den Mut umzustrukturieren. Daranfehlt es. Dem Mittelstand, der die eigentliche Chancezur Schaffung neuer Arbeitsplätze ist, werfen Sie weite-re Knüppel zwischen die Beine. Dort wird gespart. Dortstreichen Sie. Aber es ist genau falsch, beim ERP-Programm, bei der Handwerksförderung, bei den Klei-nen zu sparen. An die großen Konzerne, beispielsweisedie Ruhrkohle AG – dies sage ich nicht, weil Sie früherin dem Bereich tätig waren –, gehen Sie nicht heran.Aber bei den kleinen Handwerkern kann man ja kürzen.Das ist mutig!
In Ihrem wunderschön bebilderten Müller-Comicsteht, daß 20 Redakteure mitgewirkt haben. Vielleichtlegen Sie einmal dar, was ein Exemplar kostet. Es sindwenig Informationen, aber viele Bilder enthalten. Ichgebe zu, es sind nicht lauter Müller-Bilder; aber zur Sa-che selbst gibt es wenig Informationen.Darin schreiben Sie – das klingt wie Hohn – , Sieschaffen neue Spielräume für mittelständische Unter-nehmen. Das tun Sie doch gar nicht! Sie machen dochgenau das Gegenteil bei den 630-Mark-Jobs, Sie machendas Gegenteil bei der Scheinselbständigkeit. Menschen,die etwas tun wollen, werden durch Ihr Vorgehen fastkriminalisiert.
Dann kommt der Höhepunkt in diesem Müller-Comic. Sie toppen Ihre irreführende Botschaft noch mitder Aussage – ich zitiere –:Gewinner der grün-roten Unternehmensteuerreformwerden die mittelständischen Betriebe des Hand-werks sein.– Das ist unglaublich. Denn das ist schlichtweg falsch,und das wissen Sie auch. Sie haben es doch neulich zu-gegeben. Sie wollen aus der Unternehmensteuerre-form im Kern eine Körperschaftsteuersatzreform ma-chen. 90 Prozent der Betriebe in Deutschland sind Per-sonengesellschaften, die davon nicht profitieren werden.Ihr Optionsmodell ist der Gipfel, was Bürokratieko-sten, Streitigkeiten mit der Finanzverwaltung – etwa dieBehandlung der Privatentnahme – angeht. Es geht ummehrjährige Bindungsfristen, die Mittelständler so garnicht erfüllen können.Es hat seinen Grund, daß der Wissenschaftliche Bei-rat beim Bundesfinanzministerium und verschiedeneForschungsinstitute diese grünrote Unternehmensteuer-reform ablehnen; denn sie halten sie zu Recht für falsch.Hören Sie doch einmal auf Herrn Struck.
Herr Struck – er ist nicht da – sagt gelegentlich etwasVernünftiges, indem er sich für das F.D.P.-Steuermodell ausspricht, das Herr Solms erfunden hat.
Dieses Modell sieht drei Steuersätze von 15, 25 und 35Prozent vor; es führt zu einer konsequenten Vereinfa-chung. Er darf es zwei Tage sagen. Dann wird er zu-sammengebatscht, daß er sich nicht mehr traut. Das wä-ren doch die Schritte, die man konsequent machen soll-te. Das wäre das richtige Format, um an die Dinge rich-tig heranzugehen.Herr Müller, Sie haben sich als Ankündigungsmi-nister profiliert. Sie erklären, Sie wollen die Staatsquotesenken, Sie wollen die Tarifpolitik flexiblisieren, dieArbeitslosenversicherung reformieren. Das hört sich gutan und ist sehr vernünftig. Aber Sie haben nie ein Kon-zept vorgelegt. Sie finden kein Gehör im Kabinett. Siesind doch für diese falsche Politik das ordnungspoliti-sche Feigenblättchen. Sie geben sich für eine falschePolitik als Deckmäntelchen her.
Rainer Brüderle
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4712 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Völlig unklar ist, wohin die Reise in der Energiepoli-tik geht. Wegen der permanenten Koalitionskrisen wirddas Symbolthema der Grünen, der schnelle Ausstieg ausder Kernenergie, irgendwo unter dem Teppich ver-steckt. Es gibt einen orientalischen Basar über die Rest-laufzeiten: Wie hätten Sie es denn gern? Mal heißt es 30Jahre, mal 25, mal 26 oder 27 Jahre. 26,5 Jahre, HerrMüller, habe ich noch nicht gehört. Das wäre eine neueVariante. Hier ist keine klare Linie erkennbar. Das istdoch keine Politik, sondern das ist Trallala-Ökonomie,was Sie machen.Ein Energiekonsens ist auch mit dem Fernrohr nichterkennbar. Die diffuse Diskussion in bezug auf dieKernenergie und die starre Haltung der Grünen führendazu, daß wir nicht weiterkommen, Weltmarktchancenim Rahmen moderner Technologien und damit auchChancen für Arbeitsplätze nicht wahrnehmen und beimKlimaschutz nicht vorankommen, weil der ideologischzu begründende schnelle Ausstieg aus der KernenergieVorrang hat. Die Grünen brauchen ja dieses Thema, umzu versuchen, die Atomkraftgegner, die sie in die Regie-rung gewählt haben, zufriedenzustellen. Das ist in derSache falsch. Das ist für die Arbeitslosen und auch fürdie Zukunftsentwicklung falsch.
Mit der Liberalisierung der Strommärkte habenwir unter der Federführung von Günter Rexrodt endlicheinen Durchbruch in Deutschland erreicht. Jetzt fängtder Wettbewerb auf dem Energiesektor an; jetzt spü-ren die Verbraucher ähnlich wie bei der Liberalisierungdes Telefonmarktes – Sie waren auch gegen dieseLiberalisierung, weil Sie das Monopol der durch dieGewerkschaft bestimmten Betriebe nicht abschaffenwollten –, was Wettbewerb bedeutet, nämlich daß derKunde König ist und nicht die Gewerkschaft der Stadt-werke und deren Direktoren, die meistens einer Couleursind.
Da fällt Ihnen gleich ein Weg ein, wie man den Men-schen durch die Ökosteuer die Vorteile aus der Senkungder Stromkosten wieder wegnimmt. Stromkosten stellenja eine hohe Vorbelastung dar. Den Kleinabnehmer ko-stet eine Kilowattstunde im Schnitt 35 Pfennig. GroßeKonzerne zahlen 8, 9, 10 bzw. 11 Pfennig pro Kilowatt-stunde. Die Kleinen zahlen also das Dreifache. Deshalbist die Politik des Wettbewerbs, die der Liberalisierung,eine Politik für die kleinen, für die tüchtigen Menschen,also kein Kotau vor großen Konzernen, sondern einekonsequente Mittelstandspolitik.
Wen wollen Sie vor dem Wettbewerb schützen? Ha-ben Sie doch einmal Mut zum Markt! Es fängt geradeerst an. Die hohen Strompreise sind doch ein Standort-nachteil. Viele Arbeitslose stehen deshalb auf der Stra-ße, weil die Strompreise in Deutschland, verglichen mitunseren Wettbewerbern in den Nachbarländern, zu hochsind. Die Arbeitslosen bekommen nur dann eine Chance,wenn wir hier vergleichbare Konditionen haben. Des-halb muß die Liberalisierung konsequent fortgesetztwerden.
Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut. Und IhrVorgehen ist falsch. Sie erreichen keinen Fortschritt,wenn Sie im Strombereich eine Regulierungsbehörde,eine Ökoquote oder sogar vielleicht noch eine Frauen-quote vorsehen. Das ist doch alles Quatsch hoch drei.Sie müssen durch vernünftige Leistungen ein vernünfti-ges Preisbild ermöglichen, damit wir hier Fortschritte er-reichen. Deshalb sollte man bei der Liberalisierung blei-ben. Jetzt entsteht endlich einmal ein gewisser Strom-markt. Statt ihn zu bewahren, überlegen Sie gleich wie-der, wie Sie davon wegkommen.Ich möchte zum Schluß Ihren Wirtschaftsbericht ineinem weiteren Satz zitieren. Sie schreiben dort, Siewollten eine transparente, in sich konsistente wirt-schaftspolitische Konzeption mit klaren Zielen undMaßnahmen, die Vertrauen und Rückhalt in Wirtschaftund Gesellschaft finden und die Eigeninitiative derWirtschaft stärken.So weit der Text der Werbebroschüre des HerrnMüller. Die Realität ist völlig anders. Tun Sie doch end-lich das, was Sie schreiben! Dann wird es besser.
Als
nächster Redner hat der Kollege Rolf Kutzmutz von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Zwei Anmerkungen zu Beginn. Er-stens. Wirtschaftsminister, so scheint es, neigen zu For-mulierungen, die ihnen wohl ewig hinterherschleichenwerden. Erst kommt Herr Rexrodt mit seiner Formulie-rung „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“, und nunkommt Herr Müller und sagt: „Ich lasse mir für die Be-lange der Wirtschaft den Kopf blutig schlagen.“Die Differenzierung ist schon wichtig: „für die Wirt-schaft“ und nicht „von der Wirtschaft“.
Herr Müller, meine Freude darüber, Sie hier so unver-sehrt zu sehen, ist aufrichtig.Zweitens. Während der Haushalt des Jahres 1999 invielen Punkten den Vorstellungen der Herren Waigelund Rexrodt entsprach, wurde der Entwurf für das Jahr2000 allenthalben als echter Ausweis für rotgrüne Poli-tik und damit als Nagelprobe für deren wirtschaftspoliti-sche Vorstellungen gewertet. Schon der Blick auf dieEckwerte zeigt zweierlei: Die kritisierte Entwicklungdes in den vergangenen Jahren erfolgten Abbaus derWirtschaftsförderung wird fortgesetzt. Das Bundesmi-nisterium für Wirtschaft und Technologie erscheint – Siekönnen es drehen und wenden, wie Sie wollen – wie dieFinanzabteilung einer „Deutschen Steinkohle AG“.Schließlich sollen fast 8,2 des auf knapp 15 MilliardenRainer Brüderle
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4713
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DM geschrumpften Etats der Subventionierung desSteinkohleabsatzes und der von Zechenstillegungen die-nen.Ich will deutlich sagen: Es ist das Verhältnis der Grö-ßen im Haushalt, das störend wirkt. Herr Müller hatselbst angeführt, daß die gesamte Einsparung, die ererbringen muß, praktisch in den anderen Bereich geht.Das zeigt: In der Durchführung des Haushalts wird esnoch große Probleme geben.Wohlgemerkt, auch wir wenden uns keineswegs ge-gen die Hilfen für die Umstrukturierungsprozesse imSteinkohlebergbau. Wir Sozialisten plädieren aus re-gionalpolitischen wie auch aus volkswirtschaftlichenGründen sogar für den Erhalt von Zechen, so wie wirseit Jahren für eine behutsame Umstrukturierung derostdeutschen Braunkohlereviere kämpfen.
Aber nicht nur wir sollten uns fragen, wieso die Kohle-bosse plötzlich auf eine halbe Milliarde DM freiwilligverzichten wollen – „substantielle Minderansprüche“heißt das –, zumindest für das Jahr 2000, und das ange-sichts der erbitterten Preiskämpfe auf den Strommärk-ten. Wir werden die Regierung in den Ausschußberatun-gen sehr nachdrücklich fragen, wieso sie 406 MillionenDM Zuschüsse zum Kapazitätsabbau ausschütten will,die im aktuellen Kohlevertrag von 1997 nicht vorgese-hen waren. Das ist auch wieder ein Punkt: Sie waren haltnicht vorgesehen. Zur Vertragstreue gehört nicht nur,über die Höhe der Summen zu reden, sondern es gehörtdazu ebenfalls, über die Verwendung der Gelder zusprechen. Auch darüber muß man Kontrolle ausüben.
Dies nur als Gegenbeispiel gegen die angebliche Al-ternativlosigkeit der vorgelegten Sparpapiere. Die darinoffenbarten politischen Gestaltungsspielräume sind tat-sächlich bisher gleich null. Wenn der Kanzler und seinSpitzenpersonal aus Regierung und Koalitionsparteienpausenlos mit der Losung „Es gibt keine Alternative“durch die Lande ziehen, dann sage ich Ihnen aus eigenerbitterer Erfahrung: Diese Losung kenne ich; ich kennesie aus der DDR. Ich habe sogar lange an sie geglaubt.Ich will nur sagen: Spätestens vor zehn Jahren ist derBeweis erbracht worden, daß es durchaus Alternativenzu dem gibt, was Obrigkeiten festlegen.
Wir werden auch diesmal Alternativen sehen.Auch Sie, Herr Bundesminister Müller, dachten vorMonaten ja noch an andere Wege. Es handelte sich nichtum Größenordnungen, die denen der Wende vergleich-bar wären. Sie haben zum Beispiel die Idee des „Zu-kunftspfennigs“ in die Diskussion gebracht. Was ist ausdieser Idee geworden? Gibt es sie noch? Wird sie jemalswieder aufleben? Wie werden wir damit umgehen?Nicht nur die erneuerbaren Energien hätten so etwas nö-tig. Denn das jetzt vorliegende Sparprogramm schlägt inder Wirtschafts- und Technologieförderung voll durch.Es hat also mit Zukunft überhaupt nichts zu tun.Die Kürzungen gegenüber dem laufenden Jahr liegenin den politisch wichtigsten Feldern noch über demDurchschnitt der Kürzungen des Gesamtetats. SehenSie, Herr Minister: Ende Juli loben Sie in Ihrem Jahres-wirtschaftsbericht 1999 noch die – ich zitiere – verbes-serte Förderpolitik für den innovativen Mittelstand.Zur selben Zeit gehen bei den wichtigsten Förderpro-grammen per Haushaltssperre die Rolläden herunter.Wenn man etwas zu den Folgen erfahren will, brauchtman sich nur die aktuelle Ausgabe der Infos der Ar-beitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigun-gen anzusehen: Rotstift lähmt Innovationsförderung –Haushaltssperre von 12 Prozent erzwingt Förderstop.Im nächsten Jahr geht es so weiter: Der Planansatzder Mittel für Forschung und Entwicklung sowie für In-novationsanwendungen, insbesondere in kleineren Un-ternehmen und im Osten – um beim genannten konkre-ten Beispiel zu bleiben –, schrumpft um 9,5 Prozent.Das trifft nicht nur, aber gerade auch die wirtschaftlicheGesundung der neuen Länder. Der Sprecher der ostdeut-schen SPD-Abgeordneten, Kollege Mathias Schubert,ließ gestern in seiner und meiner Heimatzeitung mittei-len, der Aufbau Ost müsse nicht nur Chef-, sondernHerzenssache sein.
Solche Kritik am Kanzler ist berechtigt, aber folgenlos,solange nur am Personalkarussell gedreht werden soll.Es ist ja interessant und manchmal auch amüsant zu le-sen, was in den letzten Tagen über Personen so ge-schrieben wird. Frau Hildebrandt spricht zweifellos dieHerzen mehr an als Herr Schwanitz, aber auch ein enga-gierterer Verkauf verbessert das Produkt noch langenicht.
Hier muß sich etwas ändern, und zwar grundlegend.Natürlich wird die PDS in den HaushaltsberatungenÄnderungen beantragen, damit mehr Mittel in den öko-logischen Umbau und zur Stabilisierung von Kleinun-ternehmen und Existenzgründern fließen können. Alsosoll es sowohl auf der Einnahmeseite als auch bei denKosten Einsparungen geben. Klar ist aber ebenso: Ohnegrundlegenden Umbau der gesamten Förderkulisse blei-ben alle Aktivitäten kurzatmig, stehen wir nächstes Jahrwieder vor denselben Problemen. Deshalb wird unsereFraktion noch in diesem Jahr einen Antrag zur grund-legenden Reform der Wirtschaftsförderung in dasParlament einbringen – übrigens Vorschläge, die vonden Wirtschaftspolitikern von SPD und Grünen in dervergangenen Wahlperiode im Fachausschuß nicht abge-lehnt wurden. Vielleicht erinnern sich die heutigen Ko-alitionsparteien mancher ihrer eigenen früheren Ideenfür eine neue Wirtschafts- und vor allem neue Steuer-politik. Wir sollten gemeinsam alles dafür tun, die De-batte, die jetzt geführt wird, vom Kopf auf die Füße zustellen.Hinsichtlich einer zukunftsorientierten Politik auchim Wirtschaftsbereich muß doch gefragt werden: Er-stens. Was braucht die Gesellschaft? Zweitens. WieRolf Kutzmutz
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4714 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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kommt man zu den erforderlichen Mitteln für das alsnotwendig Erkannte? Die Frage kann nicht weiterhinlauten: Wie kann der Staat um jeden Preis sparen? So-lange Sie von der Koalition weiter dieser Unlogik desNeoliberalismus folgen, so lange werden Sie und übereine wegbrechende Wahlbeteiligung die Demokratie mitjedem Wahlsonntag einen höheren Preis zahlen. Dennetwas Überflüssigeres als eine schwarze SPD und gelbeGrüne kann auf dem Stimmzettel kaum erscheinen.Echte Alternativen und nicht radikal durchgezogenePlagiate schon gescheiterter Konzepte sind gefragt, unddie vermisse ich hier.
Als
nächster Redner hat der Kollege Ernst Schwanhold von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Ich will auf HerrnBrüderle eingehen, der hier eine Rede wie im Festzeltgehalten hat, die einige Brüche aufwies, die man dar-stellen muß.Er wirft uns quasi vor, daß 8 Milliarden DM vielGeld seien und daß man damit viel anderes hätte tunkönnen. Was meinen Sie, Herr Brüderle, was wir mitden 82 Milliarden Zinsen tun könnten, von denen Sie je-denfalls gute Teile verursacht haben?
Was meinen Sie, was man mit den 1,5 Billionen DMmachen könnte, die wir jetzt als Schulden zu tilgen ha-ben? Davon leben nur Couponschneider und nicht dieje-nigen, die in Arbeitsplätze investieren; ausschließlichCouponschneider.
Ich will Ihnen einen zweiten Punkt nennen: Sie müs-sen sich schon entscheiden, was Sie wollen: Wollen Sieden Abbau von Subventionen, oder wollen Sie ihnnicht? Nun kann man sagen, da sind wir noch nicht weitgenug gekommen; sich aber 3 Minuten später hierherzu-stellen und Subvention eins, zwei, drei, vier, fünf für Ih-re Klientelpolitik, die Sie betreiben, zu fordern, ist einBruch in der Rede. Da müssen Sie sich entscheiden.
Das ist bei Ihrer Politik durchgängig so. Sie wissennicht, was Sie wollen, sondern Sie sind nach allen Seitenhin offen. Deshalb – hören Sie sich das gut an – hat Ih-nen mal gerade 1 Prozent der Wählerinnen und Wählerin Thüringen ihre Zustimmung gegeben. Das ist dieAntwort auf Ihre Art, hier Demagogie zu betreiben.
Einerseits Steuerschlupflöcher zu schließen und an-dererseits Steuern zu senken, damit der Faktor Arbeitentlastet wird und die Unternehmen zur Kapitalbildungkommen und investieren können, das ist genau der rich-tige Weg. Aber selbst dazu haben Sie sich nicht bekannt.Wo sollen denn die Steuerschlupflöcher geschlossenwerden? Sie wollen dann immer wieder noch so tun, alsob Sie einerseits diese Botschaft überbringen könnten,aber anderseits müsse man hier oder da das, was mangetan hat, völlig ungerechtfertigterweise wieder zurück-nehmen.Auch hier müssen Sie sich entscheiden. Entwederwird es niedrige Steuersätze geben, damit Gewinne inden Unternehmen bleiben, damit investiert werden kannund damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ei-ne Entlastung erfahren, oder wir tun das, was Frau Has-selfeldt und Sie sagen: Wir öffnen die Steuerschlupflö-cher wieder. Dann machen Sie das, was Sie in der Ver-gangenheit immer gemacht haben: Klientelpolitik, nichtsals Klientelpolitik. Sie sind völlig zu Recht ausschließ-lich die Klientelpartei.
Dann führen Sie am Ende hier das ordnungspolitischeCredo wieder ein, das Sie sonntags in Ihren Reden im-mer verwenden. Ich glaube, daß die Politik der Vielzahlder früheren F.D.P.-Minister, die erstens auf ihre Weisedazu bei getragen haben, daß das Wirtschaftsministeri-um in der Vergangenheit völlig zu Recht ein schlechtesAnsehen hatte, die zweitens eine Wirtschaftspolitik zuverantworten haben, die 4,5 oder gar 4,8 Millionen Ar-beitslose in der Spitzenzeit bewirkte, dazu nicht paßtund daß Sie sich endlich zu Ihrer Verantwortung aus derVergangenheit bekennen müssen.
Sie müssen sich zu dieser Verantwortung bekennen, undwir werden Sie auch nicht aus dieser Verantwortungentlassen.
Mit den jetzt eingeleiteten Maßnahmen, nämlichSenkung der Lohnnebenkosten, Senkung der Unterneh-mensteuern, Senkung der Steuern für die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer, genau mit diesen Maßnahmenwird jene Wende eingeleitet, die dazu führen wird, daßwir in kurzer Zeit die Dividende unserer strukturpoliti-schen Anpassungsmaßnahmen kassieren können.Genau dies haben uns die wirtschaftswissenschaftli-chen Institute und internationale Organisationen be-scheinigt. Sie sagen, daß das Wachstum in der zweitenHälfte dieses Jahres beschleunigt wird. Sie sagen uns einWachstum für das kommende Jahr voraus, bei dem aufGrund der Maßnahmen, die wir eingeleitet haben, dieBundesrepublik Deutschland in Europa zur Wach-stumslokomotive wird. Das haben wir nötig, um zusätz-liche Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosigkeitabzubauen. Es wird uns bescheinigt, daß dies genau derrichtige Weg ist. Da können Sie noch so laut schreien:Sie werden uns ihn nicht kaputtreden.
Rolf Kutzmutz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4715
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Die Erholung der Konjunktur und das Wachstum, dassich daraus ergibt, werden – dessen bin ich mir aufGrund des Haushaltsplans, den wir vorgelegt haben, si-cher – dazu führen, daß die Stärken, in denen es zu zu-sätzlicher Beschäftigung und Wirtschaftswachstumkommen wird, auch dotiert sind. Ich will diese Stärkender deutschen Volkswirtschaft nennen: Angesichts dernotwendigen Kürzungen ist es eine große Leistung, dieZukunftsperspektiven der Luft- und Raumfahrt in die-sem Haushalt ausdrücklich zu dotieren und sie als Zu-kunftsbranche zu erkennen, weiterzuentwickeln und ge-gen Kürzungsbegehren aus anderen Bereichen zu schüt-zen.Es ist natürlich eine große Leistung, unterhalb derüblichen Kürzungen den Bereich der kleinen und mittel-ständischen Wirtschaft weiterhin anständig zu dotie-ren, so daß im Bereich des Mittelstandes zusätzlicheExistenzgründungen zustande kommen, daß dort etwasaufgebaut wird und Handwerker am Markt operierenkönnen.
– Sie müssen sich das einfach einmal anhören. Sie set-zen sich ja noch nicht einmal mit den Zahlen auseinan-der. Es war kein Wort von Ihnen dazu zu hören, daß Sieden Leuten in den letzten Jahren so in die Taschen ge-griffen haben, daß es in den letzten drei Jahren keineMark Umsatzplus im Handel gegeben hat, daß es aberdurch die Maßnahmen, die diese Bundesregierung ein-geleitet hat, endlich wieder zu Steigerungen im Handelgekommen ist.
– Natürlich gibt es Steigerungsraten im Handel. Sieschwätzen immer nur über Ladenöffnungszeiten,
aber nicht darüber, daß die Leute auch Geld im Porte-monnaie brauchen, um einkaufen gehen zu können.Der Internationale Währungsfonds hat gute Notenvergeben. Er sagt ebenso wie die Deutsche Bank einWirtschaftswachstum – ich will das betonen – von bis zu3 Prozent voraus. Herr Merz hat sich wohltuend vonIhrer polemischen Schreierei abgesetzt. Er hat einezentrale Frage gestellt: Warum gelingt es in der Bun-desrepublik Deutschland bei gleichen Rationalisie-rungspotentialen, wie sie andere Länder haben, nicht,mit einem Wachstum von 1 oder 1,5 Prozent zusätz-liche Beschäftigung aufzubauen? – Das hängt mit derunterentwickelten Situation auf dem ersten Arbeits-markt, den personengebundenen Dienstleistungen, zu-sammen. Das ist ein Bereich, über den wir streiten kön-nen.Wir können darüber streiten, wie wir diesen integrie-ren können, damit wir bei den Wirtschaftswachstumsra-ten, die wir in der Zukunft haben werden, einen Aufbauvon zusätzlichen Arbeitsplätzen erzielen können. Dar-über zu streiten lohnt sich. Man kann aber nicht in Fest-zelt- oder Bierzeltmanier eine populistische Rede halten,die einem niemand mehr abnimmt. Da bin ich sehr beiIhnen, Herr Merz.
Hier ist es international gesehen um uns eher schlechtbestellt. Das darf man nicht durch Billiglohnjobs oderdadurch kaputtreden, daß man erklärt, es ergäben sichkeine solchen Chancen wie in anderen hochtechnologi-schen und hochtechnisierten Bereichen. Es ist sinnvoll,einen Teil des Geldes durch eigener Hände Arbeit zuverdienen und eine zusätzliche Unterstützung zu erhal-ten.
– Das ist eine Diskussion, die jetzt angestoßen wird.Genau diese Diskussion wird uns in den nächsten Wo-chen und Monaten begleiten, und es wird nicht ganzleicht werden, sie zum Erfolg zu führen. Ich bin aber si-cher, daß uns die Menschen folgen werden, wenn wirdiese Diskussion vorsichtig und zielgerichtet angehen.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, von demich glaube, daß wir bei ihm große Fortschritte erzielenwerden. Die Senkung der Unternehmensteuern auf et-was mehr als 35 Prozent und das Optionsmodell sindkein in sich schlüssiges Modell, um zu einem einfachenSteuersystem zu kommen. Das ist sehr wohl wahr. Wersich hier hinstellt und – Herr Uldall hat plötzlich neueSteuersätze entdeckt – angesichts der Zinsrisiken undder Haushaltslücke, die vorhanden sind, so tut, als obman weitergehen könne, der baut ein zweites Mal einenErwartungshorizont in der Öffentlichkeit auf, von demjeder weiß, daß er nicht einzuhalten ist. Wir können dieWählerinnen und Wähler und die Unternehmen nichttäuschen und in eine falsche Richtung jagen. Deshalb istes besser zu sagen, wir nehmen 35 Prozent und wählendie Optionsmöglichkeit, damit die Unternehmer, auchdie Mittelständler, davon einen Vorteil haben. Wir kön-nen nicht so tun, als ob man in der nächsten Zukunftmehr erreichen könnte. Was die Menschen brauchen, istVerläßlichkeit.
Sie sehnen sich nach der Verläßlichkeit, auf die sie inIhrer Regierungszeit nicht bauen konnten. Darum ginges doch immer in den Klagen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine letzteBemerkung zu einer Frage machen, die eine große Rollegespielt hat. Das ist die Frage der zukünftigen Energie-politik und des Wettbewerbs auf allen Ebenen der Ener-giemärkte. Sie haben erhebliche Monopolstrukturenaufgebaut, die nicht dazu geführt haben, daß die Ver-braucherinnen und Verbraucher auf allen Ebenen zueiner kostengünstigen Versorgung gekommen sind.Daraus haben sich ganz bestimmte Strukturen erge-ben, für die auch wir Verantwortung tragen. Niemandsollte sich leichtfertig hier herstellen und das, was sichErnst Schwanhold
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4716 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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dort entwickelt hat, beiseite schieben. Wir haben einebesondere Vorsorge für die Investitionen im Bereich derBraunkohle und der Kraft-Wärme-Koppelung zu treffen.Wir haben auch eine Vorsorge für die Stadtwerke zutreffen und zu berücksichtigen, was mit den Stadtwerkenund mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pas-siert. Die Diskussion darüber wird uns etwas länger be-schäftigen.
Übrigens sollten Sie sich nicht zu früh darüber freuen.Wir werden zu einem Ergebnis kommen, welches dieKoalition am Ende auch gemeinsam tragen wird, selbstwenn die eine oder andere öffentliche Erklärung dafürnicht immer hilfreich ist.Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dr. Hermann Otto
Solms, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Kollege
Schwanhold, Ihre empfindliche Reaktion zeigt, daß Sie
sich getroffen fühlen.
Ich möchte nur zu drei Punkten etwas sagen, denn Ihre
Erwiderung auf Herrn Brüderle war völlig unsachge-
mäß.
Erstens: Steuersubventionen. Sie haben gesagt, wir
hätten nicht den Mut, Steuersubventionen zu beseitigen.
Das genaue Gegenteil ist der Fall. Erstens haben wir bei
der Steuerreform 1990 bereits Steuersubventionen in
einem Umfang von rund 40 Milliarden DM beseitigt.
Zweitens haben wir mit den Petersberger Beschlüssen
gerade die Beschlüsse für eine vernünftige Gesetzge-
bung gefaßt: radikale Beseitigung der Steuerausnahmen
und Senkung der Tarife. Sie haben genau das verhindert,
und jetzt rühmen Sie sich als diejenigen, die die Steuer-
subventionen abbauen wollen.
Zweitens: Ordnungspolitik. Der abgedroschene Be-
griff der Klientelpartei – wie Sie uns immer bezeichnen
– ist völlig verfehlt. Gerade die Energierechtsreform,
über die hier diskutiert worden ist, zeigt doch, daß eine
liberale Ordnungspolitik zugunsten der Verbraucher
erfolgreich ist.
Sie sind jetzt wieder auf dem Weg, das zu konterkarie-
ren und den kommunalen Energieversorgern nach-
zugeben.
Drittens: Mittelstand. Das ist ganz besonders wich-
tig. Ich finde es besonders lobenswert, daß Herr Brü-
derle die Probleme des Mittelstandes angesprochen hat.
Was Sie in der Unternehmensteuerreform planen, ist das
Mittelstandsfeindlichste, was ich hier in den letzten 20
Jahren erlebt habe. Sie gehen einfach über die Interessen
des Mittelstandes hinweg und senken die Steuersätze
allein für die Kapitalgesellschaften, ohne eine klare Vor-
stellung davon zu haben, wie dies die Gesamtwirtschaft
und dann auch die Arbeitnehmer trifft, die Sie mit Ihren
Vorschlägen diskriminieren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Herr
Kollege Schwanhold, bitte.
Herr Kollege Solms, ichwill auf zwei Punkte eingehen, zu denen Sie gesagt ha-ben, daß sich daran die sozialdemokratische bzw. diePolitik dieser Bundesregierung nicht messen ließe:Erstens. Die Verbreiterung der Bemessungsgrundlagein Verbindung mit der Steuerreform 1999, 2000 und2002 hat zu einer Entlastung geführt, die durch dendurchgängigen Tarif beim Eingangssteuersatz am Ende6 Prozent ausmachen und ausdrücklich auch allen Per-sonengesellschaften und damit allen Unternehmern zu-gute kommen wird. Dies ist eine Steuerentlastung, dienicht zu unterschätzen ist.Zweitens. Wir haben – mit einer Wirksamkeit, dievielleicht noch besser hätte sein können – den kinderrei-chen Familien durch ein FamilienentlastungsgesetzGeld in die Hand gegeben, damit sie am Konsum teilha-ben können. Dies kommt im besonderen Maße demHandel zugute.Drittens. Wir haben mit der Verbreiterung der Be-messungsgrundlage eine Gegenfinanzierung vorge-nommen. Ich kann mich sehr genau daran erinnern, wieBriefe dazu auch aus Ihrer Partei gekommen sind, etwazur Teilwertabschreibung. All jene Maßnahmen, die wirvorgenommen haben, sind von uns am Ende gegen IhrenWiderstand durchgesetzt worden.
Die Teilwertabschreibung haben wir korrigiert; ich blei-be bei diesem Beispiel.Aber Sie haben auch jene Briefe geschrieben, die dasweitere Öffnen der Steuerschlupflöcher möglich ge-macht hätten. Ich will dazu nur den halben Steuersatz imVeräußerungsfall für den Handwerker einerseits und dieMitnahmeeffekte andererseits nennen, die Sie alle ken-nen. Sie müssen sich entscheiden, wo Sie eine Verbrei-terung der Bemessungsgrundlage wollen. Jedenfalls isthier ein Stück Veränderung der Steuerlandschaft herbei-geführt worden, die ein einfacheres Steuerrecht möglichmacht, damit sich die Unternehmerinnen und Unterneh-mer nicht auf die Suche nach Steuerschlupflöchern be-geben müssen, sondern sich endlich wieder um ihr Un-ternehmen, um Aufträge und um Beschäftigung küm-mern können.Ernst Schwanhold
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4717
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Nächster Punkt: Mittelstand. Es gibt kaum eine Re-gierung, die so viel für den Mittelstand getan hat wie diejetzige. Wir haben den Technologietransfer im Hand-werk im Haushalt 1999 dotiert. Das Inno-Regio-Programm für Ostdeutschland ist ein Programm, wel-ches den kleinen und mittelständischen Unternehmenendlich die Chance gibt, sich durch Synergien zwischenWissenschaft und Wirtschaft zukünftige Märkte zu er-obern.Ich will weitere Punkte aufzählen: Wir haben entge-gen Ihren Vorstellungen das Meister-BAföG deutlicherhöht. Wir haben in anderen Bereichen Förderpro-gramme zusammengefaßt und haben insbesondere – dashat schon eine Rolle gespielt – für die zukünftige de-zentrale Energieversorgung ein Programm aufgelegt,welches durch die erreichten Energieeinsparungen fastausschließlich der mittelständischen Wirtschaft zugutekommen wird. Das dient dem Handwerk vor Ort undschafft zusätzliche Beschäftigung.All das sind Maßnahmen, auf die das Handwerk unddie mittelständische Wirtschaft bei Ihnen vergeblichgewartet haben. Deshalb haben sie sich bei der letztenWahl von Ihnen abgewandt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Max Straubinger.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Angesichts der Ausführun-gen von Herrn Schwanhold, in denen er uns dargelegthat, daß es angeblich mehr Geld für das Meister-BAföGgibt, muß ich klar feststellen, daß er den Haushaltsent-wurf nicht gelesen hat, da für diesen Bereich nämlichweniger Geld veranschlagt wird.
Verehrte Damen und Herren, auch wenn in denSchlagzeilen der Wirtschaftspresse festgestellt wird, daßdie Konjunktur angeblich wieder besser läuft und daßanscheinend mit einem Aufschwung im nächsten oderim übernächsten Jahr zu rechnen ist, glaube ich den-noch, daß wir nach einem Jahr rotgrüner Wirtschafts-politik feststellen müssen: Es besteht in unserem Landein Stillstand in wirtschaftspolitischer Hinsicht.
Trotz der viel propagierten Nachfragepolitik, von derja in der Vergangenheit immer großartig behauptet wur-de, daß sie mehr Arbeitsplätze bringe, steht mittlerweilefest, daß das Wirtschaftswachstum in Deutschland imersten Halbjahr nur 0,8 Prozent beträgt. Damit stehtDeutschland zusammen mit Italien an letzter Stelle in-nerhalb der EU. Dies zeigt deutlich, daß in den vergan-genen Monaten eine verfehlte Politik betrieben wurde.
Wenn vielfach dargestellt wird, daß die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer angeblich mehr Geld hätten –diese Aussage war heute mehreren Beiträgen zu ent-nehmen –, so habe ich doch den Eindruck, daß all dieje-nigen, die dies heute festgestellt haben, den Geldbeuteleines Schotten haben müssen, der ja bekanntlich nur alledrei Wochen geöffnet wird. In diesem Fall kann mannämlich nicht mehr erkennen, ob mehr oder wenigerGeld im Geldbeutel enthalten ist.
Nach einem Jahr rotgrüner Regierungspolitik ist fest-zustellen: Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist nicht vo-rangekommen – im Gegenteil. Nach der bekanntenSchröder-Uhr ist die Zahl der Arbeitslosen sogar um58 350 gestiegen. Die Zahl der Erwerbstätigen ist umüber 300 000 zurückgegangen. Dies ist die Wahrheitüber die rotgrüne Regierungspolitik.
Auch die Investitionsfreudigkeit der Unternehmenwurde mit dieser Politik natürlich gehemmt. Mit derEinführung der Ökosteuer und der Einführung vieler an-derer Maßnahmen, die zu größeren steuerlichen Bela-stungen der Betriebe führten, wurde die Wettbewerbs-fähigkeit der Betriebe wesentlich verschlechtert. Wersoll also überhaupt noch großes Zutrauen in diese Politikhaben?Diese Situation wäre vermeidbar gewesen, wenn inder Vergangenheit der frühere Bundesfinanzminister La-fontaine, aber auch der heutige BundesfinanzministerEichel, der nun den großen Sparkommissar spielt, fürsinnvolles Sparen, wie es unter der Regierung vonCDU/CSU und F.D.P. der Fall war, eingetreten wären.Sie, verehrte Damen und Herren von der Koalition,haben gerade die Kürzung der Lohnfortzahlung ausge-setzt und damit zur Erhöhung der Lohnnebenkosten bei-getragen. Sie, Herr Eichel, haben die Steuerreform, diewir in diesem Hohen Haus zweimal beschlossen haben,in Ihrer Funktion als hessischer Ministerpräsident undfinanzpolitischer Sprecher der SPD im Bundesrat blok-kiert. Wenn diese Steuerreform umgesetzt worden wäre,dann hätten wir in unserem Land weniger Arbeitsloseund mehr wirtschaftliche Tätigkeit.
Das wäre entscheidend für unser Land gewesen – nichtdie politischen Gegebenheiten, die Sie bewogen haben,dem entgegenzutreten.Wenn man den Haushaltsentwurf der Bundesregie-rung näher betrachtet, stellt man fest, daß es noch weitschwieriger wird. Ich glaube, CDU/CSU und F.D.P. wa-ren in der Vergangenheit für sinnvolles Sparen undsinnvolles Wirtschaften bekannt.
– Ja, Herr Schwanhold. Sparen nach Rasenmähermetho-de, wie es SPD und Grüne vorhaben, ist nicht dazu an-getan, die wirtschaftlichen Kräfte zu stützen.
Ernst Schwanhold
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4718 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Das zeigt sich auch im Haushalt des Bundeswirt-schaftsministers sehr deutlich. Zunächst wird mittelseiner globalen Minderausgabe in Höhe von600 Millionen DM gestrichen. Keiner der Parlamentarierweiß, wo tatsächlich gespart werden soll. Ich bin derMeinung, daß wir ein Recht darauf haben, darüberrechtzeitig informiert zu werden.
Aber auch im laufenden Haushalt sind, Herr Bundes-wirtschaftsminister, noch 300 Millionen DM für eineglobale Minderausgabe zu erwirtschaften. Wir wärendaran interessiert, wie dies passieren soll. Ich habe dieBefürchtung, daß letztendlich an den Zukunftsinvesti-tionen gespart wird: bei der Förderung des Mittelstandes– dies wurde hier schon vielfach mit angesprochen –, beiForschungsprogrammen, bei Innovationen, bei derEnergieforschung.Anhand von praktischen Beispielen läßt sich dies be-legen. Ich möchte – Herr Schwanhold hat es ebenfallsangesprochen – das Programm für die Luftfahrtfor-schung anführen. Die Bundesregierung unter HelmutKohl und Finanzminister Theo Waigel hat ein großarti-ges Luftfahrtforschungsprogramm mit einem Umfangvon 1,2 Milliarden DM für vier Jahre aufgelegt und se-riös finanziert: 50 Prozent der Bund, 50 Prozent die In-dustrie.
– Nein! – Jetzt ging es darum, dieses Luftfahrtfor-schungsprogramm weiterzuführen. In den Haushaltsbe-ratungen des letzten Jahres hat die neue Bundesregie-rung großartig angekündigt, sie werde ebenfalls einLuftfahrtforschungsprogramm in einer Größenordnungvon 1,2 Milliarden DM auflegen. Aber bezahlen wolltesie es nicht. Bezahlen sollte es die Industrie – gut, das istzu akzeptieren –, und die Bundesländer sollten in eineKofinanzierung eintreten. Natürlich haben sich im Er-gebnis alle Bundesländer geweigert, dies zu bezahlen.Unter dem Gesichtspunkt der Vergabe von forschungs-politischen Projekten ist es auch nicht richtig, daß dieBundesländer mit eingebunden sind. Denn wenn sie da-zu Mittel beitragen, dann wollen sie auch etwas zu sagenhaben. Man kann es den Bundesländern nicht zumuten,nur die Kosten zu übernehmen.Letztendlich ist jetzt der Fall eingetreten, daß im Jahr1999 von dem großartig angekündigten Lufo-2-Pro-gramm bis heute, Mitte September, keine müde Markausgegeben wurde. Das ist Ergebnis rotgrüner Regie-rungskunst.
Die Mittel werden wohl schließlich dazu verwandt wer-den, die heurige globale Minderausgabe in Höhe von300 Millionen DM zu erwirtschaften.Die Kollegin Hustedt hat angekündigt, die jetzigeBundesregierung werde 200 Millionen DM für die Ein-führung der erneuerbaren Energien ausgeben. Das istgut und recht; wir freuen uns alle darüber. Aber zur gan-zen Wahrheit gehört auch, daß die rotgrüne Bundesre-gierung im Entwurf des Haushaltsjahres 2000 im Ver-gleich zum Haushalt 1999 bei der Erforschung der ratio-nelleren Energieanwendung und der erneuerbaren Ener-gien mehr als 65 Millionen DM gestrichen hat. MeinesErachtens gehört auch das an dieser Stelle aufgeführt.
Zur Kohleförderung nur eins: Wenn die RuhrkohleAG bereits freiwillig 500 Millionen DM anbietet, umsozusagen einen Beitrag für die Konsolidierung desBundeshaushalts zu leisten, so bin ich durchaus derMeinung, daß man dann möglicherweise über eine Mil-liarde DM reden kann. Das ist altes wirtschaftlichesDenken.Werte Damen und Herren, gerade für die Wirtschaftin unserem Land ist es wichtig, daß wir mehr Selbstän-dige bekommen. Wenn sich der Bundesminister sogroßartig gerühmt hat, die Jugendarbeitslosigkeit wäremit dem Programm bekämpft worden, so muß ich fest-stellen: In Bayern gibt es seit Jahren und Jahrzehntenimmer mehr Lehrstellen und mehr Lehrstellenangeboteals Lehrstellenbewerber. Warum ist das so? Weil wireine höhere Selbständigenquote in Bayern haben
und deswegen mehr Lehrplätze angeboten werden kön-nen. Deshalb wäre es richtiger gewesen, verehrter HerrBundeswirtschaftsminister, zwei Milliarden DM nicht inein verpuffendes Programm, sondern in die Förderungvon Mittelstand, Handwerk und Dienstleistungen zu ge-ben. Ich bin der Meinung, dann wären in unserem Landdie nötigen Lehrstellen entstanden.
Es sei mir gerade im Hinblick auf mehr Selbständig-keit in unserem Land, die Rotgrün mit der Gesetzgebungzur Bekämpfung der angeblichen Scheinselbständigkeitso verprellt hat, gestattet, festzuhalten, daß durch dieSteuergesetzgebung im Bereich der Altersversorgungder Selbständigen – das ist nun einmal der Bereich derKapitallebensversicherung – zukünftig eklatante steuer-liche Benachteiligungen hingenommen werden sollen.Ich glaube, es lohnt sich, bei diesem Punkt einmal in dieStatistik hineinzuschauen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Strau-
binger, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich bin noch in der
Zeit, Frau Präsidentin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie sind drüber.
Nein.
Max Straubinger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4719
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Ist doch jetzt egal. – Entschuldigung. – Einen Schlußsatznoch: Ich glaube, es lohnt sich, über diesen Bereichnachzudenken. Gerade die Selbständigen haben denhöchsten Anteil an Lebensversicherungen für ihre Al-ters- und Berufsunfähigkeitsabsicherung. Insbesonderefür einen jungen Selbständigen ist das in der Grün-dungsphase, wo wenig Kapital vorhanden ist, die besteMöglichkeit, für den Berufsunfähigkeitsfall und für dasAlter vorzusorgen. Deshalb kann diese Schlechterstel-lung –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Kollege Straubinger!
– der Lebensversi-
cherungen nicht hingenommen werden. – Wir werden
die Beratungen, Herr Bundeswirtschaftsminister, mit
zukunftsorientierten Vorschlägen aus der CDU/CSU be-
reichern.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Strau-
binger, für Sie und auch für alle anderen Kolleginnen
und Kollegen gelten dieselben Spielregeln wie in Bonn.
Wenn am Rednerpult das Minus angezeigt wird, sind Sie
weit über Ihrer Redezeit.
Für die Fraktion der SPD spricht jetzt der Kollege Dr.
Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmalmacht mich außerordentlich stutzig, was für eine De-batte hier im Zusammenhang mit dem Sparkonzept derBundesregierung geführt wird.
Während Sie es heftig kritisieren, höre ich aus Fachkrei-sen der Wirtschaft,
höre ich aus Instituten, höre ich von Herrn Walter vonder Deutschen Bank, daß es für die deutsche Wirtschaftund ihre Entwicklung geradezu unerläßlich ist, daß die-ses Sparprogramm durchgesetzt wird.
Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, worüberSie reden.Mir ist sehr wohl eingängig, daß man über einzelneFrage diskutieren, sie auch kritisch beleuchten kann. Dasist auch Ihre Aufgabe, die Aufgabe der Opposition. Aberdie Art, in der Sie das machen, nämlich mit einer wirk-lich substanzlosen Besserwisserei in jedem einzelnenPunkt, kann doch von der Bevölkerung der Bundesrepu-blik Deutschland nicht als redlich wahrgenommen wer-den,
die ist doch einfach unglaubwürdig.An dieser Stelle sage ich auch im Zusammenhang mitvielen Diskussionen, die ich geführt habe: Sie haben hiergerade über das Handwerk geredet. Ich muß Ihnen ganzoffen gestehen, daß in den Gesprächen, die ich mit Ver-tretern aus der Politik über die Unternehmensteuerre-form und über viele andere Schritte, die eingeleitet wor-den sind, geführt habe, deutlich wurde, daß Handwerkund Handel sowie die kleinen Selbständigen durchausHoffnungen haben.
Wenn ich mit den Präsidenten der Handwerkskammernund der Industrie- und Handelskammern über das heuti-ge Thema rede, dann höre ich von der Fundamentalkri-tik, die Sie äußern, überhaupt nichts. Ich meine jeden-falls, daß Ihre Kritik keine Substanz hat.
Für uns – das sage ich Ihnen sehr deutlich – gilt derGrundsatz: Wir wollen keine neoliberale Politik ver-wirklichen, wie Sie sie hier dargestellt haben.
Ich glaube, daß sich die Erfolgsstory der BundesrepublikDeutschland, Herr Möllemann, im wesentlichen auf so-ziale Marktwirtschaft gründet, das heißt, auch auf einevernünftige Symmetrie zwischen der Reform der wirt-schaftlichen und finanzpolitischen Instrumente einerseitsund der sozialen Verantwortung andererseits. An dieserLeitlinie – das haben uns die Erfahrungen aus der Er-folgsstory gelehrt – möchten wir festhalten. Wir möch-ten sie den Gegebenheiten entsprechend ausbauen.
Wir möchten das nachholen, was von Ihnen in vielenBereichen nicht erledigt worden ist. Daß es objektiv ei-nen Reformstau gibt, gehört heute zum Allgemeingut.Das weiß ja jedes Kind. Das pfeifen ja die Spatzen vonden Dächern.
Ich bekenne mich in diesem Zusammenhang ganzausdrücklich und sehr bewußt dazu, daß die bestehendenVerträge über die Förderung der Steinkohle eingehal-ten werden.
Ich muß daran erinnern, daß die vertraglichen Vereinba-rungen über die Steinkohlenförderung nicht etwa einsei-tig von den Sozialdemokraten ausgehandelt wordenMax Straubinger
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4720 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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sind. Soweit ich weiß, hat letztlich eine CDU/CSU-F.D.P.-Bundesregierung die Verträge über diese Förde-rung unterschrieben. Lassen Sie mich auch sagen: DasSchlimmste, das in diesem Lande passieren kann, ist,daß wir die Menschen verunsichern, indem wir ihnenden Eindruck vermitteln, sie könnten sich auf das, waswir einmal verabredet und beschlossen haben, nichtmehr verlassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Staf-
felt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege Staffelt,
haben Sie nicht auch wie ich den Eindruck gewonnen,
daß dann, wenn die Regierungskoalition nicht gewech-
selt hätte, Herr Brüderle den Kohlekompromiß späte-
stens jetzt aufgekündigt hätte?
Ja, es hörte sich jeden-falls so an. Ich bin ohnehin etwas über Herrn Brüderleirritiert. So wie er die Großkonzerne angegangen hat,fürchte ich um das Spendenkonto der F.D.P. bei dennächsten Wahlkämpfen.
Wir müssen die jetzige Diskussion wieder auf einevernünftige Grundlage zurückführen. Nach meiner Mei-nung sollten Sie einfach anerkennen, daß wir auf demWeg sind, die Lohnnebenkosten zu senken und eineUnternehmensteuerreform anzugehen. Daran gibt esdoch keinen Zweifel. Wir haben einen Haushalt vorge-stellt, der natürlich Einschnitte mit sich bringt. Aber dasist aus meiner Sicht die Konsequenz aus dem, was Siezu verantworten haben. Ich füge hinzu: Die Notwendig-keit einzusparen erhöht den Druck, den Erfolg der För-derprogramme zu kontrollieren. Ich denke an die Mittel,die im Wirtschaftsetat für diese Programme vorgesehensind, zum Beispiel für die Mittelstandsförderung; jeder,der sich fachlich einmal damit beschäftigt hat, weiß, daßes da Programme von Bund und Ländern sowie Pro-gramme der Förderinstitute des Bundes und der Ländergibt. Die Mittel dürfen nicht einfach mit der Gießkanneausgeschüttet werden. Niemand sollte glauben, daß einMehr immer auch qualitative Verbesserungen zur Folgehat.
Dies gilt natürlich auch für Innovationsbereiche. Da-zu möchte ich ausdrücklich sagen: Innovationen undregenerative Energien sind zwei Bereiche, die im Ver-gleich zu Ihrer Regierungszeit deutlich besser abschnei-den. Deshalb werden sie schon in diesem Jahr und auchin den nächsten Jahren zu entsprechenden Anschüben inder Wirtschaft führen.
Ich glaube, daß unsere Politik auf dem richtigen We-ge ist, weil sie bisher eine Vielzahl von Reformschrittenvollzogen hat. Weitere müssen folgen. Aus den aller-meisten Diskussionen, die ich geführt habe, habe ich denEindruck gewonnen, daß die von uns eingeschlageneRichtung für notwendig erkannt wird. Ich bin davonüberzeugt, daß uns alle unsere Schritte – Herr Eichelhatte die entscheidenden fünf Punkte heute morgendeutlich gemacht – in den nächsten Monaten nicht nureine Verbesserung des Wirtschaftswachstums, sondernauch einen weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit brin-gen werden.Sie sollten sehr vorsichtig sein, wenn Sie so wie derKollege von der CSU auftreten. Er sprach von 2 Milliar-den DM, die dem Programm zur Bekämpfung der Ju-gendarbeitslosigkeit entzogen werden sollten, und da-von, daß diese Mittel besser dem Handwerk gegebenwerden sollten. Aber das Handwerk ist, jedenfalls so wieich es kenne, in aller Regel gar nicht darauf aus, staatli-che Subventionen zu empfangen. Was das Handwerkbraucht, sind Mittel für öffentliche Investitionen, an de-nen es sich über öffentliche Ausschreibungen beteiligenkann. Unser Sparkurs führt zu neuen Spielräumen für öf-fentliche Investitionen. Das ist die beste – übrigensmarktwirtschaftlich fundamentierte – Politik, die man indem Zusammenhang machen kann.
Die Art und Weise, wie Sie über unser Programmzum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit geredet haben, istschlicht und einfach nicht mehr nachvollziehbar. Wirhaben junge Menschen von der Straße geholt, und wirhaben sie in Arbeit gebracht. Anerkennen Sie doch we-nigstens einmal einen solchen Schritt! Es handelt sichdoch objektiv um einen Erfolg, den man nicht wegredenkann.
Herr Brüderle, Ihr ehemaliger Parteivorsitzender,jetzt Ehrenvorsitzender Ihrer Partei, hat mit seinemKommentar im Berliner „Tagesspiegel“ recht. Er hat ge-sagt:Aber das dürfen auch die Oppositionsparteien nichtaußer Acht lassen. Es ist verlockend, die Schwie-rigkeiten auszunutzen, in die eine Regierung mitmutigen Reformschritten gerät. Aber es ist gefähr-lich, aus taktischen Gründen anders zu handeln, alsman handeln würde und müsste, wenn man selbstRegierungsverantwortung tragen würde.
Das sollten Sie sich einmal hinter den Spiegel stecken.Wenn Sie das täten, dann würden wir hier eine wesent-Dr. Ditmar Staffelt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4721
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lich sachlichere und uns auch wirklich voranbringendeDiskussion führen können.Schönen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Staf-
felt, dies war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen
Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
möchte ich Ihnen sehr herzlich gratulieren, auch dazu,
daß Ihre erste Rede so lebendig war.
Für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege
Dr. Bernd Protzner das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Lieber Herr Staffelt, auchSie werden wir an dem Maßstab messen, der die Aus-einandersetzung im Wahlkampfjahr 1998 in unseremLand bestimmt hat. Damals hat der Bundeskanzlervollmundig erklärt, er lasse sich am Abbau der Ar-beitslosigkeit messen. Diesen Maßstab werden wir auchan den Wirtschaftsminister anlegen; denn er hat eben-falls in seinem Wirtschaftsbericht 1999 sehr klar formu-liert, man wolle die Arbeitslosigkeit so schnell wiemöglich abbauen.Ich werde deshalb die Arbeitslosenzahlen nennen:im März saisonbereinigt plus 1 000, im April plus12 000, im Mai plus 13 000, im Juni plus 13 000 und imAugust plus 4 000. Das erste Jahr Ihrer Tätigkeit alsWirtschaftsminister, Herr Minister, war ein schlechtesJahr für die Arbeitslosen. Es hat keinen Rückgang derZahl der Arbeitslosen gegeben.
Wenn ich nach der ehrlichen Statistik gehe, die auch inden internen Diskussionen der nordrhein-westfälischenRegierung angewandt wird, nämlich nach der Zahl derErwerbstätigen, dann sieht es noch schlechter aus:367 000 Vollzeitarbeitsplätze sind weggefallen.Das war also ein verlorenes erstes Jahr, und ichfürchte, Herr Minister Müller, daß uns ein verloreneszweites Jahr Ihrer Tätigkeit bevorsteht; denn das Wirt-schaftswachstum, für das Sie als Wirtschaftsministerverantwortlich sind – Herr Staffelt, im Rahmen der so-zialen Marktwirtschaft wollen wir Wachstum; „nicht dieDivision des Produkts“, hat Ludwig Erhard in seiner et-was altertümlichen Sprache formuliert, „sondern dieMultiplikation des Produkts ist die Aufgabe der sozialenMarktwirtschaft“ –, betrug im Jahr 1998, also zu Zeitender Regierung Kohl, noch 2,8 Prozent. Zu der Zeit hat-ten wir seit fünf Jahren erstmals wieder eine Zunahmeder Erwerbstätigenzahl und entsprechend eine Abnahmeder Arbeitslosenzahl. Im Jahre 1999, Herr MinisterMüller, haben Sie bislang noch nicht einmal die Hälftevon diesen 2,8 Prozent zusammengebracht.In Ihrer Einbringungsrede haben Sie sehr nebulös voneinem Datenkranz gesprochen, der für sich spreche, ha-ben aber das Datum Wirtschaftswachstum wohlweislichnicht genannt. Ein Wachstum von 0,8 Prozent wärewohl auch eher ein Trauerkranz. In diesem Zusammen-hang sind Sie heute morgen sogar von Ihrem Minister-kollegen Eichel kritisiert worden. Er hat sehr klar ge-sagt, daß wir 2 Prozent Wachstum bräuchten, damit dieArbeitslosigkeit zurückgeht. Sie haben dies nicht ge-schafft und müssen die Kritik Ihres Kollegen schon zurKenntnis nehmen.
Ich frage mich allerdings, was Sie auf diese Kritikantworten. Sie haben die aktive Arbeitsmarktpolitik inden Mittelpunkt gestellt. Dann überlassen Sie Ihre Tä-tigkeit doch gleich dem Kollegen Riester und lösen Siedas Wirtschaftsministerium auf; denn für den zweitenArbeitsmarkt ist Herr Riester zuständig. Allerdings sindsich mittlerweile alle Fachleute einig, daß wir vomzweiten Arbeitsmarkt keinen Erfolg für den ersten Ar-beitsmarkt zu erwarten haben. Entscheidend ist der ersteArbeitsmarkt, und mit Ersatzarbeitsmärkten ist denMenschen nicht geholfen.
Herr Staffelt, da Sie eben so optimistisch waren, geheich davon aus, daß Sie auf die Demographie setzen,nämlich darauf, daß die Zahl der Arbeitslosen wegen derschwächeren Altersjahrgänge, die auf den Arbeitsmarktdrängen, in den nächsten Jahren automatisch um300 000 pro Jahr zurückgehen wird. Das werden Sie alsErfolg verkaufen. Es ist aber kein echter Erfolg.
– Weil Sie dazwischenrufen, sage ich Ihnen ganz klar,daß auch 3,9, 3,8, 3,7 oder 3,6 Millionen Arbeitslose zuviele Arbeitslose sind. Jeder Arbeitslose ist zuviel. Wirstehen in der Bundesrepublik Deutschland vor der Auf-gabe, die Arbeitslosenzahl drastisch zurückzuführen;
denn die Probleme unserer Staatsfinanzen und der Fi-nanzen unserer Solidarversicherungen gehen auf die ho-he Arbeitslosenzahl zurück, die Löcher in beide Haus-halte reißt.Meine Damen und Herren, ich frage mich allerdings,was der Wirtschaftsminister für klare Rahmenbedingun-gen tut, beispielsweise für Klarheit und Stetigkeit inder Wirtschaftspolitik. Hier hat er seine Stimme gegendie Verunsicherung in der Wirtschaft nicht erhoben, alses um die Neuregelung des 630-Mark-Gesetzes ging,mit dem mindestens 500 000 Familien ein Zusatzver-dienst weggenommen worden ist. Er hat auch nichts ge-gen das Gesetz zur Scheinselbständigkeit unternommen.Herr Müller, es ist doch ganz klar, daß bei dieser IhrerUntätigkeit der Regierung die Wählerschaft davonläuft,insbesondere die Jungwähler, die davon besonders be-troffen sind.Dr. Ditmar Staffelt
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4722 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
(C)
Herr Minister, was haben Sie zum steuerlichenRahmen beigetragen? Nicht nur Herr Struck sagt, daßdie Steuersätze zu hoch sind, die Sie sich für die Zukunftvorstellen. Er spricht von einem Eingangssteuersatz von15 Prozent. Heute morgen hat Herr Metzger von denGrünen in dieser Debatte ebenfalls gesagt, daß ein Ein-gangssteuersatz von 20 Prozent als Ziel für das Ende derWahlperiode deutlich zu hoch sei. Wo haben Sie hier Ih-re Stimme erhoben, Herr Müller? Wo haben Sie IhreStimme gegen die Erhöhung der sogenannten Ökosteuererhoben: gegen die zusätzlichen 30 Pfennige beim Ben-zin – fünfmal 6 Pfennige –, gegen die Steuern auf Gas,Heizöl und Strom? Wo haben Sie Ihr Wort gegen diePlanung hinsichtlich der Vermögensabgabe und derVermögensteuer bzw. der Erbschaftsteuererhöhung fürEinfamilienhausbesitzer erhoben, die gegenwärtig in derKoalition diskutiert wird?Wo hat Minister Müller etwas gegen Fehlentwicklun-gen in anderen Geschäftsbereichen gesagt?
Als Wirtschaftsminister hat er im Kabinett Verantwor-tung über seinen Bereich hinaus. Herr Staffelt, Sie habendarauf hingewiesen, daß die Handwerker Aufträgebräuchten. Ich entnehme aber Ihren Haushaltsplanungen,daß Sie die Investitionen kürzen:
von 58,2 Milliarden DM in 1999 auf 57,6 Milliar-den DM in 2000 und rund 53 Milliarden DM im Jahr2003.
Sie bauen weniger Autobahnen, Sie bauen wenigerBundesfernstraßen, Sie bauen die große ICE-Linie durchdie Mitte Deutschlands, durch Thüringen, Bayern undSachsen-Anhalt, nicht, und über den Transrapid, eineneue Technologie, haben Sie gar nichts gesagt. Außer-dem fahren Sie die Investitionen im Bereich der Vertei-digung, der Bundeswehr, zurück. Sie können schon inden Zeitungen lesen, daß das Arbeitsplatzauswirkungenauf Unternehmen hat.In diesem Zusammenhang fällt mir zu Ihrer Minister-kollegin Fischer ein: Hier wird mit Budgetierung im Ge-sundheitswesen ein wachstumsträchtiger Dienstlei-stungsbereich mit 4,1 Millionen Beschäftigten in ganzgroße Schwierigkeiten gestürzt. Hier hätten Sie Ihr Worterheben müssen, Herr Minister Müller, hier hätten Sieetwas tun müssen; hier haben Sie versagt.
Wachstum fördern, Wachstumskräfte entfesseln,neuen Arbeitsplätzen den Weg bahnen, Arbeit für alle –das ist Ihre Aufgabe und die Aufgabe Ihres Haushaltes.Allerdings ist Ihr Haushalt zur Hälfte rückwärtsgewandt,nämlich im Bereich der Kohlesubvention, wo die Ar-beitsplätze von gestern aufrechterhalten und keine Ar-beitsplätze für morgen geschaffen werden.
Ich kann mir durchaus vorstellen, daß mit den Unter-nehmen, mittlerweile auch mit dem Land Saarland undwahrscheinlich, Frau Skarpelis-Sperk, ab März nächstenJahres auch mit dem Land Nordrhein-Westfalen besserdarüber zu reden sein wird, wie man mit diesen7 Milliarden DM bessere Zukunftsarbeitsplätze schaffenkann.
Mit der einen Hälfte Ihres Haushalts sind Sie rück-wärts- und mit der anderen nicht vorwärtsgewandt. Wonutzen Sie die Chance Osterweiterung der EuropäischenUnion? Sie kürzen die Mittel für die Außenhandelsin-formation. Wo nutzen Sie die Chance der Selbständig-keit im Handwerk, Herr Staffelt? Sie bauen das Meister-BAföG nicht aus, so daß es immer weniger angenom-men wird. Wo nutzen Sie die Chance Innovationen? Siekürzen die Mittel für die Innovationskooperation. Wonutzen Sie die Chance Regionalförderung? Auch hierbauen Sie ab.Darüber hinaus verunsichern Sie in der Ordnungs-politik. Weil es den Stadtwerken an Kunden mangelt,wollen Sie den Mangel verwalten, Kunden zuteilen,Wettbewerb und Markt einschränken. Industrieunter-nehmen wollen Sie ausnehmen, Herr Müller, aber denKleingewerbetreibenden, den Handwerkern, dem Mit-telstand und den Privatverbrauchern soll das Wahlrechtgenommen werden. Nein, so kann es nicht gehen. Des-wegen haben wir die Freigabe des Energiemarktes nichtbetrieben.Sie betreiben eine Politik in die falsche Richtung. Siesind am falschen Platz. Entlasten Sie die Arbeitnehmernetto, damit sich Arbeit lohnt. Kämpfen Sie für Arbeit-nehmer und Betriebe, und zwar nicht nur in Reden undin Zeitungsbeiträgen, sondern auch in Ihrem Ministeri-um und in Ihrem Haushaltsansatz.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Brunhilde Irber, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Daß es in München einen arbeitslosenMinister mehr gibt, ist natürlich schade, aber wir könnennichts dafür.
Das haben Sie Herrn Sauter zu verdanken, Herr Protz-ner.Zu Ihrer Generalabrechnung, dazu, wie Sie uns rasierthaben, kann ich nur sagen: Hätten Sie es in den letztenDr. Bernd Protzner
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16 Jahren, in denen Sie an der Regierung waren, bessergemacht, dann bräuchten wir uns heute nicht über dieEinschränkungen im Haushalt zu unterhalten.
Ich will mich aber jetzt einem Bereich zuwenden, derin dem Haushaltsjahr, über das wir reden, wirklich eineErfolgsstory ist, und zwar einem Bereich, der bishereher ein Schattendasein geführt hat: dem Tourismus.Dieser Wirtschaftszweig ist weltweit der wichtigste De-visenbringer. Mit einem Gesamtumsatz in Höhe von958 Milliarden DM lag der internationale Tourismus1998 an der Spitze aller Exportbranchen. Der Wirt-schaftsfaktor Tourismus macht 8 Prozent des Bruttoin-landsproduktes aus, also etwa 275 Milliarden DM. Da-mit gehört die Branche zu den großen Vier in Deutsch-land.Das aktuelle Jahr – darauf lege ich besonderen Wert –ist für den Tourismus in Deutschland ein gutes Jahr. DieGästezahlen sind in den ersten sechs Monaten des Jahresim Vergleich zum Vorjahr um 5,3 Prozent gestiegen.Die neuen Bundesländer können teilweise zweistelligeprozentuale Zuwächse der Gästezahlen verbuchen. Dasist ein Ergebnis der guten Konjunkturpolitik dieser Bun-desregierung.
Diese Situation wird sich noch weiter verbessern, denndas Kindergeld wurde angehoben, die Lohnnebenkostengesenkt und die Steuerlast verringert. Die Leute habenalso mehr Geld und können sich daher auch mehr lei-sten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bräh-
mig?
Gleich, Herr Brähmig. –
Hiervon profitiert in besonderem Maße die Tourismus-
wirtschaft. Bei den Beherbergungsbetrieben sind in den
ersten vier Monaten dieses Jahres die nominalen Umsät-
ze um 2,2 Prozent gestiegen. Die Zahl der Übernachtun-
gen im ersten Halbjahr 1999 ist, wie bereits gesagt, um
5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestie-
gen. Auch die Bettenauslastung ist im ersten Quartal
1999 um 1 Prozentpunkt gestiegen. Das Investitionsvo-
lumen dieser Branche in der Bundesrepublik beträgt
heuer 60 Milliarden Dollar.
Bitte, Herr Brähmig.
Frau Kollegin Irber,
wir sprechen ja heute über den Haushalt. Die Zahlen, die
Sie vorgetragen haben, möchte ich in keiner Weise in
Frage stellen.
Die EU-Kommission hat die deutsche Beschäfti-
gungspolitik kritisiert, indem sie feststellte, daß über
6 Millionen Jobs brachliegen, weil in Deutschland im
Tourismus- und Dienstleistungsgewerbe nur 38,5 Pro-
zent der Arbeitnehmer tätig sind, in anderen EU-Staaten
dagegen bis zu 50 Prozent.
Auf diese Schieflage hat ja Kollege Schwanhold vorhin
schon hingewiesen.
Nun eine Frage zum Haushalt: Sind Sie mit mir der
Meinung, daß trotz der schwierigen Haushaltssituation
die Titel „Förderung der Leistungssteigerung im Frem-
denverkehrsgewerbe“, „Zuwendung an die Deutsche
Zentrale für Tourismus e. V.“ und vor allem die Ge-
meinschaftsaufgabe Ost im Haushaltsjahr 2000 nicht
gekürzt, sondern drastisch erhöht werden sollten, um mit
einem Fünfjahresprogramm für Tourismus und Dienst-
leistungen eine nachhaltige Entwicklung für Beschäfti-
gung und mehr Arbeitsplätze zu schaffen?
Herr Kollege Brähmig, ichkomme im Laufe meiner Rede noch auf Ihre Fragen zusprechen.
Dabei gebe ich Ihnen dann auch die entsprechendenAntworten.Das Reiseland Deutschland ist im Aufwind; die Zahlder Urlaubsreisen ist um 2,1 Prozentpunkte gestiegen.Damit ist der negative Trend, der seit 1995 angehaltenhatte, gebrochen worden. Ein Schelm, wer meint, dieshabe nichts mit dem Konjunkturprogramm dieser Bun-desregierung zu tun.
– Das muß für alles herhalten, für schlechte und für guteZeiten.Natürlich wurde die Branche von einzelnen Maß-nahmen auch hart getroffen. Die Neuregelung bei den630-Mark-Verträgen hat aber 2,5 Millionen neue Be-schäftigungsverhältnisse sozialversicherungspflichtiggemacht.
Dies zeigt, daß Handlungsbedarf gegeben war, insbe-sondere, wenn nach eigenen Angaben 40 Prozent in die-ser Branche versicherungsfrei beschäftigt waren. Es istalso nicht so, daß Arbeit wegfällt und Arbeitslosigkeitentsteht. Vielmehr wird in einem nicht immer einfachenUmstrukturierungsprozeß die geforderte Arbeitsleistungin korrekte Arbeitsverhältnisse umgewandelt. Wir habenbei der Tourismuspolitik auch dank der Zahlen der Ge-werkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten das Problemjahrelang deutlich vor Augen gehabt. Ihnen aber hat derGestaltungswille zur Lösung dieses Problems gefehlt.Das Sparziel, das mit dem jetzt vorliegenden Haus-haltsentwurf für das nächste Jahr erreicht werden soll, istehrgeizig. Alle Bereiche müssen ihren Beitrag leisten.Der Einschnitt, der bei der Finanzierung der DeutschenBrunhilde Irber
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Zentrale für Tourismus vorgenommen werden muß,fällt aber nicht so tief aus, wie es seinerzeit Waigel inseiner mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen hatte.Sie, meine Damen und Herren, wollten die DZT-Mittelmittelfristig um 50 Prozent kürzen. Wer das Deutsch-land-Marketing auf die Hälfte reduzieren will, der willdiesen Bereich im Grunde genommen sich selbst über-lassen und sich langfristig aus der Verpflichtung der öf-fentlichen Hand zurückziehen.
Kommen Sie mir jetzt nicht damit, Herr Brähmig, derseinerzeitige Finanzminister hätte im Falle seiner Wie-derwahl den gleichen Förderbetrag für die DZT einge-setzt! Wer kurz vor der Bundestagswahl noch schnelleinen Haushaltsentwurf vorlegt, bei dem alle Fördertiteleinen Schluckauf bekommen, der will letztendlich nurWahlkampf betreiben. Zum Glück mußten Sie nicht be-weisen, ob Sie den gleichen Förderbetrag eingestellthätten.Noch etwas zu den Haushaltsansätzen: Unsere leichtabgesenkte Zuwendung an die DZT nach einer kräftigenAnhebung im laufenden Haushaltsjahr ist, Herr KollegeBuwitt, trotzdem noch höher als die tatsächlichen Aus-gaben in Ihrer Regierungszeit.
Sie haben die Haushaltsansätze bei den Ist-Ausgaben nieerfüllt. Die DZT hat von Ihnen nie mehr als 36 Millio-nen DM bekommen. Wir werden Ihren Betrag noch um3 Millionen DM übertreffen.Beim Wirtschaftsminister haben wir Tourismuspoliti-ker Verständnis für die Belange der Branche gefunden.Dafür möchte ich Ihnen, Herr Minister Müller, meinenDank aussprechen.
Hier unterscheiden Sie sich sehr deutlich von IhremVorgänger.Ich möchte zum Schluß noch auf eines hinweisen:Die Tourismuswirtschaft ist als größtes Segment imDienstleistungsbereich ein Arbeitsplatzmotor. Gegen-wärtig sind in dieser Branche 2,8 Millionen Menschen inDeutschland beschäftigt. Der Tourismus ist also inpuncto Beschäftigung mit Abstand die größte Branche.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist vorüber.
Herr Straubinger hat auch
einen Nachschlag bekommen, der ist auch aus Bayern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Solche Spielchen
fange ich jetzt nicht an.
Nirgends sonst werden so
viele Arbeits- und Ausbildungsplätze angeboten. In die-
sem Bereich ist eine Steigerung um 9,3 Prozent zu kon-
statieren. Dies rechtfertigt die volle Aufmerksamkeit des
Wirtschaftsministeriums, der Regierung und des Parla-
ments.
Mit den Ansätzen zur Aus- und Weiterbildung –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, Sie
müssen jetzt wirklich aufhören.
– ja – und der Zuwendung
an das deutsche Seminar für Fremdenverkehr liegen wir
richtig. Meine Botschaft an die Opposition: Kommen
Sie nicht mit Ihren Anträgen von 100 Millionen DM;
denn das ist unrealistisch! Helfen Sie vielmehr in reali-
stischer Weise mit, den Tourismusstandort, das Wach-
stum und die Beschäftigung in Deutschland zu beför-
dern.
Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmel-dungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriumsfür Wirtschaft und Technologie liegen nicht vor.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für Arbeit und Sozialordnung, zumEinzelplan 11.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Einbrin-gung seines Haushalts hat der Bundesminister für Arbeitund Sozialordnung, Walter Riester.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
und Herren! Der Einzelplan 11, der Einzelplan desArbeits- und Sozialministeriums, umfaßt ein Volumenvon fast 170 Milliarden DM. Auch dieser Einzelplan istwie alle anderen Einzelpläne unter dem Gesichtspunktder Haushaltskonsolidierung zu sehen. Wir haben aller-dings die Ausrichtung derart vorgenommen, daß Maß-nahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik weiterhin Prio-rität haben. In anderen Leistungsbereichen nehmen wirEinschränkungen hin; darauf gehe ich noch ein.Ich möchte meine Rede unterteilen. Zuerst werde ichzur aktiven Arbeitsmarktpolitik kommen, dann zur Al-terssicherung – denn parallel zur Haushaltssanierungwerden wir eine Reform der Alterssicherung in Angriffnehmen – und dann zu den notwendigen Einschränkun-gen.Aktive Arbeitsmarktpolitik: Ich bin der Debattesehr interessiert gefolgt und höre von der jetzigen Oppo-sition, daß aktive Arbeitsmarktpolitik im zweiten Ar-beitsmarkt entbehrlich sei und daß man die Mittel dafürbesser in den ersten Arbeitsmarkt stecken solle.Nun ist bei der Politik der jetzigen Opposition festzu-stellen, daß wir beispielsweise 1993 und 1994 etwa 64Milliarden DM bzw. 53 Milliarden DM an Ausgaben fürBrunhilde Irber
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die aktive Arbeitsmarktpolitik hatten. Wir haben das mitunterstützt. Wir haben im letzten Jahr 43,5 MilliardenDM eingestellt. Der Unterschied zwischen Ihnen unduns kann eigentlich nicht darin liegen, daß wir aktiveArbeitsmarktpolitik fördern und Sie nicht. Der Unter-schied liegt woanders: Wir richten aktive Arbeitsmarkt-politik an den Notwendigkeiten des Arbeitsmarktes undnicht an Entscheidungen im Wahlkampf oder an Maa-stricht-Kriterien aus.
Vor allem aber richten wir aktive Arbeitsmarktpolitik anden Zielgruppen aus, bei denen die Förderung am not-wendigsten und eine Verfestigung von Arbeitslosigkeitam gravierendsten ist.Erster Schwerpunkt: Sonderprogramm zur Unter-stützung arbeitsloser Jugendlicher. Als dieses Son-derprogramm entwickelt worden ist – das gestehe ichIhnen –, bin ich auch in meinem Ministerium mit derWarnung konfrontiert worden, 100 000 Jugendliche indiesem schwierigen Bereich zu erreichen, das sei einnicht ganz einfaches Unterfangen. Wenn wir jetzt rund180 000 jungen Menschen beim Eintritt in Ausbildungund Arbeit zusätzliche Chancen eröffnet haben, dannmuß ich sagen: Allein das ist eine Sache, über die wiruns alle freuen müßten.
Deswegen haben wir gesagt: Bei allen notwendigenSparmaßnahmen, dieses Programm muß verläßlichweiterbetrieben werden. Wir werden es natürlich in demeinen oder anderen Punkt korrigieren, wie es bei jedemanderen Programm auch geschieht. Aber diesen Schwer-punkt zu setzen ist vor dem Hintergrund der Erfahrung,die wir gemacht haben, dringend erforderlich.Zweiter Schwerpunkt. Ich freue mich, daß es uns zu-nehmend gelingt, Langzeitarbeitslosigkeit deutlichstärker als die allgemeine Arbeitslosigkeit zu reduzieren.Auch das, denke ich, ist ein ganz entscheidenderSchwerpunkt, den wir weiter verfolgen wollen.Nun zur Frage der Zahlen: Herr Austermann hat ge-sagt – ich habe es zum Teil amüsiert verfolgt –, er wollezuerst einmal wissen, warum das Statistische Bundesamtkeine neuen Zahlen mehr herausgebe. Ich sehe HerrnAustermann leider nicht. Vielleicht kann er das amFernsehschirm mitverfolgen. Ich wollte ihn gern aufklä-ren: Das Statistische Bundesamt stellt, und zwar aufge-legt von Eurostat, die gesamte Statistik um und ist seitJanuar leider – ich bedauere es am meisten – nicht in derLage, neue Zahlen über sozialversicherungs- und über-haupt über versicherungspflichtige Erwerbstätige aus-zuweisen. Ich bedauere das sehr.
– Ob wir da gut aussehen oder nicht, lieber Herr Kues,können wir erst sehen, wenn wir Fakten haben. Im Mo-ment gibt es keine Fakten, sondern bestenfalls Spekula-tionen von Ihnen.
Eines aber kann ich ihnen sicher sagen: Was die Aussa-ge Ihres Parteikollegen angeht, daß die Arbeitslosigkeitim letzten Jahr im Jahresdurchschnitt um 400 000 zu-rückgegangen sei, so will ich jetzt die Kritik von heutefrüh nicht erneut aufgreifen, nämlich daß hier gelogenwird. Aber da ich nicht annehme, daß er diese Zahl imZustand der Bewußtlosigkeit genannt hat, hat er dasParlament bewußt falsch informiert.
Im letzten Jahr ist die Zahl der Arbeitslosen im Jahres-durchschnitt um 105 000 zurückgegangen.
In diesem Jahr werden wir die Zahl der Arbeitslosen imJahresdurchschnitt voraussichtlich um zusätzlich150 000 bis 200 000 reduzieren.
Davon kann man ausgehen. Das ist auch ein Ausweis füraktive Arbeitsmarktpolitik.Nun kommen wir zum nächsten Bereich, der in derÖffentlichkeit breit debattiert wird: dem Alterssiche-rungssystem. Um die Mär zu beenden, der Haushaltwerde über Rentner konsolidiert, möchte ich zunächsteinmal sagen: Es hat noch nie eine Phase gegeben, in derwir die Rentenversicherung in so hohem Maße ausHaushaltsmitteln unterstützt haben wie in den letztenbeiden Jahren. Und das wird weitergehen.
– Herr Fuchtel, auf die Steuerfrage komme ich gernnoch zu sprechen.In diesem Jahr wird die Rentenversicherung mit zu-sätzlich 16,5 Milliarden DM unterstützt. Das ist notwen-dig, um die versicherungsfremden Leistungen völlig ausder Rentenversicherung herausnehmen zu können.
Geredet haben Sie darüber jahrelang, getan haben Sienichts. Das war eine Luftnummer!
Nun, Herr Fuchtel, komme ich auf den Bereich derSteuer zurück. Wir haben uns entschieden, die Mehrein-nahmen aus der Erhöhung der Mineralölsteuer Markfür Mark in die Rentenversicherung fließen zu lassen.Manchmal stinkt es mir – das ist auch an die Öffentlich-keit gerichtet –, daß die Bilanz Ihrer Regierung etwasverdrängt worden ist: Sie haben allein in den Jahren1989 bis 1994 die Steuer auf Normalbenzin um 50 Pfen-Bundesminister Walter Riester
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nig pro Liter und auf unverbleites Benzin um 57 Pfennigpro Liter angehoben und damit die Haushaltslöcher ge-stopft.
Wir dagegen handeln transparent: Wir werden jedeMark, die wir durch die Ökosteuer einnehmen, zur Sta-bilisierung bzw. zur Absenkung der Rentenbeiträge ein-setzen. Dies ist Verantwortung. In diesem Punkt unter-scheiden wir uns ganz gewaltig.
– Jetzt fragen die Herren von der Opposition, woher dieRentner ihr Geld bekommen. Sie hätten dies fragen sol-len, als Sie die Mineralölsteuer in Ihrer Regierungszeiterhöht haben. Da haben die Rentner nicht nur eine er-höhte Mineralölsteuer gezahlt, sondern sie haben auchgesehen, wie die Mehreinnahmen aus der Mineralölsteu-er in den Haushaltslöchern verschwunden sind. Wir set-zen die Mittel, die wir bei der Ökosteuer einnehmen,ein, damit die aktiven, jetzt arbeitenden Menschen ge-ringere Beiträge zahlen. Wir setzen sie ein, um einen ge-rechten Generationenvertrag hinzubekommen.
Nun lassen Sie mich die Unterschiede zwischen Ihrenhäufig diskutierten, in das Rentensystem eingebrachtenDemographiefaktor und unserer ausgewiesenen Position,die Renten in den nächsten zwei Jahren im Rahmen derPreissteigerung des Vorjahres anzuheben, aufzeigen. IhrVorschlag, dauerhaft, das heißt jedes Jahr, von der Net-toanpassung der Renten wegzugehen und das Renten-niveau bis auf ein Niveau von 64 Prozent abzusenken,bedeutet folgendes: Die heutige Rentnergeneration –darüber können wir uns alle freuen –, die im Momentnoch die höchste Rendite erhält, bezogen auf das, wassie eingezahlt hat, und bezogen auf das, was sie alsRente bekommt, würden Sie langsam auf ein Rentenni-veau von 64 Prozent herunterführen.
Bei denjenigen, die jetzt aktiv und 50 Jahre alt oder jün-ger sind, passiert folgendes: Sie müssen nach ihremKonzept ständig steigende Beiträge zahlen mit der Per-spektive, daß sie anschließend, wegen des vorgesehenenRentenniveaus von 64 Prozent, die niedrigsten Rentenerhalten.
Nun können Sie ja mit mir einiges machen; einige Ih-rer Vorstellungen vertrete auch ich: Ich bin dafür, daßdiejenigen, die in die Rentenversicherung hohe Beiträgeeinzahlen, auch relativ hohe Renten erhalten. Ich kannauch mittragen, daß diejenigen, die geringe Beiträgeeinzahlen, relativ geringe Renten erhalten. Aber michwerden Sie nicht dazu bringen, daß ganze Generationenimmer höhere Beiträge einzahlen und dann geringeRenten erhalten. Das kann ich nicht mitmachen.
Es ist manchmal unbequem, solche Dinge offen aus-zusprechen. Aber es ist ehrlicher als das Konzept, daswir von Ihnen geboten bekommen haben. Es ist nichtbequem, so etwas festzustellen; aber es ist ehrlich. Wennwir die Sicherung der Alterssysteme angehen, dannwerden wir sie mittelfristig nur dann durchstehen – undzwar unabhängig davon, ob im Deutschen Bundestagparteiübergreifend ein Kompromiß gefunden wird odernicht –, wenn wir diese Position den Menschen gegen-über ehrlich vertreten.
– Genau, wie der Bundeskanzler im Februar. Dazu sageich Ihnen etwas zum Mitschreiben: Er hat gesagt, daßwir bei dem Prinzip bleiben, die Entwicklung der Rentenan die Entwicklung der Löhne und Gehälter zu koppeln.
Bei diesem Prinzip werden wir nach den zwei Jahrenauch bleiben.
Mich können Sie ins Obligo nehmen. Zu dem, was ichin der Vergangenheit gesagt habe, stehe ich,
und zu dem, was ich jetzt sage, stehe ich auch. Ich kannmich gern mit dem Vorwurf der Rentenlüge auseinan-dersetzen; aber das wird für Sie sehr unangenehm.
Ich beispielsweise wäre nicht ein Jahrzehnt lang durchdie Republik gereist und hätte alten Menschen gesagt:„Eins ist sicher: die Rente“.
und hätte vergessen, hinzuzufügen, mit welchen Beiträ-gen und für wie lange. Ich bin sehr offen, mich mit Ih-nen über Rentenlügen zu unterhalten.
Um auf den Haushalt zurückzukommen: Wir habenim Haushalt die klaren Voraussetzungen dafür geschaf-fen, daß die Rentenversicherung – dabei geht es umganz erhebliche Beiträge – von versicherungsfremdenLeistungen entlastet wird.
Bundesminister Walter Riester
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4727
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Dies haben wir im Vorfeld der Reform gemacht. Fernerhaben wir im Vorfeld der Reform etwas angepackt, wasSie immer wollten, aber nie gemacht haben.
– Sie wissen doch gar nicht, was ich sagen will. Er sagt:„Es stimmt wieder nicht“ und weiß noch gar nicht, wasich sagen will.
Wir haben die geringfügigen Beschäftigungsver-hältnisse, die bisher versicherungsfrei waren, rentenver-sicherungspflichtig gemacht.
Wir haben in diesem Zusammenhang eine Kampagneerleben müssen, die widerlich war.
Heute kann die erste Bilanz vorgelegt werden – wir ha-ben es gehört –: 2,5 Millionen ausschließlich geringfü-gig Beschäftigte sind ordnungsgemäß bei den deutschenRentenversicherungen angemeldet.
– Lieber Herr Fuchtel, das sind jene 2,5 Millionen, dienur einen solchen Job haben. Die Nebentätigkeiten sinddarin nicht enthalten, weil man sie gar nicht erfassenkann.
Die Beitragseinnahmen, die wir in den ersten dreiMonaten zu verzeichnen haben, übersteigen das, was wirunterstellt haben. Wir kommen jetzt in eine Situation, inder man sagen kann: Der Markt strukturiert sich in die-sem Bereich um; wir bekommen Transparenz hinein,und wir haben etwas geschafft, von dem Sie immer dieFinger gelassen haben,
weil Sie Angst hatten, daß Sie sich die Finger schmutzigmachen oder sie sich verbrennen. Wir haben es gemacht.Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie das nicht machen, kön-nen Sie jede Reform der sozialen Sicherungssystemevergessen. Wenn Sie einen Bereich von 5 bis 6 Millio-nen – mit steigender Tendenz – als Fluchtoption offen-lassen, dann wird jedes Sozialversicherungssystem ero-dieren. Da sind wir herangegangen.
Das sind notwendige Schritte, die natürlich unbe-quem sind. Warum sind sie denn unbequem? Es ist dochnicht so, daß die neue Regelung im Vergleich zur altenunattraktiv ist. Denn nach der neuen Regelung bleibtderjenige, der nur einen 630-Mark-Job hat, steuerfrei,und den Sozialversicherungsbeitrag bezahlt der Betrieb.Das ist für den Betreffenden absolut attraktiv. Warumwurde es also hochgekocht? Weil die gesamte Miß-brauchslandschaft offenbar wurde,
weil deutlich wurde, daß es in sehr vielen Fällen ebennicht nur ein Job war, sondern daß es viele gegeben hat,die zwei, drei, vier dieser Jobs ausübten.
– Herr Niebel war ja vorher in der Arbeitsvermittlungtätig. Mitarbeiter der Arbeitsvermittlung sagen mir: Sehrviele Menschen, die arbeitslos sind und Arbeitslosenhil-fe oder Sozialhilfe bekommen und die zwei oder dreidieser Mini-Jobs machen, sind leider – das muß ich sa-gen – nicht vermittelbar; denn ihre Nettoeinkünfte be-wegen sich auf einer solchen Ebene, daß sie nicht ver-mittelbar sind. Auch Sie müßten doch eigentlich Interes-se daran haben, daß wir dort Klarheit und Transparenzhineinbekommen.
Wir haben das gelöst.
Wir nehmen jetzt die Stabilisierung der Rente in An-griff und richten sie für die Zukunft aus, so daß wir denjetzt aktiven Rentnern sagen können: Das Leistungsni-veau wird nach den betreffenden beiden Jahren bis zumJahr 2030 stabil gehalten.
– Auf einem Niveau von 67 Prozent, lieber Herr Fuchtel.Wenn Sie sich daran erinnern, was Ihr Kollege Blümangestrebt hat, dann werden Sie noch wissen, daß das 64Prozent waren.
Aber war noch wichtiger ist: Auch die Beiträge haltenwir stabil. Weil wir verhindern wollen, daß diese bri-sante Sache zu einem Generationenkonflikt ausartet,stellen wir uns der Frage.
Beitrag und Leistung müssen für die Menschen wiederlangfristig stabil und damit berechenbar sein. Das istwichtig, und das gehen wir an.
Bundesminister Walter Riester
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4728 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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– Lieber Herr Singhammer: ,,Wir glauben es Ihnen janicht.“ Mit Ihnen will ich mich nicht über Glaubensfra-gen streiten. Aber ich will Ihnen einige Fakten nennen:Von 1993 bis 1998 haben Sie es geschafft – damals wa-ren Sie in der Regierungsverantwortung –, daß der Bei-trag zur Rentenversicherung von 17,5 auf 20,3 Pro-zent gestiegen ist. Das heißt, das Beitragsvolumen, dasnotwendig war, um Ihre Rentenerhöhung, die viermalunterhalb der Preissteigerungsrate lag, auszugleichen, istum 41 Milliarden DM angestiegen. Gleichzeitig sind dieLeistungen des Bundes um rund 40 Milliarden DM an-gewachsen.Jetzt nehmen wir einmal beide Zahlen zusammen. IstIhnen schon aufgefallen, daß dies das Volumen einerMehrwertsteuererhöhung um fünf Prozentpunkte wäre?Wir haben Sie gnädigerweise aus der Peinlichkeit ent-lassen, auf einen Rentenversicherungsbeitrag von 21Prozent gehen zu müssen, indem wir eine Mehr-wertsteuererhöhung um einen Prozentpunkt mitgetragenhaben. Das haben wir zwar hingenommen; aber wirnehmen nicht ständig steigende Beiträge hin.Wir sind zum erstenmal die Aufgabe angegangen undsagen: Wir gehen in Richtung Beitragssenkung. Wirwerden die Lohnnebenkosten absenken.
Nun habe ich heute früh vom Finanzminister völligzu Recht gehört, daß wir eine hohe Eintrittsschwelle inbezug auf den Arbeitsmarkt haben. Herr Merz ist daraufmit den Worten eingegangen: Endlich merken wir es.Woran liegt denn das? Es liegt an den hohen Lohnne-benkosten. – Ja, damit haben Sie sehr viel Erfahrung.Sie haben den Gesamtsozialversicherungsbeitrag treff-lich hochbekommen, auf über 42 Prozent.
: Und Sie
haben sie weiter erhöht!)– Nein, wir haben sie erstmals abgesenkt.
Wir haben die Beiträge zur Rentenversicherung gesenkt,und wir werden sie noch weiter senken.Ich sage Ihnen eines: Alle Vorschläge, die im Mo-ment mit Blick auf die nächsten zwei Jahre alternativeingebracht werden, bedeuten eine weitere Anhebungdes Rentenversicherungsbeitrages. Aber die Bevölke-rung, die jetzt bei der Ökosteuer einen Beitrag für dieRentenversicherung erbringt, wird kein zweites Mal –wie in Ihrer Zeit – akzeptieren, daß die Mineralölsteuererhöht wird, um Haushaltslöcher zu stopfen, und derRentenversicherungsbeitrag hochgeht. Das machen wirnicht mit.
Deswegen gibt es keine Alternative zu dieser Vorge-hensweise. Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie es mit-tragen. Aber es ist natürlich populärer, durch das Landzu marschieren und eine Verhetzungskampagne mitzu-tragen, die unverantwortlich ist.
Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, den ichsehr wichtig finde und den Ihr Kollege Merz angespro-chen hat. Er hat uns bei zwei Punkten ein Angebot zurMitarbeit gemacht. Einer betrifft mein Ressort. HerrMerz sagte: Wir wären durchaus bereit, bei einer Ver-bindung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zueinem einheitlichen Förderungssystem mitzumachen.Das hätte ich genauso sagen können. Sie wissen, daß ichan einer Verzahnung der Maßnahmen arbeite.
Wir arbeiten in dieser Frage mit den Ländern zusammenund nutzen die Erfahrungen, die im Moment mit solchenProjekten gemacht werden. Wir sprechen auch mit denKommunen, und wir gehen dies an. Aber ich muß Ihneneines sagen – Herr Merz ist jetzt leider nicht da –:
Man kann diese Frage nicht mit dem schlanken Fuß an-gehen. Da kann man auch nicht nach dem Motto verfah-ren: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß.Daran möchte ich erinnern, wenn ich jetzt darauf kom-me, daß wir bei der Haushaltskonsolidierung gesagt ha-ben:
Ja, wir werden bei der Arbeitslosenhilfe zwar die Zahl-beträge beibehalten, wir werden aber die Transferlei-stungen in die Sozialversicherungssysteme staatlicher-seits auf den Zahlbetrag abstimmen. Das ist ein ersterSchritt; es müssen weitere folgen. Warum?Nehmen wir einen Facharbeiter, der heute 5 000 DMverdient und arbeitslos wird. Nach 32 Monaten ist erausgesteuert und bekommt Arbeitslosenhilfe. Das ist einbedauerlicher Fall, aber seine Rentenversicherungsbei-träge bemessen sich weiterhin nach 80 Prozent seinesehemaligen Verdienstes, möglicherweise bis er in Rentekommt. Nun betrachte ich eine Verkäuferin, die ganz-tags arbeitet und zwischen 2 200 und 2 300 DM ver-dient. Vergleichen Sie nun den Rentenversicherungs-beitrag, bezahlt aus Steuermitteln, beim Arbeitslosenhil-feempfänger mit dem bei der vollzeitbeschäftigten Ver-käuferin. Wenn Ihnen da noch kein Licht aufgeht, war-um wir diesen Schritt gehen, dann können wir nochdeutlicher werden. Das sind unbequeme Schritte. Dashaben wir ja nicht aus Jux und Dollerei gemacht. Es istuns auch nicht leichtgefallen.Bundesminister Walter Riester
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Wir haben es zum jetzigen Zeitpunkt ausschließlichwegen der Haushaltskonsolidierung gemacht. Lang-fristig ist es aber sinnvoll – das nehme ich gerne auf –,die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zu verzahnen,allerdings nicht so, wie wir es von Ihnen schon ein-mal gehört haben: daß die Arbeitslosenhilfe auf dieEbene der Sozialhilfe kommt. Das ist mit uns nicht zumachen.
– Das könnte ich Ihnen noch aus Bundestagsdrucksa-chen vorlesen, wie es mein Vorgänger auch vertretenhat. Ich werde das nicht machen.Wir verzahnen das so – in der Ausrichtung bin ichmit Herrn Merz einig –, daß wir möglichst viele Lei-stungsempfänger aktiv in den Arbeitsprozeß einbinden.Das ist unser Ziel. Wir haben bei der Erstellung desHaushalts den ersten Schwerpunkt nicht nur darauf ge-legt, daß die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpoli-tik weitergeführt und verstetigt werden, sondern auchdarauf, daß wir zielgerichtet dort am meisten einsteigen,wo der größte Bedarf ist: bei Jugend- und Langzeitar-beitslosigkeit. Hier zeigen sich erste gute Erfolge, diewir ausbauen werden.Wir sehen auch, daß die Ausrichtung der Instrumenteüber die Veränderung des Sozialgesetzbuchs III zu grei-fen beginnen. Wir werden in der Reform des Sozialge-setzbuchs III diesen Weg konsequent weiter beschreiten.Dabei hoffe ich auf Ihre Unterstützung.Wir haben zweitens den Haushalt so ausgerichtet, daßdurch das Reformprojekt eine langfristige Sicherung desAlterssicherungssystems organisiert werden kann, ohnedaß die Rentenversicherung weniger Leistungen ge-währt. Statt dessen statten wir sie mit mehr Mitteln aus.Wir wollen die Rentenversicherung stabilisieren.Wir werden aber auch hinbekommen, daß diejenigen,die aktiv arbeiten, also die Renten bezahlen, bezahlbareBeiträge zu erbringen haben. Das ist ein Punkt, der ganzwichtig ist. Hier würde ich mir manchmal – das will ichhier offen sagen – von den, wie Sie wissen, mir naheste-henden Gewerkschaften wünschen, daß sie in ihr eige-nes Grundsatzprogramm hineinschauen; denn darinsteht, daß die Senkung der Lohnnebenkosten eine vor-rangige Aufgabenstellung ist. Wir gehen jetzt an dieseAufgabe heran.
Das ist nicht immer bequem, aber das ist der Unter-schied zwischen der Beschlußlage und dem Machen.Ich würde mir, auch wenn Sie berechtigterweise inder Opposition eine andere Rolle haben, hier durchauswünschen, daß ein so schwieriger, für die Menschen imLande aber ungeheuer wichtiger Reformprozeß von Ih-nen nachhaltig unterstützt wird.
Es ist so verführerisch, das süße Gift von Verhetzung indie Menschen zu streuen.
Aber ich sage Ihnen eines: Das wird sich mittelfristigrächen;
denn die Leute werden Sie beim Wort nehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?
Walter Riester; Bundesminister für Arbeit und Sozi-
alordnung: Ja, natürlich.
Herr Riester, ich
möchte Sie fragen, welche Rolle Sie in den Jahren, be-
vor Sie Arbeitsminister geworden sind, bezüglich der
„IG-Metall-Zeitung“ in der IG Metall gespielt haben?
Ich bin seit 25 Jahren Mitglied dieser Gewerkschaft und
lese seither die „IG-Metall-Zeitung“. Viele Jahre lang
waren Sie der zweitwichtigste Mann der IG-Metall. Sind
sie damals nicht auch dem süßen Gift der Verhetzung
gegen Norbert Blüm und seine Sozialpolitik erlegen,
oder haben Sie die Artikel, die dort geschrieben wurden,
alle vergessen?
Walter Riester; Bundesminister für Arbeit und Sozi-
alordnung: Ich kann Ihnen auf die Frage, wie viele Jah-
re, antworten: Es waren vier Jahre. Auf die zweite Frage
kann ich antworten: Ich bin schon, bevor ich zweiter
Vorsitzender der IG Metall war, jedem Ausschlußantrag
gegen meinen Kollegen Norbert Blüm massiv und ent-
schieden entgegengetreten. Ich habe ihn verteidigt, weil
man so etwas aushalten muß. Ich habe die Verunsiche-
rungskampagne nie mitgemacht, und ich werde das auch
zukünftig nicht tun. Die Saat jedoch, die Sie ausstreuen,
geht leider auf. Aber Sie wird sich auch gegen Sie wen-
den.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Hermann Kues dasWort.Bundesminister Walter Riester
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4730 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester,ich glaube, die Saat, die Sie im vergangenen Jahr gesäthaben, ist schon am letzten Sonntag aufgegangen. Siewird am kommenden Sonntag auch wieder aufgehen.
Herr Riester, sie haben ein Kernproblem: Ihre Sozial-und Rentenpolitik ist zum Anhängsel der Finanzpolitikverkommen.
Wer den Sozialstaat zukunftsfähig machen will, darfsich nicht ausschließlich von fiskalischen Überlegungenleiten lassen. Das muß schiefgehen. Wer ihn zukunftsfä-hig machen will, muß eigene Ziele formulieren und einin sich schlüssiges Konzept vorlegen.Wir brauchen eine intelligentere Sozialpolitik, mit derman im Endeffekt auch Geld sparen kann. Ich möchteIhnen ein Beispiel nennen: 2 Millionen Menschen wer-den in Deutschland entweder über die Arbeitslosenhilfeoder über die Sozialhilfe oder über beides unterstützt.Sie bekommen lediglich Geld ausbezahlt. Wir machenuns aber keine Gedanken darüber, wie sie im Arbeits-und Wirtschaftsleben mitwirken können. Das ist falschund muß korrigiert werden.
In diesem Sinne unterstütze ich ausdrücklich denVorschlag, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zu-sammenzufassen, weil ich glaube, daß es darum gehenmuß, für die Menschen Arbeit zu organisieren und ih-nen, soweit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht genü-gend Geld für sich erwirtschaften können, Geld in Formeines Kombilohnes dazuzugeben. Darum muß es gehen.Das ist finanzpolitisch und auch sozialpolitisch vernünf-tig.
Im Wahlkampf haben Sie, Herr Minister Riester, dieMenschen glauben gemacht, eine Reform der Renten-versicherung sei nicht notwendig und jegliche Absen-kung des Rentenniveaus sei unsozial.
Sie haben damit schlichtweg Sachverhalte geleugnet.Davon werden Sie jetzt eingeholt.Der Bundeskanzler hat am 17. Februar 1999 gesagt:Ich stehe dafür, daß die Renten steigen wie dieNettoeinkommen.Sie haben sich jetzt entschlossen, die Rentnerinnen undRentner deutlich stärker zu belasten, als dies in unseremKonzept je vorgesehen war, nämlich um 100 DM mo-natlich. Die Quittung für diesen Wahlbetrug haben Siein den vergangenen Wochen im Saarland, in Thüringenund auch in Nordrhein-Westfalen erhalten.
Wir lehnen Ihre Rentenpolitik aus folgenden fünfGründen ab: Erstens. Ihnen fehlt jegliche Rentenphilo-sophie. Sie haben kein Konzept.
Sie greifen mit improvisierten Maßnahmen brachial undwillkürlich in die Systematik ein, ohne auch nur in An-sätzen erkennen zu lassen, wohin die Reise mit dieserRegierung in der Rentenpolitik geht. Ich zitiere dazu die„Süddeutsche Zeitung“ vom 30. Juli 1999:Riesters Rentenkonzept ist äußerst dürftig, weil esdie gesetzliche Rentenversicherung ziellos in dieZukunft entläßt.
Zweitens. Sie betreiben Rentenpolitik nach Kassen-lage und ruinieren damit das Vertrauen in die gesetz-liche Rentenversicherung. Sie können ganz sicher sein:Ihnen und dem Bundeskanzler glaubt in Deutschland in-zwischen niemand mehr, daß Sie nach zwei Jahren wie-der zur Anpassung an die Nettolöhne zurückkehren wer-den.
Drittens. Trotz anderslautender Versprechungen wirddie Ökosteuer nicht an die Beitragszahler weitergege-ben, sondern zum Stopfen von Haushaltslöchern heran-gezogen. Das können wir an Hand der Zahlen belegen.Das haben wir Ihnen mehrfach vorgetragen. Es müßtesonst wesentlich mehr in die Rentenkasse fließen.
Viertens. Mit der Einführung der Mindestrente höh-len Sie das Versicherungsprinzip in der Rentenversiche-rung aus. Ich habe manchmal das Gefühl, daß Ihnen dieRentenkürzungen gerade recht kommen, weil Sie damitdie Altersarmut schaffen, die Sie dann mit der Mindest-rente bekämpfen wollen.
Fünftens. Die von Ihnen angestrebte Rente mit 60Jahren, von der Sie auch jetzt wieder reden, ist nichtbezahlbar, und Sie wissen das. Ich nenne Ihnen einmaldie Zahlen. Nach den Angaben des VDR betragen dieKosten für 100 000 Frührentner 3,5 Milliarden DM proJahr. Bei 500 000 Frührentnern sind das rund 17,5 Milli-arden DM pro Jahr bzw. ein Beitragspunkt, den Sie denBeitragszahlern aufbürden. Wie wollen Sie den Men-schen eigentlich erklären, daß das ein Beitrag zur Gene-rationengerechtigkeit ist, wenn Sie einerseits gravieren-de Rentenkürzungen vornehmen, andererseits aber Geldder Rentenversicherung für Vorruhestandsregelungen,die arbeitsmarktpolitisch höchst zweifelhaft sind, mitvollen Händen hinauswerfen?
Der Schaden, den Sie mit Ihren unausgegorenen Re-zepten hervorrufen, ist immens. Sie zerstören mit IhrenManipulationen das Vertrauen, und – dieser Punkt istnoch wichtiger, weil Sie es ja angemahnt haben – Sie
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4731
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untergraben damit nachhaltig die Veränderungsbereit-schaft in der Bevölkerung.
Wir stehen dazu, daß in der gesetzlichen Rentenversi-cherung umgesteuert werden muß. Dazu muß auch dieältere Generation einen Beitrag leisten. Aber Sie wissendoch ganz genau: Die von Ihnen wider besseres Wissenund gegen alle Expertenkritik durchgeführte Abschaf-fung des demographischen Faktors, den wir eingeführthaben, kostet die Rentenversicherung 4,3 MilliardenDM pro Jahr. Wenn Sie das Sparpaket hinzunehmen,dann kommen weitere Belastungen auf die Rentenversi-cherung in Höhe von 10 Milliarden DM dazu. Damitschaffen Sie die Probleme, die die zukünftige Generati-on aushalten muß.Wir sind als CDU/CSU-Fraktion trotzdem bereit, inein Gespräch über einen Rentenkonsens einzutreten. Ichsage aber auch ganz deutlich, daß bestimmte Vorausset-zungen erfüllt sein müssen. Erstens. Die willkürlichenSparaktionen müssen zurückgenommen werden. DieAusarbeitung der Reform der Rentenversicherung mußvon der aktuellen Haushaltssituation getrennt werden.Zweitens. Die beitragsbezogene Rente muß weiterhinKern des Alterssicherungssystems bleiben. Für uns gilt:Rente ist Alterslohn für Lebensleistung.
Ich sage ganz deutlich: Wir wollen durchaus überlegen,wie man Familienleistungen in der Rentenversicherungstärker berücksichtigen kann. Denn wer Kinder aufzieht,muß bei der Altersversorgung auch angemessen begün-stigt werden.
Drittens. Eine Reform muß die Gerechtigkeit zwi-schen den Generationen wahren. Deshalb muß der de-mographische Faktor in der Rentenversicherung wiedereingeführt werden, weil er die Altersentwicklung be-rücksichtigt. Wir stehen mit dieser Meinung nicht alleinda, wie sie wissen. Auf unserer Seite stehen der VdKund der DGB.
Viertens. Die beitragsfinanzierte Rente muß um ka-pitalgedeckte Elemente ergänzt werden. Das ist unstrei-tig; wir sind bereit, auch darüber zu diskutieren. ZurStärkung der privaten Altersvorsorge haben Sie aberbislang kein Konzept vorgelegt, auf dessen Grundlagesich diskutieren ließe.Inzwischen gibt es in der öffentlichen Meinung einebreite Basis für einen Rentenkonsens. Der Vorschlagzum Beispiel des DGB könnte eine solche Basis sein.Der VdK begrüßt das Konzept als diskutabel. Die Grü-nen befürworten mittlerweile ebenfalls einen demogra-phischen Faktor. Der einzige, der sich bislang jedemGespräch widersetzt, sind Sie, Herr Riester. Ich zitierenoch einmal die „Süddeutsche Zeitung“ vom 10. Sep-tember:Mittlerweile gehört Walter Riester zu den letztenGefangenen, die tapfer im eigenen Käfig ausharrenund sich dem demographischen Faktor verweigern,den die SPD im Bundestagswahlkampf erfolgreichals Begriff für die Kürzung der Renten diskreditierthat.Das ist die Wahrheit.
Wenn Sie an einem Rentenkonsens interessiert sind,Herr Riester, kann ich Ihnen nur sagen: kommen Sie ausIhrem Käfig heraus, und reden Sie mit uns!Die Diskussion um die Rente verstellt den Blick aufden Arbeitsmarkt. Aber gerade sie wollten sich an denErfolgen auf dem Arbeitsmarkt messen lassen. DieBilanz nach knapp einem Jahr ist verheerend: Die Zahlder Arbeitslosen verharrt mit über 4 Millionen auf einemunerträglich hohen Niveau. Seit dem Regierungswechselist diese Zahl sogar um rund 60 000 gestiegen. Die Bun-desanstalt für Arbeit schreibt dazu:Der Arbeitsmarkt tritt auf der Stelle. Eine Besse-rung kann kurzfristig nicht erwartet werden.
– Diesen Bericht können Sie bei der Bundesanstalt fürArbeit anfordern. Die Zahl der Arbeitsplätze ist seit demRegierungswechsel bis zum Dezember des letzten Jahresum 350 000 gesunken. Diese Zahl ist jedem zugänglich.
– Ich sage Ihnen gern, woher Sie diese Zahl bekommenkönnen, nämlich vom Institut für Arbeitsmarkt- und Be-rufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit.Die Zahlen für 1999 verschweigen Sie uns. Aber derjüngste Bericht der Bundesanstalt für Arbeit – diese Be-hörde untersteht Ihnen ja – läßt auch hier nichts Guteserahnen. Dort heißt es: Die Daten sprechen dafür,daß die Zahl der Erwerbstätigen, anders als 1998,im bisherigen Jahresverlauf nicht weiter gewachsenist.Das ist die Wahrheit, vor der Sie sich drücken.Jetzt noch etwas zum Programm für 100 000 Ju-gendliche, das Sie wie eine Monstranz vor sich hertra-gen. Dieses Programm versuchen Sie ständig als Erfolgzu verkaufen. Wenn Sie es sich näher ansehen – dieseZahlen müßten eigentlich auch Ihnen zugänglich sein –,dann stellen Sie fest, daß das eine teure Mogelpackungzur Bereinigung der Statistik ist.
Ich will Sie einmal an einer Ausarbeitung messen, dieSie der SPD-Bundestagsfraktion zur Verfügung gestellthaben und die auch mir vorliegt. Dort heißt es:Ein besonderes Anliegen des Sofortprogramms istes, Jugendliche zu erreichen, die nicht beim Ar-beitsamt registriert sind. Jugendliche, die überwie-gend aus einem schwierigen sozialen UmfeldDr. Hermann Kues
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4732 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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kommen, in der Regel keinen Schulabschluß haben,sollen durch Maßnahmen … motiviert werden, eineAusbildung, Qualifizierung oder Arbeit aufzuneh-men.Um diese Jugendlichen geht es.Jetzt schauen wir uns einmal die Realität an: DerAnteil der Jugendlichen ohne Schulabschluß in demProgramm – der Kollege Laumann hat häufig die Zahlvon 60 000 Jugendlichen erwähnt –, die es ganz schwerhaben unterzukommen, beträgt gerade einmal 17 Pro-zent. Sie reden immer davon, 100 000 Jugendliche inArbeit und Ausbildung zu bringen.
– Entscheidend ist: Die anderen 83 Prozent gehören zu-mindest nicht zu der Gruppe, die als Maßstab genanntwerden: Die haben Abitur gemacht, die haben Real-schulabschluß oder Hauptschulabschluß. Das ist eineandere Klientel als die, die Sie in Ihrer Zielvorstellungangeben.
Ich sage Ihnen: Entscheidend ist nicht, wie viele Ju-gendliche in eine Maßnahme eintreten, sondern wieviele von ihnen nach Abschluß der Maßnahme in Aus-bildung oder Beschäftigung stehen.
Die vorliegenden Zahlen sind erschreckend: Von den70 000 Jugendlichen, die die Maßnahmen absolviert ha-ben, sind knapp 20 000 wieder arbeitslos. Bei 10 000Jugendlichen heißt es: „sonstiger Verbleib“. Bei 3 500heißt es: „noch nicht untergebracht“. Bei 9 400 heißt es:„der Verbleib ist unbekannt“. Dagegen sind lediglich2 300 in außerbetriebliche Ausbildung und nur 8 900 inArbeit vermittelt worden.Sie haben also nicht 100 000 Jugendliche in Arbeitoder Ausbildung gebracht, sondern gerade einmal rund11 000. Für jeden dieser Jugendlichen haben Sie – wirsind ja in einer Haushaltsdebatte – rund 220 000 DMausgegeben.
Den notwendigen Strukturreformen sind Sie bislangausgewichen. Systematische Änderungen, die Menschenin Arbeit bringen, haben Sie nicht angepackt. Ich glaube,daß Sie mit Ihrer Politik auf verlorenem Posten stehen.Die einzigen, die das noch nicht erkannt haben, sind Sieselbst.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die
Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Ich weiß nicht, ob Sie sich im Zeitalter der vonComputern entwickelten Wahlplakate noch an eines derfrühen Grünen-Plakate – eine Zeichnung, auf der dieWeltkugel zu sehen war – erinnern. Dort hieß der Slo-gan: „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur ge-borgt“. Ich sage das deshalb, weil gerade wir Grünensehr früh erkannt haben, daß die Nachhaltigkeit von Po-litik – eine Politik für die zukünftigen Generationen –ein zentraler gesellschaftlicher und sozialpolitischerAuftrag ist.Wenn Herr Kues hier behauptet, wir würden um desSparens willen sparen, dann hat er einen ganz wesentli-chen Aspekt in dieser Sache nicht erkannt. Das Wirt-schaften zu Lasten der zukünftigen Generationen istschlichtweg extrem unsozial.
Deswegen gehen wir diesen sehr unbequemen Weg;er ist nicht populär. Ich sage Ihnen aber eins: Ich bin festdavon überzeugt, daß gerade das auf die Dauer tragenwird, und daß wir damit die gesamte gesellschaftspoliti-sche Situation verbessern werden. Die Menschen wer-den das in Zukunft erkennen.Die nachhaltige Finanzpolitik, der Schuldenabbauund die Konsolidierung der Staatsfinanzen sind keinSelbstzweck. Vielmehr ist das ein Mittel, um für die Zu-kunft die Handlungsfähigkeit wiederherzustellen und umdie soziale Sicherheit auch noch im nächsten Jahrtau-send zu gewährleisten.Die vorgefundene Situation ist untragbar. 1,5 Billio-nen DM Schulden – das kann man sich nicht vorstellen,wie wir heute schon vom Wirtschaftsminister gehört ha-ben. Vorstellen kann man sich aber, daß jede vierteMark des Bundeshaushalts für Zinsen ausgegeben wird.Das ist eine Spirale, die gestoppt werden muß. Wer nichtbereit ist, den Abbau der Nettoneuverschuldung voran-zutreiben, wird die zukünftigen sozialen Probleme selberproduzieren.
Darüber besteht in unserer Fraktion und in der rot-grünen Koalition Konsens.
– Frau Adam-Schwaetzer,
das heißt auch, daß wir keinen anderen Weg sehen, auchin der Sozialpolitik diese nachhaltige Finanzpolitik, die-se Konsolidierung durchzusetzen. Denn wir wollenDr. Hermann Kues
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nicht, daß die zukünftigen Generationen Ihre Suppeauslöffeln müssen. Insofern müssen wir schon Verant-wortung übernehmen.
Das bedeutet, daß der Sozialhaushalt mit einer Einspa-rung von 7,4 Prozent seine Einsparleistung wie alle an-deren Haushalte erbringen muß. Auch wenn die Verlok-kungen, zu schieben oder zu strecken, sehr groß sind,um einigen unbequemen Konflikten aus dem Weg zugehen, werden wir das nicht tun. Wir wissen, daß dieserHaushalt Einschnitte bedeutet. Sie sind aber notwendig,und sie sind sozial vertretbar.Dabei nehmen wir die Bedenken der Betroffenen sehrernst. Weiß Gott geht es uns nicht um ein, wie HerrZwickel behauptet hat, „Augen zu und durch“. Wir fra-gen uns bei diesem Haushalt bei jeder einzelnen Maß-nahme, wie die Alternativen aussehen können. HerrZwickel und jeder andere – auch Sie, meine Damen undHerren, und Sie, Herr Kues – ist aufgerufen, in diesemPunkt mit uns in einen Wettstreit zu treten und Vor-schläge zu machen. Aber gerade ihre Vorschläge zurKonsolidierung des Haushaltes, eines Schuldenberges,den Sie produziert haben, führen weiter in den Schul-denstaat und sind sozialpolitisch ungerecht.
Die Konsolidierung ist auch ein Zukunftspro-gramm. Warum ist das so? Nicht nur, weil sie die So-zialkassen vor einer weiteren Erosion schützt, die Sieeingeleitet haben, sondern vor allen Dingen, weil wirmit diesem Haushalt den Grundstein für längst überfälli-ge Reformen der sozialen Sicherungssysteme legen.
Während Sie in den Innenstädten stehen und mit billigenKampagnen gerade die ältere Generation vor Ihren Kar-ren spannen wollen – Herr Kues hat eben die entspre-chenden Pamphlete vorgelesen –, stellt sich der Sozial-minister vor Sie hin und hat den Mut, die Wahrheit beimNamen zu nennen.
Die heutigen Rentnerinnen und Rentner haben nichtdas Problem. Die Renten werden – das haben Sie ge-hört – steigen. Es wird keine Einbußen geben, wie Siees fälschlicherweise immer wieder suggerieren. DieRenten werden auch bei einer Anpassung entlang der In-flationsrate stärker steigen, als Sie das in den letztenfünf Jahren zustande gebracht haben, meine Damen undHerren.
Das ist nicht das Problem, um das es geht. In Wahrheitliegt das Rentenproblem in der Zukunft. Das wissen Siesehr genau. Der erste Schritt zur Rentenanpassung, dermit dem vorliegenden Haushalt vorgenommen wird,mildert zwar das Problem. Das ist richtig. Aber dieWahrheit ist auch – das hat der Minister hier sehr deut-lich gesagt –, daß eine Reform der Rentenstruktur aufallen Ebenen notwendig ist. Der Minister hat die Eck-punkte dafür vorgelegt. Wir haben unsere Vorschlägedazu eingebracht. Wir befinden uns in der Diskussion.Wir brauchen diese Strukturreform deshalb, weil auchdie junge Generation einen Anspruch auf eine vernünfti-ge Rente im Alter hat, ohne daß gleichzeitig die Bei-tragssätze explodieren.Die zukünftige Rentnergeneration wird aber auch einweiteres Standbein brauchen, nämlich die private Al-tersvorsorge. Gleichzeitig müssen wir Beitragsstabilitätgewährleisten. Dazu wird die Ökosteuer ihren Beitragleisten, aber nicht alleine. Auch die Rentnerinnen undRentner müssen ihren Beitrag dazu leisten; dennschließlich wird die Gesellschaft immer älter, und dieRentenlaufzeiten werden immer länger.Natürlich ist in unserem Konzept die Kopplung derRentenentwicklung an die Lohn- und Gehaltsentwick-lung vorgesehen. Aber wir müssen gleichzeitig einesehr offene und ehrliche Debatte über das langfristigeRentenniveau, dessen Entwicklung und auch über dieRentenformel führen. Wenn uns dies gelingt, dann wer-den auch die Rentnerinnen und Rentner bereit sein, ihreEnkel an die Hand zu nehmen und einen neuen Gene-rationenvertrag abzuschließen. Das ist das Zukunfts-projekt.Walter Riester hat sehr deutlich darauf hingewiesen:Im Rahmen eines Haushalts wird ein neuer sozialpoliti-scher Ansatz eingebracht. Es ist der Versuch, die öf-fentliche und die private Vorsorge Hand in Hand gehenzu lassen. Damit wird quasi eine neue Art eines ver-netzten Wohlfahrtsmixes zur Debatte gestellt. Abge-stützt und armutsfest gemacht wird dieser Ansatz durcheine Grundsicherung für Rentnerinnen und Rentner so-wie auch durch den Aufbau einer eigenständigen Alters-sicherung für Frauen.
Aus grüner Perspektive ist das ein zukunftsweisenderAnsatz, an den wir mit unseren Rentenvorstellungensehr gut andocken können. Ich stimme mit meinemKollegen Metzger – er hat das heute morgen schon ge-sagt – darin überein: Es wird eine sehr offene Debatteüber diese Vorschläge geführt werden. Der Ansatz zurReform der Rente ist nur ein Teil des Haushalts, an demdeutlich wird, daß es um mehr geht, nämlich daß es umStrukturreformen und auch um eine neue Sozialpolitikgeht.Es ist klar, daß in der Öffentlichkeit eine Diskussion,die von Ihnen angeheizt wurde – das ist in der Sozial-politik so –, über die Frage der Gerechtigkeit geführtwird. Diese Frage sollen und können wir sehr offen dis-kutieren, weil sie nur dann zu beantworten ist, wennman nicht nur den Haushalt, sondern den gesamtenKontext unserer Politik berücksichtigt. Erstmals seit20 Jahren sind in diesem Jahr die Nettolöhne gestiegen.Das ist der erste Punkt, den es zu beachten gilt.
Dr. Thea Dückert
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4734 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Zweitens. Erstmals sind die Lohnnebenkosten gesunken.Dies ist ein Resultat der Ökosteuer und der Senkung derSteuersätze.
Drittens. Das neue Familienlastenausgleichsgesetz bringtallein Familien mit zwei Kindern 1 200 DM mehr in dieGeldbörse. Alle verschiedenen Reformen zusammenge-nommen bringen der Durchschnittsfamilie im Jahr 2002bis zu 3 000 Mark mehr in die Geldbörse.Wer dies nicht sieht und auch den Hintergrund unse-rer Sozialpolitik ignoriert, zum Beispiel daß der Begriffder Zumutbarkeit abgeschwächt und die dreimonatigeSchikane für Arbeitslose abgeschafft worden ist, derkann natürlich auch nur ein einseitiges Urteil über unse-re Politik fällen, Wir haben eine neue sozialpolitischeund materielle Entwicklung bereits durch das, was wirdurchgesetzt haben, in Gang gesetzt. Diese Entwicklungist Zeugnis einer sozial verantwortlichen und sehr enga-gierten Politik. Wer nicht sieht, daß sich die Einkom-mensschere nicht vergrößert, sondern verkleinert hat,der wird allerdings weiterhin von einer Schieflageschwadronieren.
Wir haben diese neuen Prioritäten gesetzt. Wir denken,daß wir auf einem guten Weg sind.Wegen dieses Konsolidierungsbedarfs, den wir indiesem Haushalt haben und den wir auch als Sozialpo-litikerinnen anerkennen – das fällt uns nicht immerleicht –, haben wir auch Probleme. Das ist ganz klar.Aber während die SPD Seite an Seite mit uns für einenvernünftigen Haushalt und für eine gute Sozialpolitikkämpft, schickt die CDU Exponenten vor, die zum Bei-spiel fordern, das Arbeitslosengeld für den ersten Monatzu streichen. Wir legen einen Sparhaushalt vor, in demkeine Kürzung des Arbeitslosengeldes, sondern eineSteigerung entlang der Inflationsrate vorgesehen ist. Dasmag viele Erwartungen enttäuschen, das sehe ich ein.Aber es ist keine Leistungskürzung.
Die Kürzungen betreffen die Zahlbeträge, die fürEmpfänger von Arbeitslosenhilfe in die Sozialversiche-rung eingezahlt werden. Wie wir schon vorhin gehörthaben, wäre es besser, diese Zahlbeträge systematisch ineine neue Struktur der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, dasheißt in eine Konzeption der Grundsicherung, wie siedie Grünen schon vor Jahren entwickelt haben, einzu-binden. Das ist nicht so schnell zu leisten. Deswegen istzunächst einmal dieser Schritt zu gehen. Der Weg istrichtig. Wie Herr Eichel schon heute morgen gesagt hat,müssen wir da in diesem Haushalt bittere Pillen schluk-ken.Wir müssen eine weitere bittere Pille schlucken.Auch die ist systematisch zu vertreten. Es handelt sichum die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe. Die-se Streichung betrifft eine Gruppe von 72 000 Men-schen, Referendare, Zivildienstleistende und andere, dienunmehr wie viele andere auch keinen Anspruch aufArbeitslosenhilfe erwerben können. Wir hätten dieZahlung von Arbeitslosenhilfe für diese Gruppen gernein den Kontext einer Neuregelung der Arbeitslosen- undSozialhilfe gestellt. Das ist noch zu leisten. Der Schrittder Angleichung der Bedingungen an dieser Stelle istschwierig, aber im Zusammenhang mit der Haushalts-konsolidierung notwendig.Trotz dieser schweren Schritte haben wir in diesemHaushalt gleichzeitig einen ganz zentralen Akzent ge-setzt. Für uns steht weiterhin der Kampf gegen die Ar-beitslosigkeit oben auf der politischen Agenda. Wir ha-ben das „Bündnis für Arbeit“, das Sie nicht zustande ge-bracht haben, auf den Weg gebracht. Wir haben gleich-zeitig als eines der zentralen Ergebnisse dieses Bündnis-ses das JUMP-Programm initiiert. Man hat es hier in,wie ich finde, sehr unflätiger Weise angegriffen. DasJUMP-Programm erfaßt im Moment 100 000 Jugendli-che. Wenn Sie sich hier hinstellen und behaupten, eshandele sich um eine Mogelpackung, dann weiß ich,ehrlich gesagt nicht, wovon Sie sprechen.
Sie haben die Probleme der Jugendarbeitslosigkeit be-reits in der Vergangenheit nicht ernst genommen. Jetztwollen Sie ein Programm diskreditieren, das erfolgreichist. Wir werden es fortsetzen.
Die Kritik, die zum Beispiel auch der Zentralverbanddes Deutschen Handwerks übt, ist nur ein Manöver, umvon einer anderen Entwicklung abzulenken. Es gehtdarum, daß gerade das Handwerk seine Versprechungenhinsichtlich der Ausbildungsplätze nicht einhält.Wir haben das Problem der Jugendarbeitslosigkeitweiterhin, und deswegen werden wir den Kampf dage-gen engagiert fortführen. Wir werden gerade im Bereichder Arbeitsmarktpolitik durch das „Bündnis für Arbeit“mit neuen Konzepten, durch die Brücken in den Arbeits-markt hinein gebaut werden, mehr tun. Das ist wichtig,Sie haben Stop-and-go-Politik gemacht; wir verstetigenüber diesen Haushalt die aktive Arbeitsmarktpolitik.Ich sage Ihnen aber auch eines: Dieses Plädoyer füreine aktive Arbeitsmarktpolitik und für eine Arbeitsför-derung beinhaltet auch für uns keinen Bestandsschutzeinzelner Instrumente. Wir prüfen die Instrumente deraktiven Arbeitsmarktpolitik auch auf ihre Effizienz. Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin, den-ken Sie bitte an Ihre Redezeit!
Ja, ich komme sofort zum Schluß, Frau Präsidentin.Dr. Thea Dückert
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Im Zuge der SGB-III-Reform wollen wir eine Straf-fung des Angebotes der aktiven Arbeitsmarktpolitikdurchsetzen.Alles in allem sind wir, was die Arbeitsmarktpolitik,die Rentenpolitik und die Sozialpolitik anbelangt, aufeinem Reformkurs. Mit diesem Haushalt machen wirbeides: Wir stabilisieren das Sozialsystem und schaffeneinen politischen Handlungsspielraum, und wir gehenengagiert und mutig eine Reform an, für die Sie nie denMut hatten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat jetzt die Kollegin Dr. Irmgard
Schwaetzer.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der langanhaltendeBeifall eben wirkte auf mich – ich bin auch lange genugin einer Fraktion gewesen, die die Regierung unterstützthat – wie die letzte Ermunterung zum Durchhalten. Of-fensichtlich ist das auch nötig.In der Debatte über den Haushalt des Bundesmi-nisters für Arbeit und Sozialordnung ist in jedem Jahrein Rekord zu vermelden. Dieser Haushalt ist seit lan-gem der größte Einzelplan des Bundeshaushalts. In die-sem Jahr betragen die Gesamtausgaben knapp 170 Mil-liarden DM. Damit geht jede dritte Mark des Bun-deshaushalts in den Bereich Arbeit und Soziales. MeineDamen und Herren, das ist auch ein Ausweis dafür, daßder Sozialstaat nicht nur im Grundgesetz und aufdem Papier steht, sondern daß jede Regierung – natür-lich auch die letzte Regierung aus CDU/CSU und Libe-ralen – ihren sozialstaatlichen Verpflichtungen nach-kommen will. Dies ist dann auf Heller und Pfennig be-legbar.Herr Bundesarbeitsminister, Herr Kues hat IhrenHaushalt eben als Anhängsel der Finanzpolitik bezeich-net. Ich möchte es etwas anders ausdrücken: Sie, HerrRiester, legen den Offenbarungseid für eine traditionelleSPD-Sozialpolitik vor, ohne daß dabei ein schlüssigesanderes Konzept überhaupt sichtbar würde.
Natürlich dämmert es Ihnen – Herr Dreßen, das machtwohl Ihren Galgenhumor aus –, daß Sparen mit Lei-stungseinschränkungen verbunden ist. Das wollen Siebisher nicht wahrhaben. Deswegen ist das Haushaltssa-nierungsgesetz, das Sie parallel zum Haushalt vorsehen,schon ein Ausweis dafür, daß Sie ans Eingemachte ge-hen wollen. Das ist auch richtig und wichtig. Im übrigenist es, Frau Dückert, keine neue Erkenntnis in diesemHaus, daß Sparpolitik eine Politik zugunsten der näch-sten Generation ist.
Vielmehr ist es ganz selbstverständlich das Ziel auch derSparanstrengungen der alten Regierung gewesen, die –das wissen wir nun alle – durch die damalige Oppositionvor allen Dingen im Bundesrat verhindert worden sind.Aber eines kann ich Ihnen versichern, meine Damenund Herren: Wir werden nicht den Weg von Oskar La-fontaine gehen und blockieren. Für uns ist Sparen näm-lich immer mit Gestalten verbunden gewesen. Genausowerden wir das auch weiterhin halten.
Das Zurückdrängen der Staatsverschuldung und dieEntlastung der sozialen Sicherungssysteme sind nunwirklich nicht neu.
All diejenigen, die in der letzten Legislaturperiode dabeiwaren, wissen, daß dies hier diskutiert worden ist, das esaber nur – das werden auch Sie jetzt spüren – mit einerMehrheit im Bundesrat umzusetzen ist. Diese allerdingsgehört nun nicht mehr Ihnen, sondern Sie sind genausowie die alte Bundesregierung darauf angewiesen, mit derOpposition zusammenzuarbeiten.
– Liebe Frau Dückert, immerhin noch drei.
Das ist auch ganz gut so, und wir arbeiten kräftig daran,daß wir im nächsten Jahr auch in Schleswig-Holsteinund Nordrhein-Westfalen der jeweiligen Landesregie-rung angehören werden. Da werden wir die Auseinan-dersetzung mit Ihnen noch suchen.Herr Riester, Sie müssen ja Ihren Beitrag zu dem Ein-sparziel in Höhe von 30 Milliarden DM bringen.Das wird nicht leicht sein. Sie werden auf jeden Fallnoch 2 Milliarden DM suchen müssen. Wir sind ge-spannt, was Sie da noch auftreiben werden. Ich muß sa-gen: Wenn Sie es tatsächlich schaffen, die 30 MilliardenDM, die der frühere Finanzminister Lafontaine zusätz-lich ausgegeben hat, jetzt wieder einzusammeln, dann istdas eine hohe Leistung.Ich sage es noch einmal: Wir werden es uns nichtnehmen lassen, gerade an der Gestaltung der Sozial-politik mitzuwirken. Deswegen schauen wir uns einmalan, was Sie vorgelegt haben, Herr Riester: Das ist einSammelsurium von Maßnahmen, die Sie erstens entwe-der bei uns kopiert haben,
Dr. Thea Dückert
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4736 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
(C)
die zweitens lediglich eine Verschiebung von Lasten aufLänder, Kommunen und andere Sozialversicherungssy-steme darstellen
oder drittens so willkürlich sind, daß sie den gewachse-nen Strukturen in Deutschland nicht gerecht werden.
Ich will für alle drei Kategorien ein kurzes Beispielgeben. Zur ersten Kategorie, den kopierten Maßnahmen,gehört zweifellos die Abschaffung der originären Ar-beitslosenhilfe. Was haben wir mit Ihnen darüber de-battiert! Frau Dückert, Sie waren damals noch nicht da.Aber die anderen wissen noch, was auch der KollegeNiebel eben gesagt hat: Am liebsten hätten Sie uns da-mals – selbstverständlich nur verbal betrachtet – geteertund gefedert.
Die Ausdrücke, mit denen Herr Dreßler uns im Plenumbelegt hat – es kommt nicht von ungefähr, daß sich HerrDreßler bei diesen Debatten nie mehr sehen läßt –, ma-chen sehr deutlich, daß das Verhetzungspotential auf Ih-rer Seite damals voll ausgespielt worden ist.
Zu dem zweiten Punkt, der Kategorie der schlichtenVerschiebung. Da möchte ich wirklich sagen, Herr Rie-ster: Wir können darüber debattieren, ob die Beiträgefür Arbeitslose an die Rentenversicherung den tatsäch-lich gezahlten Zahlbeträgen angepaßt werden. Aber Siemüssen doch wissen, daß das einen Verschiebebahnhofzu Lasten der Kommunen darstellt. Die Kommunenwerden Ihnen das über die Länder im Bundesrat dannauch sagen. Vor allen Dingen die Verschiebung in derPflegeversicherung
ist nun wirklich nicht zu akzeptieren. Die Bundesanstaltfür Arbeit wird dadurch entlastet. Aber trotzdem ist dasAugenwischerei, denn den Zuschuß zur Bundesanstaltfür Arbeit werden Sie etwas senken, und die Folgenwerden die Pflegekasse und im Anschluß natürlich dieBeitragszahler oder die Sozialhilfe zu tragen haben.
Alle Maßnahmen in der Arbeitslosenversicherungmachen eines ganz klar: Sie wollen vermeiden, den Ar-beitslosen schon heute mitzuteilen, daß Sie bei ihnensparen, denn alles, was Sie einsetzen, sind ausschließlichMaßnahmen, die die heute Arbeitslosen erst in Zukunftzu spüren bekommen. Das betrachte ich als ziemlich zy-nisch. Das ist nicht mutig, wie Sie es hier darzustellenversuchen, sondern es ist schlicht zynisch.
Der Höhepunkt ist allerdings die Zumutung in der ge-setzlichen Rentenversicherung. Sie haben den demo-graphischen Faktor abgeschafft. Ich freue mich, daß wirjetzt Unterstützung vom DGB und von den Sozialversi-cherungsverbänden bekommen, den demographischenFaktor wieder einzuführen. Darüber werden wir uns si-cherlich mit Ihnen unterhalten. Aber ich sage Ihnen aucheines: Die anderen Vorschläge vom DGB und von denSozialversicherungsverbänden sind hundertmal diskus-sionswürdiger als Ihre unsystematische Kürzung der Er-höhung der Rentenanpassung in diesem und im nächstenJahr.
Genau dies hat der Bundeskanzler zu dem gesagt,was die alte Koalition gemacht hat. Als wir nämlich dasRentenniveau stufenweise absenken wollten, hat er ge-sagt, das sei unanständig, und hat tränendrüsendrückendmit seiner Mutter argumentiert. Herr Riester, der Bun-deskanzler ist zwar jetzt nicht da, aber Sie sollten ihmeinmal sagen, was Sie seiner Mutter jetzt zumuten,nämlich daß sie jetzt das, was wir in zwölf Jahren ma-chen wollten, in zwei Jahren bluten muß. Das ist unan-ständig!
Lassen Sie mich noch eines dazu sagen. Sie argu-mentieren immer, die Rentner hätten fünf Jahre nur denInflationsausgleich gehabt.
Aber sagen Sie doch dazu: Die Arbeitnehmer hattenauch nicht mehr. In den letzten zwei Jahren gab es je-doch für die Arbeitnehmer eine wirkliche Nettolohnstei-gerung; aber die Rentner wollen Sie jetzt abkassieren.Auch das ist nicht in Ordnung.
Was Sie, meine Damen und Herren, hier bezüglichder Rente vorlegen, ist keine Reform. Vielmehr ist esSchöntuerei, wenn Sie diesen unsystematischen Eingriffals einen Reformansatz bezeichnen. Sie machen viel-mehr Rentenpolitik nach Kassenlage.
Haben Sie, Herr Riester, irgendwann einmal Eckpunktefür eine richtige Reform vorgelegt? Heute haben Sienicht davon gesprochen. Kein Wort hört man mehr da-von. Es würde sich aber lohnen, darüber weiter zu dis-kutieren.Ich wiederhole unser Angebot zur Schaffung einerparteiübergreifenden Rentenreform. In dieser müssenaber eine einfache und überschaubare Lösung für dasHinterbliebenenrecht – wir haben dazu einen Vorschlaggemacht – und die Erwerbs- und Berufsunfähigkeits-rente enthalten sein. Das haben Sie alles einfach wiederzurückgenommen. Es muß Ihnen aber klar sein, daß die-ses nicht so bleiben kann, wie es ist. Darüber müssenDr. Irmgard Schwaetzer
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4737
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wir reden. In der Stärkung der Familienkomponente inder Rente sind wir uns einig; dafür werden wir einenWeg finden. Für all dies haben wir konkrete Vorschlägevorgelegt.Es geht uns aber auch darum, die private Vorsorgeund die betriebliche Altersversorgung zu stärken und indiesem Zusammenhang auch Pensionsfonds zuzulassen.Dies ist aber ohne eine bessere Verzahnung von Sozial-und Steuerpolitik nicht möglich. In diesem Zusammen-hang werden wir mit Ihnen auch noch über Steuersen-kungen für Arbeitnehmer reden müssen. Diese habenSie bisher überhaupt noch nicht vor. Deshalb müssen Sieauch da noch nachbessern. Wir brauchen für einen sol-chen Konsens keinen Rentengipfel, sondern sachlicheGespräche, die Gemeinsames und möglicherweise auchTrennendes ausloten.Zu dem Trennenden, Frau Dückert, gehört ganz si-cherlich die Grundsicherung innerhalb des Rentensy-stems.
Eine Aushöhlung des leistungsbezogenen Rentensy-stems kann nicht richtig sein. Wir können uns darüberunterhalten, wie wir im Rahmen der Sozialhilfe dieMöglichkeiten verbessern. Wir müssen gemeinsam ver-suchen, dieses hinzubekommen, damit das verspielteVertrauen endlich zurückgewonnen wird.Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem Programmzur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit sagen.Auch hier haben Sie, meine Damen und Herren, Hoff-nungen geweckt – Herr Riester und auch Sie haben siegerade wieder aufrechterhalten –, die sich in keiner Wei-se bewahrheiteten. Mit Blick auf das Vertrauen in dieDemokratie halte ich das für eine höchst gefährliche Sa-che. Mit Ihrem Programm haben Sie 160 000 oder, wiewir heute hören, 180 000 Jugendliche in eine kurzfristi-ge Maßnahme eingeschleust.
Was passierte dann? Darauf hat der Kollege vorhinschon hingewiesen.
Inzwischen sind 15 600 wieder arbeitslos. Von 40 000Teilnehmern weiß man überhaupt nicht, wo sie geblie-ben sind. 7 500 haben danach eine Ausbildung abgebro-chen, 8 500 haben echt Arbeit, und nur 1 700 habeneinen Ausbildungsplatz gefunden. Meine Damen undHerren, hören Sie auf, sich und uns und die Jugendli-chen zu belügen! Seien Sie endlich ehrlich, damit wirwirklich daran arbeiten können, Hoffnungsperspektivenaufzubauen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Schwaetzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Frau Kollegin
Schwaetzer, Sie haben gerade Zahlen verwendet, die der
Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Hand-
werkes in seiner Kritik an diesem Sofortprogramm ge-
stern verwendet hat. Ich habe mir die Mühe gemacht,
einmal nachzurechnen und zu recherchieren, inwieweit
diese Zahlen stimmen. Nach Auskunft der Bundesanstalt
für Arbeit stimmt keine dieser Zahlen. Die wenigen, die
tatsächlich in der öffentlichen Diskussion verwendet
werden, sind statistisch unseriös ermittelt. Deshalb hat
die Bundesanstalt gestern in einer Pressemitteilung dies
auch entsprechend dargelegt. Ist Ihnen diese Presse-
mitteilung bekannt, in der die Bundesanstalt für Arbeit
ausdrücklich davor gewarnt hat, zum jetzigen Zeitpunkt,
wo die Effizienz dieses Programms überhaupt noch
nicht bewertet werden kann, mit einer solch pauschalen
Kritik an die Öffentlichkeit zu gehen?
Daß die Bundes-
anstalt, die dem Bundesarbeitsminister untersteht, nichts
anderes sagen kann als „Nun wartet einmal ab!“, ist na-
türlich klar.
Herr Kues hat eben an Hand der Zahlen des Bundes-
instituts für Ausbildung klargemacht, daß der einzige
Fehler an den Zahlen des ZDH ist, daß sie zu niedrig
sind. Die eigentliche Bilanz sieht also noch schlimmer
aus als das, was der ZDH gestern veröffentlicht hat. Das
ist – ich muß es Ihnen sagen – wirklich katastrophal.
Die Kritik kommt nicht von uns allein. Der DGB-
Vorsitzende Schulte hat – ich glaube, es war in der ver-
gangenen Woche – in der Sendung „Monitor“ genau die
gleiche Kritik, nämlich daß dies ausschließlich kurzfri-
stige Durchschleusungsmaßnahmen sind, geäußert. – Sie
haben Erwartungen geweckt; Sie verspielen Vertrauen.
Dies haben aber nicht nur Sie, sondern wir alle auszuba-
den, weil das Vertrauen in die Demokratie verspielt
wurde. Das ist daran das Schlimmste überhaupt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin
Schwaetzer, gestatten Sie noch eine zweite Frage des
Kollegen Hoffmann?
Bitte.Dr. Irmgard Schwaetzer
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4738 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Frau Kollegin
Schwaetzer, Sie kennen doch, so vermute ich, die Syste-
matik dieses Programms. Sie wissen, daß es elf Maß-
nahmearten gibt, die in der Tat zeitlich gestaffelt sind.
Es gibt kurz-, mittel- und längerfristige Maßnahmen,
immer bezogen auf die jeweiligen Zielgruppen.
Es dürfte Ihnen doch auch bekannt sein, daß es von der
Systematik her zu diesem Zeitpunkt viele gibt, die die
Maßnahmen im positiven Sinne schon beendet haben,
und andere, die mit diesen Maßnahmen gerade erst be-
ginnen – insgesamt kommt man zu einer Zahl von
180 000 –,
und der DGB gesagt hat – ich selber hatte Gelegenheit,
an einer Fachtagung zu dieser Thematik teilzunehmen –,
daß dies ein begrüßenswertes und sinnvolles Programm
sei.
Meine Frage ist daher: Sind Ihnen diese durchaus
kritischen, aber positiven Stellungnahmen des DGB be-
kannt? Und kennen Sie die einzelnen Maßnahmearten?
Wenn Sie diese kennen, können Sie nicht zu diesen
Schlußfolgerungen kommen.
Herr Kollege, zu
welchen Schlußfolgerungen ich komme, das müssen Sie
schon mir überlassen.
Selbstverständlich haben wir im Ausschuß lang und
breit über dieses Programm gesprochen. Wir haben im-
mer darauf hingewiesen, daß es im Einzelfall durchaus
sinnvoll sein kann, bestimmte Maßnahmen zum Beispiel
der schulischen Qualifikation nachzuholen. Wir haben
immer gesagt, daß uns der Betrag pro Maßnahme deut-
lich zu hoch erscheint. Was aber vor allen Dingen zu
kritisieren war, waren die Erwartungen, die dadurch ge-
weckt worden sind. Das Programm war doch als Pro-
gramm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Ju-
gendlichen deklariert.
Genau dieses Ziel aber, Frau Kollegin Rennebach, er-
füllt es jetzt und in absehbarer Zeit nicht. Sie haben Er-
wartungen geweckt, die Sie nicht erfüllen können.
Darunter müssen alle leiden, und das ist das Schlimme.
Lassen Sie mich zu einem letzten Punkt kommen.
Seit Sie die Regierung übernommen haben, hören wir
von Herrn Riester, es müsse Ordnung auf dem Arbeits-
markt hergestellt werden. Sehr geehrter Herr Riester, Ih-
re Regulierungsorgie hat dazu geführt, daß das größte
Chaos entstanden ist: durch das Gesetz zur Scheinselb-
ständigkeit und durch die Regelung zu den 630-Mark-
Jobs.
Ich frage mich, wo denn endlich die Gesetzesvorlage
zur Nachbesserung des Scheinselbständigengesetzes
bleibt? Monat für Monat wird sie angekündigt, aber hier
kommt nichts an. Wahrscheinlich wird auch keine
Rückwirkung vorgesehen.
Jetzt wird mit dem Kopf geschüttelt. Der Wirtschaftsmi-
nister und die Wirtschaftspolitiker Ihrer Koalition haben
allen Verbänden erzählt, es werde nachgebessert. Aber
es kommt nichts. Wann legen Sie endlich eine Gesetzes-
vorlage vor?
Die Leute warten darauf, damit die Katastrophe in bezug
auf die Existenzgründer endlich ein Ende hat.
Zu den 630-Mark-Jobs. Inzwischen inserieren die
Zeitungsverleger flehentlich: Bitte nehmt dieses Gesetz
zurück! Sie, Herr Riester, sagen, 2,5 Millionen seien an-
gemeldet. Es wurde aber immer von 5 bis 6 Millionen
gesprochen. Wenn ich nachrechne, stelle ich fest: Ganz
offensichtlich sind 3 Millionen weggefallen.
Das ist ja nun wirklich keine aktive Arbeitsmarkt-
politik. Wenn Ordnung auf dem Arbeitsmarkt Arbeit ko-
stet, wenn dadurch Menschen Beschäftigungsmöglich-
keiten genommen werden, dann ist das eine falsche
Politik. Sie sollten sie korrigieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt in
bezug auf den Haushalt für das Jahr 2000 genug zu de-
battieren, ganz sicher auch in bezug auf die Haushalts-
begleitgesetze. Ich hoffe inständig, daß auch unter kon-
struktiver Zuhilfenahme des Bundesrates die schlimm-
sten Fehler darin noch korrigiert werden können.
Danke.
Das Wort hat nun-
mehr der Kollege Dr. Klaus Grehn von der PDS.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen, liebe Kollegen! Der Haushaltsplan für das lau-fende Jahr erfüllt die Erwartungen, die die Wähler an die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4739
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neue Bundesregierung und an die neue Politik hatten,trotz punktueller Verbesserungen nicht.Was dann im Verlaufe des Haushaltsjahres folgte,mutet wie der Gang durch einen Irrgarten an. Glaubteman bei einigen Entscheidungen, daß sie zu einer ande-ren Politik führen würden, waren andere genau das Ge-genteil. Alles in allem wurde deutlich, daß von den heh-ren Vorstellungen und Zielen aus den Oppositions- undWahlkampfzeiten immer deutlicher abgerückt wurde.Wo ist die Umsetzung der vielen Oppositionspositionenim Sozial- und Arbeitsmarktbereich geblieben?Wir erinnern uns nur allzugut an den Schlagabtausch
– ja, Herr Ostertag, ich erinnere mich daran sehr gut –zum Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm,zum Sozialgesetzbuch III, zur Zukunft der Renten oderden Veränderungen des Bundessozialhilfegesetzes, umnur einiges zu nennen.Ich kenne aus praktischer Arbeit die Hoffnungen derArbeitslosen, Sozialhilfeempfänger, Rentner, Behinder-ten, der an den Rand der Gesellschaft Gedrängten sehrgut. Ich erinnere mich an die in den Anhörungen vertre-tenen Positionen der damaligen Opposition ebensodeutlich. Das alles waren wichtige Gründe, die dieWähler zu ihrer Wahlentscheidung im September 1998veranlaßt haben.Nun hat die neue Bundesregierung den Haushaltsplanfür das Jahr 2000 vorgelegt. Für den Einzelplan 11 läßtsich feststellen: Er verursacht bei Betroffenen Wut undEmpörung, und das nicht, weil sie zu den Legendenträ-gern der hohen Nebenverdienste gehören, Herr Bundes-minister.Dieser Einzelplan setzt weder die vormaligen Oppo-sitionspositionen noch die Wahlversprechen um. Schongar nicht erfüllt er die Erwartungen der Ausgegrenzten,Bedrängten und Benachteiligten. Daß dies keine theore-tische oder gar ideologisch gefärbte Position ist, habendie Wahlen in diesem Jahr gezeigt. Die Ergebnisse sindeine Quittung dafür, daß die sozialen Schieflagen über-wiegend nicht beseitigt, sondern mehrfach vergrößertwurden.Wegen der sozialen Schieflagen haben die WählerRotgrün auf die Stimmenrutsche gesetzt. Bereits amSonntag, wenn die Wahlergebnisse aus Sachsen vorlie-gen, werden Sie erneut einen Beweis erhalten, wie dieSicht der Wähler auf diese Art von Politik ist. Es ist einePolitik, die die Erwartungen an mehr soziale Gerechtig-keit bitter enttäuscht.Unter anderem wegen des Grundsatzes von mehr so-zialer Gerechtigkeit hatte die gegenwärtige Regie-rungskoalition die Zustimmung der Wähler erhalten. Esist nicht akzeptabel, wenn sie sich nun wegen eines imübrigen nicht neuen Sparzwanges von diesem Grundsatzverabschiedet. Statt den Sparzwang als Begründung zurReduzierung des Sozialstaates anzuführen, sollte dasSparen dem höheren Prinzip der sozialen Gerechtigkeitfolgen und es verwirklichen helfen. Statt dessen drohtSparen zur moralischen Keule gegen die sogenanntennicht Sparbereiten zu werden, die allzu häufig wegenihrer finanziellen Schwäche die nicht Sparfähigen sind.Sparen bei den Armen, für Rotgrün nun eine politi-sche Notwendigkeit, wird für die Betroffenen, insbeson-dere die 80 Prozent von ihnen, die jetzt schon wenigerals 1 200 DM im Monat erhalten, zu einer Frage desfinanziellen und materiellen Überlebens. Wie soll – soist der Bundeskanzler zu fragen – mit dieser Politik sei-ne in der Haushaltsdiskussion am 24. Februar formu-lierte Herzensangelegenheit, die Wiederherstellung dersozialen Balancen, umgesetzt werden?Der Haushaltsplanentwurf wird weder dieser Her-zensangelegenheit gerecht, noch bewegt er sich auf derEbene der Wahlversprechen. Er ist nicht sozial gerecht,sondern sozial ungerecht und unanständig, weil er sichauf tiefe Einschnitte bei den Sozialleistungen konzen-triert. Das ist um so verwunderlicher, als sich Rotgründoch am Abbau der Arbeitslosigkeit und nicht am Ab-bau der Sozialleistungen messen lassen wollte.Es ist auffällig, daß in der Haushaltsplanung jeglicherHinweis auf sinkende Arbeitslosenzahlen fehlt. Gerin-gere Ausgaben vor allem bei der Arbeitslosenhilfe undbeim Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit be-ruhen gemäß der Haushaltsplanung keineswegs auf sin-kenden Arbeitslosenzahlen. Statt dessen ist das einzigeArgument die Haushaltssanierung.Immerhin wird selbst in der Bundesanstalt für Arbeitin diesem und in den nächsten drei Jahren mit sinkendenArbeitslosenzahlen gerechnet. Allerdings, Herr Riester, istdies kein Erfolg der Regierungspolitik. Die Ursachen lie-gen vielmehr in der demographischen Entwicklung, dieallerdings ein Ergebnis vormaliger verfehlter Politik ist.Es kann Ihnen auch nicht erspart bleiben zu begrün-den, warum Sie angesichts des Zieles des Abbaus derArbeitslosigkeit gerade bei den Mitteln für die Förde-rung von Maßnahmen zur Erprobung zusätzlicher Wegein der Arbeitsmarktpolitik Einsparungen in Höhe von 20Millionen DM bzw. von mehr als 20 Prozent vorneh-men. Im vorliegenden Haushaltsplanentwurf sucht manvergeblich nach einer Begründung.In der öffentlich geführten Diskussion über die so-ziale Schieflage nimmt die Regierungskoalition be-kanntlich eine Abwehrhaltung ein. Angesichts der kon-kreten Planinhalte ist diese Abwehr unverständlich;denn von den bis 2003 vorgesehenen Einsparungen inHöhe von 150 Milliarden DM entfallen 67 MilliardenDM auf den Bereich des Bundesministeriums für Arbeitund Sozialordnung.Von den im Jahre 2000 im Sparpaket vorgesehenenEinsparungen in Höhe von 30 Milliarden DM entfallennahezu 50 Prozent auf den Einzelplan 11, und von den12,5 Milliarden DM, die der Bundesarbeitsminister ein-sparen möchte, entfallen auf das Kapitel 11 12, also aufdas Kapitel bezüglich der Arbeitslosenhilfe, der Arbeits-fördermittel und des Zuschusses des Bundes an dieBundesanstalt für Arbeit zusammen mit der in Kapitel11 12 bereits eingestellten globalen Minderausgabe inHöhe von 700 Millionen DM sage und schreibe 8,5Milliarden DM bzw. 68 Prozent.Dr. Klaus Grehn
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4740 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Die Ausgaben im Rahmen der Arbeitslosenhilfesollen um 5,8 Milliarden DM niedriger ausfallen, ob-wohl Ende Juni dieses Jahres mit 62 Prozent des Haus-haltssolls bereits mehr ausgegeben worden ist als zuerwarten war, und obwohl man im Ansatz für das Jahr2000 von einer eigentlich gleichbleibenden bzw. leichtsteigenden Zahl von Arbeitslosenhilfebezieherinnenbzw. -beziehern ausgegangen ist. Die Einsparungenwerden allein den Maßnahmen des Sparpakets zuge-schrieben.Der Sozialabbau trifft in besonderer Weise ohnehindie Arbeitslosenhilfebezieherinnen bzw. -bezieher, undzwar durch die Neuberechnung der Beiträge zur Ren-ten- und Pflegeversicherung und die Streichung der ori-ginären Arbeitslosenhilfe. Wenn das Sparpaket damitbegründet wird, daß den zukünftigen Generationen we-niger Schulden hinterlassen werden sollen – dieses Zielist durchaus ehrenwert –, dann wird der kommendenGeneration mit den Maßnahmen, die in diesem Ein-zelplan vorgesehen sind, die Gefahr zunehmender Al-tersarmut aufgebürdet. Immerhin liegen die Rentenkür-zungen pro Jahr des Bezugs von Arbeitslosenhilfe nachheutigen Rentenwerten zwischen 11 und 33 DM monat-lich.Da Arbeitslosenhilfeempfänger in aller Regel Lang-zeitarbeitslose sind, potenzieren sich die Kürzungen er-heblich. Wenn dazu im Haushaltssanierungsgesetz be-merkt wird, das mache nichts, weil ja eine bedarfsorien-tierte Grundsicherung eingeführt werden solle, liegt derVerdacht des Zynischen nahe.Im Jahresdurchschnitt gibt es 1,4 Millionen Lang-zeitarbeitslose. Herr Riester, die Bundesregierung wur-de von der Europäischen Kommission ermahnt, etwasdagegen zu unternehmen. Es hat sich sehr wenig be-wegt. Der Behauptung, daß es eine Reduzierung derZahl der Langzeitarbeitslosen gegeben haben soll, kannich nicht folgen.Die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe fürzuletzt durchschnittlich 70 000 bis 80 000 Personen be-deutet neben Einsparungen in Höhe von 1 Milliarde DMim Bundeshaushalt zugleich Beitragsausfälle in derRentenversicherung und in der Pflege- und Krankenver-sicherung sowie den Verlust von Rentenansprüchen fürdie Betroffenen. Außerdem bedeutet sie für die Kom-munen Mehrausgaben im Sozialhilfebereich von bis zu600 Millionen DM.Neben den Belastungen durch die ökologische Steu-erreform halbiert die vorgesehene Anpassung der Lohn-ersatzleistungen und der Renten an die Preissteigerungdie Erhöhungsbeträge.In den Kürzungskatalog aufgenommen wurde dieVerringerung der Sachkostenzuschüsse für Träger vonABM um 500 Millionen DM bzw. sage und schreibe umnahezu 85 Prozent. Diese Kürzungen gefährden die ar-beitsmarktpolitische Wirksamkeit von ABM. Das giltauch, wenn der reale Bedarf der Träger an Sachkosten-zuschüssen und der geringe Abfluß der Mittel in kras-sem Widerspruch zueinander stehen. Die Aufklärungdieses Widerspruches ist für die künftige Wirkung vonABM unverzichtbar.Im Bereich der Rentenversicherung fehlt zudem jederHinweis auf die Bereitstellung jener Mittel, die durchdie Umsetzung der vier einschlägigen Urteile des Bun-desverfassungsgerichts notwendig sind. Damit ist klar,daß eine ganze Reihe der Betroffenen die Umsetzungdieser Urteile nicht mehr erleben wird.Als letztes Beispiel der unvollständigen Liste zur so-zialen Ausrichtung des Haushaltsplanes verweise ich aufdie im Einzelplan 11 vorgesehenen Kürzungen der Mit-tel für die soziale Eingliederung von Menschen mit Be-hinderungen, wie zum Beispiel die Kürzung der Mittelfür die Förderung zentraler Einrichtungen und für Maß-nahmen des Behindertensports um ein Drittel sowie dieKürzung bei den Zuschüssen zur Förderung der sozialenEingliederung behinderter Menschen.Wenn die Regierungskoalition dem Leitmotiv vonmehr sozialer Gerechtigkeit folgen will, kann ich ihr nurempfehlen, das Leitmotiv der gegen den von ihr einge-schlagenen Weg agierenden Betroffenen und ihrer Ver-bände nachvollziehbar zu berücksichtigen: Streichen beiden Reichen statt sparen bei den Armen.
Ich gebe das Wort
der Kollegin Konstanze Wegner, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Sparen macht keinen be-sonderen Spaß – das muß ich ehrlich sagen –, und zwarschon gar nicht, wenn es im Bereich des Sozialhaushaltssein muß,
wo die Maßnahmen vor allem auch die Anhängerschaftder eigenen Partei treffen.
So etwas zu tun ist durchaus mutig, und es ist nicht ver-gnüglich.
Sparen ist aber notwendig, wenn wir den Staat wiederhandlungsfähig machen wollen und wenn wir der jungenGeneration Chancen eröffnen wollen.
Im Haushalt 2000 klafft eine nicht durch Steuerein-nahmen gedeckte Finanzierungslücke von rund80 Milliarden DM. Haushaltslöcher dieser Größenord-nung sind nun einmal eine Erbschaft der RegierungKohl/Waigel.
Dr. Klaus Grehn
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4741
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Das können Sie nicht bestreiten.
Wir haben zwar von Ihnen diese Haushaltslöcher geerbt,aber wir können nicht die Methoden übernehmen, dieSie angewandt haben, um diese Haushaltslöcher zu ver-kleistern.
Erstens können wir eben nicht Jahr für Jahr uns bis andie Grenze der Verfassungsmäßigkeit Geld pumpen;zweitens können wir nicht, so wie es Waigel gemachthat, das Bundesvermögen verkaufen – es ist fast allesverkauft; Sie haben fast alles verscherbelt, was da war –,
und drittens wollen und können wir keine Steuererhö-hung machen. Deshalb bleibt uns nur der sehr bittereWeg des Sparens, wenn wir überhaupt einen verfas-sungskonformen Haushalt aufstellen wollen.Dabei kann auch der Sozialhaushalt, der immerhin42 Prozent des Gesamthaushalts umfaßt, nicht ausge-nommen werden. Wo immer man jedoch im Sozialhaus-halt kürzt – das ist das Problem –, trifft man die Schwä-cheren in dieser Gesellschaft. Wenn wir uns einmal denSozialetat des laufenden Haushalts 1999 angucken,werden wir finden, daß es da drei große Kostenblöckegibt. Der erste ist der Bereich der Sozialversicherungen– das heißt, der Renten – mit rund 119 Milliarden DM;dann kommt der Bereich der Arbeitslosenhilfe für dieLangzeitarbeitslosen mit etwa 30 Milliarden DM, undschließlich kommen die Maßnahmen, die der Bund di-rekt als aktive Arbeitsmarktpolitik durchführt; das sindrund 14 Milliarden DM im laufenden Haushalt.Wir haben uns nun entschieden, folgendes zu tun: Beiden Rentnern wird es zwei Jahre lediglich einen Inflati-onsausgleich geben – bis zum Jahr 2001 –, und an-schließend werden wir zu einer an der Lohn- und Ge-haltsentwicklung orientierten Anpassung zurückkehren.
Das Protestgeschrei, das Sie hier erheben – das ist heuteschon oft gesagt worden –, ist absolut heuchlerisch;
denn in den letzten Jahren Ihrer Regierung haben dieRentner nicht einmal den Inflationsausgleich bekom-men.
Ich sage Ihnen eines:
Diesen Beitrag müssen die Rentner zur Stabilisierungder künftigen Systeme leisten. – Bitte, schreit nicht mirdazwischen; schreit der Opposition dazwischen.
Frau Kollegin Schwaetzer, zu Ihrer Rede möchte ichnur einen Satz sagen: Ich halte Sie für eine sehr klugeund kompetente Frau, aber nach dem, was Sie heute ge-sagt haben, fange ich an, mich nach Frau Babel zurück-zusehnen. Das will etwas heißen.
Ich möchte etwas zur Situation der Rentner sagen. Ichdenke, insgesamt – das ist sehr erfreulich – ist die Situa-tion der Rentner in unserem Land nicht schlecht. Nichtjeder Rentner ist arm, meine Damen und Herren. EinemDrittel geht es heute materiell sehr gut, zum Beispielweit besser als jungen Familien oder Alleinerziehenden.Einem zweiten Drittel geht es zufriedenstellend. DieProbleme befinden sich im letzten Drittel. Darunter sindin der Tat vor allem Frauen mit ganz niedrigen Renten,die gar keine Erwerbsbiographie oder nur eine lücken-hafte Erwerbsbiographie haben. Hier werden wir – dashat Minister Riester auch gesagt – mit der RiesterschenRentenreform eine soziale Grundsicherung einführen,die diese Frauen dann von der Sozialhilfe unabhängigmacht.
Frau Kollegin Weg-
ner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Grehn?
Ja, wenn es sein
muß.
Ich danke Ihnen herzlich.
Es muß sein. – Sie haben gesagt, insgesamt gehe es den
Rentnern nicht schlecht. Nicht alle hätten wenig Geld.
Können Sie etwas näher quantifizieren, was sich dahin-
ter verbirgt?
Ich kann es gernewiederholen. Ich habe gesagt: Insgesamt ist die Situationder Rentner nicht schlecht. Man muß aber differenzie-ren. Einem Drittel geht es sehr gut, besser als jungenFamilien und Alleinerziehenden. Einem zweiten Drittelgeht es zufriedenstellend, und die Probleme, die wir ha-ben, liegen beim letzten Drittel. Darunter ist ein Pro-zentsatz von Menschen, vor allem Frauen, mit unzumut-bar niedrigen Renten. Für diese werden wir die sozialeGrundsicherung einführen.
Ich möchte hier mit aller Deutlichkeit sagen – dasweiß ich aus vielen Gesprächen vor Ort, und es ist zurZeit nicht leicht, diese Diskussionen zu führen –, daß dieDr. Konstanze Wegner
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4742 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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meisten Rentner durchaus einsehen, daß der zweijährigeVerzicht auf die volle Anpassung ein struktureller Bei-trag zur Sanierung des Staatshaushaltes und vor allemzur langfristigen Sicherung des Rentensystems ist, unddaß sie bereit sind, diesen Beitrag zu bezahlen.Sehr viel problematischer – das will ich hier offenzugeben – als die Einsparung bei den Rentnern erscheintmir persönlich eine andere Sparmaßnahme: die Kürzungder Rentenversicherungsbeiträge für die Arbeitslosen-hilfeempfänger auf den reinen Zahlbetrag. Die Lang-zeitarbeitslosen werden damit doppelt getroffen: Sie ha-ben ihren Arbeitsplatz verloren, und sie erhalten jetztweiter gekürzte Renten. Es wundert mich immer, daßdiese Maßnahme in der Öffentlichkeit lange nicht dieDiskussionen ausgelöst hat wie bei den Rentnern.
Ich ziehe daraus den Schluß, daß der alte Satz „Arbeits-lose haben keine Lobby“ wahr ist.
Dennoch – das muß ich hier mit aller Deutlichkeit sagen– ist auch diese Sparmaßnahme unumgänglich, weil wirkeine andere Wahl haben.Ich komme auf eine weitere Sparmaßnahme, nämlichdie Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe. Hierkann man schon sagen, daß dies von der Versicherungs-systematik her und auch als Sparmaßnahme vertretbarist, vorausgesetzt, die Kommunen erhalten einen Aus-gleich für die Lasten, die auf sie zukommen.
Aber eben dies ist vorgesehen, wenn man das Gesamt-programm betrachtet, das Minister Eichel vorgestellthat, denn in der mittelfristigen Finanzplanung werdenLänder und Kommunen im Schnitt um eine halbe Milli-arde entlastet. Es gehört zur Ehrlichkeit, daß man auchdas hier sagt.
In den dritten großen Bereich des Sozialhaushaltes, indie aktive Arbeitsmarktpolitik, greifen wir bewußt nichtein, sondern führen sie entsprechend unserem Wahlver-sprechen auf hohem Niveau fort.
Damit bieten wir den Arbeitslosen und auch gerade jun-gen Leuten mit unserem Programm gegen Jugendar-beitslosigkeit eine Chance – für viele ist es die einzige,in Beschäftigung zu kommen.
Durch die Verstetigung des Zuschusses an die Bun-desanstalt für Arbeit schaffen wir Planungssicherheit fürdie Träger, im Gegensatz zu der Stop-and-go-Politik, dieihre Regierung früher betrieben hat.Wenn wir hier einschneiden würden und bei der Bun-desanstalt um Milliardenbeträge kürzten, wie Sie es im-mer beantragt haben, würde das automatisch zu einerErhöhung der Arbeitslosenzahl im Osten führen, und daskann niemand wollen, der halbwegs verantwortungsbe-wußt ist.
Es bleibt als weiteres Problem die beträchtliche Min-derausgabe in Höhe von 2,4 Milliarden DM im Haus-halt. Das ist ein Problem, aber ich kann Ihnen sagen, daßMinister Riester mit seinem Haus äußerst konstruktiv andieser sehr schwierigen Aufgabe mitgearbeitet hat undwir einen Vorschlag zur Abdeckung der Minderausgabevorlegen werden. Sie werden das erfahren. Es bleibenuns noch zweieinhalb Monate Zeit, um das zu erarbei-ten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Anfang dieserdoch sehr schmerzlichen und schwierigen Sparoperationstellen sich zwei Fragen. Erstens. Was gewinnt derStaat, wenn diese Operation gelingt? Zweitens. Gibt eseine Gerechtigkeitslücke in der Politik der rotgrünenRegierung? Zur ersten Frage: Ich hoffe, daß das Sparpa-ket möglichst unverändert umgesetzt werden kann, dennnur so gewinnt der Staat seine Handlungsfähigkeit zurPolitikgestaltung zurück, und nur so bauen wir allmäh-lich die Lasten ab, die wir der jungen Generation allegemeinsam in den letzten Jahrzehnten aufgebürdet ha-ben.
Bezüglich der sozialen Gerechtigkeit gibt es in derPolitik der rotgrünen Regierung kein Defizit; denn mitder ersten Stufe der Steuerreform, die vor allem Famili-en und Bezieher kleiner Einkommen spürbar entlastethat, und mit der Rücknahme sozial ungerechter Gesetzeder alten Regierung Kohl ist ein Teil von Gerechtigkeitin diesem Land wiederhergestellt worden. Leider habendie Wählerinnen und Wähler fast alles schon wiedervergessen.
– Diese Bemerkung müssen Sie mir schon gestatten.Vielleicht haben wir auch den Fehler gemacht, unserePolitik zu wenig überzubringen; das will ich gernzugeben.Meines Erachtens existiert jedoch unzweifelhaft eineGerechtigkeitslücke in der Gesellschaft, und auch das isteine Erbschaft aus der Regierungszeit von Helmut Kohl.
Es fehlt in unserem Land nach wie vor ein Beitrag dergroßen Vermögen zu den Kosten der Einheit und zu derSanierung des Staatshaushalts. Wenn der damaligeKanzler Kohl zur Zeit der Wiedervereinigung 1990 ei-nen angemessenen Beitrag der großen Vermögen zu denDr. Konstanze Wegner
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4743
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Kosten der Wiedervereinigung verlangt hätte, hätte sichkeiner gemuckt oder widersetzt.
Heute ist die Durchsetzung einer solchen Forderungviel schwieriger. Beispielsweise werden manche verfas-sungsrechtliche, vielfach aber auch nur vorgeschobeneBedenken gegen die Wiedereinführung der privatenVermögensteuer
oder einer angemessenen Erhöhung der Erbschaftsteuerins Feld geführt. Ich denke, die Lösung dieses Problemsist überfällig. Sie soll kein Schnellschuß sein,
sie muß verfassungsrechtlich in Ordnung sein. Ich den-ke, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
– Ich will sie, Herr Niebel. Sie brauchen nicht dazwi-schenzuschreien. Es ist eine Gerechtigkeitslücke, die ausIhrer Regierungszeit stammt.
Das sogenannte Sparpaket, meine Damen und Herren,ist notwendig. Es sollte nicht weiter zerredet werden,auch nicht in der eigenen Partei. Es sollte möglichstnicht aufgeschnürt und zerfasert werden.Ich denke auch, die Opposition sollte ihre Polemikeinstellen und sich konstruktiv an der Sanierung desStaatshaushalts beteiligen. Sie haben hier eine Bring-schuld; denn es waren in der Tat CSU, CDU und F.D.P.,die durch ihre unverantwortliche Schuldenpolitik denStaatshaushalt ruiniert haben.Danke.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun der Kollege Joachim Fuchtel.
Herr Präsi-dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als erstesmöchte ich bemerken, daß der größte Einzeletat desBundeshaushalts ganz besonders unter Gerhard Schröderleidet.Frau Kollegin Wegner, das Problem ist nicht in ersterLinie, daß wir sparen müssen. Ich habe mir einmal dieMühe gemacht, die Summen der Anträge auf zusätzlicheAusgaben zusammenzurechnen, die die SPD-Fraktion inden letzten 16 Jahren im A-und-S-Ausschuß sowie imHaushaltsausschuß gestellt hat.
– Es war sehr viel Arbeit. – Ich bin auf über 100 Milli-arden DM gekommen. Die Leute, die hier erzählen, daßman sparen muß, haben das erst begriffen, seit sie in derRegierung sind.
In der Opposition ist es offensichtlich doch schöner, undweil Sie so schlecht begreifen, gehören Sie dort auchbald wieder hin.
Nein, meine Damen und Herren, es geht eher um dieArt und Weise, in der hier Politik gemacht wird. Wieman als Berichterstatter hört – Sie wissen, da gibt es denBischof von Hildesheim,
– vielleicht auch jetzt die Bischöfin – , wurde das Mi-nisterium am Beginn seiner konzeptionellen Arbeit vonder Sparidee, die sehr plötzlich über die Häuser herein-brach, völlig überrascht. Dies wird einem von Beamtenaus dem Haus bestätigt. Man wurde gezwungen, aus-schließlich fiskalisch zu denken. Das ist das Problem,das zur Zeit besteht.
Das heißt, man tritt ohne Konzeption in Aktion. Dies istein typischer Managerfehler. Hier hat der Chef versagt.Es ist besonders für die Sozialpolitik tödlich, wenn da-durch die Politik nicht vertrauenswürdig geführt werdenkann.
Ich möchte das belegen, und zwar nicht nur mit derverkorksten Rentendebatte. Wir befinden uns in derHaushaltsdebatte. Manchmal hat man allerdings denEindruck, man hört Besinnungsaufsätze. Ein Beleg istvor allem die globale Minderausgabe mit 2,4 Milliar-den DM. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegenaus dem Haushaltsausschuß, Herr Riester mußte die2,4 Milliarden DM einbringen, damit die Vorlage vonHerrn Eichel überhaupt rechnerisch aufgeht. Er weißnoch nicht, woher er sie nehmen soll. Wenn er es wüßte,würde er es uns vielleicht sagen. Herr Minister Riester,Sie haben hier sehr viel erzählt, aber die haushaltspoliti-sche Wahrheit, die Sie als Minister gewährleisten müs-sen, haben Sie heute nicht präsentiert.
Eine globale Minderausgabe von seiten der Regie-rung in dieser Höhe gab es im Sozialetat in der erstenLesung eines Bundeshaushalts noch nie. Das werden dieHaushälter wissen. Was hätten Sie an dieser Stelle Wai-gel und Blüm vorgeworfen, wenn dies vorgekommenDr. Konstanze Wegner
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wäre? Sie hätten verlangt, daß die Haushaltsberatungenausgesetzt werden, bis entsprechende Ausplanungenstattgefunden haben. Das hätten Sie getan.
So fragen wir ganz einfach: Ist das Sparziel auch hiereine Luftnummer, oder wollen Sie warten, bis die Wah-len in Sachsen und Berlin vorbei sind, um dann denechten Schröder-Wein einzuschenken? Wir alsCDU/CSU verzichten darauf, jetzt zu sehr zu agitierenund den sozial Schwachen Angst zu machen.
Sie würden jetzt im Land herumrennen und sagen, wasalles noch für schlimme Dinge geschehen werden. Wirwollen nur eines und verlangen schlichtweg: Legen Sieunverzüglich einen ausgeplanten Entwurf vor – nichtsweiter –, damit Klarheit darüber herrscht, worüber wirüberhaupt reden können.
Ich möchte auf die Zeitbomben hinweisen, die heutenoch gar nicht zur Sprache kamen, so zunächst einmalauf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurAufstockung der Renten nach dem AAÜG. Bekannt-lich wurde in diesem Jahr dazu ein Urteil gefällt. Be-wußt haben Sie die Gesetzesarbeiten so hinausgezögert,daß Sie heute dazu noch nichts sagen müssen. Hier fal-len dreistellige Millionensummen, wahrscheinlich inder oberen Hälfte, an; und kein Wort vom Minister dazuan diesem Tag. Das bedeutet, daß die globale Min-derausgabe in Höhe von 2,4 Milliarden DM, die nichtkonkretisiert ist, zusammen mit der halben Milliardeoder noch etwas mehr, die auf Grund dieser Gesetz-gebung erforderlich ist, sowie den Nachzahlungen, diezu leisten sind, eine Summe von zirka 3 MilliardenDM ergibt, über die Minister Riester heute keine Aus-kunft geben kann. So eine große Summe hatten wir indiesem Stadium der Beratungen zum Bundeshaushaltnoch nie.
Ich fange langsam an zu verstehen, warum unter Haus-hältern vom „blanken Hans“ die Rede ist. Für die Nicht-Insider: Damit meinen wir Herrn Eichel.Ich stelle die zweite Frage, die bisher ebenfalls inkeiner Weise beantwortet wurde: Was machen Sieeigentlich, wenn die Ökosteuer tatsächlich ihren Zweckerfüllt? Was machen Sie, wenn weniger verbraucht wirdund damit das Aufkommen niedriger ist? Dann fehlenIhnen ganz schnell Beträge in Milliardenhöhe.
Das wäre nicht so tragisch, wenn es nur darum ginge,einen einmaligen Ausfall von einigen Milliarden DM zuverkraften. Aber Sie haben die Einnahmen aus der Öko-steuer mit den gesamten Transfers im Sozialbereich ver-quickt. Jeder, der diese Regelungen ändern und diePolitik auf ein anderes Gleis führen will, wird sich damitsehr schwer tun, weil er dann aus dem Stand heraus gro-ße Milliardensummen aufbringen muß. Auf die Frage,was geschieht, wenn die Ökosteuer weniger einbringt,geben Sie keine Antwort.
Ich fordere an dieser Stelle: Wer sich der sogenanntenÖkosteuer zur Rentenfinanzierung bedient, der muß dieSchwankungsreserve bei den Renten erhöhen. Nur sokann man den Rentnern die Angst nehmen, daß dieRente gekürzt wird, wenn es weniger Einnahmen aus dersogenannten Ökosteuer gibt.
Eine weitere Bemerkung. Das Rentenchaos verdecktden eigentlichen Skandal. Ich habe mich heute gewun-dert, wie wenig das Thema Arbeitslosigkeit zur Sprachekam. Sie haben bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeitversagt. Das muß heute einmal gesagt werden.
Dieses Versagen hat den Steuerzahler ungefähr 9,8 Mil-liarden DM gekostet. Dafür sind Sie verantwortlich.
Obwohl überall um uns herum, ob in Frankreich oderauch in den USA, die Steuerquellen sprudeln und dieKonjunktur läuft, nimmt bei dieser rotgrünen Regierungdie Zahl der Erwerbstätigen ab statt zu. Dabei rechnendie Institute im Jahre 2000 – ohne Zutun der Politik –mit zirka 200 000 weniger Arbeitslosen, weil die Zahlder Erwerbsfähigen stark abnimmt. Allein schon deswe-gen müßte eine Rückführung des Bundeszuschussesnach Nürnberg um 6 Milliarden bis 8 Milliarden DMmöglich sein. Dann erst, Herr Riester, fängt die politi-sche Leistung an. Wenn ich höre, wie kläglich Sie mitden Zahlen von 150 000 oder 200 000 weniger Arbeits-losen operieren, dann zeigt mir das, wie wenig Vertrau-en Sie in Ihre eigene Politik haben. Ansonsten wären Siedavon überzeugt, daß die Maßnahmen, die Sie hier alsgut bezeichnen, tatsächlich einmal anfangen zu wirken.Dieses Vertrauen schlägt sich auch nicht in den Zahlenfür den Haushalt 2000 nieder, da statt null DM9,85 Milliarden DM für die entsprechende Position desHaushaltes veranschlagt werden.
Die CDU/CSU fordert die Senkung dieses Ansatzes,damit Sie endlich gezwungen werden, das Notwendigezur Belebung des ersten Arbeitsmarktes zu tun. Stattdessen schröpfen Sie die Bezieher von Arbeitslosenhilfesowie die jungen Wehr- und Ersatzdienstpflichtigen. DieRentenbeiträge für die Empfänger von Arbeitslosenhilfewerden jährlich um 4 Milliarden DM gekürzt. Die be-troffenen Menschen werden auf eine Rente in Höhe derSozialhilfe buchstäblich hingeführt. In der Begründungzu dem Gesetzentwurf – man sollte sie einmal nachlesen– wird kleingedruckt offenbart, was eigentlich dahin-tersteckt. Dort heißt es nämlich, daß die Maßnahmesozial begründbar sei, weil eine solide GrundsicherungHans-Joachim Fuchtel
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geschaffen werden soll. Diese Regierung arbeitet alsodarauf hin, daß eine soziale Grundsicherung erforder-lich wird.
Eine Politik dieser Art lehnen wir als CDU/CSU-Fraktion vollständig ab.
Diese Politik ist auch haushaltspolitisch äußerst unse-riös. Jetzt reduzieren Sie die Rentenanwartschaften dersozial Schwächeren, um den Haushalt zu sanieren. Sieverweisen in diesem Zusammenhang auf die Grundsi-cherung. Für diese Grundsicherung haben Sie aber kei-ne einzige Mark im Haushalt eingestellt.
Zeigen Sie uns einmal, wo das Geld für die Grundsiche-rung steckt, Herr Riester! Ich gehe nicht davon aus, daßSie vorhaben, dieses Geld ohne weitere Finanzierungs-möglichkeit aus dem Rententopf zu nehmen. Wenn Siedas anders machen wollen, dann müssen Sie neues Geldbeibringen. Bisher habe ich noch keine Lösung gesehen;ich warte auf eine Antwort. Sie wollen jetzt kassierenund erst später finanzieren. Das ist das Fazit: Eichel undRiester wollen den Haushalt im Sozialbereich durchVerschiebung von Aufgaben auf die Zukunft sanieren.Das ist die Wahrheit Ihrer Politik: Sie stellen Schecksfür die Zukunft aus, die über die Grundsicherung einge-löst werden.Wie ernüchternd Regierung sein kann, sieht man anfolgendem: 1989 hat die SPD im Zusammenhang mitdem Rentenkonsens die damalige Bundesregierung zuebendiesem Schritt gezwungen, den Rotgrün jetzt wie-der rückgängig macht, nämlich die Anhebung der fürArbeitslosenhilfebezieher abgeführten Beiträge. Damalswaren Sie es, die das in den Vermittlungsgesprächen er-zwungen haben. Jetzt machen Sie es auf einmal wiederanders. Als wir die originäre Arbeitslosenhilfe abschaf-fen wollten, haben Leute wie Eichel und Schröder dasim Bundesrat verhindert. Aber auch Sie, die Sie dort sit-zen, waren über die Gremien dabei: Im A-und-S-Ausschuß und im Haushaltsausschuß haben Sie Zeterund Mordio geschrien und das ganze Land sozialpoli-tisch in Brand gesteckt. Und jetzt soll das auf einmal ge-hen.
– Auch wir wollten damals nichts anderes als eine solideFinanzierung des Haushaltes, und hinsichtlich der Aus-gleichsmaßnahmen für die Kommunen haben wir die-selben Ansätze gehabt. Also, da haben Sie wirklich kei-nen guten Stich gemacht.Zusammengenommen muß man ganz klar sagen: Indiesem Haushalt gibt es viel mehr Löcher, als bisherdiskutiert wurden. An Ihrer Stelle wäre ich nicht so si-cher, daß Sie mit diesem Haushaltskonzept auch nur an-satzweise über die Runden kommen.
Die Kollegin Ekin
Deligöz spricht nun für Bündnis 90/Die Grünen.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! VielenKindern geht es heute besser als den früheren Genera-tionen von Kindern: Der Familienalltag ist demokrati-scher geworden, der materielle Standard ist höher dennje – aber das Ganze nur im Durchschnitt. Denn gleich-zeitig können wir in unserer Gesellschaft feststellen, daßdie Tendenzen sozialer Spaltung vor der Familie nichthaltmachen. In der Bundesrepublik Deutschland leben1 Million Kinder und Jugendliche in Familien, derenExistenzgrundlage die Sozialhilfe ist.Der 10. Kinder- und Jugendbericht brachte es an denTag: Kinder sind heute das Armutsrisiko Nummer eins.Vor allem: Armut ist kein Randgruppenproblem mehr.Sie trifft das Kind, dessen Vater kein oder zuwenig Un-terhalt zahlt. Sie trifft immer öfter auch Familien, dieüber ein regelmäßiges Einkommen verfügen. Die Folgensind gravierend; denn Armut hat viele Gesichter. Armutmacht Kinder seelisch und körperlich krank. Noch nieseit 1982 waren die Chancen sozialen Aufstiegs fürKinder und Jugendliche so schlecht wie heute, nach derÄra Kohl.
Dies ist die Erblast der alten Regierung, die immer vonKinderfreundlichkeit geredet und bisher viel zuwenigdafür getan hat.
– Dazu komme ich noch.An den Kindern zu sparen ist der falsche Weg derSparsamkeit und geht vor allem zu Lasten der gesamtenGesellschaft. Die rotgrüne Bundesregierung wird derKinderarmut den Kampf ansagen. Wir von Bündnis90/Die Grünen haben bereits in der letzten Wahlperiodeein Kindergeld von 300 DM gefordert, um die notwen-dige Besserstellung der Familien zu erreichen. DiesesZiel wurde durch das Urteil des Verfassungsgerichts zurFamilienbesteuerung bestätigt.Übrigens war dieses Urteil eher für Ihre als für unserePolitik vernichtend.
In diesem Urteil wird vor allem die horizontale Steuer-gerechtigkeit betont. Das heißt, Familien mit Kinderndürfen gegenüber Kinderlosen der gleichen Gehaltsklas-se nicht benachteiligt werden.
Hans-Joachim Fuchtel
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Um dies sicherzustellen, werden die Kinderfreibeträgejetzt kräftig erhöht. Gleichzeitig erhöhen wir das Kin-dergeld um nochmals 20 DM, damit Haushalte mit Kin-dern, die weniger gut verdienen, bessergestellt werden.
Verglichen mit der Ära Kohl/Schäuble/Gerhardt erhal-ten Familien mit Kindern ab dem kommenden Jahr des-halb netto 600 DM mehr für jedes ihrer ersten beidenKinder.
Von der Anhebung des Kindergeldes haben aber bis-her die Sozialhilfeempfänger nicht profitiert. Denn dasKindergeld wird auf die Sozialhilfe angerechnet.
Die Kommunen, die für die Sozialhilfe aufkommenmüssen, kassieren aber das vom Bund gezahlte Kinder-geld. Deswegen haben wir von der Fraktion bereits eineAnfrage an das Finanzministerium gerichtet,
um nachzufragen, wie die Erhöhung des Kindergeldesgestaltet werden kann,
damit die Erhöhung auch bei allen Kindern ankommt.Wir erwarten die Antwort in diesen Tagen.
– Ich möchte hier einmal reden, ohne daß Sie dazwi-schenblöken.
Parallel dazu haben wir Kontakt zu Sozialrechts-experten aufgenommen. Das Ergebnis ist sehr ermuti-gend: Das erhöhte Kindergeld läßt sich tatsächlichrechtlich so verankern, daß es nicht mit der Hilfe zumLebensunterhalt verrechnet wird. Die Erhöhung desKindergeldes kann voll an sozial bedürftige Kinderweitergegeben werden, ohne daß Folgewirkungen fürdas Existenzminimum bestehen. Das Sparpaket der rot-grünen Regierung bleibt in diesem Sinne also unberührt.Zusätzliche Belastungen für den Bundeshaushalt entste-hen nicht, denn das erhöhte Kindergeld wird an dieKommunen ja ohnehin ausgezahlt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es mitder Bekämpfung von Kinderarmut ernst meinen, danndürfen wir an dieser Stelle nicht mehr über das Ob, son-dern nur noch über das Wie debattieren. Mit der Weiter-gabe der Kindergelderhöhung auch an Sozialhilfe-empfänger haben wir nach jahrelanger Untätigkeit end-lich die Möglichkeit, etwas für diejenigen Kinder zu tun,die auf unsere Solidarität am dringendsten angewiesensind.
Ich bin sehr zuversichtlich, daß wir in der Koalition die-sen Weg gemeinsam beschreiten können und werden.Ich lade auch Sie von der Opposition dazu ein, uns keineSteine in den Weg zu legen, denn Sie haben in dieserBeziehung noch einiges wiedergutzumachen.
Für die SPD-
Fraktion gebe ich dem Kollegen Adolf Ostertag das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Die neue Bundesregie-rung hat Startbedingungen vorgefunden, wie sie vorhernoch nie eine neue Regierung hatte.
Die finanziellen Gestaltungsspielräume waren schlechterals je zuvor und sind außerordentlich gering; das wissenSie.
Das gilt insbesondere für den größten Einzeletat, näm-lich den für Arbeit und Soziales. Dennoch haben wir inden ersten Monaten der Regierungsverantwortung be-reits eine Reihe von Reformprojekten durchgesetzt. Icherinnere an die Stärkung der Arbeitnehmerrechte –Rechte, die Sie jahrzehntelang geschwächt haben –
und an die Besserstellung von Klein- und Normalver-dienern. Weitere Reformschritte werden trotz engerfinanzieller Spielräume folgen. Darauf können Sie sichganz sicher verlassen.
Nun hat sich die Bundesregierung entschieden, nichteinfach eine Politik des „Weiter so!“ zu machen; das istheute ja schon deutlich geworden. Mit diesen Reform-projekten in der jüngsten Vergangenheit ist das nach-drücklich unterstrichen worden, und das ist bei den Bür-gerinnen und Bürgern, bei Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern auch angekommen. Das dauert – das habenwir schmerzlich feststellen müssen – zwar ein bißchenlänger, ich bin aber überzeugt, daß sich das ändern wird.Der Überbringer einer schlechten Nachricht hat schonimmer einen schweren Stand gehabt. Das war schon inder griechischen Antike so; offensichtlich hat sich dasEkin Deligöz
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nicht geändert. Wir werden auf diesem Feld weiterhinsehr intensiv arbeiten.
Wir sind die schmerzliche Aufgabe angegangen, Haus-haltskonsolidierung zu betreiben. Alternativen sind im-mer schwer zu vermitteln. Eben nicht nur ein „Weiterso!“, raus aus den eingefahrenen Gleisen!Gerade als Sozialpolitiker sage ich: Verschuldung istin höchstem Maße sozial ungerecht.
Wenn von jeder vierten Mark des Staates nur die Ban-ken und Kreditgeber profitieren, dann ist das nichts an-deres als die Fortsetzung Ihrer Politik der Umverteilungvon unten nach oben.
Soziale Gerechtigkeit auf Pump funktioniert nur kurz-fristig und ist unsolidarisch. Von wem sollen die Men-schen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, in Zu-kunft ihr Geld erhalten, wenn die Staatskassen leer sind?Sozialdemokratische Politik in Zeiten leerer Kassen be-deutet deshalb, die Stabilität der sozialen Sicherungssy-steme in den Mittelpunkt zu stellen.
Dies ist Politik im Interesse der Bürgerinnen und Bür-ger. Die Steuereinnahmen müssen vorrangig wieder fürdie Zukunftsaufgaben des Staates, für Maßnahmen ge-gen Arbeitslosigkeit und für Investitionen in Bildung,Forschung und für den Ausbau der Infrastruktur ausge-geben werden. Dafür werden wir sorgen. Die Haushalts-politik der Sozialdemokratischen Partei hat heute schondie Akzente dafür gesetzt.Sparen ist aber kein Selbstzweck. Das ist mehrfachgesagt worden, auch von Oppositionsrednern. Darin sindwir uns sicherlich einig. Wir sparen, um unseren Staatim Interesse des Allgemeinwohls wieder handlungsfähigzu machen. Das ist etwas anderes als das, was Sie bishergemacht haben. Nein, Sie haben insbesondere die Klein-verdiener und die Armen abgezockt. Sie haben sie insAbseits gestellt. Darüber gibt es umfangreiche Statisti-ken. Schauen Sie sich doch einmal die Unterlagen vonHerrn Blüm an, in denen aufgelistet ist, wie in den letz-ten Jahren abgezockt und umverteilt wurde. Hier kannman das sehr schön nachvollziehen. Wir werden Ihnendiese Unterlagen gerne wieder zur Verfügung stellen,wenn Sie sie verlegt haben sollten.
Heute wird zu Recht viel von der finanziellen Erblastder Kohl-Regierung gesprochen. Ich nenne nur die Zahl18 750. Diese Zahl steht für die Schuldenlast, die aufjedem einzelnen – egal, ob Kind oder Greis, ob Deut-scher oder Ausländer – in Deutschland lastet, wenn mandie Schulden des Bundes gleichmäßig auf jeden Bürgerverteilt. Eine vierköpfige Familie hat damit Schulden inHöhe von 75 000 DM. Das sind nur die Schulden desBundes. Hinzu kommen noch die Schulden der Länder,der Gemeinden und der übrigen öffentlichen Körper-schaften. Sie haben uns für die Zukunft also eine äußerstschwere Hypothek hinterlassen.Aber nicht nur diese Schuldenlast von 1,5 Bil-lionen DM haben wir von der Kohl-Regierung geerbt,sondern auch die Rekordarbeitslosigkeit. Wie wir allewissen, hängt das eine mit dem anderen ganz eng zu-sammen. Jährlich kostet uns die Arbeitslosigkeit mehrals 170 Milliarden DM, einschließlich der aus der Ver-schwendung von Arbeitskraft herrührenden Minderein-nahmen aus Steuern und Mehraufwendungen für die So-zialausgaben. Das sind die eigentlichen Erblasten, diewir übernommen haben: die Schulden zusammen mit ei-ner Arbeitslosenquote von weit über 4 Millionen. Dar-aus folgt: Nur wer das Kardinalproblem der Arbeitslo-sigkeit in den Griff bekommt, kann die Staatsfinanzenletzten Endes sanieren. Das ist nicht über andere Metho-den möglich. Deshalb haben wir in den ersten elf Mo-naten nach der Bundestagswahl die Weichen für mehrBeschäftigung gestellt.
– Ja, Sie müssen sich das anhören. Sie haben unsereVorschläge auch schon in den letzten Monaten teilweisebekämpft.Wir haben die Lohnnebenkosten gesenkt. Sie habendas jahrzehntelang – das ist schon mehrfach gesagt wor-den – auch auf Ihre Fahne geschrieben. Aber Sie habennichts getan. Im Gegenteil: Sie haben die Lohnnebenko-sten nur in die Höhe getrieben.
Wir haben es geschafft, diese Kosten zu senken, ohnedie Finanzen der Sozialversicherung zu gefährden, undzwar im Zusammenhang mit einer verursachergemäßenFinanzierung der sogenannten versicherungsfremdenLeistungen. Auch davon haben Sie immer geredet. AberSie haben die Finanzierung der versicherungsfremdenLeistungen im Rahmen der sozialen Sicherungssystemeimmer mehr ausgeweitet. Das ist in diesen Stunden derhaushaltspolitischen Debatte deutlich geworden. Auchim Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung haben wir inden letzten Jahren immer dafür gekämpft, daß die not-wendigen Kosten der deutschen Vereinigung nicht überdie solidarischen Sicherungssysteme finanziert werden.Wenn man zusammenzählt, was hier gemacht wordenist, ergibt sich daraus wahrscheinlich schon mehr als 1Billion DM.Wir haben eine Steuerreform durchgesetzt, die vorallem dem Klein- und Normalverdiener zugute kommtund durch die die Binnenkonjunktur gestützt wird. EineEntlastung für kleine und mittlere Unternehmen ist auchschon erfolgt. Sie wird fortgesetzt werden.Adolf Ostertag
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4748 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Wir haben die Ausgaben für Bildung und Forschungerhöht. Was haben Sie in den letzten Jahren hier ge-macht? Sie haben eine skandalöse Politik betrieben. Hiergab es eine große Kluft zwischen Ihren großartigenSprüchen und Sonntagsreden einerseits und Ihrer Haus-haltspolitik andererseits.Wir haben die Ausgaben für aktive Maßnahmen ge-gen Arbeitslosigkeit auf einem hohen Niveau verstetigt.Wir haben keine „stop and go“-Politik wie Sie betrieben.Wir haben nicht vor Wahlen neue Mittel bereitgestellt,um sie danach zurückzufahren, während die Menschenin die Arbeitslosigkeit entlassen wurden. Wir werden dieMaßnahmen gegen Arbeitslosigkeit verstetigen. Das ge-hört zur Handschrift, die dieser Haushalt trägt.Wir wissen: Diese Maßnahmen benötigen Zeit, bis siegreifen und bis sich ihre Wirkung auch deutlich auf demArbeitsmarkt niederschlägt. Aber bereits heute steht fest:Es gibt am Arbeitsmarkt eine positive Grundtendenz.Vergleicht man die Zahlen mit denen des Vorjahres, sokann man insgesamt eine Stabilisierung bei der Zahl derarbeitslosen Jugendlichen – darauf komme ich noch be-sonders zu sprechen – feststellen. Bei den Langzeitar-beitslosen sind sogar deutliche Erfolge zu verzeichnen.Hierbei handelt es sich um besondere Problemgruppen.Das haben wir Ihnen jahrelang immer wieder gesagt;aber Sie haben nicht gehandelt.Die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit sind eindeu-tig. Von September 1998 bis September 1999 ist dieZahl der Arbeitslosen zurückgegangen. Es gibt zirka300 000 Arbeitslose weniger. Es gibt Hoffnung auf demArbeitsmarkt. Natürlich hätten wir uns gern eine sichschneller abzeichnende Verbesserung gewünscht; aberdie konjunkturelle Delle Ende 1998 und Anfang 1999 –dazu ist heute schon etwas gesagt worden – ließ dieEntwicklung nicht so schnell anspringen, wie wir es ge-hofft hatten, und die Auswirkungen auf dem Arbeits-markt waren nicht so massiv, wie wir alle es uns ge-wünscht hatten. Ich unterstelle Ihnen gar nicht, daß Sieda böse Absichten haben.Heute beraten wir den ersten Haushalt für das neueJahrhundert. Ich möchte klar sagen: Der Haushalt 2000ist aus Sicht der Sozialpolitiker der SPD kein Schön-wetterhaushalt. Aber der Haushalt 2000 ist ein Haushaltder Zukunft in Solidarität zwischen den verschiedenenBevölkerungsgruppen.
Solidarität ist eben keine Schönwetterangelegenheit.Wenn es hart auf hart geht – es geht in vielen politischenBereichen hart auf hart zu –, heißt es: zusammenstehenund die Belastungen gemeinsam schultern. Das ist das,was Sie die letzten 15 Jahre haben vermissen lassen.Die Einsparungen von 30 Milliarden DM – das hatder Finanzminister heute noch einmal unterstrichen –müssen zusammenkommen, und dabei kann der größteEinzelhaushalt nicht ausgenommen bleiben. Wir kürzenkeine Leistungen im Sozialhaushalt. Wir begrenzen fürzwei Jahre die Steigerungen des persönlichen Einkom-mens auf die Preisentwicklung. Damit verlangen wireiniges von den Rentnern und Arbeitslosen, die mit hö-heren Steigerungsraten gerechnet haben. Aber wir ver-langen auch einiges von den im öffentlichen Dienst Be-schäftigten.Meine persönliche Erfahrung der letzten Wochen ist:Wenn man Zeit hat, den Menschen die Zusammenhängezu erklären, dann haben sie durchaus Verständnis dafür– auch wenn niemand Beifall klatscht –, daß die Steige-rungsraten auf die Höhe der Inflationsrate gekappt wer-den. Aber man kann schon verdeutlichen, daß das, wasbei unserer Politik herauskommt, noch immer wesent-lich mehr als das ist, was Sie vielen in den letzten Jahrenzugemutet haben; denn in dieser Zeit waren die Steige-rungsraten wesentlich geringer.Sparen ist in unserem Land eine Tugend mit einemhohen Stellenwert. Das haben viele offensichtlich ver-lernt. Ich bin der Meinung, wir sollten diese Tugend einStückchen beherzigen, vor allen Dingen, wenn es umdas Geld geht, das die Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler letzten Endes aufbringen müssen. Wir könnennicht mehr wie in der Vergangenheit auf das Tafelsilber,das die Bundesrepublik einmal besaß, zurückgreifen.Man muß deutlich sagen: Sie haben es verscherbelt.Ihr Wehgeschrei über unsere Maßnahmen ist sehrscheinheilig. Sie versuchen, sich als Verteidiger derRentner und Arbeitslosen aufzuspielen. In den letzten16 Jahren haben Sie insbesondere bei diesen Menschenabkassiert.
Ich möchte ein paar Beispiele nennen, die hier ange-sprochen worden sind: Absenkung der ABM-Entgelte,jährliche Kürzung der Arbeitslosenhilfe, hohe Rentenab-schläge bei vorgezogener Altersrente und Kürzungen beirentensteigernden Anwartschaften, Kürzung der Lohn-fortzahlung im Krankheitsfall. Das sind nur wenige Bei-spiele. Ich kann noch einmal auf die umfangreichen Pa-piere von Herrn Blüm verweisen, in denen er versucht,das Ganze zu rechtfertigen. Im Vertrauen auf dasscheinbar kurze Gedächtnis der Menschen wollen Sieüberspielen, daß Sie die Probleme angehäuft haben, diewir in den nächsten Jahren lösen müssen.Das Verursacherprinzip, nach dem derjenige, der denMüll macht, ihn auch aufräumt, gilt in der Politik leidernicht. Das erfahren wir in diesen Wochen schmerzlichbeim Versuch der Konsolidierung. Aber daß sich jetztdiejenigen, die den Müll wirklich hinterlassen haben,lauthals mokieren und als Verteidiger der Rentner undder Arbeitslosen aufspielen, das ist schon ein starkesStück.
Der Einzelplan „Arbeit und Soziales“ trägt mit gut12 Milliarden DM den größten Anteil des Sparvolu-mens. Einsparungen in dieser Größenordnung fallenschwer, an welcher konkreten Stelle auch immer. EinenBereich haben wir ganz bewußt ausgenommen, nämlichdie aktive Arbeitsmarktpolitik. Hier geht es darum,den Menschen eine Perspektive zu geben. Erinnern SieAdolf Ostertag
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4749
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sich daran, wie wir darüber in den letzten Jahren imAusschuß für Arbeit und Sozialordnung gestritten ha-ben? Wir haben immer gesagt: Machen Sie das nicht!Dennoch haben Sie ständig gekürzt, der Prozentsatz istauf ein Drittel der Gesamtausgaben gesunken, die nurnoch für die aktiven, für die chancenerhaltenden Maß-nahmen gedient haben. Das ist in der Tat eine verkehrtePolitik gewesen.Wir werden versuchen, dieses Verhältnis wieder zuverbessern. Wir haben erste Schritte gemacht. Wie Siewissen, haben wir im laufenden Haushalt den Ansatzschon um 6 Milliarden DM erhöht. Das wird sich auchin der nächsten Zeit verstetigen; denn nur dann gibt esChancen für die Menschen, sich wieder auf dem Ar-beitsmarkt einbringen zu können.
– Am Montag hatten wir gar keine Landesgruppensit-zung.
Wenn Kollege Laumann schon alle möglichen Zeitun-gen einschließlich der Käseblätter liest, dann sollte er sieauch sorgfältig lesen.
Meine Damen und Herren, ich möchte abschließendnoch etwas zu den Debatten sagen, die wir zum Pro-gramm gegen Jugendarbeitslosigkeit hatten. HerrKues und Frau Schwaetzer haben dazu bereits etwas ge-sagt. Hier sind Milchmädchenrechnungen zu einem Pro-gramm aufgemacht worden,
das seit wenigen Monaten läuft. Hier wurden Äpfel mitBirnen verglichen, Herr Kues. Ich empfehle Ihnen undauch Frau Schwaetzer, in Ihre Arbeitsämter zu gehenund dort die Mitarbeiter zu fragen, was sie von demProgramm halten. Sie sagen nämlich, dieses Programmsei unter den Jugendlichen ein Renner, und es wird vonihnen positiv und intensiv begleitet.
Sprechen Sie mit den jungen Menschen, die in solchenMaßnahmen sind. Sie drehen nicht ständig Ehrenrunden,sondern sie sehen für sich eine Perspektive, was etwasanderes ist, als nur auf den Sankt-Nimmerleins-Tag ver-tröstet zu werden, wie es in den letzten Jahren auf GrundIhrer Politik zumeist geschah.
Wir werden also diese Konsolidierungspolitik fortset-zen.
Herr Kollege, bitte
kommen Sie jetzt zum Schluß.
Ja, ich komme gleich zum
Schluß.
Wir werden dieses Programm verstetigen. Wir wer-
den die aktive Arbeitsmarktpolitik verstetigen. Wir wer-
den weiterhin soziale Reformen in diesem Lande umset-
zen; darauf können Sie bauen. Schließlich werden wir
den Haushalt konsolidieren, weil das ein ganz wichtiger
Schritt ist, um Sozialpolitik in diesem Lande machen zu
können, um politische Handlungsspielräume zu eröffnen
und zurückzugewinnen und um Solidarität in diesem
Lande wirklich zustande zu bringen.
Vielen Dank.
Als letzte Rednerin
zu diesem Geschäftsbereich spricht nunmehr Birgit
Schnieber-Jastram von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Bundes-regierung kann einem wirklich ein bißchen leid tun: einekatastrophale Wahlniederlage für die SPD nach der an-deren, der Brioni-Kanzler im Knitterlook verliert daseinzige, was die SPD an ihm mag, das Lächeln des Sie-gers.
Verloren hat er übrigens noch etwas anderes: Er hatganz schnell das Verständnis für die Menschen und ihreSorgen verloren.
Seine Welt ist längst von der Realität des Alltags derMenschen abgerückt.Angesichts dessen müssen Sie jetzt zusehen, wie IhreBundesratsmehrheit dahinschmilzt wie Butter in derSpätsommersonne. Dem Regieren-macht-Spaß-Kanzlerist der Spaß in nur kurzer Zeit gründlich vergangen. DieWähler geben ihm die Quittung für Ihre katastrophalePolitik.
– Besonders schlimm, Herr Gilges, haben auch Sie es,weil Sie das alles mittragen, mit den Menschen in derSozialpolitik getrieben. Sie werden unseren Ärger ver-stehen: Vor den Wahlen haben Sie den Menschen mehrsoziale Gerechtigkeit versprochen. Sie haben uns be-schimpft, weil wir uns für mehr Generationengerech-tigkeit eingesetzt und den demographischen Faktor indie Rentenformel eingeführt haben. Herr Riester, dieswird sich mittelfristig für Sie, für diese Koalition, rä-chen.
Was Sie jetzt machen, ist Rente nach Kassenlage. Daskönnen Sie schönreden, solange Sie wollen; das könnenAdolf Ostertag
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4750 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Sie auch lange entschuldigen, Herr Riester. Noch vorfünf Monaten hat der Kanzler versprochen, daß dieRenten auch in Zukunft so wie die Nettoeinkom-men steigen. Was Sie jetzt machen, ist eine Unverfro-renheit.
Sie belasten die Rentner noch viel stärker, als die frühe-re Bundesregierung es mit dem demographischen Fak-tor je getan hätte.Ich rechne es Ihnen gerne noch einmal vor, wenn Siedas nicht glauben. Ein Stückchen Selbstverleugnung istwirklich verständlich, aber Sie treiben es im Übermaß.100 DM Mehrbelastung monatlich durch die Rentenach Kassenlage für die Jahre 2000 und 2001, 20 DMmonatlich mehr durch die Einführung der ersten Stufeder Ökosteuer und 52 DM monatlich mehr, wenn Sie dieZwangszusatzrente einführen, über die hier auch immerwieder geredet wird. Das ist die Bilanz Ihrer Renten-politik.
Frau Kollegin
Schnieber-Jastram, der Kollege Niebel möchte Ihnen ei-
ne Frage stellen.
Bitte
schön.
Frau Kollegin Schnieber-
Jastram, Sie haben vorhin in der Debatte mitverfol-
gen können, wie sich die Kollegin Dückert echauffiert
hat, als gesagt wurde, auch die Grünen seien gegen den
demographischen Faktor gewesen. Das ist richtig, denn
sie waren immer dafür. Wie würden Sie denn die Tat-
sachen bezeichnen, daß die Grünen für den demogra-
phischen Faktor sind, ihn aber trotzdem abgeschafft ha-
ben?
Herr Nie-bel, das ist eine schöne Frage, die Sie da stellen. Ichwundere mich wirklich zutiefst über das, was die Grü-nen heute reden und was sie noch gestern gesagt undpropagiert haben,
denn da ist eine Riesenkluft. Grüne Politik verkommt indiesem Lande zur Unkenntlichkeit. Die Wahlergebnissezeigen das auch den Grünen, und das ist gut so.
Noch schlimmer – ich will in meiner Rede fortfahren– als die Mehrbelastung der Rentner ist in der Tat derVertrauensverlust hinsichtlich der Rentenversicherung.Bei der Rente nach Kassenlage ist die Erhöhung derRenten zukünftig nicht mehr absehbar. Die Rentenan-passung erfolgt nach dem Motto: Sind Bananen da, gibtes Bananen; sind keine da, gibt es keine. Mit der Rentenach Kassenlage sparen Sie nicht zugunsten der jünge-ren Generation, sondern Sie sparen zugunsten des Bun-deshaushalts, nachdem Sie Anfang des Jahres 30 Mil-liarden DM zum Fenster hinausgeworfen haben.
Jetzt will ich einmal ein Mitglied Ihrer Partei zitieren,um Ihnen zu zeigen, wie das vor Ort in den entsprechen-den Debatten in den Landtagen gesehen wird. Die Sozi-alministerin aus Schleswig-Holstein, Heide Moser, sagtein einer Debatte des schleswig-holsteinischen Landtagserstens:Die Aussetzung des Demographiefaktors ist mitfalschen Begründungen, die falsche Erwartungenbei Rentnern geweckt haben, auf den Weg gebrachtworden.Zweitens sagte sie:Die Verbindung von Rentenreform und Sparpaketist so ziemlich die unglücklichste Schiene.Die dritte Aussage von Heide Moser entspricht dem,was Sie sich wünschen: Da müssen wir durch.Ganz nach dem Motto: Augen zu und durch. Das ist dieErlebnislage Ihrer eigenen Partei vor Ort. Nehmen Siedoch wenigstens das zur Kenntnis, wenn Sie schon nichtzur Kenntnis nehmen, was wir sagen.
Ich will Ihnen noch etwas zu dem sagen, was immerbehauptet wird; denn ich finde, das ist wichtig. Auchvon Ihnen, Frau Dr. Dückert, ist heute gesagt worden,unsere Rentenanpassungen seien jahrelang viel niedri-ger gewesen, als bei der Rente nach Inflationsausgleich.Ich möchte dazu feststellen: Wir haben sie nie willkür-lich festgelegt, sondern uns am Lohnniveau orientiert.Da die Zuwachsraten im Bereich der Löhne niedrig wa-ren, mußte auch die Rente entsprechend niedriger aus-fallen.
Aber wenn die Nettolöhne jetzt erstmalig steigen, sindSie diejenigen, die die Rentner nicht beteiligen.
– Frau Schmidt, hören Sie doch einmal eine Sekunde zu;denn es ist ganz wichtig, das zu wissen.
Ich will Ihnen ein weiteres sagen: Hätte man 1957 dieRente nicht an die Löhne, sondern an die Preise gebun-den, wären die Rentner in ihrer realen Kaufkraft heutedort, wo sie vor 42 Jahren waren.
Birgit Schnieber-Jastram
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4751
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Das müssen Sie sich einmal zu Gemüte führen. DerWert der Rente hat sich durch die Anbindung an dieLohnentwicklung seit 1957 um 230 Prozent erhöht.
Dieses Prinzip der Rentenversicherung wollen Sie außerKraft setzen! Dafür werden Sie bestraft werden. Wirmachen da nicht mit.
Ich möchte noch eines ausführen; der Kollege Kueshat das zu Beginn schon gesagt. Herr Riester, es wirdimmer deutlicher: Sie sind in der Tat ein Gefangener derSPD-Propaganda vor den Bundestagswahlen. Ich willgerne bei dem Bild bleiben, das ein Kollege heute schonbenutzt hat: Mittlerweile sind Sie einer der letzten Ge-fangenen, die tapfer im eigenen Käfig ausharren undsich dem demographischen Faktor verweigern, den Sievor den Bundestagswahlen so vehement bekämpft ha-ben. Denn der DGB ist soeben durch die Gitterstäbe ge-schlüpft und hat sich zum demographischen Faktor be-kannt. Deswegen fordern wir Sie auf: Folgen Sie demBeispiel des DGB – wir öffnen auch gern die Tür –, undführen Sie den demographischen Faktor ein. Hören Sieauf, sich so beratungsresistent gegenüber vielen gutmei-nenden Leuten zu verhalten.
Sie haben sich in der Rentenpolitik mittlerweile völ-lig isoliert. Ihre Rente nach Kassenlage wollen Sie un-beeindruckt vom Widerstand aller gesellschaftlichenGruppen durchziehen. Selbst die Gewerkschaften wollenIhren Rentenbetrug nicht mitmachen: DAG-VorstandFreitag spricht von einem mittleren politischen Skandal,DGB-Chef Schulte mahnt Sie, daß man beim Sparennicht mit der Brechstange ansetzen darf.Die Bundesregierung schlägt aber nicht nur die Prote-ste der Gewerkschaften, sondern auch die Warnungender von ihr zum Teil selbst bestellten Experten in denWind. Der Vorsitzende des Sozialbeirats, WinfriedSchmähl, und auch Ihr Berater in Rentenfragen, BertRürup, lehnen die Rente nach Kassenlage ab, aber Siewollen nicht hören. Auch die Sozialverbände habensich vehement gegen diese Rente nach Kassenlage aus-gesprochen. Der Reichsbund will im Oktober eine Stern-fahrt mit mehreren tausend Rentnern nach Berlin organi-sieren. VdK-Chef Hirrlinger spricht im Zusammenhangmit Ihrer Rentenpolitik von Flickschusterei. KommenSie zur Vernunft! Nehmen Sie Ihre unsoziale Rente nachKassenlage zurück!
– Sie werden es bereuen.Aber nicht nur die Rente nach Kassenlage, auch diegeplante bedarfsorientierte Mindestrente gehört in denReißwolf. Kommt die Mindestrente nämlich, dannpassiert es – auch das muß man einmal sehr deutlich sa-gen –, daß die Rentner durch eine Bedürftigkeitsprüfunggemangelt werden und ihre Vermögensverhältnisse of-fenlegen müssen. Sie haben nicht verstanden, daß dieRente kein Almosen ist, sondern ein durch Beiträge er-worbener Anspruch.
Es geht die Rentenversicherung einen Dreck an, was dieRentner besitzen. Die Rentenversicherung ist nicht dazuda, Rentner, die ein Leben lang gearbeitet haben, zu be-spitzeln.
Wenn Sie so weitermachen, werden fleißige Bei-tragszahler um ihre Lebensleistung gebracht. Dann istder Rentner nicht mehr Inhaber von Ansprüchen gegendie Rentenversicherung, sondern Empfänger von barm-herzigen Leistungen der Politik. Wir können nicht dul-den, daß aus Antragstellern Bittsteller werden. Jemand,der 20 Jahre Beiträge gezahlt hat, soll nach Ihrer Politikdas gleiche bekommen wie jemand, der 10 Jahre Beiträ-ge gezahlt hat. Das kann und darf nicht sein!
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt aufmerk-sam machen, den wir alle im Auge behalten sollten: Sieebnen mit Ihrer Politik den Weg zur steuerfinanziertenGrundrente, indem Sie den Steueranteil bei der Renten-versicherung immer mehr anheben. Schon jetzt über-steigt der Bundeszuschuß die versicherungsfremden Lei-stungen in der Rentenversicherung erheblich. Die weite-re Anhebung der Ökosteuer wird diese Entwicklungnoch verstärken. Mit Ihrer Politik wollen Sie die lei-stungsgerechte und beitragsbezogene Rente außer Kraftsetzen. Nach Ihrer Ideologie soll jeder die gleiche Rentebekommen, egal, wieviel Beiträge er gezahlt hat. Mit Ih-rer Politik treten Sie den fleißigen Arbeitnehmern in denHintern.
Wenn Sie das machen wollen, werden wir hier in der Tatrichtig Streit bekommen.
Was wir hier jetzt erleben, ist ein laues Lüftchen imVergleich zu dem Sturm, der dann kommt.
Die sozialpolitische Geisterfahrt der Bundesregierunggeht aber noch weiter: Um die Kritik der Gewerkschaf-ten an der Rente nach Kassenlage verstummen zu lassen,soll jetzt der schon totgewähnte Tariffonds wiederbe-lebt werden. Der Deal sieht so aus: Kommt die Rentemit 60, werden die Gewerkschaften die Rente nach Kas-senlage durchwinken. Das würde die Rentenpolitik al-lerdings um Jahre zurückwerfen. Das Geld wird dann fürBirgit Schnieber-Jastram
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zweifelhafte Frühverrentungsprogramme anstatt zurlangfristigen Sicherung der Rentenansprüche genutzt.
Der einprozentige Lohnabschlag – das wurde vorhinschon einmal sehr deutlich gesagt; Sie müssen es nurwissen und verstehen – kostet den Durchschnittsverdie-ner rund 500 DM pro Jahr, der ihm beim Aufbau seinereigentlich erforderlichen eigenen privaten Vorsorgefehlt. Die Generation der 60jährigen profitiert dagegendoppelt: Die Senioren können sich deutlich früher alsbisher geplant zur Ruhe setzen, und das auch noch miteinem Rentenniveau, von dem die heute 30jährigen nochnicht einmal träumen können.Das ist ein eindeutiger Verstoß gegen das Prinzip derGenerationengerechtigkeit.
Wir können Ihnen also nur raten: Lassen Sie die Fingervom Tariffonds!Das heißt natürlich nicht, daß wir uns nicht des Pro-blems älterer Arbeitnehmer annehmen müssen. Das istein Thema, das mir besonders wichtig ist. Ich finde esunerträglich, daß für Jugendliche – so wichtig das ist –großangelegte Förderprogramme aufgelegt werden, dieimmer stärker wachsende Zahl von Personen über55 Jahren jedoch kaum Berücksichtigung findet. Inno-vation und Erfahrung gehören in unserer Gesellschaftzusammen; die Arbeitsmarktzahlen belegen das. Hiermuß etwas getan werden.Während der Arbeitsmarkt nach Angaben des Präsi-denten der Bundesanstalt für Arbeit gegenüber demVorjahresmonat insgesamt entlastet ist, ist für 55jährigeund Ältere das Gegenteil festzustellen: Im Vergleichzum August 1998 lag die Zahl der älteren Arbeitslosenim August 1999 mit 937 388 deutlich höher. – Was istmit den von Ihnen angekündigten neuen Jobs? Nix ist.
Ich möchte mit zwei Wünschen schließen. Der ersteWunsch geht an die Regierung. Ich wünsche mir, daßdiese Regierung nicht jede Tür zuschlägt, nicht jedesAngebot sofort zurückweist – Herr Riester, Sie habendies eben wieder getan –, weil wir, wie ich glaube,dringlich Kooperation und gemeinsame Lösungen brau-chen.Der zweite Wunsch: gute Besserung für Sie alle mit-einander!
Ich war etwas vor-
eilig, als ich die letzte Rednerin zu diesem Punkt ange-
kündigt habe; denn der Kollege Peter Dreßen hat sich zu
einer Kurzintervention gemeldet.
Ich habe mich aus zwei Grün-
den gemeldet.
Erstens. Frau Schnieber-Jastram, ich war immer der
Meinung, daß wir in diesem Parlament ein Stück weit
ehrlich sein sollten. Ihre Rede basierte nun wirklich auf
falschen Angaben. Dies möchte ich an zwei Beispielen
deutlich machen.
Erstens. Sie sagten, wir würden die Leute durch eine
Grundsicherung in eine Bedürfnislage bringen, wir wür-
den sie bespitzeln, wir würden einen sozialen Schnitt
machen. Genau das aber gilt jetzt für diejenigen, die eine
niedrige Rente bekommen, die von der Sozialhilfe leben.
Diese Menschen müssen jedes Jahr zum Sozialamt ge-
hen und ihre Verhältnisse offenlegen; auch ihre Kinder
werden befragt. Genau diesen unwürdigen Zustand aber
wollen wir beseitigen. Sie haben also die Unwahrheit
gesagt.
Zweitens. Sie haben frisch und frei behauptet, wir
würden bei der Rente die Lohnbezogenheit außer Kraft
setzen. Sie wissen doch genau, daß wir von Anfang an
gesagt haben, daß dies nur für zwei Jahre gilt.
Das, was Sie gemacht haben, war blanker Populismus.
Sie wissen doch, daß das Gegenteil der Fall ist. Wir dis-
kutieren zur Zeit über eine Rentenreform. Natürlich wird
das eine oder andere noch in diese Debatte einbezogen
werden. Deshalb verstehe ich nicht, warum Sie die
Leute mit solchen unwahren Behauptungen verunsi-
chern.
Zur Erwiderung er-
hält die Kollegin Schnieber-Jastram das Wort.
Herr Dre-ßen, vielleicht sollten wir Ihnen einmal einen Kursus zurRentensystematik anbieten.
Die Höhe der Rente hat damit zu tun, wie viele Jahrewelcher Beitrag eingezahlt worden ist. Am Ende gibt eskeine Bedürftigkeitsprüfung. Rente ist vielmehr ein Be-sitzanspruch; sie resultiert aus eigenen Beiträgen für ei-gene Leistungen.
Wenn Sie das nicht so sehen, dann sollten Sie, wie ge-sagt, einen Kursus belegen.
Zu dem zweiten Punkt, den Sie angesprochen haben.Bei immer höheren Anteilen aus dem Steuertopf für dieRentenversicherung geraten wir in die Situation, daß dieBirgit Schnieber-Jastram
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Rente zwangsweise – dann auch auf Grund juristischerMeinung – zu einer staatlichen Versorgung wird.Ich sehe es als meine Pflicht in diesem Parlament an,Ihnen und allen anderen in diesem Punkt die Augen zuöffnen.
Weitere Wortmel-
dungen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende des
Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Arbeit
und Sozialordnung.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums des Innern; das sind die Einzel-
pläne 06 und 33.
Ich gebe Bundesinnenminister Schily das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren Kollegen! Wie alle an-deren Ressorts muß sich auch das Innenressort solida-risch daran beteiligen, daß wir die Finanzen, den Haus-halt konsolidieren, den wir von der alten Bundesregie-rung bekanntlich in einem zerrütteten Zustand habenübernehmen müssen.
Wenn man – trotz des Gelächters der Opposition –das Zivilrecht zugrunde legen würde, dann hätten wirdiesen Nachlaß eigentlich wegen Überschuldung aus-schlagen müssen. Aber so geht es ja nun im öffentlichenLeben nicht zu, sondern wir müssen mit diesen Finanzenzurechtkommen.Für das Bundesinnenministerium ist die Tatsache,daß auch wir den Sparbeitrag von 7,4 Prozent erbrin-gen müssen, natürlich eine besondere Schwierigkeit.Diejenigen, die sich in diesem Ressort auskennen, wis-sen das.Für das kommende Haushaltsjahr, über das wir jetztsprechen, bedeutet das ein Einsparvolumen von 536,6Millionen DM. Das steigt in der Finanzplanung auf894,3 Millionen DM, also knapp 900 Millionen DM, imJahre 2003.In dem zur Diskussion stehenden Haushaltsjahr sinddas 7,4 Prozent, später 12,3 Prozent des Haushaltsvolu-mens.Wenn man sich die Haushaltsstruktur des Innenmi-nisteriums anschaut, dann weiß man, welche Schwierig-keiten sich auftun. Nach dem Haushaltsentwurf werdenrund 85 Prozent des Einzelplansolls verausgabt für 23Verwaltungsbehörden einschließlich des Ministeriumsund des Bundesamtes für Verfassungschutz. Für dreiweitere Kapitel, zwei Zuwendungs- und Zuschußkapitelsowie die Beschaffung für die Bereitschaftspolizeien derLänder verbleiben rund 15 Prozent.In dem Haushalt überwiegen die Personalausgabenfür die rund 57 000 Beschäftigten. Ohne das Bundesamtfür Verfassungschutz sind rund 4 Milliarden DM veran-schlagt. Das sind 57,3 Prozent des Einzelplanansatzes.Es entfallen über 60 Prozent der Ausgaben des Ein-zelplanes in Höhe von 4,2 Milliarden DM auf den Si-cherheitsbereich. Dieser umfaßt das Bundesamt fürVerfassungschutz, das Bundeskriminalamt, das Bundes-amt für Sicherheit in der Informationstechnik, Beschaf-fungen für die Bereitschaftspolizeien der Länder und lastnot least den Bundesgrenzschutz.Wir haben zwei Ansätze gewählt, um dieses Einspar-volumen zu erreichen, ohne daß damit Einbußen geradebei der inneren Sicherheit hingenommen werden müs-sen. Das war unser vordringlichstes Ziel. Ich glaube, daßwir das auch erreicht haben. Unser vordringlichstes Zielist, daß die innere Sicherheit für unsere Bürgerinnen undBürger weiterhin gewährleistet ist.
Ich kann schon vorweg sagen: Die Ausgaben für dieinnere Sicherheit in diesem Etat sinken nicht, sondernsie steigen. Ich glaube, allein das ist Ausdruck dessen,daß wir den richtigen Ansatz gewählt haben.Der zweite Ansatz, den wir gesucht und mit einemvernünftigen Ergebnis auch gefunden haben, lautet, daßwir die Einsparbemühungen, die Konsolidierung derFinanzen verbinden mit der Verwaltungsmodernisie-rung, indem wir nämlich alle Institutionen, alle Ausga-ben auf den Prüfstand stellen und uns überlegen, wo Ef-fizienzpotentiale sind, die nicht ausgeschöpft sind. Ichwerde Ihnen eine Reihe dieser Ansätze nennen. Die or-ganisatorischen Maßnahmen sind breit gefächert.Es geht etwa um die Frage, ob die Einrichtung einesOberbundesanwalts noch Sinn macht oder nicht. Dortbesteht ein Einsparvolumen. Ich gebe zu – das habe ichin allen Fragen so gehandhabt –, daß wir da, wo es ver-nünftige Ansätze der alten Bundesregierung gab, diesefortgeführt haben.Das gilt auch – ich komme später darauf zurück – fürdie Reform des Bundesgrenzschutzes, die ich nichtzuletzt im Hinblick darauf überprüft habe, daß einige –verständlicherweise – sehr massiv für die Beibehaltungbestimmter Standorte eingetreten sind, wie das auchjetzt wieder auf allen Seiten des Hauses bei der Klärungder Frage, welche Spätaussiedlereinrichtungen beste-henbleiben sollen, geschieht. Das ist immer so: Wennein Standort geschlossen werden soll, dann gibt es ausden verschiedensten Richtungen sich übrigens in denFraktionen sehr widersprechende Engagements für be-stimmte Standorte.Das verstehe ich gut. Aber ich bitte um Verständnis,daß wir dies unter einem generellen Gesichtspunkt prü-fen müssen und uns nicht allein für partikuläre Interes-sen verwenden können.Unter diesem Gesichtspunkt haben wir entschieden,daß das Bundesamt für Zivilschutz zum 1. Januar 2001aufgelöst wird und daß die Aufgaben, die diesem Bun-desamt zugeordnet sind, auf das Bundesverwaltungsamtübertragen werden. Das Bundesverwaltungsamt wirdviele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Bundes-amt für Zivilschutz übernehmen. Dadurch sparen wir ei-ne ganze Menge an Overheadkosten.Birgit Schnieber-Jastram
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4754 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Ähnliches gilt für die Auflösung der Einrichtung desBundesdisziplinaranwaltes. Diese wird parallel zu ei-ner Reform des Disziplinarrechtes vollzogen.Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung desVermögens der Parteien und Massenorganisationen derDDR hat gute Arbeit geleistet, für die ich mich an dieserStelle bedanken möchte. Aber diese Arbeit ist im we-sentlichen geleistet. Deshalb kann das Sekretariat dieserKommission aufgelöst werden.Wir schließen vier Erstaufnahmeeinrichtungen fürSpätaussiedler. Ob Bramsche oder Friedland betroffensein werden, ist noch umstritten. Wir werden diekostengünstigste Lösung wählen, die dann meiner Mei-nung nach auch die beste sein wird.
– Wir führen zur Zeit darüber Gespräche. Ich sage Ihnenzu: Wir werden die kostengünstigste Lösung wählen.Wer in diesem Zusammenhang Gesprächsbedarf hat, istherzlich in mein Ministerium eingeladen. Es sind jaschon einige Gesprächswünsche an mich herangetragenworden.Wir haben die Aufbaustruktur des Bundesamtes fürdie Anerkennung ausländischer Flüchtlinge gestrafft.Wir straffen die Aufbaustruktur der Gauck-Behörde.Wir werden das Bundesinstitut für Sportwissenschaftenüberprüfen, und wir werden auch andere Einrichtungendahin gehend auf den Prüfstand stellen, ob wir dort nichtEffizienzgewinne erzielen können.Lassen Sie mich ein paar Worte zu dem BereichSpätaussiedler, deutsche Minderheiten und Vertriebenesagen. Ich glaube, es ist richtig – das hat auch meinKollege Jochen Welt, der Aussiedlerbeauftragte, in ei-nem neuen Konzept entwickelt –, daß wir eine deutlicheAkzentverschiebung zugunsten der gesellschaftlichenIntegration der Spätaussiedler vollzogen haben.
Deshalb sind ja die Ausgaben in diesem Bereich in1998, also noch zu Zeiten der alten Regierung, von 32Millionen DM auf über 42 Millionen DM in diesemJahr, also um 10 Millionen DM, erheblich aufgestocktworden. Sie werden im Jahre 2000 noch einmal auf 45Millionen DM gesteigert. Das ist auch im Sinne derjeni-gen in der Opposition, die sich mit Recht für eine solcheIntegrationspolitik einsetzen. Ich denke, wir können ge-meinsam eine solche Politik stützen.Ich bin der Meinung, daß Jochen Welt mit der Neu-ausrichtung der Förderpolitik – weg von nicht kontrol-lierbaren Großinvestitionen hin zur Hilfe zur Selbsthil-fe – richtig handelt. Auf diese Weise haben wir Einspar-potentiale entdeckt, die vernünftig sind.
Wir wollen keine Investitionsruinen, die – wie es leiderder Fall ist – in den fremden Ländern herumstehen unddort vor sich hinrosten; wir wollen durch sehr gezielteHilfe vielmehr dafür sorgen, daß diejenigen Menschen,die in den Ländern bleiben wollen, dort auch bleibenkönnen, um dort gute Arbeit zu leisten. Deswegen wer-den wir, wie gesagt, auch im Bereich der Erstaufnahme-einrichtungen eine Neuordnung vornehmen.Sie alle wissen, daß der Innenminister auch für denSport zuständig ist. Das ist eine, wie ich finde, schöneund wichtige Aufgabe. Ich denke, daß wir in diesem Be-reich eine gute Bilanz aufzuweisen haben. Ich hätte jetztgerne einmal dargestellt, wie positiv sich die Sportpoli-tik unter der neuen Bundesregierung entwickelt hat.
Wir sind aber bei der Haushaltsberatung; dazu habe ichim Moment nicht genug Redezeit.Folgenden Punkt halte ich für wichtig: Trotz derSparnotwendigkeiten können wir die Sportförderung aufdem Niveau von 1999 erhalten. Dabei ist besonderswichtig, daß wir den Goldenen Plan Ost fortführen kön-nen, damit die Sportstätteninfrastruktur in den neuenBundesländern, die noch sehr zu wünschen übrig läßt,Schritt für Schritt verbessert wird. Ich glaube, das sindwir den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bun-desländern schuldig.
Wir haben ein wichtiges Sportereignis hoffentlich voruns: nämlich die Fußballweltmeisterschaft im Jahre2006. Ich bin optimistisch, daß wir eine gute Chance ha-ben, sie durchzuführen. Deswegen finde ich es richtig,daß wir von Bundesseite einen Beitrag für die Sanierungdes Olympiastadions und des Stadions in Leipzig lei-sten. Ich bin dankbar dafür, daß der frühere Bundes-kanzler Kohl schon eine Zusage gemacht hat. Wir er-halten diese Zusage aufrecht; das erachte ich für wichtigund notwendig.
Der wichtigste Punkt für mich ist, daß wir die innereSicherheit stärken und dort keine Einbußen erleiden.Wir können von uns sagen, daß wir im internationalenVergleich zu einem der sichersten Länder in der Weltüberhaupt gehören. Deshalb sind Ausgaben auf diesemGebiet gut investiertes Geld. Das ist übrigens ein wich-tiger Standortvorteil auch im wirtschaftlichen Wettbe-werb. Also sind wir gut beraten, dieses hohe Niveau derinneren Sicherheit aufrechtzuerhalten. Deshalb habenwir in den Einzelansätzen Steigerungsraten: beim Bun-desamt für Verfassungsschutz von 3,57 Prozent; beimBundesgrenzschutz von 2,43 Prozent; beim Bundeskri-minalamt von 3,37 Prozent.Beim Bundesgrenzschutz möchte ich auf einen be-sonderen Sachverhalt hinweisen: Indem wir das He-bungsprogramm erheblich aufgestockt haben, haben wiretwas Wichtiges dafür getan, daß die Stellenstruktur imBundesgrenzschutz besser wird und wir dort eine Qua-litätsverbesserung zu verzeichnen haben. Sie wissenja, daß in den zurückliegenden Jahren ein sehr starkerPersonalzuwachs stattgefunden hat – vielleicht nichtimmer mit den Qualitätsanforderungen, die notwendigBundesminister Otto Schily
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waren. Deshalb glaube ich, daß gerade an dieser Stelleeine solche Qualifizierungsoffensive notwendig undwichtig ist.Auch auf der internationalen Ebene haben wir dieMittel aufgestockt; wir haben zum Beispiel die Mittelfür Europol im Jahre 2000 auf 15,7 Millionen DM er-höht; das ist eine Steigerung von 50 Prozent.Ich glaube, daß wir deshalb sagen dürfen, daß diePolitik der Bundesregierung im nationalen, im interna-tionalen und insbesondere im europäischen Rahmen zueiner erheblichen Verbesserung geführt hat. Auf diesemGebiet haben wir – auch auf der Grundlage der Haus-haltszahlen, die ich Ihnen vorgetragen habe – sowohldurch Sicherheitspartnerschaften im Lande mit den ein-zelnen Bundesländern als auch durch eine Vielzahl vonKooperationsabkommen mit unseren Nachbarstaatenoder etwas entfernter liegenden Staaten eine sinnvolleSicherheitsstruktur aufgebaut. Ich meine, daß das Aus-weis einer soliden und erfolgreichen Sicherheitspolitikist,
die wir allerdings – das sage ich zum Schluß – in allerer-ster Linie denjenigen zu verdanken haben, die vor Ortgute Arbeit leisten.Ich finde, es gehört sich für den Bundesinnenmini-ster, daß er die Gelegenheit wahrnimmt, allen Beamtin-nen und Beamten, die in diesen Sicherheitsinstitutionen,im Bundeskriminalamt, beim Bundesamt für Verfas-sungsschutz, beim Bundesgrenzschutz, beim Bundesamtfür Sicherheit in der Informationstechnik, aber auch imMinisterium arbeiten, seinen Dank für vorzügliche Ar-beit auszusprechen.Diesen Dank möchte ich besonders an diejenigenrichten, denen ich in besonderer Weise verbunden bin,nämlich den Beamten, die in diesen Wochen einenDienst auf sich genommen haben, der wahrlich bürger-liches Engagement, Sachkunde und Einsatzbereit-schaft in sehr hohem Maße erfordert. Das sind die Kol-leginnen und Kollegen, die sich bereit erklärt haben, imKosovo die Ermittlungsarbeit für Kriegsverbrechen zuleisten,
und sich an dem Aufbau des internationalen Polizeikon-tingents beteiligen.Meine Damen und Herren, in der kurzen Zeit, die mirzur Verfügung steht, konnte ich leider auf viele Dingenicht eingehen, aber ich nehme an, in der Diskussion er-gibt sich noch die Gelegenheit zu dem einen oder ande-ren Dialog.Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun Herr Kollege Dr. Jürgen Rüttgers.
Herr Präsident!Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier gera-de, wenn mein Gefühl mich nicht täuscht, eine sehrlustlose Rede des Bundesinnenministers gehört.
Vielleicht wollte er uns einfach deutlich machen, wieschwer es ist, in einer Zeit Minister zu sein, in der einemder Haushalt aus den Fingern rinnt, nachdem man zuerst30 Milliarden DM durch den Kamin gejagt hat und jetztauf der Suche nach den 30 Milliarden DM ist.Herr Schily, Sie haben gesagt, daß das WesentlicheIhrer Haushaltsbemühungen gewesen sei, alle Ausgabenauf den Prüfstand zu stellen. Nur, das gehört zu den Mi-nisterpflichten. Jeder Minister muß das jedes Jahr tun.Aber es gibt, glaube ich, noch einen anderen Maßstab,an dem man die Arbeit eines Ministers messen muß.Dieser Maßstab ist – ich habe ihn für meine Ausführun-gen gewählt –: Was schlägt sich eigentlich von all denAnkündigungen, die man im Laufe eines Jahres gemachthat, in der konkreten Haushaltswirklichkeit dieser Re-gierung nieder?Ich darf einmal daran erinnern, daß wir vor wenigerals einem halben Jahr in diesem Parlament sehr intensivüber die Frage eines neuen Ausländerrechts diskutierthaben, darum gerungen haben, wie es da weitergeht, unduns mit der Frage beschäftigt haben: Wie gelingt es ei-gentlich, die hier rechtmäßig und dauerhaft lebendenAusländer besser zu integrieren? Schaue ich jetzt indiesen Haushaltsplanentwurf hinein, dann stelle ich fest,daß Sie trotz der bekannten Regelungslücken und Wer-tungswidersprüche in dem Gesetz zur Neuordnung desStaatsbürgerschaftsrechts, das Sie vor der Sommerpausedurch das Parlament gepeitscht haben, in diesem Haus-halt keine einzige neue Initiative zur Integration derrechtmäßig und dauerhaft hier lebenden Ausländer vor-gesehen haben.Sie haben damals unser Integrationskonzept abge-schmettert. Das müssen Sie selbst verantworten. Aberwo ist eigentlich das Integrationskonzept dieser Bundes-regierung, die nach außen immer so tut, als stehe sie fürIntegration, in Wahrheit aber die Ausländerinnen undAusländer in diesem Land alleinläßt? Das ist der ersteKritikpunkt.
Aber es ging bei diesem Gesetzgebungsvorhaben inWahrheit ja auch nicht um Integration, sondern umIdeologie und Machterhalt. Ich habe vor wenigen Tagen,am 9. September, in einem Artikel des „Kölner Stadt-Anzeigers“ eine hochinteressante Aussage der Ent-wicklungshilfeministerin, Mitglied dieses KabinettsSchröder, gelesen, die in einer Diskussionsveranstaltunggesagt hat, unter den Wahlberechtigten mit Migrations-hintergrund könne die SPD mit Stimmenanteilen vonüber 50 Prozent rechnen. Sie fügte hinzu: Hier liegenWählerpotentiale, die, richtig und vernünftig angespro-chen, manche Kommunalwahl in Großstädten entschei-den können.Bundesminister Otto Schily
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4756 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Hier kann ich Ihnen helfen: in Krefeld 62,9 Prozentfür die CDU, in Solingen 59,3 Prozent, in Neuss59,3 Prozent, in Münster 57,5 Prozent, in Essen51,7 Prozent, und ich könnte noch zehn Minuten soweitermachen. Die Ausländerinnen und Ausländer, ge-rade die vielen, die im Ruhrgebiet leben, wissen genau,daß sie von dieser Bundesregierung bei der Frage derIntegration im Stich gelassen werden. Ein neuer Paß er-setzt eben nicht den Sprachunterricht vor Ort. Das ist derVorwurf, den ich Ihnen mache. Sie haben sich verkal-kuliert.
Nehmen Sie einen zweiten Punkt: Diese Bundesregie-rung redet viel von nationalen Interessen, die sie durch-setzen will. Sie, Herr Schily, frage ich: Was haben Siewährend Ihrer EU-Präsidentschaft an nationalen Interes-sen in Ihrem Zuständigkeitsbereich durchgesetzt? Wo isteigentlich das faire und angemessene System in Europabei der Aufnahme von Flüchtlingen, für das Sie sich ein-setzen wollten? Wo ist eigentlich der europaweite Soli-darausgleich? Was ist aus ihm geworden?Bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme aus demKosovo haben wir nichts davon gemerkt. Sie waren esdoch, der die Flüchtlingspolitik zum Schwerpunkt IhrerRatspräsidentschaft machen wollte. Sie waren es doch,der ein europaweites System zur Identifizierung vonFingerabdrücken von Asylbewerbern und illegal Einge-reisten oder Eingeschleusten schaffen wollte. Von dieserDatei haben wir bis heute nichts gesehen.
Herr Kollege Rütt-
gers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Bundesin-
nenministers?
Selbstverständ-
lich.
Gut, hier des Abge-
ordneten. Er ist aber auch Bundesinnenminister.
Herr Kollege Dr. Rüttgers, ist
Ihnen entgangen, daß während der deutschen Ratspräsi-
dentschaft das Eurodac-Abkommen zu Ende geführt
worden ist, daß aber mit Rücksicht auf die Tatsache, daß
ab 1. Mai 1999 der Amsterdamer Vertrag gilt, die for-
melle Seite der Kommission zufällt? Die Arbeiten sind
während der deutschen Ratspräsidentschaft abgeschlos-
sen worden.
Ist Ihnen entgangen, daß es bei der Frage der Flücht-
linge aus dem Kosovo dank des intensiven Engagements
der deutschen Bundesregierung gelungen ist, dafür zu
sorgen, daß die Mehrzahl der Flüchtlinge vor Ort, näm-
lich in Albanien, in Mazedonien und anderen an den
Kosovo angrenzenden Ländern, versorgt worden ist und
daß von der Bundesrepublik lediglich 15 000 Vertriebe-
ne aufgenommen worden sind, während europaweit
60 000 aufgenommen wurden?
Ist Ihnen entgangen, Herr Dr. Rüttgers, daß während
des Bosnien-Konflikts unter der alten Bundesregierung
320 000 Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen wor-
den sind und praktisch keine vom übrigen Europa?
Ist Ihnen entgangen, Herr Dr. Rüttgers, daß es wäh-
rend der deutschen Präsidentschaft gelungen ist, Euro-
pol, die europäische Polizeibehörde, ab 1. Juli 1999 ar-
beitsfähig zu machen?
Ist Ihnen entgangen, Herr Dr. Rüttgers, daß während
der deutschen Ratspräsidentschaft Schengen – eine sehr
komplizierte Materie, wie Sie vielleicht wissen – in den
Amsterdamer Vertrag integriert worden ist?
Wer ein wenig Sachkunde besitzt, weiß, daß die deut-
sche Ratspräsidentschaft in der Innen- und Rechtspolitik
besonders erfolgreich war. Wenn Sie das nicht anerken-
nen wollen, erkundigen Sie sich bei den europäischen
Regierungen, damit Sie sich sachkundig machen.
Herr Kollege
Schily, das ist mir nicht entgangen. Ich habe das, was
ich gesagt habe, an dem gemessen, was Sie angekündigt
haben. Das, was Sie durchgesetzt haben, liegt weit unter
dem, was Sie vorher angekündigt haben. Das ist exakt
das, was ich hier kritisiere. Das ist auch genau das, was
wir immer von Ihnen hören. Sie kündigen zum Beispiel
an, Sie wollten sorgfältig untersuchen lassen, ob es ein
bilaterales Abkommen mit der Türkei gibt. Wo ist es
bitte, Herr Schily?
Sie sagen zum Beispiel im Zusammenhang mit Öca-
lan: Wir wollen einen europäischen Gerichtshof haben.
Wo ist er denn bitte? Sie sagen: Wir wollen Fingerab-
druckdateien. Wo sind sie denn bitte? Wo schlägt sich
das alles nieder?
Daß man immer dann, wenn man zu den Kollegen in
Europa fährt – das habe ich als Minister auch gemacht –,
ein Stückchen weiterkommt, weiß ich auch. Daß man in
Europa immer wieder einen Kollegen findet, der, weil er
andere Interessen verfolgt, sagt „Wir sind ein gutes
Stück weitergekommen“, das weiß ich auch. Das ist aber
nicht der Maßstab. Der Maßstab, der hier zugrunde zu
legen ist, ist, ob wir inzwischen in Europa ein System
haben, das wirklich sicherstellt, daß es hier zu einem
Solidarausgleich kommt. Den gibt es bisher nicht.
Kollege Rüttgers,
gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen
Schily?
Ja.Dr. Jürgen Rüttgers
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(D)
Herr Kollege Dr. Rüttgers, ich
stelle zunächst einmal fest, daß Sie meine Fragen nicht
beantwortet haben. Aber das ist ja klar.
Ist Ihnen nicht bekannt, daß für Fragen bezüglich der
Justiz eine Kollegin zuständig ist, nämlich die aus dem
Justizressort? Sie haben selber einmal sehr befehdet, daß
man beide Ressorts zusammenlegt. Für Fragen bezüg-
lich des Justizressorts dürfen Sie mich nicht in Anspruch
nehmen. Darin, daß die Schaffung eines internationalen
Gerichtshofes natürlich eine Schwierigkeit darstellt,
können wir uns aber vielleicht einig sein.
Ich möchte Sie auch auf den zweiten Sachverhalt an-
sprechen. Ist Ihnen nicht bekannt, Herr Kollege Dr.
Rüttgers, daß gerade die bilaterale Zusammenarbeit mit
der Türkei durch die alte Bundesregierung ziemlich in
Schwierigkeiten geraten ist, weil sich das Verhältnis zur
Türkei unter der alten Bundesregierung wirklich negativ
entwickelt hat? Erst der neuen Bundesregierung ist es
gelungen, dieses Verhältnis in hohem Maße zu verbes-
sern, so daß wir jetzt bessere Aussichten für ein Ab-
kommen haben, als es bisher der Fall war.
Wir werden das mit aller Vorsicht und aller Geduld an-
gehen.
Wir können nicht alles – wie Sie sich das einbilden –
in einem Dreivierteljahr aufräumen. Wir können nicht
die Schulden und auch nicht die Arbeitslosigkeit in
einem Dreivierteljahr abbauen. Wir können so schnell
auch nicht die Versäumnisse beheben, die Sie uns in der
Türkeipolitik hinterlassen haben.
Die Frage, obmir bekannt ist, daß es Schwierigkeiten zwischen deralten Bundesregierung und der Türkei gegeben hätte,beantworte ich mit Nein.
Die Frage, ob es jetzt ein besseres Verhältnis zurTürkei gibt, beantworte ich ebenso mit Nein; speziell indem Zusammenhang, den Sie ansprechen, denn ich sehedie Ergebnisse nicht. Herr Schily, sich hier hinzustellenund zu sagen: Das sind alles ganz furchtbare Sachen, daskann ich nicht in einem Dreivierteljahr lösen, das ist ameinfachsten. Ich gebe zu, das haben wir 1982/83 auchmanchmal gemacht.Das könnten wir alles noch durchgehen lassen, wennSie im vergangenen halben bis dreiviertel Jahr denMund nicht so voll genommen, alles angekündigt undgesagt hätten: Das machen wir, das packen wir. Jetztschauen wir nach den Ergebnissen, aber es sind keineda. Das ist Ihr Problem. Sie stehen hier mit leeren Hän-den. Das ist das Problem Ihrer Politik. Das, was Sie hierzu diesem Haushalt vorgeführt haben, ist letztlich kon-zeptionslos. Ich bleibe bei dieser Einschätzung.
Wenn man sich damit auseinandersetzt, Herr Schily,welche Auswirkungen das hat, kommen Sie nicht daranvorbei, daß das, was Sie hier als vordringlichstes Zieldieses Haushaltes erklärt haben, nämlich die Gewährlei-stung der inneren Sicherheit, von Ihnen ausweislich derDaten des Haushaltes nicht erreicht werden kann. WasSie mit diesem Haushalt produzieren, ist eine Sicher-heitslücke.Wo wir gerade bei den Ergebnissen Ihrer EU-Präsidentschaft sind, wollen wir uns doch bitte die Fragestellen, was im Bereich der inneren Sicherheit gerade imHinblick auf die organisierte Kriminalität festzustellenist. Wenn das Bundeskriminalamt in seinem Lageberichtfeststellt, daß gerade die organisierte Kriminalität ausdem Kosovo eine extreme Gewaltbereitschaft habe unddaß es hierbei eine äußerst massive und brutale Gewalt-ausübung gebe, stelle ich Ihnen auch angesichts diesesHaushaltes die Frage: Was haben Sie getan, um die or-ganisierte Kriminalität besser zu bekämpfen? Jetzt rächtsich eben, daß auf Ihr Betreiben hin die akustischeÜberwachung von Gangsterwohnungen verwässert wor-den ist.
Ich stelle Ihnen die Frage: Warum sperren Sie sich ge-gen die optische Überwachung von Gangsterwohnun-gen? Warum wird der Verfassungsschutz nicht in allenLändern im Vorfeld eingesetzt?Statt dessen haben Sie – auch das ist ein interessanterPunkt – und hat diese Regierung mit Bodo Hombacheinen Mann zum EU-Sonderkoordinator für die Stabili-tät auf dem Balkan gemacht, der mehr Zeit dafürbraucht, sich in seinen Affären zurechtzufinden, als sichum den Aufbau des Balkans zu kümmern und damitauch dieser Not und dieser Kriminalität den Boden zuentziehen.
Wenn man sich anschaut, welche Maßnahmen Sieeingeleitet haben, stellt man fest, daß Sie die Mittel fürdie bessere Ausstattung der Bereitschaftspolizei imnächsten Jahr von 39 Millionen DM auf 32 MillionenDM, im Jahr 2001 von 32 Millionen DM auf 6 Millio-nen DM und im Jahr 2002 auf null DM kürzen. StattSicherheit produzieren Sie Sicherheitslücken. Diesschlägt sich im Haushalt nieder, und diesem Eindruckkann man sich nicht entziehen.Wenn ich höre, daß darüber nachgedacht wird, fürden Einsatz des Bundesgrenzschutzes auf Bahnhöfenund in Zügen noch Geld zu kassieren, dann komme ichzu dem Schluß, daß die Lage noch bedenklicher wird.Sollen demnächst die Fußballvereine für den Einsatz derPolizei bei Fußballspielen bezahlen?
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4758 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Sollen die Eltern für die Sicherung der Schulwege durchdie Polizei bezahlen? Sollen die Bürger für die Streifen-fahrten der Polizei in ihren Wohnvierteln bezahlen?Klatschen Sie weiter! Das Gewaltmonopol ist einekulturelle Leistung. Der Staat kann nicht plötzlich erklä-ren, daß er in irgendeinem Bereich für die Gewährlei-stung der inneren Sicherheit noch Gebühren verlangt.Wer diesen Weg einmal beschreitet, begibt sich auf eineschiefe Bahn, von der er letztlich nicht mehr herunter-kommt.
Es darf nicht wieder dazu kommen, daß die innereSicherheit letztlich vom Geldbeutel und damit von derFrage abhängt, ob man das Geld für die Installation teu-rer Alarmanlagen in seinem Haus oder für die Bezah-lung „schwarzer Sheriffs“ hat. Wenn ich lese, daß in-zwischen in Deutschland 200 000 Menschen in privatenWachdiensten arbeiten, es aber nur 314 000 Polizeibe-schäftigte gibt, dann sage ich: Es wird Zeit, daß wir überdie Frage der Gewährleistung der inneren Sicherheit undüber das Gewaltmonopol diskutieren.
Kollege Rüttgers,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Graf?
Aber natürlich.
Herr Kollege Rütt-
gers, Sie versuchen, der deutschen Öffentlichkeit gegen-
über den Eindruck zu erwecken, als würde hier ganz
Schlimmes passieren. Halten Sie es nicht für richtig,
sich im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen in deut-
schen Stadien darüber Gedanken zu machen – und das
vor allem angesichts der Tatsachen, daß die Vereine,
Spieler und Trainer immense Summen in Millionenhöhe
verdienen, daß die Stadien mit Steuergeldern subventio-
niert werden und daß jedes Wochenende Tausende Poli-
zisten eingesetzt werden –, ob die Vereine einen Beitrag
zur Sicherheit leisten sollen? Halten Sie es nicht für an-
gebracht, daß man da einmal über andere Regelungen
nachdenkt?
Nein, ich haltedies für einen ganz gefährlichen Weg, der, einmal be-gonnen, letztendlich dazu führt, daß es vom Geld ab-hängt, ob die innere Sicherheit gewährleistet wird odernicht. Diesen Weg darf man nicht beschreiten.
Wenn man schon dabei ist, über innere Sicherheit undüber die Ausstattung der Bereitschaftspolizei zu disku-tieren, dann muß man auch ein Wort zur Polizeibesol-dung sagen. Es ist sehr interessant, daß der dafür zu-ständige Minister zu den Tarif- und den Besoldungsfra-gen in seiner Rede kein einziges Wort gesagt hat. Werwie Sie, Herr Schily, in diesem Jahr die Beamtenbesol-dung von den Tariferhöhungen abkoppelt, der trifft –und das wissen Sie auch – vor allem die Beamten desmittleren und des gehobenen Dienstes, das heißt, vorallem die Polizisten und die Justizbeamten. Völlig un-verständlich ist es, daß Sie die zum 1. Juni dieses Jahresvorgesehenen Anpassungen der Beamtengehälter an denTarifabschluß kurz vor der Beratung des Besoldungsge-setzes im Innenausschuß des Bundestages durch einenAntrag der Koalitionsfraktionen kassiert haben.Damit noch nicht genug. Jetzt ist es sogar wieder of-fen, ob der 1. Juni überhaupt noch gilt. Den Beamten derBesoldungsgruppe B, deren Bezüge ja erst zum 1. Janu-ar 2000 erhöht werden sollen, die aber bereits einen Ab-schlag auf die vorgesehene Erhöhung der Bezüge zum 1.Juni erhalten haben, wurde dieser Abschlag wieder ab-gezogen. Um das Maß der Verwirrung und der Mißach-tung der Beamten voll zu machen, sollen Beamte, Ange-stellte und Arbeiter künftig nur noch den Inflationsaus-gleich erhalten und damit von der Wohlstandsmehrungder Bevölkerung ausgeschlossen werden. Wie war dasdoch mit der Nachfragetheorie, die noch vor wenigenMonaten von Ihrem damaligen Parteivorsitzenden vor-getragen wurde?
Wo schlägt sich diese Theorie in Ihrem Handeln nieder?In Wahrheit ist Ihre Politik gegenüber den Beamten, denAngestellten und den Arbeitern im öffentlichen Dienstunfair und ungerecht.Herr Schily, ich glaube Ihnen wirklich von Herzen,daß der eben von Ihnen an die Polizeibeamten ausge-sprochene Dank ehrlich gemeint war. Aber er wäreglaubwürdiger, wenn Sie sie nicht so behandeln würden,wie Sie sie im Tarif- und Besoldungsbereich behandeln.So geht man nicht mit Polizisten und kleinen Beamtenum, Herr Schily.
Sie haben Ihre neuen Büros in Berlin für 1,6 Millio-nen DM nachträglich umbauen lassen. Aber Sie habenkein Geld für die Beamten. Diese Regierung hat Geld,um einen Luxus-Dienstwagen von Mercedes für den Ex-Kanzleramtschef Hombach zu beschaffen, weil ihm dervom Bundeskriminalamt zur Verfügung gestellte fabrik-neue gepanzerte Audi A8 nicht gut genug war. Aber Siekürzen die Mittel für die Ausbildung der Bevölkerung inErster Hilfe von 15,7 Millionen DM auf 5,3 MillionenDM in diesem Haushalt. Das paßt eben nicht zusammen;das sind die Widersprüche, mit denen Sie sich auseinan-dersetzen müssen.Sie sagen, Sie seien auch von Herzen Sportminister.Aber wie begründen Sie dann, daß die Förderung desSpitzensportes für den Haushalt des Olympiajahres um9 Millionen DM gekürzt wird? Ferner haben Sie gesagt,der Sportstättenausbau in den neuen Bundesländernsei auf tollem Weg. 100 Millionen DM waren zugesagt;im Haushalt stehen aber nur 11 Millionen DM – unddas, obwohl jeder weiß, daß diese Förderung nicht nurder Gesundheit und dem Sport, sondern der Infrastrukturder neuen Bundesländer insgesamt dient und im Hin-blick auf Gemeinschaftserlebnisse, gerade bei den jun-gen Leuten dort, unglaublich wichtig ist.
Dr. Jürgen Rüttgers
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4759
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Herr Schily, das, was Sie zu diesem Haushalt vorge-tragen haben – Sie hätten sich damit gequält, Einsparun-gen vornehmen zu müssen –, war leider zu einfach. Siehaben über die Probleme im Beamtenbereich und im Be-reich der inneren Sicherheit hinweggeredet. Sie habentrotz der Kürzungen so getan, als sei nichts passiert. InWahrheit verfolgen Sie mit diesem Haushalt des Innen-ministeriums eine Politik, die konzeptionslos und unfairist, nämlich gegenüber den kleinen Leuten im Bereichdes öffentlichen Dienstes und denjenigen, die auf dasGewaltmonopol des Staates angewiesen sind. Das istnun wahrlich keine Bilanz, auf die Sie stolz sein können,Herr Schily.
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Otto Schily.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren Kollegen! Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen,
Herr Dr. Rüttgers: Ich habe in meinem parlamentari-
schen Leben noch keine Rede gehört, die so von Un-
wahrheiten strotzt wie die, die Sie heute gehalten haben.
Ich kann in einer Kurzintervention nicht auf alles ein-
gehen, aber daß Sie behaupten, die Bekämpfung der or-
ganisierten Kriminalität sei unter dieser Bundesregie-
rung geschwächt worden – in welcher Weise auch im-
mer –, ist die schlichte Unwahrheit. Wir haben das Sy-
stem der Kooperation für die Verfolgung der organi-
sierten Kriminalität international ausgebaut, während sie
bei Ihnen über Jahre blockiert war.
Das ist die Wahrheit! In der wichtigen Alpenregion bei-
spielsweise haben wir kürzlich ein mustergültiges Ab-
kommen mit der Schweiz geschlossen. Wir haben das
endlich auch mit Rußland zustande gebracht, bei all den
Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Gerade erst
haben wir ein wichtiges Vorhaben im Bereich der Be-
kämpfung der organisierten Kriminalität – Sie haben
sich ja gerade auf den Osten bezogen – gemeinsam, im
Konsens, zustande gebracht. Sie haben da eine andere
Position. Aber wir werden auf den Tisch legen, was da-
mit geschieht.
Im Bereich der Kriminalität, gerade der Gewaltkrimi-
nalität, verzeichnen wir in diesem Jahr einen deutlichen
Rückgang. Das ist – das müssen Sie zur Kenntnis neh-
men – ein Erfolg der Sicherheitspolitik.
Ich will Ihnen ein paar Zahlen nennen. Ich weiß
nicht, warum Sie jetzt Gemeinsamkeiten in Frage stel-
len. Das ist schade, ich finde es traurig. Aber so sind Sie
halt. Wir haben gemeinsam das BGS-Gesetz reformiert.
Das war ein Erfolg. Bei den Kontrollen, die wir im er-
sten halben Jahr durchgeführt haben, haben wir immer-
hin 40 000 Personenfahndungserfolge – auch solche mit
Verdacht auf Kapitalverbrechen – erzielt. Das sind
enorme Fortschritte in der inneren Sicherheit.
Herr Kollege Dr. Rüttgers, was Sie mir in bezug auf
die kleinen Beamten vorgeworfen haben, finde ich – das
sage ich Ihnen so deutlich – infam. Sie können un-
terstellen, daß sie auch mir am Herzen liegen. Hinsicht-
lich der Verschiebung der Besoldungserhöhung in die-
sem Jahr haben wir lediglich gesagt – gerade auf Grund
der Berücksichtigung der sozialen Komponente, mit
Blick auf die kleinen Beamten –: Die etwas Besserver-
dienenden, der Bundeskanzler, die Minister – das gilt für
mich –, die Staatssekretäre, können es hinnehmen, daß
die Besoldungsanpassung um ein paar Monate verscho-
ben wird.
Wenn Sie das in hohem Ton mit den Worten kritisieren,
das solle die kleinen Beamten treffen, dann finde ich das
ungeheuerlich.
Wer hat denn in den vergangenen Jahren welche Be-
soldungsanpassung vorgenommen? Schauen Sie doch
einmal nach! Wie oft lag die Besoldungsanpassung un-
terhalb der Inflationsrate? Sehen Sie nach! Oder lassen
Sie die Amnesie in Ihrem Kopf?
Ich will noch eines dazu sagen: Ich verstehe die Be-
amten, die vor meinem Ministerium gestanden haben.
Die Sparzwänge haben Sie doch erzeugt, nicht wir.
Wollen Sie mit 82 Milliarden DM Zinsen im Jahr wei-
terarbeiten? Also müssen wir sparen. Dafür finde ich bei
diesen Menschen mehr Verständnis als bei Ihnen. Sie
versuchen, die Situation in einer demagogischen Weise
auszunutzen. Ich sage Ihnen: Auf die Dauer wird Ihnen
das nicht helfen. Vielleicht haben Sie ein paar Augen-
blickserfolge, aber auf lange Frist werden die Leute
merken, daß Sie mit Unwahrheiten arbeiten. Das hat
aber auf lange Sicht erfreulicherweise keinen Erfolg,
weil die Menschen nicht so dumm sind, wie Sie glauben.
Kollege Rüttgers,
wollen Sie die Gelegenheit zur Antwort nutzen?
Ich will jetztnicht die Art und Weise kommentieren, in der HerrSchily geantwortet hat.
– Ich werfe ihm nichts vor; er hat versucht, mir einenVorwurf zu machen. Daß er sich aufregt, das gehört da-zu; ich werfe es ihm gar nicht vor. – Ich stelle fest, daßSie in der Sache keinem einzigen Punkt konkret wider-sprochen haben.
Dr. Jürgen Rüttgers
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4760 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Ich erteile dem Kol-
lege Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Schwä-bischen sagt man: „Net gschompfa isch gnuag globt!“Das heißt, die Schwaben sind sehr zurückhaltend mitLob. Trotzdem will ich von diesem urschwäbischenPrinzip ein wenig abweichen und das Innenministeriumdafür loben, daß es bei der schwierigen Frage der Auf-nahme von Kosovo-Albanern unseres Erachtens großzü-gig vorgegangen ist. Das wurde verschiedentlich ange-sprochen. Wir hätten uns gewünscht, daß andere euro-päische Regierungen ähnlich großzügig gewesen wären.Trotzdem war das, denke ich, in der Zeit der Ratspräsi-dentschaft ein wichtiges Signal gegenüber anderen eu-ropäischen Staaten. Ich hoffe, daß das kommt, was ver-schiedentlich angemahnt wurde, nämlich die europäi-sche Regelung zur Flüchtlingsaufnahme.Bei der Gelegenheit ein zweites Lob: Sicherlich ha-ben wir von dieser Stelle aus wenig Möglichkeiten ge-habt, die Schmerzen, die das Erdbeben in der Türkeihervorgerufen hat, zu lindern. Trotzdem war es gut undrichtig, daß wir uns bei der Frage der Visumsvergabe –ich meine die Aufnahme von Menschen, die inDeutschland Verwandte haben – vergleichsweise unbü-rokratisch gezeigt haben. Ich hoffe, daß diese Praxisfortgeführt wird. Denn die Menschen – gerade diejeni-gen, die alle Angehörigen verloren haben – sind drin-gend darauf angewiesen, wenigstens für eine befristeteZeit zu uns zu kommen.
Ich will auf eines der großen Reformvorhaben dieserLegislaturperiode zu sprechen kommen. Das Staats-angehörigkeitsrecht wurde vom Kollegen Rüttgers an-gesprochen. Wir haben zwar das Gesetz verabschiedet,aber die Frage der Verwaltungsvorschriften und dieFrage der Änderung von Folgegesetzen stehen nach wievor aus. Wir haben im Bundesrat eine neue Situation.Ich glaube, daß wir alle ein Interesse daran habenmüssen, die Punkte, die noch ausstehen, über die Frak-tionsgrenzen hinweg einer vernünftigen Lösung zuzu-führen.
Ich will nur ein Beispiel nennen, bei dem ich der Mei-nung bin, daß wir sicherlich alle ein Interesse daran ha-ben, eine sinnvolle Lösung zu finden.Ich rede jetzt nicht über die doppelte Staatsbürger-schaft, sondern über einen Punkt, über den Sie auch im-mer geredet haben. Wir haben die Fristen für einenRechtsanspruch auf Einbürgerung auf acht Jahre ver-kürzt. Es kann nicht sinnvoll sein, daß wir bei der Er-messenseinbürgerung ebenfalls bei einer Frist von achtJahren bleiben. Ich glaube, wir müssen insofern zu eineranderen Frist kommen.
– Ja, gut, dann machen Sie doch mit. Um so besser!Dann machen wir im Innenausschuß in Zusammenarbeitmit Ihnen eine vernünftige Vorlage.
Ein zweiter Punkt, der dringend ansteht, ist die Frageder Aufenthaltstitel. Auch insofern macht es sicherlichkeinen Sinn, bei der Aufenthaltsberechtigung bei achtJahren zu liegen, wenn nach dieser Zeit bereits dieStaatsbürgerschaft per Rechtsanspruch erlangt werdenkann.Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen,der von Ihren Kollegen im Innenausschuß – nicht vonuns, sondern aus den Reihen der CDU/CSU – angespro-chen wurde. Es geht um die Frage, was wir in den Fällenmachen, die auch nach dem neuen Staatsangehörigkeits-recht nur unzureichend gelöst sind. Das sind die Fälle, indenen sich der Staat im Auflösungszustand befindet oderin denen es Sonderprobleme gibt: Stichworte: Iran,deutsch-persisches Niederlassungsabkommen; Jugosla-wien, Nachfolgerepubliken. Ich möchte Sie daher bitten,beizutragen, daß wir auch in diesen Spezialfällen ge-meinsam eine sinnvolle Regelung finden.
Die F.D.P., die heute etwas spärlich besetzt ist – –
– Es trifft ja immer die Falschen, wenn man kritisiert.Deswegen schließe ich ausdrücklich – das sage ich inaller Deutlichkeit – die anwesenden Kollegen der F.D.P.von dieser Kritik aus. Wir arbeiten im Innenausschußhervorragend zusammen. Ich weiß, Ihre Kollegen sindmit der Frage der Nachfolgeregelung in Sachen Vorsitzin Ihrer Partei beschäftigt.
– Gut!Der Kollege Westerwelle reklamiert immer sehr ger-ne die Vaterschaft für das Staatsangehörigkeitsrecht. Ichmöchte seine Vaterschaft gerne auf die Optionslösungbeschränken; über Sinn und Unsinn der Optionslösungwerden die folgenden Generationen entscheiden. DieMutterschaft für dieses Gesetz kann wohl die Regierungfür sich beanspruchen, vor allem hinsichtlich der Fragedes Geburtsrechts, deren Lösung der entscheidende Re-formschritt im Staatsangehörigkeitsrecht war.Ich möchte mich gerne mit Herrn Rüttgers am 1. Ja-nuar 2000 treffen, dann nämlich, wenn das erste Kindausländischer Eltern in dieser Republik geboren undnicht mehr Ausländer sein wird, weil die Eltern deut-scher Herkunft und nichtdeutscher Herkunft ab diesemZeitpunkt gleich viel wert sein werden. Darüber solltenSie sich mit uns freuen. Ich hoffe, daß Sie in IhremWahlkreis der Mutter und dem Vater – egal, ob die El-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4761
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tern nun türkischer, griechischer, spanischer oder ge-mischtnationaler Herkunft sind – zu ihrem Kind gratu-lieren und mit einem Blumenstrauß in der Hand sagen:Herzlich willkommen, neuer Staatsbürger! – Sie werbendarum, daß dieses Kind irgendwann einmal CDU wählt.Ich werbe darum, daß das Kind irgendwann einmal dieGrünen wählt. Wir werden sehen, wie sich unsere neuenBürger entscheiden werden.
Der Kollege Rüttgers hat auch die Integration ange-sprochen. Es freut mich sehr, daß Sie dazu ein Papiervorgelegt haben – ich möchte die Polemik hier beiseitelassen –, in dem wirklich viele diskussionswürdigeSachverhalte stehen. Nur an einer Stelle, glaube ich, ha-ben Sie es sich ein bißchen zu einfach gemacht, nämlichbei der Zuständigkeit für die Finanzierung. Das ist dieentscheidende Frage. Das wissen Sie genauso gut wiewir. Die Integration kostet etwas. Ich glaube, daß dasGeld hier gut angelegt ist. Jede Mark, die wir in die In-tegration investieren, spart Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfeund Mittel für Resozialisierung. Ein ganz konkreter Vorschlag: Der Innenausschusseshat mit allen Stimmen beschlossen, sich in Holland dasdort praktizierte Modell – Sie kennen es – mit Sprach-und Integrationskursen anzuschauen. Lassen Sie uns dasanschauen! Lassen Sie uns überlegen, wie ein ausrei-chendes Angebot an Sprach- und Integrationskursendurchgesetzt werden kann, in denen man auch lernt, sichin der Gesellschaft zurechtzufinden und mit Alltags-techniken umzugehen: nicht nur für Fälle der Familien-zusammenführung, sondern, bitte schön, auch für Aus-siedler und Flüchtlinge, für die es bisher keine ver-gleichbaren Kurse gibt. Lassen Sie dies nicht daranscheitern, daß der Bund die Verantwortung für die Ein-richtung solcher Kurse auf die Länder schiebt, die siedann auf die Kommunen schieben, welche sie dann ih-rerseits wieder auf die höhere Ebene zurückverweisen.So wird daraus nichts. Umgekehrt wird ein Schuh dar-aus. Ich sage Ihnen eine ernsthafte Zusammenarbeit zu.
Lassen Sie mich auf ein Thema zu sprechen kommen,das uns ebenfalls auf den Nägeln brennt und über dasauch etwas in der Koalitionsvereinbarung steht, nämlichauf den Rechtsradikalismus. Ich denke, auch diesesThema kann nur gemeinsam in Angriff genommen wer-den. Ich möchte mich auch an die linke Seite des Hausesrichten, an die PDS, die sich mittlerweile quasi zumLordsiegelbewahrer der freiheitlichen Demokratie ge-mausert hat. Mich freut das sehr. Es tut der Demokratienur gut, wenn sie noch mehr Verteidiger hat. Sie brauchtdiese in diesen Tagen, wenn ich an das Wahlergebnisder DVU in Brandenburg denke. Das Thema Rechtsra-dikalismus ist eines der Themen, das uns alle in Zukunftmehr beschäftigen sollte als in der Vergangenheit. Wir,die Regierungsfraktionen, werden vorschlagen, über die-ses Thema im Bundestag zu debattieren.Es geht gar nicht darum, mit erhobenem Zeigefingerauf die neuen Länder zu zeigen. Zwar gibt es dort einbesonderes Problem mit Gewalt, Rechtsradikalismusund der Hinnahme von rechtsradikalen Strukturen. Aberdieses Problem werden wir nur gemeinsam lösen kön-nen. In der letzten Legislatur – das wissen die Kollegen,die damals dabei waren – ist dies aus verschiedenstenGründen verhindert worden. Ich hoffe, daß wir diesesMal eine gemeinsame Entschließung zustande bringenwerden, in der wir klarmachen, daß die demokratischenParteien Rechtsradikalismus in keiner Färbung hinneh-men und sich ihm entgegenstellen.Ich habe die PDS vorhin deshalb angesprochen, weilich mir wünsche, daß sie den Rechtsradikalismus in denneuen Ländern – ihr spielt dort eine wichtige Rolle, bei-spielsweise in Berlin – mehr thematisiert. Dieses Themaim Bundestag zu debattieren ist gut und wichtig. Aberich wünsche mir auch – ich mache gerade eine Tourdurch die neuen Länder und auch durch Berlin, wo wirdie Ehre haben, zu sitzen –, daß die PDS den Rechtsra-dikalismus gerade auch bei ihrer Klientel stärker thema-tisiert. Davon sehe ich bisher sehr wenig.Ich möchte auf einen anderen Punkt zu sprechenkommen, der, so glaube ich, bisher noch zuwenig ge-würdigt wurde, obwohl er voraussichtlich einer der gro-ßen Erfolge in dieser Legislaturperiode sein wird, näm-lich die Novelle des Datenschutzes. Es gibt – erzwun-gen durch Brüssel – die Notwendigkeit, unser Daten-schutzgesetz zu reformieren. Das einstige Modelland desDatenschutzes, die Bundesrepublik Deutschland, ist zu-rückgefallen. Brüssel ermahnt uns mittlerweile, unsereDatenschutzgesetze zu aktualisieren, die in keiner Weisemehr zeitgemäß sind.Ich möchte jetzt nicht das Lied von den Altlasten sin-gen; vielmehr bitte ich darum: Schauen Sie sich dieseNovelle an; ich glaube, es ist eines der besten Daten-schutzgesetze, die diese Republik je hatte. Der Daten-schutzbeauftragte wird in seinen Kompetenzen gestärkt.Wir erarbeiten zusammen mit der Wirtschaft – das soll-ten gerade diejenigen unter Ihnen begrüßen, die immervon der Wirtschaft reden – ein Datenschutzgesetz, dassich endlich am Stand der Technik orientiert und in dasder private Bereich genauso einbezogen wird wie dieBetriebe und die Kommunen. Die Wirtschaft hat bezüg-lich des Datenschutzes schon längst umgedacht. DieWirtschaft hat erkannt: Moderner Datenschutz ist einStandortfaktor und ein Wettbewerbsvorteil. Diejenigen,die für Rechtssicherheit plädieren, sind auch diejenigen,die sich für gute Wettbewerbsbedingungen in der Wirt-schaft einsetzen.Ich wünsche mir, daß uns die Opposition bei der Da-tenschutznovelle unterstützt. Bei dieser Gelegenheitmöchte ich dem Koalitionspartner sagen: Wir hatten inder Frage des Datenschutzes nicht immer Einigkeit. Eshat einige heftige Gespräche hinter verschlossenen Tü-ren benötigt. Ich möchte mich ausdrücklich bei denKollegen Jörg Tauss und Ute Vogt von der SPD bedan-ken, die uns in unserem Anliegen unterstützt haben, dasDatenschutzgesetz in der zweiten Stufe anzupacken unddas, was wir in die erste Stufe des Datenschutzgesetzesnicht hineinnehmen werden, in die zweite Stufe aufzu-nehmen. Sie stehen im Wort, und wir wollen gemeinsamCem Özdemir
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4762 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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die zweite Stufe des Datenschutzgesetzes noch in dieserLegislaturperiode auf den Weg bringen.
Wir würden gerne noch in diesem Jahr einen Gesetz-entwurf einbringen, mit dem die Akteneinsichtsrechteso geklärt werden, wie es in den USA und in vielen an-deren westlichen Ländern längst aktueller Stand ist. Wirbrauchen keinen Staat mehr, der seinen Bürgern nichttraut; vielmehr brauchen wir einen Staat, der den Bürgerals Souverän sieht und dem Bürger dort, wo es nicht ge-gen die Interessen von Wirtschaftsunternehmen verstößt,die Möglichkeit gibt, in Akten Einsicht zu nehmen. Esgehört zu einem modernen, aufgeklärten Staat, daß erseinen Bürgern vertraut.Weil hier so viel von Konsens und von den neuenMehrheitsverhältnissen die Rede war, möchte ich nochein Wort an die Opposition richten. Es gab von Ihnenverschiedentlich Äußerungen zur direkten Demokratie.Vielleicht haben auch Sie in der „FAZ“ vom 11. Sep-tember den bemerkenswerten Artikel von Charles BeatBlanket gelesen, in dem er eine Verlängerung der Le-gislaturperiode mit mehr direkter Demokratie im Ge-genzug anregt. Ich halte dies für einen spannenden Ge-danken, auch wenn ich gar nicht behaupte, daß man esso machen soll. Aber die Diskussion darüber lohnt. Siesollten Ihre Haltung zur direkten Demokratie überden-ken. Ich weiß, daß dieses Thema bei Ihnen vor Ortlängst anders diskutiert wird. Ich wünsche mir, daß auchhier eine vernünftige Diskussion zu diesem Thema zu-stande kommt.Meine Redezeit ist leider schon überschritten; deshalbmuß ich zum Schluß kommen.In einem Bereich sind wir meines Erachtens nochnicht so weit, wie wir sein sollten: im Bereich der Asyl-politik. Ich möchte dieses Thema mit Feststellungen be-enden: Es kann nicht sinnvoll sein, daß wir die Legisla-turperiode damit beenden, daß jemand, der in AlgerienIslamist ist und dort Menschen unterdrückt und bedrohtzu uns kommt und auf Grund unseres Asylrechts Asylerhält, während diejenigen, die vor ihm fliehen, bei unskein Asyl bekommen, weil es sich um eine sogenanntenichtstaatliche Verfolgung handelt. Ich wünsche mirdringend, daß wir in dieser Legislaturperiode diesesThema genauso wie die Frage der frauenspezifischenFluchtgründe anpacken.
Es ist eine Schande für uns alle, wenn Frauen, diebeispielsweise durch Säureattentate verfolgt werden,weil sie sich weigern, ein Kopftuch so zu tragen, wie esin dem entsprechenden Land vorgeschrieben ist, bei unskein Asyl bekommen. Hoffentlich bringen wir eine ver-nünftige Lösung zustande.
Das Wort hat nun
der Kollege Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die heutige Debatte gibt Gelegen-heit zu einigen Betrachtungen über Kontinuität und Dis-kontinuität. Wir haben soeben einen verbalen Schlagab-tausch zwischen Herrn Schily und Herrn Rüttgers erlebt.Trotzdem tritt man der SPD nicht zu nahe, wenn manfeststellt, daß Sie Ihre Innenpolitik unter das Leitmotivder Kontinuität gestellt haben.
Große Änderungen gegenüber der Innenpolitik Man-fred Kanthers haben Sie gar nicht versprochen. HerrWiefelspütz, dies ist sogar nachvollziehbar; denn dieeinzige große Reform, die Sie in diesen zehn Monatenwirklich angepackt haben, war die Reform des Staats-angehörigkeitsrechts.
So, wie Sie es angepackt haben, haben Sie mit IhrenVorstellungen in der Bevölkerung, wie die Wahl in Hes-sen gezeigt hat, keine Zustimmung gefunden. Nach derWahl in Hessen haben Sie offenkundig die Lust verlo-ren, zu sehr mit reformerischen Aktionen vorzupre-schen. Im übrigen ist diese Reform in der Bevölkerungerst allgemein akzeptiert worden, als sie dem von derF.D.P. vorgeschlagenen Modell angepaßt worden ist.Der Bayerischen Staatsregierung geht allerdings so-gar das zu weit. Sie hat Änderungen angekündigt, die sieüber den Bundesrat durchsetzen will. Ich kann nur mei-ne Hoffnung zum Ausdruck bringen: Soweit damit einZurückholen der Reformen auf den vorherigen Zustandbeabsichtigt ist, wird die Bayerische Staatsregierung imBundesrat hoffentlich scheitern.
Der Kollege Wiefelspütz wird im „Spiegel“ mit derFrage konfrontiert, warum das von der SPD in der letz-ten Legislaturperiode betriebene Vorhaben, die privatenSicherheitsdienste einer gesetzlichen Regelung zu un-terwerfen, so langsam vorankommt. Er wird mit derAntwort zitiert, Fragen der inneren Sicherheit seien der-zeit eben kein Thema.Wenn man die Politik der neuen Koalition bewertet,muß man, wie ich glaube, diese Feststellung noch etwaserweitern. Innenpolitische und gesellschaftspolitischeReformvorhaben insgesamt sind bei dieser Koalitionkein Thema, jedenfalls dann nicht, wenn man den An-spruch zugrunde legt, den mindestens ein Koalitions-partner selber zuvor erhoben hat. Denn ganz im Gegen-satz zur SPD mit ihrem Sinn für Kontinuität huldigt dieFraktion der Grünen ganz offenkundig dem parlamenta-rischen Grundsatz der Diskontinuität. Dieser Grund-satz besagt bekanntlich, daß sich ein Gesetzentwurf mitdem Ende der Legislaturperiode erledigt. Viele Reform-Cem Özdemir
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4763
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vorhaben der Grünen aus der Vergangenheit haben sichauf diese Weise erledigt.Die Grünen haben aber offenbar vergessen, daß estrotz dieses Grundsatzes der Diskontinuität nicht verbo-ten wäre, frühere Ideen erneut ins Parlament einzubrin-gen.
Davon machen sie jedoch keinen Gebrauch. Vielmehrhaben sie sich von dem, was sie in der Innenpolitik frü-her einmal vertreten haben, weitgehend verabschiedet.Ihr Bundestagswahlprogramm war noch mit dem Titel„Grün ist der Wechsel“ überschrieben. Diesen Wechselhaben sie aber in der Innenpolitik inhaltlich bisher nichteingelöst.Ich gebe einige konkrete Belege aus der beliebtenRubrik „Versprochen, jedoch nicht gehalten“.Erstens. Es war schon die Rede von der Beamtenbe-soldung. Dabei sind wir aber noch nicht zum entschei-denden Punkt durchgedrungen. Die neue Koalition hat jaeine Nullrunde bzw. lediglich einen Inflationsausgleichfür die Beamten dekretiert. Was Ihnen zu Recht die Kri-tik von DGB und Deutschem Beamtenbund einbringt, istdoch folgende Tatsache: Sie wollen damit die Tarifver-handlungen für die Angestellten und Arbeiter im öffent-lichen Dienst präjudizieren.
Ich erinnere daran: Als die alte Koalition in der letztenLegislaturperiode einmal in ähnlicher Weise ein Entgelt-fortzahlungsgesetz für die Beamten verabschiedet hat,haben Sie uns heftig kritisiert und gesagt, wir unternäh-men damit einen Angriff auf die Tarifautonomie, da fürden Tarifbereich dasselbe nachfolgen müßte.
Wo bleiben denn die wackeren Verteidiger der Tarifau-tonomie? Diese Frage geht vor allem an die Sozialde-mokratie in diesem Hause.Zweitens. Meine Damen und Herren, es war die Redevon Europol. Wie haben Sie uns wegen der Europol-Immunitätenregelung kritisiert. Die Grünen versprachenim Wahlprogramm, diese Regelung völlig aufzuheben.Wir sind viel bescheidener. Wir haben gemeinsam in derletzten Legislaturperiode beschlossen, die Bundesregie-rung möge in Europa darauf hinwirken, daß insgesamt –nicht nur bei Europol – die nicht mehr zeitgemäßen Im-munitäten einer Prüfung unterzogen werden. Geschehenist gar nichts, wie die Bundesregierung auf eine Anfragevon mir eingeräumt hat.Drittens. Ich komme zum Stichwort Datenerhebung.Da trifft es sich gut, daß die Frau Justizministerin auchschon im Saal ist; die Dinge gehen manchmal ineinanderüber. Ich kritisiere gar nicht, daß Sie das Bundesdaten-schutzgesetz noch nicht neu vorgelegt haben, denn es isteine schwierige Materie. Aber Sie könnten allmählichdamit zu Stuhle kommen.Interessant ist jedenfalls, daß der erste Entwurf fürdie Verbesserung des Zeugnisverweigerungsrechts fürJournalisten – Stichwort: selbstrecherchiertes Material –von uns und nicht von der „Reformkoalition“ von SPDund Grünen vorgelegt worden ist. Wo bleibt im übrigendie Überprüfung des § 12 des Fernmeldeanlagengeset-zes, der in bedenklicher Weise in das Fernmeldege-heimnis eingreift? Die alte Koalition hat einen damali-gen Regierungsentwurf nicht passieren lassen, wie Siesich erinnern. Wir haben sogar eine Frist dafür gesetzt,bis wann die Regierung den Entwurf einer Neuregelungvorlegen soll. Sie bringen dazu gar nichts. Es wäre etwasseltsam, wenn Sie möglicherweise dieser problemati-schen Vorschrift neuerdings wieder Sympathie entge-genbrächten, weil auf Grund von § 12 FAG ein ausge-wiesener CSU-Freund soeben in Kanada aufgespürtworden ist. Ich hoffe nicht, daß das der Grund für IhreUntätigkeit ist.Viertens. Die Kurdenpolitik weist innenpolitischeBezüge auf. Ich stelle fest, daß neue Akzente von Ihnenauch hier nur sparsam, mühsam und mit zeitlicher Ver-zögerung, wenn überhaupt, gesetzt worden sind. Es wareine Initiative unserer Kollegin Ulla Jelpke, die dazu ge-führt hat, daß sich eine Delegation des Innenausschussesin der Türkei massiv gegen die Inhaftierung des Men-schenrechtlers Akim Birdal gewandt hat. Jetzt, da dieBundesregierung in Gesprächen darüber steht, ob dieTürkei den Status eines EU-Beitrittskandidaten erlangensoll, wäre sie gut beraten, massiv darauf hinzuwirken,daß Akim Birdal und mit ihm andere Menschenrechtlerunverzüglich freigelassen werden.
Leider ist all das, was ich Ihnen hier gerne noch zubedenken geben wollte, so viel, daß meine Zeit dafürnicht ausreicht.
Sie ist ohnehin vor-
über.
Ja, ich komme zumSchluß.Von all dem, was Sie versprochen haben – Wieder-herstellung des Asylrechts, bei dem Sie bisher nichteinmal Änderungen bei der Flughafenregelung zustandegebracht haben, Demokratieoffensive, Antidiskriminie-rungsgesetz usw. –, fehlt in der praktischen Politik bis-her jede Spur. Angesichts der Diskrepanz von Wort undTat bei den Grünen fragt man sich schon, wie Sie denndie von Ihnen eingegangene Koalition mit der SPD in-haltlich überhaupt rechtfertigen können.Daher bleibt als Fazit nur noch ein Zitat: „Die großepolitische Linie ist überhaupt nicht zu erkennen.“ DiesDr. Max Stadler
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hat vor kurzem Jürgen Trittin gesagt, und wo er rechthat, hat er recht.
Kollege Stadler, ich
habe selbstverständlich nur Ihre Redezeit gemeint, die
Sie deutlich überschritten haben.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Özdemir erbeten. Bitte schön.
Lie-
ber Kollege Stadler, wir kennen uns sehr gut aus dem
Innenausschuß; deshalb an der Stelle nur eine kurze
Bemerkung. Mich freut es sehr, daß die F.D.P. unser al-
tes Magdeburger Programm entdeckt hat – wenigstens
einer, der es liest; das ist sehr begrüßenswert.
Aber das ist nicht der Inhalt meiner Kurzintervention.
Meine Kurzintervention bezieht sich auf das zuletzt Ge-
sagte, auf die Kurdenfrage. Ich glaube, daß man das
wirklich richtigstellen muß, lieber Max Stadler, und Sie
werden mir sicher zustimmen, daß das so nicht richtig
ist. Der Außenminister hat sich mehrfach, zuletzt bei
seiner Türkeireise, bei der Kollegen aller Fraktionen da-
bei waren, vernehmlich dafür eingesetzt, daß nicht nur
Akim Birdal, sondern alle Menschen, die in der Türkei
wegen sogenannter Meinungsfreiheitsdelikte einsitzen,
freigelassen werden.
Das ist keine neue Politik, das hat auch Herr Kinkel
schon gemacht. Alle deutschen Politiker aller Fraktionen
haben sich dafür eingesetzt. Es ist auch gut, daß wir
in dieser Frage keinen Streit haben. Das belegt auch
der Applaus an dieser Stelle. Deshalb bitte ich da-
rum, keinen Streit bei Fragen zu beginnen, bei denen
es nicht sein muß. Über die anderen Fragen können wir
uns gerne unterhalten, aber hier finde ich es unange-
bracht.
Zum Innenminister: Daß die Bundesregierung ein
Darstellungsproblem hat, ist nicht neu. Es wurde ver-
schiedentlich angesprochen, daß die guten Sachen, die
wir machen, nicht immer gut dargestellt werden. Ich
kann Ihnen ein Beispiel dafür nennen: Der Innenminister
hat ein Treffen mit kurdischen Organisationen in
Deutschland organisiert, zu dem alle relevanten, nicht
Gewalt unterstützenden – das ist wichtig – Organisatio-
nen eingeladen worden sind und bei dem man sich dar-
über unterhalten hat, wie man in Deutschland Deeskala-
tion betreiben kann, wie man sich frühzeitig verständi-
gen kann. Das gleiche hat die Ausländerbeauftragte der
Bundesregierung, Frau Marieluise Beck, gemacht. Ähn-
liches macht auch der Außenminister in seinem Bereich.
Hier tut sich viel. Wir reden nur nicht über alles so laut,
weil man manches – das werden Sie verstehen – nur
hinter verschlossenen Türen machen kann, denn sonst
hat es keinen Sinn.
Kollege Stadler, Sie
haben das Wort.
Kollege Özdemir, es ist
unstrittig, daß sich sowohl Herr Kinkel als auch Herr
Fischer und viele andere im Parlament, etwa Claudia
Roth und der ganze Menschenrechtsausschuß, für die
Menschenrechtler in der Türkei einsetzen, die auf Grund
wirklich skandalöser Gesetze und ebenso skandalöser
Urteile inhaftiert sind. Ich habe den Punkt deswegen an-
gesprochen, weil Außenpolitik, Menschenrechtspolitik
und Innenpolitik ineinandergreifen, denn all das hat
wieder einen Rückbezug auf die Situation, auf die Si-
cherheitslage in Deutschland. Sie geben mir mit Ihrer
Kurzintervention Gelegenheit, noch einmal den Kern-
punkt dessen hier darzustellen, was ich an dieser Stelle
sagen wollte.
Wir sind jetzt mit der Türkei in Gesprächen über ei-
nen Status der Türkei als Beitrittskandidat für die EU.
Nicht alle, aber viele in der Türkei sind daran interes-
siert, daß dieser Status erreicht wird. Die Bundesregie-
rung hat zu erkennen gegeben, daß dies möglichst noch
bis Dezember dieses Jahres über die Bühne gebracht
werden soll.
Meine Einschätzung in der alten, schwierigen Frage,
ob man denn Schritte aufeinander zu machen soll, ge-
wissermaßen ohne jede Vorbedingung, oder ob man
nicht bei solchen Gelegenheiten aktuelle Anliegen mit
Nachdruck vertreten muß, ist, daß mir in der Nachfolge
all dessen, worauf Sie hingewiesen haben, was in der
Vergangenheit gemacht worden ist, auch im Wege der
stillen Diplomatie, jetzt der richtige Zeitpunkt gekom-
men zu sein scheint, daß man in den wenigen Wochen,
die von jetzt an bis Dezember verbleiben, in denen man
überhaupt nur Verhandlungsmasse hat, diese Fragen
nicht aus dem Blick verliert, sondern daß die Außenpo-
litiker, die Menschenrechtspolitiker und die Innenpoliti-
ker aller Fraktionen Wert darauf legen, daß die Bundes-
regierung im Sinne einer Lösung der von mir angedeu-
teten Fragen bei diesen Verhandlungen initiativ wird.
Ich erteile das Wort
nun der Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Auch ich denke, daß der Schlagabtauschzwischen Herrn Rüttgers und Innenminister Schily nichtnachvollziehbar ist. Ich möchte selber gerne an Hand ei-niger Beispiele aus dem Haushalt, den wir hier heute be-raten, aufzeigen, daß diese rotgrüne BundesregierungDr. Max Stadler
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sehr wohl in Kontinuität zur vorherigen steht und kei-neswegs in wesentlichen Fragen grundsätzlich unter-schiedliche Auffassungen hat. Das haben auch die Aus-einandersetzungen eben bewiesen.Daß die Erwartungen und die Hoffnungen in diePolitik dieser Bundesregierung enttäuscht worden sind,zeigen, nüchtern betrachtet, nicht nur die Wahlergebnis-se, sondern auch Vergleiche der Versprechungen mit derkonkreten Politik. Ich zitiere dazu einmal aus der Koali-tionsvereinbarung, in der es so schön heißt:Die neue Bundesregierung wird die politische Aus-einandersetzung mit und die Bekämpfung vonRechtsextremismus zu einem Schwerpunkt ma-chen.Ihre Aussagen, Kollege Özdemir, in Ehren, aber diePDS war, soweit ich weiß, in den vergangenen Wahl-kämpfen – das kann man auch aus den Forschungser-gebnissen von Instituten herauslesen – die einzige par-lamentarisch vertretene Partei, die mit Plakaten und ent-sprechenden Aufklärungsmaterialien öffentlich in die-sem Punkt zur Stelle war. Ich kann Ihnen dazu gerne ei-ne Analyse zukommen lassen.Ich möchte aber auch darauf hinweisen, daß ich seitJahren in diesem Haus in Form von Kleinen Anfragen,Stellungnahmen und Analysen zum Haushalt Aufklä-rungsarbeit leiste. Es ist aber nicht allein die Aufgabeder PDS, sondern die Aufgabe aller hier im Hause, ge-gen Rechtsextremismus, den Einzug der DVU in Lan-desparlamente und ähnliches zu kämpfen und dafür zusorgen, daß die Menschen entsprechend aufgeklärt wer-den.
An diesem Punkt möchte ich Sie bitten – es heißt jaso schön: wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinenwerfen –, sich anzuschauen, welche Mittel im Haushaltfür Aufkflärungsarbeit in Sachen Rechtsextremisus undAntisemitismus vorgesehen sind. Aus Kleinen Anfragenvon mir können Sie wiederum herauslesen, daß es imvergangenen Jahr über 760 Straftaten mit antisemiti-schem Hintergrund und allein im ersten Halbjahr diesesJahres fast 1000 solcher Straftaten gab. Dabei sind über150 Menschen angegriffen worden, und ein Toter ist zuverzeichnen. Das wäre allemal Grund genug dafür, dieeigene Politik zu ändern und das Versprechen zu halten,das damals formuliert wurde.
Ich begrüße natürlich jede Debatte hier im Bundestagüber dieses Thema, weil sie zur Aufklärung beitragenkann. Aber das allein reicht nicht aus. Ich möchte auchmeinen Kollegen Graf und andere daran erinnern, daßsie, bevor ihre Partei an die Regierung gekommen ist,immer wieder erklärt haben, sie wollten die entspre-chenden Haushaltsansätze überprüfen. Tatsache aber ist,daß der Haushaltsansatz für Organisationen, die rechts-extremistisches Gedankengut verbreiten, gestiegen ist.Ich nenne die Vertriebenenverbände.
– Ich habe noch nie behauptet, daß die Vertriebenen-verbände als Ganze rechtsextremistisch sind,
aber sie vertreten rechtsextremistisches Gedankengutbzw. steuern nicht gegen.Wenn die Präsidentin der Vertriebenenverbände imZusammenhang mit Polen und Tschechien erneut revan-chistische Forderungen stellt – daran möchte ich Sie nurganz kurz erinnern –,
dann müssen wir uns damit auseinandersetzen und dar-über Aufklärung fordern. Auf jeden Fall können wirauch aus diesem Haushalt wieder herauslesen, daß dieseOrganisationen weiterhin finanziert werden und für siemehr, aber für Aufklärungsarbeit immer weniger Geldausgegeben wird.Lassen Sie mich einen sehr kritischen Punkt anspre-chen, der mir und vielen Betroffenen am Herzen liegt:Wir suchen im Haushalt vergeblich nach einem Ansatzfür eine Stiftung für die Zwangsarbeiterinnen undZwangsarbeiter, obwohl die Koalition deren Einrich-tung ebenfalls versprochen hat.Ich muß ehrlich sagen, daß ich persönlich es als einenSkandal empfunden habe, als in den letzten Wochen be-kannt wurde, daß der Außenminister mit Einverständnisdes Kanzlers Schröder einen Brief an die Gerichte ge-schickt hat, worin steht, daß die Zwangsarbeiterinnenund Zwangsarbeiter beispielsweise der Firmen Degussa,Siemens und Ford gar nicht entschädigt werden müßten,daß die Gerichte diese Klagen also zurückweisen soll-ten, weil die Firmen gezwungen worden seien, Zwangs-arbeiter zu beschäftigen. In der Sendung „Monitor“ aberwurde erst vor kurzem dargelegt, daß dies nicht wahr ist.Es liegt ein Schriftverkehr vor, der zeigt, daß sich dieseFirmen darum beworben haben.Ich meine, daß dieses Verhalten nicht angehen kann.Es ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer, wenn von derBundesregierung vor dem Hintergrund, daß gegenwärtigVerhandlungen zwischen der Bundesregierung, den Be-troffenenverbänden und den Anwälten stattfinden undsich auch die amerikanische Regierung eingeschaltethat, solche Briefe verfaßt werden.
Kollegin Jelpke, Ihre
Redezeit ist schon deutlich überschritten. Ich bitte Sie,
zum Schluß zu kommen.
Ja. Lassen Sie mich aber zumSchluß noch an das anknüpfen, was ich zu Beginn ge-sagt habe: Die Kontinuität zum Kanther-Haushalt ist mitdiesem Haushalt eindeutig gegeben. Das wird auch anden Ausgaben deutlich, die der Innenminister heute sel-ber vorgestellt hat. Ich sehe nicht ein, warum Millionenfür neue Waffen für den Bundesgrenzschutz ausgegebenwerden, beim Sozialbereich aber drastisch gespart wer-den muß. Ich meine, daß eine ganze Reihe von Punkten,Ulla Jelpke
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die zeigen, wie auch im Innenministerium eingespartwerden könnte, offengeblieben ist. So wie der Haushaltgegenwärtig aussieht, werden wir ihm auf keinen Fallzustimmen.Danke.
Das Wort hat nun
der Kollege Dieter Wiefelspütz, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir habenmit dem Amtsvorgänger von Herrn Schily, dem früherenBundesminister Kanther, zusammengearbeitet. Wir wa-ren manchmal sehr unterschiedlicher Auffassung undhaben gestritten. Wir haben aber von Herrn Kanther niesolch niveaulose Diskussionsbeiträge gehört wie denBeitrag von Herrn Rüttgers.
Ich halte es für einen Tiefstand der parlamentarischenDebatte, Herr Rüttgers, daß Sie meinen, sich hier einesolche Rede leisten zu können.
Sie treten an und wollen Ministerpräsident von Nord-rhein-Westfalen werden.
Das wäre eine Tragödie für dieses Land; das hat eswirklich nicht verdient.
Ich will hier eines deutlich sagen: Die Innenpolitikder Koalition ist geprägt von Kontinuität, auch vonKontinuität zu früheren Bundesregierungen. Sie ist aberebenso geprägt von notwendiger Erneuerung. Kontinui-tät und Erneuerung – das ist es, was man zur erfolgrei-chen Tätigkeit des Innenministers Schily sagen kann.Dazu bekennen wir uns.Selbstverständlich arbeitet die Koalition – wie könntees auch anders sein – in und mit den Strukturen, die frü-here Bundesregierungen geschaffen haben. Die jetzigeKoalition und das Innenministerium haben aber auch dieKraft zu Reformen mit Augenmaß. Es hat in früherenRegierungen auch Stillstand und Rückschritt gegeben.Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die dringend not-wendige Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, dienur von dieser Regierung, nur von dieser Koalition –auch mit Hilfe der F.D.P., Herr Stadler – durchgesetztworden ist. Früher gab es nur Ankündigungen; daranhaben auch Sie sich beteiligt. Sie haben nicht die Kraftgehabt, weil Sie sich gegenseitig blockiert haben. Wirhatten diese Kraft.
Seien wir doch bitte ehrlich: Die ganze Tragweitedieser Reform, die ein großer Beitrag zum inneren Frie-den in unserem Land ist, ist doch noch gar nicht wirklichbegriffen worden. Es ist in der Tat eine herausragendeReform im Bereich der Innenpolitik. Ich frage mich,welche der früheren Bundesregierungen ein Reformwerkvergleichbaren Ausmaßes zustande gebracht hat. Ich sa-ge Ihnen: Selbst wenn wir in der gesamten Legislaturpe-riode nur dies zustande bringen würden, so sollte mandies nicht geringschätzen. Wir werden aber zusätzlichnoch einiges zustande bringen.
Aber wenn wir nicht immer und ausschließlich Refor-men diesen Ausmaßes wählen, dann sollte man uns dasnicht entgegenhalten.Ich glaube, diese Koalition steht für eine seriöse Re-formpolitik. Die Innenpolitik, die sich weiß Gott nichtfür Ideologie eignet, sollte geprägt sein von Solidität undvon Erneuerung da, wo es wirklich erforderlich ist.Der Haushalt, den die Bundesregierung heute vorge-legt hat, ist, wie ich finde, in seiner Gesamtheit einegroße, mutige strategische Leistung. Sie ist die erstewirklich große strategische Leistung dieser Bundes-regierung. Neben anderen Dingen, die auch wichtigsind, ist das eine große Leistung, vor der ich Respekthabe. Der Anspruch, innerhalb von wenigen Jahren denBundeshaushalt wieder auszugleichen, bedeutet wahr-lich den Einzug eines neuen Denkens in die Politik.Kein Finanzminister früherer Bundesregierungen hatteauch nur ansatzweise den Mut und die konzeptionelleKraft zu einer solchen Vision.Es geht dabei nicht allein ums Sparen. Es geht viel-mehr darum, staatliche politische Gestaltungfähigkeitwieder möglich zu machen. Es geht um nichts weniger,als uns alle wieder zukunftsfähig werden zu lassen, die-sem Land und seinen Menschen die Chancen zurückzu-geben, die von der Regierung Kohl in vielen Bereichenzugeschüttet worden sind.
Zu dieser Politik wird die Innenpolitik der rotgrünenKoalition ihren Beitrag leisten. Der Anteil des Haushaltsdes Innenministeriums am gesamten Bundeshaushalt ist– seien wir ehrlich – durchaus überschaubar. Er beträgtweniger als zwei Prozent. Gleichwohl trägt der Einzel-plan 06 einen überdurchschnittlichen Anteil zur Sanie-rung des Bundeshaushalts bei. Das sollte man hier ein-mal ausdrücklich anerkennen und auch loben. Die Ein-sparungen im Umfang von ca. 600 Millionen DM fallenuns weiß Gott nicht leicht. Die SPD-Bundestagsfraktionunterstützt nachdrücklich die Weichenstellung von Mi-nister Schily, den Bereich der inneren Sicherheit vonEinsparungen nicht nur zu verschonen, sondern durchhaushaltswirksame Maßnahmen im Bereich des Bun-desgrenzschutzes, des Bundeskriminalamtes und desBundesamtes für Verfassungsschutz Verbesserungen beider Leistungsfähigkeit dieser Bereiche zu erreichen.In bezug auf die innere Sicherheit weiß jeder, der sichernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt, daß immerUlla Jelpke
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wieder überlegt werden muß, wie Menschen und Res-sourcen optimal eingesetzt werden. Das Produkt desStaates, die innere Sicherheit, darf auf keinen Fall be-einträchtigt werden, im Gegenteil: Die Bürgerinnen undBürger unseres Landes haben einen elementaren An-spruch darauf, daß der Staat die innere Sicherheit ver-bürgt.Dafür stehen wir ein. Dabei erzielt der Bundesinnen-minister mit seinem Haus erhebliche Erfolge. Herr Rütt-gers, studieren Sie bitte die Kriminalstatistik. Es gibtmanche Probleme in unserem Land. Aber es gibt auchErfreuliches, das sich entwickelt. Beispielsweise sinkt invielen Bereichen und insgesamt die Kriminalität.
Das soll uns nicht den Blick auch vor zusätzlichenHerausforderungen verstellen, beispielsweise, Herr Bos-bach, bei dem wichtigen Thema der international operie-renden Kriminalität. Dieser Bundesinnenminister istderjenige, der in einem Maße wie keiner seiner Vorgän-ger diese internationale Komponente von Anfang an-gesehen hat, der einen wesentlichen Teil seiner Aktivi-täten gerade darauf richtet, in diesem Bereich, der weißGott nicht von heute auf morgen zu regeln ist, Schritt fürSchritt Verbesserungen zu erzielen. Er scheut sich dabeiauch nicht, die nicht unproblematischen Wege in Rich-tung Moskau, in Richtung Rußland zu gehen und dortVereinbarungen zu treffen, die wichtig und notwendigsind, die sich aber nicht von selbst verstehen. Die frühe-re Bundesregierung hat sie lange Zeit hinzukriegen ver-sucht, ist aber daran gescheitert. Das hat hier heuteschon eine Rolle gespielt.Wenn Sie also dem Bundesinnenminister etwas vor-halten, dann bitte mit Niveau und Wahrhaftigkeit undnicht mit einer Argumentation, die im Grunde nur be-leuchtet, welche Defizite in Ihrer Regierungszeit alleaufgelaufen sind.
Meine Damen und Herren, die Haushalts- undFinanzpolitik der früheren Bundesregierung hat dieStaatsfinanzen fast vor die Wand gefahren. Wenn jetztSanierungsarbeit vorgenommen werden muß, die da unddort für die davon Betroffenen schmerzhaft sein kann,sollte dies auch als Chance zur Erneuerung verstandenwerden.Unsere Gesellschaft ist notwendigerweise auf einenqualifizierten öffentlichen Dienst und auf eine zeitge-mäße Behördenstruktur angewiesen. Die Projekte „Ak-tivierender Staat“ und „Zeitgemäße Verwaltungs-strukturen“ wollen wir auch in Zeiten knapper Mittelvorantreiben. Das geht auch, und erste Erfolge sind sehrwohl zu verzeichnen.Weniger Geld muß nicht unausweichlich wenigerQualität und weniger Leistung bedeuten. Wer sich bei-spielsweise mit der Tätigkeit des Bundesverwaltungs-amtes auseinandersetzt, wird feststellen, daß in den Be-hörden des Bundes auf eindrucksvolle Weise wichtigeReform- und Modernisierungsimpulse entstehen und vor-angetrieben werden, und zwar im Zusammenwirken mitden Beschäftigten und dem Personalrat. Gewinner sinddie Bürgerinnen und Bürger, die ein noch besseres Pro-dukt aus dem Bereich des Innenministeriums erhalten.Gewinner sind aber auch die Mitarbeiter des Bundes, diemotivierter, zufriedener und qualifizierter ihre Arbeittun.Nach fast einem Jahr rotgrüner Innenpolitik miteinem sozialdemokratischen Innenminister Schily stelleich fest: Diese Politik ist geprägt von Solidität,
von Augenmaß und von notwendiger Erneuerung. Die-sen Kurs wollen und werden wir fortsetzen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nunKollege Carl-Detlev von Hammerstein, CDU/CSU-Fraktion.
nen und Kollegen! Herr Wiefelspütz, man kann gebets-mühlenartig wiederholen, daß etwas an die Wand gefah-ren worden ist. Hätten Sie das Volumen des Haushaltes,das wir im letzten Jahr, als wir den Haushalt für das Jahr2000 vorberaten haben – ihn haben die Haushaltspoliti-ker der SPD zum überwiegenden Teil mitgetragen – mit456 Milliarden DM veranschlagt haben, angenommen,und hätten Sie nicht gleich 30 Milliarden DM im erstenJahr mehr ausgegeben – das ist nicht die Schuld des In-nenministers, sondern die des Kanzlers –, dann müßteman jetzt nicht über ein katastrophales bzw. verheeren-des Sparpaket sprechen.Es handelt sich gar nicht um 30 Milliarden DM. Denndas Volumen des diesjährigen Haushalts beträgt478 Milliarden DM, das heißt 8 Milliarden DM weniger.Von diesen 8 Milliarden DM sind noch globale Minder-ausgaben in Höhe von 5 Milliarden DM zu erwirtschaf-ten.Ich sage bewußt: Das ist nicht die Schuld des Innen-ministers. Er befindet sich jedoch in der kritischen Si-tuation, im Einzelplan 06, der fast 60 Prozent Personal-ausgaben beinhaltet, eine halbe Milliarde DM einsparenzu müssen. Herr Schily, wenn man sich anschaut, aufwelche Art und Weise Sie einsparen wollen, dann frageich mich: Wie kommen Sie eigentlich auf die bemer-kenswerte Idee, die Deutsche Bahn AG mit 250 Millio-nen DM zu belasten? Im Augenblick gewährleistet derBGS die Sicherheit der Bahn mit 5 400 BGS-Soldaten.
– Richtig, Herr Schily, Beamte. – Die in diesem Zu-sammenhang entstehenden Kosten in Höhe von 250 Mil-Dieter Wiefelspütz
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lionen DM werden auf die Bahn übertragen. Ich sageIhnen klar und deutlich: Dies ist kein Sparen, sondernein klares und deutliches Verschieben der Kosten aufden deutschen Bürger.
Nachdem die Bahnpolizei im BGS aufgegangen ist,wird nun die Bahn für die Sicherung der Bahnhöfe zurKasse gebeten. Dies ist meines Erachtens keine Sparpo-litik, sondern eine neue versteckte Abgabenerhöhung,die die Bahn an ihre Kunden weiterreichen wird. Sie ha-ben richtig gehört: Was Sie betreiben, ist eine Erhöhungder Abgaben.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wie-
felspütz?
Herr Kollege, sind Sienicht doch der Meinung, daß die Tatsache, daß einestaatliche Einrichtung privatisiert worden ist, und derAspekt der Pflicht zur Sicherung, die jeder private Ei-gentümer hat, Anlaß sind, darüber nachzudenken, wieman den neuen Eigentümer beispielsweise an Verkehrs-sicherungspflichten beteiligt und wie ein Kostenaus-gleich stattfinden kann? Das ist doch ein ganz normalerUmgang mit Sachverhalten, der in vergleichbaren Situa-tionen überall erfolgen muß.
Aufgabe des Staates, für die Sicherheit auf den Bahnhö-fen zu sorgen, und nicht Aufgabe des deutschen Bür-gers, für diese Kosten zusätzlich zu bezahlen.
– Doch. – Es geht hier um schlichtes Umverteilen. Siehaben in Ihrer vorhergehenden Äußerung ständig von„an die Wand fahren“ gesprochen. Hier werden die Bür-ger „an die Wand gefahren“, die dies zu bezahlen haben.Die Bahn, Herr Minister, ist in einer sehr kritischenPhase: Sie soll privatisiert werden. Eigentlich wird eineBraut immer geschmückt, bevor man sie sozusagen pri-vatisiert und verkauft.
Sie machen genau das Gegenteil: Sie erhöhen die Ko-sten um 250 Millionen DM; die Regierung erhöht durchökologische Zusatzkosten die Kosten bei der Bahn umweitere 300 bis 400 Millionen DM. Auch wenn jetzt einWechsel im Vorstand stattfinden soll: – Ich weiß nicht,wer dieses alles am Ende finanzieren und bezahlen soll.Gerade Bahnhöfe, Herr Minister, stellen für vieleReisende einen Ort potentieller Straftaten dar. Dahererwartet der Bürger hier die Präsenz staatlicher Behör-den und ihren Schutz. Er vertraut hier auf das Gewalt-monopol des Staates und möchte dies in Form unifor-mierter Beamter erleben und spüren. Die Bahn dagegenwird auf private Anbieter ausweichen müssen, wenn vonihr für den BGS derartige Summen verlangt werden.Zusätzlich hat Ihre Sparpolitik folgende Konsequen-zen: Der Fahrpreis wird durch die zusätzlichen Aufwen-dungen steigen; der Bürger erlebt einen vermindertenstaatlichen Schutz, und der Staat verliert die Möglich-keit, an sozialen Brennpunkten Präsenz zu zeigen. Ichhoffe, daß wir in den Beratungen, die jetzt, Herr Mini-ster Schily, anstehen, zu einer Lösung kommen, die be-wirkt, daß wir auf andere Art sparen können und nichtden Bürger belasten müssen.Ich komme zu einem zweiten Thema, zum GoldenenPlan Ost. Ein weiteres Manko in diesem Haushalt stelltdie heimliche Einstellung des Goldenden Plans Ost zurFörderung des Spitzen- und Breitensports in den neuenBundesländern dar. Nach meinen Informationen sind –der Staatssekretär des Finanzministers ist ja anwesend –die Gelder für den Goldenen Plan Ost zwar halbwegsversprochen, sie sind im Haushalt aber gar nicht einge-plant. Das gilt auch für das Olympiastadion in Berlin,für das zunächst erst einmal 20 Millionen DM angesetztworden sind, die nach Aussage des Finanzministeriumszur Zeit aber ebenfalls noch nicht fest verbindlich zuge-sagt worden sind. Sie, Herr Minister Schily, wollen mitdiesen vagen Aussagen vor die Öffentlichkeit treten? Siehaben im Osten Ihre Sportpolitik gerade so positiv ver-kauft. Ist sie wirklich so positiv, wenn Sie das bedenken,was Sie eben von mir dargestellt bekommen haben?Eine Anmerkung zum Bundesinstitut für Sportwis-senschaft: Hier, Herr Schily, mahne ich eine Überprü-fung der Organisationsstruktur an. Da bei einem Volu-men von 12 Millionen DM 6 Millionen DM alleine fürPersonalausgaben und nur 6 Millionen DM für Investi-tionen ausgegeben werden, bin ich der Auffassung, daßwir mit Ihnen darüber diskutieren müssen, um hier eineNeuregelung zu finden. Dazu bin ich gerne bereit.Lassen Sie mich zu einem Bereich kommen, wo Siein meinen Augen erheblich und zu viel gekürzt haben:Bei den Aufwendungen für Vertriebene und Aussied-ler haben Sie allein 176 Millionen DM – das sind28 Prozent des jetzigen Haushaltes für diesen Bereich –gekürzt. Damit leisten die Spätaussiedler und Vertriebe-nen den Löwenanteil Ihres tatsächlichen Sparvolumens.Es trifft hier den kleinen Mann, Menschen ohne Lobby,ohne Einfluß. Ich verstehe nicht, warum gerade Sie, diefür sich beanspruchen, sozial zu sein, hier in dieser Formund in diesem Umfang sparen.Sie wollen erstmalig den Zuzug von Aussiedlern be-grenzen und auf eine Zahl von maximal 100 000 fest-schreiben. Wo bleibt die von Ihnen beschworene Solida-rität? Was Sie hier machen, meine Damen und HerrenCarl-Detlev Freiherr von Hammerstein
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von der Regierung, ist zutiefst unsozial und ungerecht.Darüber hinaus ist eine solche Politik kontraproduktiv.Die Begrenzung der Zuzugszahlen wird sich herumspre-chen, und es ist absehbar, daß wahrscheinlich vieleAngst vor der kompletten Schließung der Grenzen be-kommen werden, was dazu führt, daß eventuell jetztnoch schnell Ausreiseanträge gestellt werden.Lassen Sie mich, da meine Zeit zu Ende geht – –
– Machen Sie sich keine Sorgen, ob es die Redezeit odereine andere Zeit ist.Jedenfalls weiß ich, daß ich jetzt noch einige Dingeansprechen möchte, die mich sehr besorgt machen, undzwar ist das zunächst der investive Bereich. Ich weiß,daß es sehr schwierig ist, den Haushalt zu regulieren. IhrHauruckverfahren, daß jeder Einzelplan 7,4 Prozent ein-sparen muß, ist bei einem Einzelplan mit über 60 Pro-zent Personalkosten sehr schwierig durchzuführen. Aberden investiven Bereich so radikal zu kürzen ist kontra-produktiv.Der Kanzler ist angetreten, die Arbeitslosenzahlen zusenken. Wenn wir im investiven Bereich weiter so kür-zen wie hier und in vielen anderen Einzelplänen auch,ist es meines Erachtens gefährlich. Auch hier sollten wirin den Haushaltsberatungen, Herr Minister, überlegen,was wir machen können. Ich bin bereit, mit Ihnen ge-meinsam zu sparen. Es gibt auch Bereiche, die sich da-für eignen.Es ist allerdings eine gewisse Geldverschwendung,daß Sie, obwohl Sie die Behörde des Bundesdisziplinar-anwalts schließen wollen, noch für zwei Jahre einen Prä-sidenten einstellen, jemanden, der untergebracht werdenmußte. Herr Schily, das hätten wir schlicht und einfachbei den Beratungen im letzten Jahr streichen können.Wir hätten diese Kosten sparen können. Hätten Sie da-mals schon damit angefangen, wäre es diesmal leichtergewesen, Ihren Haushalt sorgfältiger und schneller inden Griff zu bekommen.Ich darf mich bedanken.
Weitere Wortmel-dungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriumsdes Inneren liegen nicht vor.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetztzum Geschäftsbereich des Bundesministeriums derJustiz, Einzelpläne 07 und 19.Ich erteile der Bundesministerin der Justiz, Dr. HertaDäubler-Gmelin, das Wort.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Haushalt 2000 ist der erste richtige Haushalt, denich als Bundesministerin der Justiz einbringen kann. Beider Fortsetzung der Beratungen zum Haushalt 1999 wardas weit weniger möglich. Hier waren auf Grund derVorprägung durch die vorhergehende Regierung kaumVeränderungsmöglichkeiten gegeben, schon gar nichtbei einem Haushalt wie dem des Justizministeriums, der,wie Sie wissen, ein kleiner Verwaltungshaushalt mit ei-nem ganz hohen Personalkostenanteil und mit einem er-heblichen Selbstfinanzierungsanteil ist.Der Haushalt 2000 – lassen Sie mich das am Anfangsagen, meine Damen und Herren, weil sich diese Be-merkung wie ein roter Faden durch die gesamten Haus-haltberatungen am heutigen Tage gezogen hat und auchmorgen ziehen wird – wird ein sehr schwieriger sein. Erwird geprägt sein von der Notwendigkeit zu sparen, ob-wohl das im Justizhaushalt, wo Schmalhans sowiesoschon Küchenmeister ist, eigentlich kaum mehr möglichist. Aber es ist gar nicht anders machbar, weil wir ganzgenau wissen, daß die politische Handlungsfähigkeitwieder erobert werden muß. Daß sie bei der heutigenFinanzsituation, bei einer Überschuldung, wie wir sievorgefunden haben, nicht gegeben ist, das kann nun einBlinder mit einem Krückstock sehen.
Wir müssen eine Politik für mehr Arbeitsplätze ma-chen, für Ausbildungschancen, für soziale Gerechtigkeit.Das geht nicht, solange wir jede vierte Steuermark fürZinsen ausgeben müssen.Meine Damen und Herren, aus dieser Verantwortungkann sich niemand herausstehlen, auch wenn Sie dasnatürlich gerne möchten. Aber glauben Sie mir: Es gehtnicht. Deswegen sollten wir hier etwas ehrlicher mitein-ander umgehen, als ich das in den vergangenen Stundenerlebt habe.Ich habe gesagt: Es ist bei dem Charakter des Justiz-haushalts schwer, den Beitrag zu erbringen, den selbst-verständlich auch unser Ressort erbringen muß. Es istnicht nur wegen des Charakters eines Verwaltungshaus-halts schwer, sondern auch deshalb, weil wir keinerleinachgeordnete Behörden haben, aus denen wir uns mitStellen versorgen könnten, um die Aufgaben, die nichtweniger, sondern mehr werden, tatsächlich zu erfüllen.Es ist besonders schwer, weil wir wissen, daß Sie in denletzten 16 Jahren den Bereich des Justizetats – lassen Siemich das sagen – besonders stiefmütterlich und stiefvä-terlich behandelt haben. Das ist so.Demjenigen, der das nicht glauben möchte, nenne icheinfach ein paar Zahlen. Allein im höheren Dienst – Siewissen, daß wir besonders auf dessen Mitarbeit ange-wiesen sind – ist in den letzten zehn Jahren der Per-sonalbestand von 242 auf 226 gesunken. Das geht na-türlich nicht, wenn man hier die Aufgaben solide erledi-gen will, wie wir das heute tun.Meine Damen und Herren, der Grundsatz der Effi-zienzrendite – das will ich allen Mitgliedern des Haus-Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein
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haltsausschusses noch einmal sehr deutlich sagen – trifftnatürlich einen Etat von der Struktur des Justizetats indoppelter und dreifacher Weise. Hier werden wir für dieZukunft andere Möglichkeiten finden müssen. Sparsam-keit ist bei uns ebenso selbstverständlich wie ein guterMitteleinsatz.Ich sage das nicht, weil ich in die große Jammerarieeinstimmen will, sondern weil ich allen hier in diesemHause offen sagen will, daß die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter des Justizministeriums bei dem Reformkurs,den wir fahren, bis an die Grenze, einige sogar über dieGrenze ihrer Belastbarkeit hinaus beansprucht sind.
Ich nehme die Gelegenheit wahr, mich herzlich dafürzu bedanken, daß sie das akzeptieren und in sehr moti-vierter Weise mitarbeiten. Dies gilt doppelt, weil ihnender Umzug nach Berlin, so wie er geplant und beschlos-sen war, zusätzliche Belastungen aufbürdet, und zwareinfach deshalb, weil erhebliche Teile des einfachen,mittleren und gehobenen Dienstes bei uns ausgetauschtwurden und die neuen Kräfte angelernt werden müssen.Meine Damen und Herren, was genug ist, ist genug.Man kann nicht mehr nur mit Dank arbeiten, sondernmuß auch mit Stellen nachhelfen. Das wird eine derAufgaben der nächsten Jahre sein, weil sonst das Bun-desministerium der Justiz seine Aufgaben nicht mehr er-füllen kann.Was mich mit Stolz erfüllt, ist, daß wir im vergange-nen Dreivierteljahr nicht nur effizient und haushalterischvorgegangen sind, sondern daß wir in der Tat das, waswir angekündigt haben, zeitgerecht einbringen oder so-gar schon abschließen konnten. Sie wissen, wir habenden Grundsatz vertreten: Wir werden einiges korrigie-ren, anderes sorgfältig vorbereiten und dann in der Öf-fentlichkeit diskutieren. Sie haben davon gesprochen,ich würde vieles ankündigen. Selbstverständlich tue ichdas. Ich tue das einfach deswegen, weil ich die Diskus-sion will. Ich brauche auch Ihre Beiträge, und ich ladeSie ausdrücklich zur Mitarbeit ein. Abgesehen davon,verehrter Herr Kollege Geis, wenn ich es nicht täte, lau-tete Ihr Vorwurf, ich würde Sie überfallen; ich kann esmir also aussuchen.
Deswegen sage ich Ihnen: Wir werden auch diese Artund Weise der Planung und der öffentlichen Diskussionbeibehalten.
Wir werden die Vorhaben, die die Koalition gemein-sam beschlossen hat, zeitgerecht ins Gesetzgebungsver-fahren einbringen. Bei einigen haben wir das schon ge-tan. Ich habe in den letzten Haushaltsberatungen gesagt,daß wir bei der Umsetzung von EU-Richtlinien imVerzug sind und daß wir uns bemühen werden, das zubereinigen. Das haben wir auf der einen Seite durch dasÜberweisungsgesetz und auf der anderen Seite durch dieUmsetzung der Kapitalgesellschaften- und Co-Richt-linie, die dem Bundesrat vorliegt und den DeutschenBundestag danach erreichen wird, und dadurch getan,daß wir in den kommenden Monaten Umsetzungsgeset-ze sowohl zur Fernabsatzrichtlinie als auch zur verglei-chenden Werbung als auch zum Niederlassungsrecht fürRechtsanwälte und zum Verbrauchsgüterkauf in denBundestag einbringen werden.Ich sage Ihnen: Wir wollen nie wieder in die Situati-on geraten – soweit ich das verhindern kann, werde ichdas auch zu verhindern wissen –, daß die Bundesregie-rung wegen zögerlicher Umsetzung europäischen Rechtsvom Europäischen Gerichtshof verurteilt wird, wie es inden vergangenen Jahren, zuletzt im April, der Fall war.Dabei handelte es sich um eine Altlast.
Meine Damen und Herren, der Bundestag hat mit un-serer Hilfe bereits das DNA-Gesetz, die IPR-Novelle,das Überweisungsgesetz, das ich schon erwähnt habe,und in der letzten Woche das Gesetz zur obligatorischenaußergerichtlichen Streitschlichtung verabschiedet. Die-ses hätten wir gern schon in der letzten Legislatur-periode, konnten dies aber aus Gründen, die Sie allekennen – es wurde diese unselige Handelsregister-„Privatisierung“ fakultativ draufgesattelt –, nicht.
– Aber wir haben es gemacht, im Gegensatz zu Ihnen,verehrter Herr Kollege Geis.
Das haben wir schon nach einem Dreivierteljahr ge-macht und Sie in 16 Jahren nicht. Wir haben auch dasRecht auf gewaltfreie Erziehung bereits im Gesetzge-bungsverfahren. Dies sollten wir nach meiner Meinunggemeinsam schnell verabschieden. Die Zeit ist wirklichreif.
Wir haben das StVÄG, das U-Haft-Vollzugsgesetz,das sicherlich noch eine Menge Auseinandersetzungenbringen wird, den Täter-Opfer-Ausgleich und das Gesetzzur Verbesserung der Zahlungsmoral im Gesetzge-bungsverfahren. Ich denke, das ist wichtig und vernünf-tig.Wir werden eines nicht machen: Wir werden nicht je-den Schritt einzeln einbringen und beraten, obwohl unsdas manche Länder immer vorschlagen. Das treibt diePraxis zum Wahnsinn. Wir werden vielmehr Schwer-punkte bilden. Ich bitte Sie auch – wie ich das früherschon gesagt habe –, uns darin zu unterstützen.In den nächsten Monaten ist mit folgenden Vorhabenzu rechnen: mit der Rechtsmittelreform in Zivilsachenals nächster Stufe der Justizreform – Sie wissen, wir ha-Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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ben von der Justizministerkonferenz einen einstimmigenAuftrag erhalten, den wir bis zur nächsten Justizmi-nisterkonferenz Anfang November durch einen Refe-rentenentwurf umsetzen werden, zu dessen Diskussionwir Sie und auch die Öffentlichkeit herzlich einladen –und mit dem Zeugnisverweigerungsrecht. Auch dies istreif. Ich bin der F.D.P. dankbar, auch wenn ich derenGesetzentwurf für verbesserungsfähig halte, daß sie denReigen der eingebrachten Diskussionsentwürfe eröffnet.Zu rechnen ist mit der Erweiterung des Sanktionensy-stems, des Mietrechts – ich bedanke mich ausdrücklichbei Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, daß siehierzu die öffentliche Diskussion eröffnet haben – undaußerdem der Beendigung der Diskriminierung dergleichgeschlechtlichen Sexualität und zugleich derSchaffung eines Rechtsrahmens für Lebenspartner-schaften. Meine Damen und Herren, das sind die Dinge,die wir vorhaben. Das ist eine ganz ordentliche Bilanz.Ich kann mich Cem Özdemir nur anschließen: „Ordent-lich“ ist für Schwaben ein großes Lob.Wir wollen Bereitschaft zum Konsens. Ich will Ihnenden neuen Haushalt kurz vorstellen, weil ich darübergern mit Ihnen Diskussionen in aller Offenheit führenwill. Wir wissen ganz genau, wie schwierig die finanzi-elle Lage ist und daß wir Schwerpunkte setzen müssen.Wir sind nicht schuld an der schwierigen Lage. Wirwerden den Karren aus dem Dreck ziehen. Aber wirwissen ganz genau, daß ein Handeln nach der Methode,wie wir sie gerade beim Innenetat gehört haben, nämlichdaß man nirgendwo sparen darf, nichts erhöhen darf,aber alles verbessern muß, nur möglich ist, wenn maneinen Goldesel hat. Den hatten Sie nicht, deswegen ha-ben Sie es so weit kommen lassen. Den haben wir nicht,deswegen müssen wir politisch gestalten. Sie sind herz-lich eingeladen, das mitzutun.Was bringt nun der Haushalt 2000 an Strukturen? DerUmfang des Haushalts des Justizministeriums bleibt bei1,5 Promille des Gesamthaushaltes. Er sieht eine Ausga-benreduzierung um 23 Millionen DM vor, und zwardeshalb, weil wir für die Bauvorhaben der Gerichte –das ist ein Durchlaufposten, das wissen Sie selber – er-heblich weniger zu verbuchen haben. Damit sinken dieInvestitionen. Auch das bezieht sich auf die Gerichts-bauten, die planmäßige Fortschritte machen, nämlich inLeipzig, beim Internationalen Seegerichtshof in Ham-burg, aber auch beim Bundespatentgericht in München.Wir brauchen auch nicht mehr so viele umzugsbedingteBeschaffungen zu bezahlen. Auch daher sinken die In-vestitionen.Aber wir haben die Zuwendungen um 2,9 Prozent ge-ringer angesetzt. Dafür haben wir einen Anstieg der Per-sonalausgaben. Dies ist eine Tendenz, die dem Gesamt-haushalt deutlich entgegengesetzt ist. Dies hat seinenGrund.Wir haben auch einen Anstieg der Sachkosten ineinem Bereich zu verzeichnen, der zu dem Verantwor-tungsbereich des Justizministeriums gehört und der un-geheuer wichtig ist. Es geht um das Deutsche Patent-und Markenamt. Dieses Amt ist unser Sorgenkind gewe-sen. Bei der Übernahme der Regierung mußten wirnämlich feststellen, daß für dieses wichtige Amt mit sei-nen wichtigen Aufgaben – der Stützung der Innovations-fähigkeit unserer Wirtschaft – zu wenig getan wurde.Einzelne haben sich große Mühe gegeben. In diesemZusammenhang schaue ich Sie, Herr Funke, ganz be-wußt an. Aber die Tatsachen treffen zu, daß in diesemBereich die Zahl der Anträge in den letzten 10 Jahrengestiegen ist, aber der Personalbestand heruntergefahrenwurde, daß man mit der Organisationsreform nicht wei-terkam und daß die EDV-Ausstattung einfach nicht ver-bessert wurde.Wir haben jetzt mit Veränderungen angefangen. Be-reits im Haushalt 1999 – ich bedanke mich nochmals fürdie Unterstützung – haben wir mit der kleinen Zahl vonsechs neuen Stellen im Patentprüferbereich angefan-gen. Jetzt schaffen wir 49 neue Stellen plus einige neueStellen im Markenbereich und im Verwaltungsbereich.Im Juli konnte der Staatssekretär das EDV-ProgrammDEPATIS der Öffentlichkeit vorstellen, das zügig aus-gebaut werden soll. Wir haben die Umorganisation„DPMA 2000“ kräftig vorangetrieben. Auch diese Maß-nahme wird Früchte tragen.Ich komme jetzt zu dem entscheidenden Punkt. Werin diesem Hause glaubt, wir könnten die Umstrukturie-rung angesichts der desolaten Haushaltssituation, die wirvorgefunden haben, einfach so bezahlen, und wir könn-ten der Notwendigkeit zu Einsparungen, die wir brau-chen, um mehr Arbeitsplätze, Ausbildung und Gerech-tigkeit zu finanzieren, nicht die notwendige Beachtungschenken, der drückt sich um die Wahrheit herum undzeigt damit, daß er einfach politikunfähig ist.
So können wir natürlich nicht vorgehen. Deswegensage ich ganz offen: Die einzige Möglichkeit bestanddarin – so gern ich Geld ausgegeben hätte; das wäre mirviel sympathischer –, zu überlegen, in welchem Bereichwir Gebühren erhöhen können, ohne daß die Innova-tionsfähigkeit und ohne daß die Erfinder und insbeson-dere die kleinen und mittleren Unternehmen in ihrer Ar-beit beeinträchtigt werden. Diese erhöhten Gebührensollten den Zweck haben, die Antragsbearbeitung beimDeutschen Patent- und Markenamt und seinen Servicetatsächlich voranzutreiben.
– Eben, Herr Staatssekretär.Die zweite Frage ist: In welchem Bereich können wirGebühren erhöhen, ohne daß wir in irgendeiner Weise inKonkurrenz zum Europäischen Patentamt und zu denPatentämtern in den anderen Staaten treten? Mit dieserFrage haben wir uns beschäftigt. Wir haben die einzel-nen Gebühren so erhöht, daß genau diese Ziele erreichtwurden. Übrigens können wir diese Erhöhungen auchdeswegen ganz gut verantworten, weil die Gebühren seit1976 – ich wiederhole mit Nachdruck: seit 1976 – nichtmehr angepaßt worden waren.Ich will Ihnen sagen, welche Gebührenerhöhungensich ergeben haben. Die Gebühr für die Patenterteilungist bei uns von 650 DM auf insgesamt – alles eingerech-net – 735 DM gestiegen. Die entsprechenden KostenBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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beim Europäischen Patentamt betragen in der vergleich-baren Kategorie 6 838 DM. Wir haben aber sehr sorg-fältig darauf geachtet, daß die Gebühr für die erste An-meldung zum Patent nicht erhöht wird. Das ist eine derÜberlegungen gewesen, die den Erfindern und den klei-nen und mittleren Unternehmen zugute kommt. DieseGebühr beträgt übrigens bei uns nach wie vor 100 DM,beim Europäischen Patentamt 248 DM.Allerdings waren wir der Meinung, die Recherchege-bühren kräftig erhöhen zu können. Ich sage Ihnen auch,warum. Es gibt eine ganze Reihe von Recherchen deshochsubventionierten deutschen Rechercheservice, diedazu genutzt wurden, um mit den entsprechenden In-formationen eine Tür weiter beim Europäischen Patent-amt die Patentanmeldung vorzunehmen. Wir haben dieRelationen völlig verändert. Die Gebühr steigt von 200auf 300 DM. Beim Europäischen Patentamt kostet dieseDienstleistung immer noch 1 350 DM.Wir handeln also genau nach der Devise: Wir erhö-hen die Gebühren, um schwerpunktmäßig investieren zukönnen. Wir haben die innovatorisch handelnde Wirt-schaft und die kleinen Erfinder geschont. Wir handelnim übrigen ganz im Einklang mit dem, was die Verfas-sung und auch das Europarecht vorsehen. Wenn wir unsdie Finanzierung und die Ausgaben für das DPMAanschauen, so können wir feststellen, daß wir nochdeutlich im gegebenen Spielraum für die Gebühren lie-gen.Meine Damen und Herren, ich möchte Sie am Endemeiner Rede nochmals dazu einladen, die Reformvorha-ben der kommenden Zeit mit uns zu gestalten. ImRechtsausschuß herrscht immer ein erfreuliches Klima.Ich glaube, daß wir das gemeinsam machen können. Ichlege bei den Reformprojekten, die wir vorhaben, großenWert darauf, daß alle in der Öffentlichkeit und alle hierin diesem Haus nicht nur ihre Meinung sagen können,sondern uns helfen, sie durchzusetzen. Wir sind der Auf-fassung: Das Bessere ist immer der Feind des Guten. Sosoll es auch bleiben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun
Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, wir
müssen sparen; das ist wahr. Aber Sie müssen erst ein-
mal auf den Stand zurückkommen, den wir in unse-
rem Haushaltsentwurf für das Jahr 1999 vorgesehen
hatten. Sie haben den Ansatz sträflicherweise um
30 Milliarden DM erhöht und müssen nun das Kunst-
stück fertigbringen, von diesen 30 Milliarden DM wie-
der herunterzukommen. Diese Suppe haben Sie sich
selbst eingebrockt.
Lassen Sie mich in meinem Teil der Stellungnahme
zum Haushalt –
Kollege Geis, bevor
Sie so richtig loslegen, will der Kollege Karl Diller
schon etwas von Ihnen wissen. Darf er?
Bitte sehr.
Kollege Geis, ich sehe Ihnen nach,
da Sie kein Haushalter sind, daß Ihnen möglicherweise
der Zusammenhang unbekannt ist.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Auf-
wuchs des Haushaltes 1999 gegenüber dem Haushalt
1998 um gut 28 Milliarden DM im wesentlichen mit drei
grundlegenden Veränderungen des Haushaltssystems zu
tun hat: Erstens. Erstmals werden im 99er Haushalt die
Einnahmen und Ausgaben für die Postunterstützungs-
kassen nicht mehr als Sonderrechnung geführt, sondern
im Haushalt veranschlagt.
Volumen: 8 Milliarden DM.
Kollege Diller, Sie
müssen schon fragen.
Ja: „Sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen…?“
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß zwei-
tens in diesem Jahr die Erhöhung der Mehrwertsteuer
um 1 Prozent, die Sie zugunsten der Rentenkassen vor-
genommen haben – abweichend vom Vorjahr, wo dies
nur für ein Dreivierteljahr relevant war –, erstmals voll
ihren Niederschlag fand und daß wir drittens im April
dieses Jahres zugunsten der Rentenkassen die Ökosteuer
eingeführt haben? Die beiden letztgenannten Maßnah-
men bedeuten zusätzlich 15 Milliarden DM, so daß sich
insgesamt 23 Milliarden DM der Veränderung in Höhe
von 28 Milliarden DM aus diesen drei Positionen erklä-
ren. Sind Sie endlich bereit, das zur Kenntnis zu neh-
men?
Wir haben folgendeSituation: Von 1993 bis einschließlich 1998 war dieHaushaltssituation weitgehend dieselbe; nur wenige Be-träge unterschieden sich. Wir stellen fest, daß Sie –frisch an die Regierung gekommen – für das Jahr 1999entgegen unserem Entwurf, eine Erhöhung um 30 Milli-arden DM vorgenommen haben und jetzt behaupten, siemüßten 30 Milliarden DM sparen.
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
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Nach Adam Riese ist dies eine ganz einfache Rechnung:Hätten Sie nicht um diese 30 Milliarden DM erhöht,dann hätten Sie zumindest nicht jene Schwierigkeiten,die Sie der Bevölkerung draußen jetzt darzulegen versu-chen. Die Bevölkerung glaubt es Ihnen auch gar nicht;Sie merken das an den Wahlergebnissen.
Der Kollege Diller
will noch einmal nachfragen. Ich hoffe, es handelt sich
wirklich um eine Frage, Kollege Diller.
Herr Kollege Diller, Sie
können die Debatte jetzt ausschließlich auf den haus-
halterischen Bereich verlagern. Ich bin gerne damit ein-
verstanden. Aber ich bin hierhergekommen, um über
Rechtspolitik zu reden. Den Haushaltspart bei diesem
Einzelplan wird der Kollege Henke übernehmen. Viel-
leicht können Sie Ihre Fragen, die sich nur mit dem
Haushaltsansatz beschäftigen, an den Kollegen Henke
richten. Aber wenn Sie nicht wollen: Bitte, ich versuche,
auch Ihren Fragen Rede und Antwort zu stehen. Der an-
dere Weg wäre mir aber lieber.
Sie bestehen also auf
Ihrer Zwischenfrage? – Bitte.
Herr Kollege, wenn Sie behaup-
ten, wir hätten 30 Milliarden DM zum Fenster hinaus-
geworfen oder was auch immer damit gemacht, dann er-
klären Sie mir bitte, an welchen wesentlichen Ausgabe-
titeln sich diese 30 Milliarden DM festmachen. Ich sage
Ihnen noch einmal:
Sie machen sich in der Größenordnung von 23 Milliar-
den DM an diesen drei strukturellen Veränderungen fest.
Es ist einfach Ihrer Reputation unwürdig, eine wahr-
heitswidrige Behauptung weiter aufrechtzuerhalten. Ich
bitte Sie, sie im Interesse des Umgangs miteinander zu-
rückzunehmen.
Ich bin zwar über Ihrehohe Anerkennung meiner Reputation sehr erfreut, blei-be aber dabei: Wir haben im September des Jahres 1998für das Jahr 1999 einen Haushalt vorgelegt, haben ihnauch mit der Mehrheit dieses Parlamentes vor denWahlen am 27. September verabschiedet. In diesemHaushalt waren 30 Milliarden DM weniger enthalten.Dann haben Sie den Haushalt vorgelegt und 30 Milliar-den DM draufgesattelt. Das ist eine ganz einfache Rech-nung. Ich weiß nicht, welche Schwierigkeiten Sie haben,wenn wir Ihnen vorhalten: Hätten Sie Ihren Haushalt1999 in einer anderen Weise aufgestellt, dann hätten Siejetzt nicht diese Probleme.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich jetzt zu ein paar rechtspolitischen Themen Stellungnehmen. Frau Ministerin, Sie werfen mir vor, ich würdeimmer gegenüber – –
– Na gut, Sie halten mir vor, ich würde immer sagen,aus Ihrem Hause würde nichts kommen. Seit einem Jahrdiskutieren wir über die Justizreform. Das ist eine un-endliche Geschichte: In regelmäßigen Abständen lesenwir dazu Ihre Pressemitteilungen und über Ihre Gesprä-che mit der Presse; im Rhythmus von acht Wochen lesenwir immer wieder das gleiche. Mich wundert, daß diePresse das überhaupt aufnimmt. Die müßte inzwischeneigentlich kapiert haben, daß nichts Neues mehr kommt.Trotzdem sind wir noch auf Spekulationen angewiesen,weil immer noch kein Gesetzentwurf vorliegt.Frau Ministerin, wenn Sie an meiner Stelle stünden,also in der Opposition, dann würden Sie Ihre Wortmel-dung in einer ganz anderen Weise geltend machen. UndSie hätten Recht! Dieses Recht nehme ich für mich inAnspruch. Ich bin Oppositionspolitiker; ich muß daraufhinweisen. Es ist doch in der Tat so: Im Augenblick ha-ben wir – was wir, seit ich im Rechtsausschuß bin, nochnie hatten – im Rechtsausschuß einen Mangel an Tages-ordnungspunkten, so daß wir eine Obleutebesprechungmachen müssen, um zu klären, was wir auf der nächstenSitzung machen.
Solange ich Mitglied des Rechtsausschusses bin, gab esso etwas noch nie. Darauf muß ich hinweisen; das mußich auch kritisieren. Ich hoffe aber sehr, Frau Ministerin,daß Sie die angekündigten Reformen demnächst in Formvon Gesetzesentwürfen vorlegen. Dann werden wir unskonkret damit auseinandersetzen können.In der Justizreform unterscheiden wir zwei Punkte:die Justizorganisationsreform, über die Sie heute nichtsgesagt haben, und Verfahrensrechtsreform. Für die Ver-fahrensrechtsreform sind wir, das habe ich immer ge-sagt, offen. Wir selbst haben einen Entwurf zur Verbes-serung des Zivilprozeßrechtes vorgelegt. Sie haben die-sen Entwurf blockiert. Er stammt aus der letzten Legis-laturperiode und wurde von Abgeordneten der SPD undder CDU/CSU zusammen mit den Kolleginnen undKollegen des Bundesrates erarbeitet, er kommt aus derPraxis. Aber Sie haben nichts Besseres zu tun gehabt, alsihn bis heute zu blockieren.Inzwischen haben Sie einen Punkt herausgenommen.Das ist die außergerichtliche Streitschlichtung. Dazuliegt nun ein Gesetzentwurf vor. Wir werden damit zu-rechtkommen; wir haben keine Einwendungen. Es istauch fast das gleiche, was wir vorgeschlagen haben,nicht wortgleich, aber dem Sinn nach gleich. Wir wer-den dem Entwurf zustimmen. Hätten Sie aber nichtblockiert, dann hätten wir die außergerichtliche Streit-schlichtung längst. Wir haben sie dem Haus schon imJanuar dieses Jahres vorgelegt. Sie haben blockiert, jetztsind Sie zur besseren Einsicht gekommen. Ich danke Ih-nen dafür. Wenn es hilft, dann ist es ja gut.Norbert Geis
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4774 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Bei der Frage der Rechtsmittelreform bitte ich aber,eines zu berücksichtigen. Es gibt diesen Bericht, der ausdem Bundesrat kommt; es war die einstimmige Meinungdes Bundesrates. Der Bericht wurde erstellt unter maß-geblicher Beteiligung von Bayern.
– Das ist nun einmal so; das können Sie nicht leugnen.Was wahr ist, darf man wohl noch sagen.Aber ich möchte ein Argument dagegen anführen.Bei der Rechtsmittelreform ist vorgesehen, daß es nurnoch eine Eingangsinstanz gibt und die zweite Instanzals Tatsacheninstanz so gut wie abgeschafft wird. Ichhalte das für verkehrt,
und zwar deswegen, weil die Hauptaufgabe im Zivilpro-zeß in der Tat die Erfassung des Sachverhaltes ist. Dasmacht 95 Prozent der Arbeit in einem Zivilprozeß aus.Die Rechtsanwendung macht den weit geringeren Teilaus. Die Fehler passieren in der Erfassung des Sachver-halts. Deshalb sind in der zweiten Instanz, nachdem sichdie Dinge abgeklärt haben, oft genug Korrekturen ange-bracht. Deswegen sollte man sehr vorsichtig mit derÜberlegung sein, nur eine Tatsacheninstanz einzurichtenund die Rechtsmittelinstanz nur noch für die Überprü-fung von Rechtsfehlern zu verwenden. Das halte ich fürein Problem; darüber muß man jedenfalls gut nachden-ken. Ich weiß, dazu gibt es viele andere Meinungen, dieauch berechtigt sind und die ich nicht abtun möchte.Aber es gibt auch viele Argumente gegen die Abschaf-fung dieser Instanz. Diese habe ich darzulegen versucht.Soweit die Justizreform die Organisation betrifft, gibtes Streit. Unser Justizsystem zeichnet sich durch eineViergliedrigkeit aus. Es gibt Amtsgerichte, Landge-richte, Oberlandesgerichte und eine Revisionsinstanz inForm des BGH. Wir meinen, daß sich diese Vierglied-rigkeit in hervorragender Weise bewährt hat. Wir solltenmit ihr nicht leichtsinnig umgehen. Ich weiß, daß dasThema der Dreigliedrigkeit seit hundert Jahren durch dieJustiz geistert. Aber es muß nicht sein, daß dieses Ge-spenst in unseren Tagen Wirklichkeit wird. Die Vier-gliedrigkeit gewährleistet die bessere Organisation unse-rer Gerichte. Deshalb bitte ich, sie auch beizubehalten.Jedenfalls schließe ich aus der Tatsache, daß Sie heutenichts dazu vorgetragen haben, daß Sie mit Ihren Bera-tungen noch nicht fertig sind. Ich hoffe sehr, daß in die-se Beratungen noch mehr Argumente eingebracht undbedacht werden.Sie haben vorhin die weiteren Bereiche des Zivil-rechts erwähnt. Wir haben längst einen Gesetzentwurfzur Verbesserung der Zahlungsmoral eingebracht. Siehaben dieses Thema ebenfalls aufgegriffen. Ich bin si-cher, daß wir zusammen zu einer vernünftigen Regelungdieser Frage gelangen werden. Die Handwerker habendiese Regelung nötig. Die jetzt existierende Gesetzesla-ge wird den Bedürfnissen der Handwerker nicht gerecht.Sie werden bei Zahlungsverzug illiquide und müssendann Konkurs anmelden. Das gilt insbesondere für dieHandwerker in den neuen Bundesländern. Diesen Zu-stand müssen wir verändern. Hier sind beide großenParteien der gleiche Meinung.
Bei der Änderung des § 1631 BGB, in dem die Frageder Gewaltanwendung in der Familie behandelt wird,mahnen wir zu einer größeren Zurückhaltung. DieseNorm haben wir in der letzten Legislaturperiode verän-dert. Wir haben eine gute Formulierung gefunden, dieauch der Privatsphäre der Familie gerecht wird. Aber ichmöchte nicht leugnen, daß es Gewalt natürlich auch inden Familien gibt. Die Statistiken besagen, daß es sie –auch das muß gesagt werden – insbesondere in Familienausländischer Herkunft gibt. Das ist leider so. Ein neuesGutachten des Kriminologen Pfeiffer beweist dies ganzdeutlich. Aber wir müssen natürlich vor allem festhalten,daß die Familie zu einem ganz überwiegenden Teil nochimmer der Hort der Sicherheit für heranwachsende Kin-der ist. Das sollten wir bei dieser Diskussion nicht ver-gessen. Wir meinen, daß man mit einer Umformulierungdes § 1631 BGB, der erst in der letzten Legislaturperi-ode neu gefaßt wurde, dem Problem der Gewaltanwen-dung nicht gerecht wird. Es gibt andere Politikfelder, diehier eher gefordert sind, zum Beispiel die Familien- undvor allen Dingen die Jugendpolitik.Ich möchte auch noch die gleichgeschlechtlichenPartnerschaften ansprechen. Dazu liegen inzwischendrei Gesetzentwürfe vor. Es liegt ein Gesetzentwurf ausHamburg und ein Gesetzentwurf von den Lesben undSchwulen vor. Es gibt auch den Gesetzentwurf derF.D.P.. Sie von der F.D.P. sagen zwar, daß Sie keineKonkurrenzveranstaltung zur Ehe etablieren wollen. Ichnehme Ihnen das auch ab. Aber wenn Sie sich Ihren ei-genen Gesetzentwurf einmal genauer anschauen, dannwerden Sie feststellen, daß dort eine Masse von Ver-rechtlichungen der nichtehelichen, der gleichgeschlecht-lichen Partnerschaften vorgesehen ist. Nach ihrem Re-gelungswerk würden sich gleichgeschlechtlichen Part-nerschaften – wenn man die steuer- und rentenrechtli-chen Regelungen auch in Betracht ziehen würde – innichts mehr von der Ehe unterscheiden. Dagegen stellenwir uns. Wir halten dies nicht für verfassungskonform.Wir sind der Auffassung, daß damit ein Verstoß gegenArtikel 6 GG vorliegt.
Ich möchte einen Blick auf das Strafrecht richten.Uns interessiert die Aktivität der Bundesregierung imeuropäischen Bereich. Die Europäische Kommissionkümmert sich immer stärker um Strafrecht. Es gibt denVorschlag einer Gutachterkommission, die vom Euro-päischen Parlament initiiert und bezahlt worden ist. Wirbitten die Bundesregierung in der Diskussion mit Brüs-sel dafür Sorge zu tragen, daß unsere vernünftigen undguten Regelungen im materiellen Recht und im Verfah-rensrecht nicht durch Verwässerung im europäischenBereich schlechter werden. Das ist unser Anliegen. Ichbitte sehr, darauf zu achten.Ich möchte noch ein Wort zum Sanktionensystemsagen. Frau Ministerin, auch hier haben wir es mit einerNorbert Geis
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4775
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unendlichen Geschichte zu tun. Es kommen ständig An-kündigungen; aber es liegt kein Gesetzentwurf vor. So-weit es um das Fahrverbot geht, bin ich trotz Bedenkender Meinung, daß man es in Zukunft als weitere Sankti-on auch für andere Straftaten als nur für Verkehrsstraf-taten vorsehen kann. Man muß feststellen, daß der Füh-rerscheinentzug für einen jungen Menschen, der denFührerschein vor kurzer Zeit gemacht hat, nach dem Be-gehen einer Straftat immer noch schwerwiegender alseine Gefängnisstrafe mit Bewährung und zusätzlicherGeldbuße ist. Diese Möglichkeit der Sanktion ist vorzu-sehen. Da stimmen wir zu.Wir stimmen nicht der Einführung eines Strafgeldeszu. Sie haben diese Absicht erst neulich wieder verkün-det. Hiermit ist die Polizei nach unserer Auffassungüberfordert. Es ist verfassungsrechtlich bedenklich, daßder Polizist zum Richter würde. Hinzu kommt, daß da-durch Polizeikräfte gebunden werden, die eher in derVerbrechensbekämpfung gebraucht werden. Ich bitte,unsere Gegenargumente zu beachten.Meine Redezeit ist abgelaufen. In der Kürze der Zeitkann ich nicht alle rechtspolitischen Themen anspre-chen. Die Rechtspolitik hat eine von der gesamten Poli-tik oft übersehene Wirkung, die weder heute noch mor-gen zutage tritt und die auch nicht spektakulär ist, dieaber sehr stark in die Gesellschaft hineinwirkt. Ich hoffesehr, daß wir wie in der Vergangenheit in den grundlie-genden Fragen im Rechtsausschuß zu einer vernünftigenEinigung finden. Sie können sich unserer Offenheit undunserer Gesprächsbereitschaft sicher sein.Danke schön.
Das Wort hat der
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Geis,ich muß mich schon wundern, daß Sie so darüberschimpfen, wie es bei uns im Obleutegespräch zugeht.Ich weiß gar nicht, woher Sie das wissen. Sie zumindesthabe ich in dieser Wahlperiode dort noch nicht gesehen.Den Kollegen Pofalla habe ich zu meiner großen Freudedagegen um so öfter gesehen. Uns ist es da nicht lang-weilig, und wir haben auch genügend zu tun. Wir habeneine ganze Menge auf den Weg gebracht. Daß wir soetwas wie die Justizreform nicht übers Knie brechen, dasspricht nur für die Sorgfalt, mit der die Koalition an die-sem Punkt arbeitet.
Sie würden sich doch zu recht beschweren, wenn wir ei-nen Entwurf vorlegen würden, der mit niemandem dis-kutiert worden wäre, der große Mängel aufweisen würdeund in dem wir die vielen komplizierten Fragen in die-sem Zusammenhang nicht wohl abgewogen hätten. Daßso etwas, was Sie nie angepackt haben, eine Weilebraucht, das versteht sich von selbst.Was Sie hier zum Thema „Gewalt in der Familie“ ge-sagt haben, fand ich wirklich schlimm. Sie haben gesagt:Bei den ausländischen Familien hier findet Gewalt statt.– Bei den anderen Familien offensichtlich nicht.
Das Problem der Gewalt in der Familie ist kein Problemvon Deutschen, Ausländern oder Migrantenfamilien.Das Problem der Gewalt in der Familie müssen wir daangehen, wo wir es vorfinden. Dabei dürfen wir die Fa-milie nicht ideologisch schönbeten oder dieses Themadazu verwenden, die Familie zu diskreditieren. Wirmüssen den Familien helfen, in denen Gewaltphänome-ne auftauchen. Wir müssen die Jugendlichen und Kinderschützen und ihnen eine Chance für eine anständige So-zialisation und eine richtige Erziehung geben. Wo dasnicht klappt, müssen wir prüfen, mit welchen Instru-menten wir intervenieren können.Aber dagegen, daß der Gesetzgeber ein für allemalklarstellt, daß jedes Kind ein Recht auf gewaltfreie Er-ziehung hat, sollten Sie angesichts dessen nicht polemi-sieren, daß wir wissen, daß gewaltbelastete Kinder miteiner sehr hohen Wahrscheinlichkeit später selber alsGewalttäter auftreten. Das, was wir hier machen undwas Sie versäumt haben, ist die beste Gewaltprävention.
Zum Thema Sanktionensystem möchte ich hier nichtviel sagen. Wir werden das demnächst diskutieren. Wirhaben natürlich auch eine Weile gewartet, bis die vonIhnen eingesetzte Reformkommission endlich mit Vor-schlägen rüberkommt. Es gehört sich auch so, daß mandie Fachleute eine Weile arbeiten läßt, bevor man hieretwas vorlegt. Die Diskussion haben wir aber trotzdemschon in der Gesellschaft begonnen.Meine Damen und Herren, wir müssen in diesen Ta-gen mit Sorge beobachten, daß es auch Tendenzen derRechtsstaatserosion gibt. Unrühmliche Beispiele vonBremen und Schwerin haben jetzt im Saarland Kon-junktur. So fiel dem designierten Ministerpräsidentendort nichts Besseres ein, als sich sogleich für eine Ein-verleibung des Justizressorts auszusprechen. Zu Rechterntete Herr Müller daraufhin den Proteststurm der gro-ßen juristischen Berufsverbände, des Richterbundes unddes Anwaltsvereins, sowie diverser Justizminister. DieseDiskussion – das geht ja leider parteiübergreifend –, dasJustizministerium geringzuschätzen, ist ein ganzschlechtes Signal, daß wir den Rechtsstaat mit seinemWert, den er für uns hat, nicht wirklich ernst nehmen.Das Amt des Ministerpräsidenten mit dem des Justizmi-nisters zusammenzulegen ist eine Geringschätzung desRechtsstaates. Zu den Aufgaben einer unabhängigen Ju-stiz zählt doch auch, die Umsetzung von Politik zu kon-trollieren und auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprü-fen.
Wer aber diese vom Grundgesetz erforderte eindeuti-ge Trennung von Exekutive und Judikative verwischenNorbert Geis
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will, stellt sich aus Macht- oder falsch verstandenem Ef-fektivitätsdenken nicht nur gegen die Verfassung. Nein,solche Ideen fördern auch nicht das Vertrauen der Be-völkerung in die Kraft und die Unabhängigkeit der drit-ten Gewalt.
Herr Kollege Beck,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Funke?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Beck, sind Sie
mit mir der Auffassung, daß Ihre richtigen Ausführun-
gen hinsichtlich des Zusammenwerfens der Ämter des
Ministerpräsidenten und des Justizministers auch für die
Ämter des Innenministers und des Justizministers gelten
müßten?
Selbstverständlich. Wir haben das da, wo es passiert ist,also in Nordrhein-Westfalen, auch immer kritisiert.
Das ist gegen unseren Widerstand beschlossen worden.Aber wir haben da mit unserer Kritik nicht hinter demBerg gehalten, sondern klar Farbe bekannt. Wir sindauch froh, daß das Verfassungsgericht von Nordrhein-Westfalen unsere Position geteilt hat.Sie wissen ganz genau, daß es in manchen PunktenSache des Regierungschefs ist zu entscheiden, wennman nicht vorher andere Vereinbarungen getroffen hat.Wir haben kein Jota an der Kritik zurückgenommen, undwir haben jetzt in Nordrhein-Westfalen auch wieder an-ständige Verhältnisse. Wir sollten an diesem Punkt nichtParteipolitik betreiben, sondern gemeinsam für denRechtsstaat streiten.
Meine Damen und Herren, in dieser Koalition bildetdie Rechtspolitik einen deutlichen Schwerpunkt. Wirschätzen den Rechtsstaat hoch ein. Deshalb wollen wirdas Recht an die modernen Lebensverhältnisse anpas-sen. Wir wollen mehr Bürgernähe, mehr Bürgerfreund-lichkeit und mehr Transparenz. Vielleicht muß man –das sage ich auch zu dem, was Sie, Herr Geis, hier zumJustizaufbau gesagt haben – manchmal auch den Muthaben, Dinge zu erneuern, um näher an die Bürger he-ranzukommen und ein transparenteres Rechtssystem zuhaben, das die Menschen besser verstehen. Deshalbhalte ich die Reform, die wir im Justizbereich auf denWeg bringen, für ganz entscheidend.Bei allen guten Gründen, die auch aus Effektivitäts-gesichtspunkten für eine solche Reform sprechen, wer-den wir vom Bündnis 90/Die Grünen darauf achten, daßes nicht zu einem Abbau der Rechte der Bürgerinnenund Bürger kommt. Im Gegenteil, wir werden denRechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger im Rahmendieser Reform verbessern.So sollen künftig auch solche Amtsgerichtsurteile voneiner Berufungsinstanz überprüft werden können, diebislang wegen ihres Streitwertes einer gerichtlichenKontrolle gar nicht oder allenfalls durch das Bundesver-fassungsgericht zugänglich waren. Das Bundesverfas-sungsgericht hat fürwahr andere Aufgaben, als Revi-sions- oder Berufungsinstanz zu sein. Dies betrifft nichtwenige Urteile; mehr als 40 Prozent aller amtsgerichtli-chen Urteile sind heute nicht überprüfbar. Wir wollenhier mehr Rechtsschutz und Gerechtigkeit. Das wird dieKoalition in diesem Zusammenhang schaffen.Auch in anderen Rechtsbereichen besteht nach Auf-fassung meiner Fraktion dringender Modernisierungsbe-darf. Ich nenne hier nur unser Mietrecht. Die Justizmi-nisterin hat angekündigt: Wir wollen eine Vereinfa-chung des Mietrechts. Wir werden uns dem notwendi-gen Modernisierungsbedarf stellen und den Schutz derMieterinnen und Mieter in diesem Zusammenhang stär-ken.Bündnis 90/Die Grünen unterstützen nachdrücklicheine Regelung, nach der nicht nur der Ehepartner, son-dern auch der Partner einer gleichgeschlechtlichen oderanderen nichtehelichen Lebensgemeinschaft beim Toddes Mieters in den Mietvertrag einsteigen kann. Es istdoch absurd, wenn der Gesetzgeber bei einer Materiewie dem Mietrecht, von der tagtäglich Millionen vonBürgerinnen und Bürgern betroffen sind, die Augen vorden gesellschaftlichen Realitäten verschließt.Ein weiterer Gesetzentwurf – Sie haben es schon an-gesprochen, Herr Geis –, den die Koalition in den näch-sten Wochen anpacken wird, ist in der Bundesrepublikohnehin längst überfällig: die rechtliche Anerkennunggleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. VieleLänder in Europa haben bereits positive Erfahrungen,zum Teil von über zehn Jahren, mit der eingetragenenLebenspartnerschaft für schwule und lesbische Paaregemacht: Dänemark, Schweden, Norwegen, Island unddie Niederlande. Auch beim Nachbarn Frankreich stehtder Gesetzgebungsprozeß für eine ähnliche Regelungkurz vor dem Abschluß und wird diesen Herbst im dor-tigen Gesetzblatt seinen Niederschlag finden.Das skandinavische Modell eignet sich als Vorbildfür unsere Gesetzgebung. Dort wurden die Rechte undPflichten von Eheleuten in Form einer Generalverwei-sung im Paket auf die eingetragene Partnerschaft über-tragen. Dieses Modell hat dort hohe Akzeptanz in derBevölkerung gefunden, weil es transparent ist und Ge-rechtigkeit schafft. Gleiche Rechte und gleiche Pflichten– das sollte auch in Deutschland der Grundgedanke unddas Ziel einer Reform sein.Was Sie, Herr Geis, hier bezüglich des Art. 6 desGrundgesetzes gesagt haben, war interessengeleitet undhat mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichtszu tun. 1993 hat das Bundesverfassungsgericht in einerEntscheidung zur Aktion „Standesamt“ des Lesben- undSchwulenverbandes entschieden, dem Gesetzgeber hierVolker Beck
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freie Hand zu lassen und keine Vorgaben zu machen.Gleichzeitig hat es ihn aber gewarnt, daß es in dem ge-nannten Bereich hinsichtlich einzelner Rechtsgebiete zurZeit erhebliche Benachteiligungen bei der privaten Le-bensführung gebe und der Gesetzgeber sich um die Ab-schaffung dieser Benachteiligungen kümmern müsse. Eshat ihm lediglich keine Vorschriften gemacht, wie er daszu lösen habe. Somit hat Karlsruhe den Ball damalsnach Bonn, jetzt nach Berlin gespielt. Wir sollten dank-bar sein, daß wir diese Freiheit haben, und uns hier nichthinter der Verfassung verstecken.Aber zu Ihrem Entwurf, Herr Funke: Rosinenpickereikann es in diesem Zusammenhang nicht geben. Sieübertragen in Ihrem Gesetzentwurf einzelne Rechte vonEhegatten auf eingetragene Partnerschaften, ohne auchdie Pflichten zu übertragen. Wer gleiche Rechte will,muß bereit sein, gleiche Pflichten zu übernehmen. Diesgeht in beide Richtungen. Wir können hier keine Son-derrechte schaffen. Das ist ganz klar. Ansonsten würdenwir tatsächlich die Ehe gegenüber diesen Partnerschaf-ten benachteiligen. Das will zumindest die Koalition vonRotgrün nicht. Ihr Gesetzentwurf ist weder verfassungs-konform, noch befriedigt er die tatsächlichen Bedürfnis-se der Lesben und Schwulen, die eine rechtliche Rege-lung verlangen.
Die Bundesrepublik Deutschland kann es sich nichtleisten, bei der Umsetzung wichtiger internationaler Ab-kommen in nationales Recht zu den Nachzüglern zu ge-hören. Unsere Fraktion ermutigt deshalb die Bundesre-gierung, möglichst rasch das Römische Statut des In-ternationalen Strafgerichtshofes in Deutschland zu rati-fizieren. Die erforderlichen Gesetzentwürfe – das Ver-tragsgesetz und die Änderung von Art. 16 Abs. 2 desGrundgesetzes – müssen alsbald in Kraft treten.Heute hat sich dazu die Hauptanklägerin der UN,Louise Arbour, geäußert, die die Notwendigkeit der imvergangenen Jahr beschlossenen Errichtung eines inter-nationalen Strafgerichtshofes noch einmal unterstri-chen und dabei betont hat, daß ein internationaler Ge-richtshof dazu beitragen kann, Machtmißbrauch von Po-litikern und Militärs zu bestrafen, aber ein ständigesStrafgericht die bessere Alternative sei, weil es klar-macht, was in unserer Rechtsgemeinschaft gilt.
Sie sind über Ihre
Zeit hinaus, Sie müssen jetzt den letzten Satz sprechen.
Ein weiter Punkt, zu dem ich Ihnen gerne noch mehr er-
zählt hätte, das jetzt aber nicht tun darf, wäre der Ver-
braucherschutz und die Umsetzung von entsprechen-
den EU-Richtlinien gewesen. Die Justizministerin hat
schon betont, daß es diese Koalition nicht mehr zu Ver-
urteilungen kommen lassen will, sondern zügig handeln
wird. Manche dieser EU-Richtlinien zeigen aber auch
uns, daß der Verbraucherschutz in den 16 Jahren Ihrer
Regierungszeit zu kurz gekommen ist. Mit der Einbrin-
gung des Überweisungsgesetzes haben wir einen ersten
Schritt getan, weitere werden folgen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! In der Tat ist das Bundesministeriumder Justiz, Frau Ministerin, ein kleines aber feines Haus:klein, weil der Einzelplan 07 des Haushalts im Vergleichzu anderen Häusern sehr schmal ausfällt; fein, weil indiesem Hause besonders qualifizierte Mitarbeiter tätigsind, die durch ihre Sacharbeit überzeugen. Auf dieseMitarbeiter sind wir Parlamentarier ganz besonders an-gewiesen, denn das Justizministerium erbringt für denGesetzgeber Bundestag äußerst wichtige Dienstleistun-gen.Wie allgemein im Dienstleistungsbereich ist das ein-zige Kapital – das Pfund, mit dem man wuchern kann –die Qualifikation der Mitarbeiter. Diese Qualifikationmuß durch Motivation und gelegentlich durch Lob undAnerkennung gefördert werden. Dies gilt um so mehr,als Sie, Frau Ministerin, für diese Legislaturperiodewichtige Reformvorhaben im Rahmen einer Justiz-reform beabsichtigen, wie Sie ja schon mehrfach ange-kündigt haben.Einer lediglich aus fiskalischen Überlegungen durch-geführten Reform werden wir eine Absage erteilen.
Eine Justizreform hat nämlich nur dann Sinn, wenn si-chergestellt ist, daß der Rechtsschutz des Bürgers hin-reichend gewahrt wird. Wichtig erscheint uns vor allem,daß schnell und effektiv Recht gesprochen wird, damitder Rechtsfrieden in der Gesellschaft gewahrt wird. Dasist die Aufgabe der Rechtsprechung, die wir auch für dieZukunft sicherstellen wollen.Diese Reform wird man nicht gegen die Organe derRechtspflege durchführen können. Deswegen erscheintmir eine einvernehmliche Regelung mit der Anwalt-schaft und der Richterschaft unbedingt notwendig. DieseOrgane der Rechtspflege sollten frühzeitig in die Über-legungen einbezogen werden, und zwar mit der Mög-lichkeit zu echten Diskussionen und nicht in der Form,daß ihnen bloß mitgeteilt wird, wie die Ministerin es be-absichtigt.Meine Damen und Herren, die Ministerin hat es er-wähnt, die deutsche Wirtschaft ist maßgeblich auf dieDienstleistungen des Deutschen Patent- und Marken-amtes angewiesen. Der Rückstand bei Eintragungen fürPatente und Marken ist nicht mehr zu vertreten. Ich sagedas jetzt nicht als Vorwurf, sondern stelle bloß fest, daßganz erhebliche Rückstände vorhanden sind. Das Deut-sche Patent- und Markenamt, das sich zum großen Teilüber die Gebühren selbst trägt und in Zukunft sogarnoch mehr tragen soll, muß personell in die Lage ver-setzt werden, zeitnah die Anmeldungen einzutragen,sonst entsteht der deutschen Wirtschaft ein großer Scha-Volker Beck
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den, im internationalen Wettbewerb natürlich auch einSchaden gegenüber den Konkurrenten.Durch eine weitere Privatisierung des „Bundesanzei-gers“ und einer Teilprivatisierung der Juris GmbHkönnten darüber hinaus Mittel frei gemacht werden, umdie Arbeit des Deutschen Patent- und Markenamtes zuunterstützen.
Natürlich weiß ich, Frau Ministerin, daß haushalts-rechtliche Erlöse ersteinmal ins Bundesfinanzministeri-um und nicht in das Justizressort fließen. Ein solcherErlös kann dazu beitragen, daß der Justizhaushalt in Zu-kunft etwas erhöht werden kann.Die deutsche Rechtsordnung gilt in der Welt als eineder besten Rechtssysteme. Es ist deswegen nicht ver-wunderlich, daß immer mehr Länder bei der Neuord-nung ihrer Rechtssysteme auf deutsches Recht zurück-greifen oder zumindest von Deutschland aus beratenwerden wollen. Dies gilt insbesondere für die ehemali-gen sozialistischen Länder, aber auch für einigeSchwellenländer. Bei der letzten Haushaltsdebatte hatteich bereits angemahnt, daß die Bundesregierung ein ge-schlossenes Konzept für die Rechtsberatung dieser Län-der entwickelt.Ich halte es nicht für zweckmäßig, daß auf der einenSeite die Stiftung für Internationale Rechtliche Zu-sammenarbeit für 11 oder 12 Länder zuständig ist unddie GTZ, also die Gesellschaft für Technische – nichtfür Rechtliche – Zusammenarbeit, für den Rest der Welt.Wir müssen eine Beratung aus einer Hand anbieten.Dann kann man auch ein vernünftiges Konzept vorle-gen. Dazu ist in erster Linie die Stiftung für Internatio-nale Rechtliche Zusammenarbeit geeignet.Meine Damen und Herren, die Europäische Kommis-sion nimmt über die Richtlinien zum Verbraucherschutzzunehmend Einfluß auf unser deutsches Schuldrecht,insbesondere auf den großen Teil unseres Vertrags-rechts. Dieser Teil des BGB wirkt inzwischen schon fastwie ein Flickenteppich. Wir sollten daher analog zu denArbeiten der Schuldrechtskommission darüber nachden-ken, wie wir ein Europäisches Vertragsrecht gestaltenkönnen. Hier sollte alsbald die Bundesregierung inBrüssel initiativ werden; denn das muß auch von denStaaten, in diesem Fall der Bundesregierung, vorange-trieben werden.Das Wirtschaftsrecht, insbesondere auch das Aktien-recht, wird bei der Globalisierung der Wirtschaft nichtausgespart werden können. Eine Frage, die wir beimKontrakt noch nicht behandeln konnten, Herr KollegePick, weil das noch nicht so weit erkennbar war, ist dieFrage der Umstellung von Inhaberaktien auf Namensak-tien. Da erwarte ich, daß wir alsbald diese Umstellungim Aktienrecht dokumentieren und besonders den Da-tenschutz mit berücksichtigen. Dasselbe gilt auch für dieEntwicklung im Internetbereich und für ElectronicCommerce. Da können wir nicht mehr national arbeiten,sondern müssen internationale Vereinbarungen haben,die vorangetrieben werden müssen.Meine Damen und Herren, ich habe sehr wohl dasAngebot der Ministerin auf enge Kooperation imRechtsausschuß gehört. Wir nehmen diese Einladunggerne an und hoffen auf gute Zusammenarbeit.
Das Wort hat nun
Kollegin Dr. Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministe-rin, noch bei der zweiten Lesung des Haushalts 1999 imMai dieses Jahres sprachen Sie von einer Akzentver-schiebung, einer anderen Weichenstellung, da zirka10 Millionen DM mehr in den Justizhaushalt eingestelltwurden und damit – ich zitiere –die ständige Streichorgie der vergangenen Jahreaufgehört hat.Diese Akzentverschiebung war jedoch leider nur vonsehr kurzer Dauer. Bei den ohnehin knapp bemessenenMinieinzelplänen Justiz und Bundesverfassungsgerichtsollen nach den Vorgaben des Finanzministers – nichtnach Ihren – tatsächlich noch die Ausgaben um insge-samt 24,5 Millionen DM gekürzt und Mehreinnahmenvon fast 34 Millionen DM eingestellt werden.Sieht man sich die Zahlen näher an, soll es deutlicheRückläufe bei der Beschäftigung zum Beispiel von Aus-hilfskräften im Justizministerium geben, ohne daß eineentsprechende Steigerung der Personalkosten bei dendauerhaft Angestellten feststellbar ist. Für die Aus- undFortbildung ist eine drastische Mittelkürzung auf weni-ger als ein Viertel im Vergleich zum Vorjahr vorgese-hen.Mehreinnahmen sollen offensichtlich durch eine ver-stärkte Auferlegung der sogenannten Mißbrauchsge-bühr beim Bundesverfassungsgericht oder durch höhereGebühreneinnahmen für die Erteilung von Führungs-zeugnissen und Auskünften des Gewerbezentralregistersbeim Generalbundesanwalt erzielt werden.Einsparungen bei personellen Investitionen einerseitsund Gebührenerhöhungen für die Rechtsuchenden ande-rerseits sind jedoch der falsche Weg. Sie führen zu einerweiteren Ausdünnung der Justiz, und das in einer Zeit,in der durch die angekündigte große Justizreform andereWeichen gestellt werden sollen.Nach wie vor sind jedoch die Umrisse dieser Reformschwer zu erkennen. Es gibt zwar nicht wenige Diskus-sionsrunden, Studien und Gutachten, beispielsweise zurRechtsmittelreform in Zivilsachen oder zur Reform desSanktionensystems. Für Referenten- oder Gesetzentwür-fe aus dem Justizministerium, die diesem Vorhaben alserste Schritte der Gesamtreform konkrete Gestalt geben,wird es nach Ablauf eines Viertels der Wahlperiode al-lerdings höchste Zeit.Längst überfällig sind Regelungen, die mit den Unge-rechtigkeiten gegenüber redlichen ostdeutschen Eigen-tümern und den Benachteiligungen gegenüber Nutzernvon Wohn- und Erholungsgrundstücken endlich SchlußRainer Funke
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machen. Die Justizministerkonferenz Ost tagt zwar re-gelmäßig. Es fehlt auch nicht an entsprechenden An-kündigungen. Gesetzentwürfe liegen jedoch leider nochimmer nicht vor.Wirklich enttäuscht hat mich, daß sich die Bundesre-gierung nicht imstande sah, der Aufforderung des Bun-destages vom Juni 1998 nachzukommen und einen Be-richt über die Wirkungen der Nutzungsentgelt-verordnung termingemäß zum 30. Juni dieses Jahresvorzulegen. Der Bericht soll nun zum 30. März 2000kommen. Vorher ist auch hier die dringend notwendigeNovellierung nicht zu erwarten. Inzwischen läuft jedochdie Entgeltspirale munter weiter.Zwei Initiativen der PDS-Fraktion zur Schuldrechts-anpassung und zur Nutzungsentgeltverordnung liegenseit nunmehr neun Monaten auf Eis. Es mag sein, daßunsere Entwürfe unvollkommen sind. Dann nehmen wirÄnderungsvorschläge gerne entgegen. Aber weitereVerzögerungen können wir nicht mehr hinnehmen. InKürze wird unsere Fraktion noch einen Vorschlag füreine gerechtere Regelung, soweit es noch möglich ist,der sachenrechtlichen Probleme vorlegen.Frau Ministerin, Sie haben sich erfreulicherweise fürdie Erarbeitung einer Charta der Grundrechte derEuropäischen Union eingesetzt. In diesem Punkt kön-nen Sie mit unserer Unterstützung rechnen. Nicht zu-friedenstellend ist allerdings, daß nach dem Beschlußdes Europäischen Rates eine solche Charta zunächst nurfeierlich proklamiert wird. Gebraucht wird meiner Mei-nung nach ein Dokument mit völkerrechtlicher Ver-bindlichkeit.Die Gruppe der PDS hat vor vier Jahren im Bundes-tag einen Vorschlag für eine solche Charta eingereicht,der bei der Erarbeitung Beachtung finden sollte.Auch die zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getre-tene Insolvenzordnung bedarf nicht nur, wie vom Mi-nisterium angekündigt, der Beobachtung. Es bestehtdringender Handlungsbedarf, da sie im Bereich derVerbraucherinsolvenz gerade für die Gruppe der soge-nannten Armutsschuldner nicht greift. Das betrifft dieNichtgewährung von Prozeßkostenhilfe in der Praxis,den fehlenden Vollstreckungsschutz bei der außerge-richtlichen Schuldenbereinigung und den sogenanntenNullplan. Wir werden auch hierzu in Kürze aktiv wer-den.Zum Schluß noch ein Dankeschön an Sie, Frau Mini-sterin, und an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter IhresHauses. Das neue Handbuch der Rechtsförmlichkeitist eine nützliche Hilfe, auf die ich auch selbst gern zu-rückgreife. Möge es dazu beitragen, daß die Gesetze, diehier verabschiedet werden, qualitativ hochwertig, ver-fassungskonform und für die Bürgerinnen und Bürgerverständlich sind.Danke schön.[Beifall bei der PDS)
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Alfred Hartenbach, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr ge-ehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen, liebe Kolle-gen! Angesichts des vormals abgegebenen freimütigenund damit auch strafmildernden Geständnisses des Kol-legen Funke, er habe in die damalige Beratung zur Ent-lastung der Justiz den Vorschlag zur Ausgliederung desHandelsregisters eingebracht, weil er gewußt habe, daßdie Länder diesem Gesetz dann nicht zustimmen wür-den, und damit habe er verhindern wollen, daß Flick-werkreformen gemacht werden, Herr Geis, erscheint mirIhr Vorwurf, wir seien die Blockierer, einigermaßen ab-surd.
Eingeweihte wissen, um was es geht.Dabei sind Sie, die abgewählte Kohl-Regierung, esdoch gewesen, die mit ihren Justizministerinnen und Ju-stizministern 16 Jahre lang im Status quo verharrte unddie es versäumt hat, die Justiz auf das 21. Jahrhundertvorzubereiten.
Wenn Sie das Wort „Reformen“ gebraucht haben, dannbedeutete dies in aller Regel den Abbau von Rechten.Wenn Sie von Entlastungen sprachen, bedeutete dies inaller Regel, daß an anderer Stelle neue Belastungen un-gerecht verteilt wurden.
Es gibt ein paar Ausnahmen. Zu diesen Ausnahmenkam es immer dann, wenn wir Sozialdemokraten unsaktiv in das Gesetzgebungsverfahren eingeschaltet hat-ten. Ich nenne das Betreuungsrecht, die Insolvenzord-nung, die Zwangsvollstreckungsnovelle, das Ordnungs-widrigkeitenrecht und nicht zuletzt das Gesetz zur Be-schleunigung von Verwaltungsverfahren.
Alles andere, was Sie gemacht haben, waren Patchwork-Gesetze. Vielleicht wissen Sie nicht, was das ist: hier einParagräphchen, dort ein Paragräphchen, hier ein Wortund dort ein Wort.
Lieber Norbert Geis, als Jurist kam man angesichtsdessen, wie schnell ihr Gesetze verabschiedet habt, garnicht hinterher, die Ergänzungslieferungen für denSchönfelder und den Satorius zu drucken.
Zu den Zeitpunkten, als die Novitäten in Kraft traten,wußte die Praxis meist nicht, um was es ging. Manchmallag noch nicht einmal ein Gesetzestext vor.Unmittelbar nach der deutschen Vereinigung bestanderheblicher Handlungsbedarf. Seit Anfang der 90er Jah-re wissen wir, daß weder die Ausbildung der Juristinnenund Juristen noch unser Gerichtssystem mit der rasanteninternationalen Entwicklung Schritte halten können. Un-sere jungen Juristinnen und Juristen werden immer nochDr. Evelyn Kenzler
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4780 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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ausgebildet wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten. Alle Re-formansätze sind bisher an „konservativen Wertvorstel-lungen“ gescheitert.
– Wir sprechen nachher bei einem Bier darüber. – An-wälte kommen im europäischen Wettbewerb zu kurz.Die Prozesse, insbesondere die Zivilprozesse, dauern zulange.
Recht wird zu spät gewährt. Oft ist das Urteil nur nochMakulatur, weil der Prozeßgegner längst pleite gegan-gen ist.Wir legen heute einen Haushalt vor, der den Wegnach vorne zeigt. Mit diesem Haushalt stehen wir in derLinie unserer Bemühungen, dieses Land wieder fit bzw.tauglich zu machen für die Herausforderungen, die aufunsere Justiz zukommen. Wer die hohe Staatsverschuldung betrachtet, die inden 16 Jahren der vormaligen christliberalen Regierungangehäuft wurde, der weiß: Das Kohlsche Wort vom„Weiter so“ ist total out. Wenn wir dem Staat und da-mit auch der Justiz die Handlungsfähigkeit zurückge-ben wollen, müssen wir uns auf das Wesentliche be-sinnen.
Herr Kollege Har-
tenbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja; aber ich bitte darum,
das nicht auf meine Redezeit anzurechnen. – Bitte sehr,
Herr Geis.
Herr Kollege, nehmen
Sie zur Kenntnis, daß im amtsgerichtlichen Bereich die
Zivilprozesse in erster Instanz zu 90 Prozent und im
landgerichtlichen Bereich die Zivilprozesse in zweiter
Instanz zu 83 Prozent erledigt werden und daß sie gar
nicht erst die nächste Instanz erreichen, und nehmen Sie
zur Kenntnis, daß unser Rechtssystem im zivilprozes-
sualen Bereich im europäischen Vergleich das schnellste
ist?
Verehrter Herr Kollege
Geis, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, daß
Sie in der vergangenen Legislaturperiode Ihre teilweise
unsäglichen Beschleunigungsgesetze eingebracht haben
und uns damit vergewaltigen wollten,
daß Sie einen internationalen Vergleich herangezogen
haben, indem Sie uns vorgehalten haben, wie schnell
dies in Frankreich gehe und daß wir eine viel zu hohe
Richterdichte hätten. Sie haben auf Holland und auf
Italien verwiesen, was, davon abgesehen, völlig falsch
war.
Eines wissen Sie offensichtlich nicht, nämlich daß
unsere Juristinnen und Juristen durch ihre doppelte Aus-
bildung, durch die universitäre und die nachfolgende
praktische Ausbildung, in aller Regel zweieinhalb bis
drei Jahre später in den internationalen Wettbewerb ge-
hen können, als dies in anderen Ländern der Fall ist.
Dies ist ein Fehler.
– Sie sollten erst einmal zuhören. Ich antworte jetzt auf
Ihre Zwischenfrage. Bleiben Sie ganz ruhig.
– Was bin ich heute für ein begehrter Mensch.
Dazu ein weiterer Punkt. Ich habe mich gerade ge-
stern am Telefon mit einem aufgebrachten Berliner – ich
kann nicht berlinern – herumgeplagt, mit einem Men-
schen, der über sieben Jahre einen Arzthaftungsprozeß
geführt hat. Sieben Jahre sind bei einem Arzthaftungs-
prozeß sechs Jahre zuviel; da geben Sie mir doch recht.
Deswegen müssen wir dafür sorgen, daß die Dauer unse-
rer Prozesse kürzer wird. – Habe ich Sie ausreichend
zufriedengestellt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Har-
tenbach, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Funke?
Eine Frage des Kollegen
Funke beantworte ich gerne.
Herr Kollege Hartenbach, ist
Ihnen bekannt, daß die Juristenausbildung und deren ge-
setzliche Ausgestaltung in erster Linie eine Angelegen-
heit der Bundesländer ist?
Verehrter Kollege, na-türlich weiß ich das. Wir aber müssen die gesetzlichenVoraussetzungen für die Ausbildung schaffen; darinsind wir uns doch einig. Das müssen wir gemeinsam mitden Bundesländern und mit den Universitäten machen,damit alles stimmt, und natürlich auch – wie Sie es ebengesagt haben – unter Einschluß aller anderen juristischenKräfte, die uns wert und teuer sind.Nun komme ich zu dem Thema, das ich eben ange-prangert habe. Wir wollen dem Staat seine Handlungs-fähigkeit zurückgeben und werden dies mit einigen mu-tigen Reformschritten auch tun. Allerdings machen wirdas, Herr Kollege Geis, nicht so, wie Sie das gemachthaben: daß wir ein Gesetz in die Menge hineinwerfen.
Wir lassen uns Zeit.Alfred Hartenbach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4781
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Wir werden einiges einbringen, wozu Sie wahr-scheinlich Beifall klatschen werden. Wir haben ja schondas Gesetz zur außergerichtlichen Streitbeilegung aufden Weg gebracht. Das hat nichts gekostet, das wirdnichts kosten, und – im Gegenteil – die Länder werdennoch kräftig sparen. Wir werden den Täter-Opfer-Ausgleich im Gesetz verankern, weil wir ihn als weite-ren Meilenstein moderner Justizpolitik ansehen. Wirwollen, daß auch im Strafprozeß die Aussöhnung mög-lich ist und sie den Rechtsfrieden im Lebenskreis derBetroffenen ordnet. Wir werden den Menschen ingleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften eine si-chere rechtliche Grundlage für ein diskriminierungsfrei-es Zusammenleben in unserer Gesellschaft geben. Wirarbeiten an einer Modernisierung des Schuldrechts undhaben erste Schritte unternommen, um die Stellung vonUnfallopfern im Tatsächlichen und Rechtlichen zu ver-bessern. Wir werden entscheidend an der Verwirkli-chung einer europäischen Grundrechtscharta mitarbei-ten. Die Wirtschaft darf sich darauf verlassen, daß wir –anders als unsere Vorgängerregierung – europäischeRichtlinien zeitnah in nationales Recht umsetzen undgleichwohl die Interessen unseres Landes wahren. Wirwerden – das ist schon mehrfach angesprochen wor-den – den Handwerkern durch unser Gesetz zur Be-schleunigung von Zahlungen eine sichere Basis geben.Erfinder und Tüftler werden künftig schneller zurVermarktung ihrer Erfindungen gelangen. Wir werdenim Patent- und Markenamt neue Stellen schaffen und füreine optimale Ausstattung mit modernen Technologiensorgen. Dann wird auch endlich ein Herzenswunsch desBayern Otto Wiesheu erfüllt, der bei der Ministerin einezu lange Bearbeitungszeit angemahnt hatte. Dabei hat eroffensichtlich vergessen, daß in den letzten 16 Jahrenandere das Sagen im Deutschen Patentamt hatten.Nun, Herr Geis, will ich Ihnen zum Abschluß meinerRede auf bayrisch erklären, was das mit den 30 Milliar-den DM auf sich hat.
– Von mir aus auch auf fränkisch. – Ihr habt eine tolleSache gemacht: Ihr habt – wie man bei uns in Nordhes-sen sagt – alles „versteckelt“: 8 Milliarden DM hin-sichtlich der Postunterstützungskasse; ihr habt im Haus-halt 1999 nicht veranschlagt, daß die Mehrwertsteuerer-höhung – 1 Prozent – für die Rentenkassen voll abge-führt werden muß. Wir haben seit dem 1. April 1999 dieökologische Steuerreform. Daraus resultieren Mehrein-nahmen und Mehrausgaben. Wenn Sie das zusammen-rechnen, kommen Sie auf etwa 28 Milliarden DM.
Von daher gesehen haben wir nichts verpulvert undnichts vertan.Nun lassen Sie mich zum Abschluß noch versöhnlichwerden, weil ich mich freue, daß Sie nicht in den Chorderer eingetreten sind, die die Erhöhungen der Gebührbeim Patent- und Markenamt gerügt haben. Sie haben esrichtig gut gemacht, daß Sie dazu geschwiegen haben.Unsere Justizpolitik, mit der wir ins neue Jahrtausendgehen, verdient Anerkennung und Respekt. Wir bedan-ken uns sehr herzlich bei unserer Justizministerin undbei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die guteund vertrauensvolle Zusammenarbeit.Lassen Sie uns nun die wichtigen Schritte, die wirmachen müssen, gemeinsam machen. Wir laden Sieherzlich dazu ein; Sie sind, wie ich festgestellt habe, be-reit dazu.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat Herr
Kollege Hans Jochen Henke, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die Auf-regung nicht ganz verstehen können, Herr Kollege Dil-ler. Vielleicht läßt sie sich so erklären, daß Sie insge-samt nicht mehr an die Phase von Oskar Lafontaine er-innert werden wollen. Aber an der Tatsache, daß es nuneinmal 30 Milliarden DM sind, um die Sie den Haus-haltsentwurf 1999 ausgedehnt haben, führt nichts vorbei.Das ist die erste Feststellung. Die zweite Feststellung ist,daß die Phantasien des zurückgetretenen Finanzmini-sters für die mittelfristige Finanzplanung noch viel wei-ter gereicht hätten. Aber wir sollten und brauchen uns,werte Kolleginnen und Kollegen, daran gar nicht allzulange auf- und festhalten; denn Sie finden, wie die heu-tige Debatte zur Einbringung des Haushaltes zeigt, zu-nehmend auf den Boden der nüchternen Wirklichkeit zu-rück.Geprägt war und ist dieser Haushalt 1999 – daranmöchte ich schon erinnern – allerdings von sehr restrik-tiven Rahmenbedingungen, die die Handschrift TheoWaigels getragen haben. Wer weiß, was passiert wäre,wenn dieses Korsett nicht so geschnürt worden wäre?In der Tat, werte Frau Ministerin: Dies ist erstmalsein Entwurf, der Ihre Handschrift trägt, und insofernbietet er Gelegenheit, eine erste Zwischenbilanz zu zie-hen im Hinblick darauf, was Sie im Einzelplan 07 unterKonsolidieren und Sparen verstehen und wie Sie mit Re-formen und Reformzielen umgehen.Eine Anmerkung an dieser Stelle: Sparen bei Stellen-,Sach- und Verwaltungskosten, Frau Ministerin und HerrStaatssekretär Diller, ist längst vor Ihrer Zeit in derletzten Legislaturperiode praktiziert worden. Ich will nurauf ein Beispiel hinweisen: 1,5 Prozent Stelleneinspa-rungen über viele Jahre und darüber hinaus von – nachder schwierigen Wiedervereinigungsphase – 51 ProzentStaatsquote auf etwas mehr als 48 Prozent beim Regie-rungswechsel, mit der klaren Aussage, sie in dieser14. Legislaturperiode auf 45 Prozent zurückzufahren,wenn wir die Verantwortung bekommen.Im übrigen verstehe ich die Widersprüche nicht ganz.Die Ministerin klagt, daß in ihrem Haus überhaupt keineSpielräume mehr vorhanden gewesen seien, weil in derAlfred Hartenbach
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letzten Legislaturperiode alles ausgekehrt worden sei.Auf der anderen Seite redet man davon, wir hätten Alt-lasten und eine Überschuldung hinterlassen. Aber jetztgeht es ja mit 30 Milliarden DM brutto und 7,5 Milliar-den DM netto flott nach vorne.
68 Millionen DM, Frau Ministerin, ist der absolut be-scheidene, für Ihren Einzelplan in der Tat aber bemer-kenswert stattliche Betrag, den Sie an Einsparungen zuerbringen haben. Wenn man näher hinschaut, sieht manallerdings, daß Sie vier Fünftel, nämlich 55,5 MillionenDM, durch die Erhöhung von Gebühren und Entgel-ten erreichen. Sparen und Konsolidieren heißt, Impulsefür Wachstum und Beschäftigung zu geben. Ob dies mitdiesen Weichenstellungen erreicht werden kann, istmehr als fraglich.Einen Betrag haben Sie, wenn ich richtig zugehörthabe, erst gar nicht erwähnt, nämlich die 7,5 MillionenDM, die zusätzlich durch die Auskünfte aus dem Bun-deszentralregister erbracht werden sollen. Meine Kolle-ginnen und Kollegen, das ist eine Verdoppelung der Ge-bühren innerhalb von sieben Jahren. Wer bezahlt sie? Inallererster Linie Schüler, Studenten, Auszubildende,Wehrpflichtige und Ersatzdienstleistende. Sie müssenfür diesen wichtigen, aber schlichten Computerausdruckneben der Ökosteuer noch diese Sonderlast tragen, undzwar nicht nur sie, sondern Millionen anderer Bürgerauch. Auskünfte in diesem Bereich, Frau Ministerin, ge-hören nach meinem Verständnis zur Grundversorgungunserer Bürger.Ebenso verhält es sich nach meinem Verständnis imForschungs- und Innovationsbereich bei der Patentie-rung und den 48 Millionen DM, die Erfinder und Krea-tive bringen sollen. Was Sie einführen, nämlich 50 Mil-lionen DM über die tatsächliche Kostenkalkulation hin-aus einzuplanen, ist eine Patentsteuer, die Innovationund Kreativität blockiert. Bitte lassen Sie die Vergleichemit der europäischen Ebene! Wir vergleichen uns, wasKostenniveaus betrifft, sonst auch nicht mit Brüssel. Ichdenke, dies geht fehl. Im übrigen sollte nicht zu jedemZeitpunkt jeder denkbare und theoretisch möglicheSpielraum ausgenutzt werden.
Aber Ihnen ist ja noch sehr viel mehr eingefallen. Anden von den heutigen Regierungsparteien in der Ver-gangenheit heftig bekämpften Privatisierungen habenSie doch erheblich Gefallen gefunden, so zum Beispielan der Privatisierung des „Bundesanzeigers“ und derEntwicklung bei „Juris“. Aktuelle Zahlen belegen dies.Der „Bundesanzeiger“ erbrachte der Bundeskasse 199810 Millionen DM und in diesem Jahr mehr als10 Millionen DM. Ich sehe überhaupt keinen Grund da-für, warum die Einnahmen im 2000er Entwurf niedrigerangesetzt werden sollten.Die „Juris“ wird im nächsten Jahr zum drittenmal inFolge Bundeszuschüsse in Höhe von ebenfalls 10 Mil-lionen DM zurückzahlen. Im Haushaltsentwurf sind dieseMehreinnahmen noch gar nicht enthalten. Diese zusätz-lichen Millionen hätten Sie besser rechtzeitig im Haus-haltsentwurf etatisiert, statt mit höheren Gebühren, mitBelastungen für Forschung und Innovation in einer Zeitdes Sparens und der Konsolidierung falsche Signale zusetzen.Aber ohne die verfehlte Gebührenpolitik hätte Sie,Frau Ministerin, der Finanzminister wahrscheinlichebenfalls zu einer globalen Minderausgabe herangezo-gen. Dieser haben Sie sich auf der einen Seite bequem,auf der anderen Seite aber strukturell völlig verquer ent-zogen.Aufmerksamkeit verdient auch Ihre Personalpla-nung. Sie haben die Stelle des Leiters des Leitungsstabswieder eingerichtet, den Ihre Vorgänger im Interesse ei-ner schlanken Verwaltung eingespart hatten. Sie bean-tragen zusätzlich 750 000 DM für Personalmittel für Be-reiche, die Ihre Vorgänger sparsam freigehalten hatten.Sie wollen noch einmal 826 000 DM für zusätzlicheStellen im Ministerium. Das ist eine Ihrer Antworten aufdie Chance, mit dem Regierungsumzug strukturelle Re-formen zu allererst in Ihrem Haus anzugehen.Der Rechnungshof hat in der Vergangenheit wieder-holt und zu Recht die Organisation des Hauses mit ihrerVielzahl von Kleinstreferaten gerügt. Seit geraumer Zeitliegt eine Kienbaum-Studie vor und Ihnen auf demTisch. Wenn Sie den bis Mitte 2000 laufenden UmzugIhres Hauses nicht für die Neuausrichtung entsprechendnutzen, werden die Ressourcen Ihres Hauses weiterhinleider Gottes nur suboptimal genutzt werden können.Ein weiteres Beispiel: Beim Patent- und Marken-amt sind wir dafür, daß etwas geschieht, Frau Ministe-rin. Wir sind jetzt und nachhaltig dafür, aber es soll bitteauch transparent und strukturiert sein. Wir werden denauch von uns befürworteten und geforderten zusätzli-chen Stellen zustimmen; wir tun das aber nur unter einerwichtigen Maßgabe, daß nämlich dem bereits von unsbei den 99er Beratungen geforderten Stellenkonzeptzum Durchbruch verholfen und dieses rechtzeitig vor-gelegt wird. Diese Stellenkonzeption muß in die neueIT-Landschaft eingebettet und an den Zielen der gewal-tigen externen Beratungs- und Dienstleistungen orien-tiert werden, die allein im Jahr 2000 12 Millionen DMbetragen und in den Folgejahren ebenfalls mit 12 Mil-lionen DM durchgeschrieben werden.Ich bitte Sie, uns für dieses Amt klare Zielvereinba-rungen vorzulegen, die dem hohen Aufwand entspre-chen. Wir wollen klare Aussagen zu Qualität und Lei-stungsumfang. Qualitätsmanagement, Frau Ministerin,gehört heute auch bei den öffentlichen Dienstleistungenzum selbstverständlichen Standard. Wir wollen wissen,wie und wann die Überhänge beseitigt werden, wann dieAntragsteller mit der Bescheidung ihrer Patente inner-halb einer drei- bis viermonatigen Frist endgültig rech-nen können. Wer in Zeiten knapper Kassen mehr Geldbekommt, hat eine besonders hohe Verantwortung.
Noch etwas: Bei den justizpolitisch wie städtebaulichbedeutsamen Projekten, so unter anderem dem UmbauHans Jochen Henke
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des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, haben sichdie an der Ausführung Beteiligten wahrhaftig nicht aus-gezeichnet. Ohne das hartnäckige, konsequente Nachha-ken und Vorgehen des Haushaltsausschusses hätte derSteuerzahler das Nachsehen gehabt. Ich denke, für dasnächste Vorhaben beim BGH gilt es, entsprechende Fol-gerungen zu ziehen. Wir sind gespannt, von Ihnen zu er-fahren, wie diese Einschätzung aussieht. Solide undsparsam, zukunftsorientiert und reformfähig ist derMaßstab, an dem Sie sich jetzt und in Zukunft werdenmessen lassen müssen.Ein anderes Thema: Bei der Verschlankung undEntbürokratisierung des Staats hat Ihr Haus eine wichti-ge Querschnitts- und Bündelungsfunktion. Ich denke, eswäre wichtig, zu erfahren, wie das Haus, an dem keinGesetz, keine Novelle vorbeigeht, das Ziel der Entstaat-lichung, der Entbürokratisierung und Verschlankung de-finiert und wie Sie damit umgehen.Mit der EU-Ratspräsidentschaft haben Sie beachtli-che Ausgaben im laufenden Haushalt begründet. Ichmöchte an dieser Stelle fragen: Wie sieht die Bilanz Ih-rer Ratspräsidentschaft im Hinblick auf unsere Rechts-pflege im europäischen Kontext aus? Böse Zungen be-haupten, daß mit Vollgas oftmals nur Leerlauf gefahrenwird. Diese Bilanz ist grundsätzlich von Wichtigkeit, umandere Ankündigungen richtig einordnen zu können,wie zum Beispiel die Justizreform, die in verschiedenerHinsicht bereits angesprochen wurde. Dabei kommt esneben der Transparenz und der Stärkung der Eingangs-instanz vor allen Dingen auf die Gewinnung von Entla-stungs- und Synergieeffekten an.Um konkret zu werden und dies – weil meine Rede-zeit abgelaufen ist – abzuschließen: Sie rechnen mit ei-ner Vielzahl von Einsparungen, die von den Ländern,die mit der Optimierung des vorhandenen Systems amweitesten sind, entweder bestritten oder ganz anderseingeordnet werden, so daß es mehr als fragwürdig ist,diesen Ansatz weiterzuverfolgen.Frau Ministerin, lassen Sie mich zusammenfassen:Wenn Sie einen Weg echter Reformen mit belegbarenVerbesserungen und ohne Verschiebung von Belastun-gen auf Bürgerinnen und Bürger oder andere Ebenen be-schreiten, wenn Sie moderne und effiziente Strukturenund Verfahren in Ihrem Haus und den nachgeordnetenBereichen umsetzen
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Sie
hatten den Schluß schon angekündigt.
– bei dem bin
ich, Frau Präsidentin –, können Sie in Zukunft auf unse-
re konstruktive Mitarbeit und Begleitung zählen.
Ich bedanke mich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich der Abgeordneten Dr. Herta Däubler-
Gmelin, SPD-Fraktion, das Wort.
Vielen Dank,Frau Präsidentin! Herr Henke, lassen Sie mich dies sa-gen: Natürlich rechne ich auch weiter mit Ihrem Ver-ständnis. Wenn ich Ihnen – dazu gab es heute viel Anlaß– dabei helfen kann, das eine oder andere richtig zu se-hen und richtig zu stellen, soll es an mir nicht liegen.Ich möchte auf den einen oder anderen Punkt einge-hen. Mit der Justizreform lassen wir uns nicht so vielZeit wie die letzte Bundesregierung. Ich kann nur allenKolleginnen und Kollegen sagen: Wenn ich die 16 Jah-re, die Sie hatten, mit 16 Monaten unserer Regierungs-zeit gleichsetze, verstehe ich Ihre Ungeduld. Wenn Siefreundlicherweise zur Kenntnis nehmen würden, daß dasGrundkonzept von allen Ländern gebilligt wurde, übri-gens auch von denen, die Ihnen ideologisch gesehenmöglicherweise näherstehen als mir, kämen wir sicherauch leichter zusammen.Was die EU-Präsidentschaft angeht, lade ich Sieherzlich in den Rechtsausschuß ein. Ich habe schon voreinigen Monaten einen Termin zu vereinbaren versucht.Wie ich höre, wird er am 6. Oktober stattfinden. Viel-leicht können Sie dort einige Ihrer Fragen, die Sie ganzohne Zweifel haben, loswerden.Die Kollegen Norbert Geis und Frau Kenzler, bei de-nen ich mich herzlich bedanke, haben angemahnt, ichmöge mehr Gesetze und schneller mehr Gesetze vorle-gen. Gestatten Sie, daß ich sage, daß mich dies in gewis-ser Weise amüsiert, weil ich Ihnen mehrfach gesagt habe– Sie wissen, ich meine das dann ernst –, daß jedes Ge-setz, das wir nicht brauchen, den Bürgern besonders gutgefällt.
Daher, meine Damen und Herren, bin ich der Meinung,daß wir das Ganze anders machen als Sie. Deswegenhabe ich das gesagt. Wir wollen die Praxis nicht zumWahnsinn treiben, sondern wir werden Schwerpunkteregeln und die gut vorbereiten, übrigens auch durch öf-fentliche Diskussionen.Ich bedanke mich auch sehr für den Hinweis auf dasHandbuch. Ich glaube, das ist in der Tat eine besondersgute Hilfe.Lassen Sie mich noch etwas dazu sagen, was Sie,Herr Kollege Henke, liebenswürdigerweise zum Deut-schen Patent- und Markenamt gesagt haben. Das Pro-blem ist: Wenn ich die Feststellungen, die Sie jetzt vomJustizministerium verlangen, treffen wollte, müßte ichmehr Leute haben. Dies weiß niemand besser als Sie.Daher – gestatten Sie, daß ich das bemerke – ist dieswohl genauso wenig ernst gemeint wie Ihre Aussage, dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Justizministeriumswürden nicht genügend arbeiten. Dies fand ich als einzi-ges etwas ärgerlich. Denn anders konnte ich Ihre Be-merkung nicht verstehen, der Umzug nach Berlin hätteHans Jochen Henke
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dazu führen müssen, die Stellen im Justizministeriumnoch mehr zu beschneiden. Wenn Sie diesen Punkt nochklarstellen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.Ich habe bisher aus dem Haus nur gehört – auf dieseFeststellung lege ich großen Wert –, daß das Justizmini-sterium keine einzige Stelle zuviel, sondern eher Stellenzu wenig hat, um die Aufgaben innerhalb der Bundesre-gierung und im Rahmen der Serviceleistungen für denDeutschen Bundestag zu erfüllen. Ich wäre Ihnen alsodankbar, wenn Sie das noch einmal klarstellen könnten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung,
Kollege Henke, bitte.
Ich bin für die
Gelegenheit dankbar, meine Ausführungen zu erläutern,
um gegebenenfalls Mißverständnisse auszuräumen.
Ich habe folgendes ausgeführt: Wenn Sie den Emp-
fehlungen des Gutachtens von Kienbaum – diesen Emp-
fehlungen liegen wiederholte Rügen des Bundesrech-
nungshofes zugrunde – entsprechen würden, dann
könnten die personellen Möglichkeiten Ihres Hauses, die
bisher suboptimal genutzt werden, weiter optimiert wer-
den. Diese Feststellung hat überhaupt nichts mit dem
einzelnen Mitarbeiter zu tun. Ich bitte darum, daß Sie
eine differenzierte Betrachtung akzeptieren. In einer
großen Organisation – das gilt sowohl für die Wirtschaft
als auch für den öffentlichen Dienst –
– darf ich meine Ausführungen ohne Zurufe von Ihrer
Seite zu Ende führen? –
sollten die Möglichkeiten des einzelnen Mitarbeiters
besser genutzt werden.
Ich möchte diese Differenzierung wiederholen: Der
einzelne Mitarbeiter ist das eine; die Struktur der Orga-
nisation ist das andere. Beide Möglichkeiten optimiert
ausgerichtet schafft die Voraussetzungen für einen op-
timalen Output. Es besteht überhaupt kein Zweifel dar-
an, daß sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter best-
möglich einbringen. Aber wir glauben – darin besteht
der entscheidende Unterschied –, daß die Organisation
nicht in Ordnung ist. In diesem Bereich bestehen erheb-
liche Defizite. Es gibt weder auf Bundesebene noch auf
Länderebene ein Haus, das eine so zersplitterte Kleinst-
organisationsstruktur hat wie Ihr Haus, Frau Ministerin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmel-dungen zu diesem Geschäftsbereich liegen mir nicht vor.Wir kommen jetzt zu dem Geschäftsbereich desBundesministeriums für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit, Einzelplan 16.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Einbrin-gung seines Haushalts hat der Bundesminister für Um-welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Dieser Haushalt ist sicherlich ausmehreren Gründen ein besonderer Haushalt. Er ist dererste Haushalt, der hier in Berlin eingebracht wird. Aberer ist auch seit langem der erste Haushalt, der sich kon-sequent der Zukunftsaufgabe, nämlich der Aufgabe derHaushaltskonsolidierung, stellt.Wegen dieser Politik weht uns vielfach ein kalterWind entgegen. Aber wir, auch wir Ökologen, beharrenauf dieser Konsolidierung. Wir wollen den folgendenGenerationen keine Erblasten aufbürden. Wir wollen Ih-nen daher keine zerstörte Natur, keine geplündertenRessourcen und – nach unseren Kräften – keinen über-mäßigen Berg atomaren Mülls hinterlassen.
Aber wir wollen auch nicht, daß nachfolgende Gene-rationen durch einen Berg von Schulden und Zinsen er-drückt werden. Wenn Sie sehen, daß heute jede vierteMark für Zinsen ausgegeben wird und daß die neue Re-gierung von Ihnen 1,5 Billionen DM Schulden über-nommen hat, dann kann man – um einen Begriff aus derUmweltpolitik zu nehmen – von einer stinkigen Altlastreden, die Sie uns hinterlassen.
Wenn wir also für zukünftige Generationen einen hand-lungsfähigen und auch sozialen und ökologischen Staaterhalten wollen, dann gibt es zur Haushaltskonsolidie-rung keine Alternative.Nachhaltigkeit ist in der Umweltpolitik ein bewähr-tes Prinzip. Wir freuen uns, daß dieses Prinzip derNachhaltigkeit nunmehr auch in die HaushaltspolitikEinzug findet: Wir haben mit diesem Kurs begonnen.Ich denke, es gibt gerade für Umweltpolitiker guteGründe, diesen Kurs zu unterstützen.Wir als Umweltministerium haben – wie alle Res-sorts – unseren Beitrag zu erbringen gehabt. Da sindschmerzhafte und – betrachten Sie die Ausgaben für denEndlagerbereich – auch weniger schmerzhafte Kürzun-gen dabei. Dennoch haben wir klare Akzente gesetzt:Wir haben im letzten Haushalt die Förderung für dieUmweltverbände erhöht. Dieses hohe Niveau wird jetzt– ungeachtet der Sparbemühungen – gehalten.Aufgestockt haben wir die Mittel für die Beratung derosteuropäischen Länder. Wenn wir – ich glaube, da sindwir uns einig – wollen, daß die mittel- und osteuropäi-schen Länder der EU beitreten, und wenn wir wollen,daß es dabei nicht zu Umweltdumping und somit zuWettbewerbsverzerrungen kommt, wenn wir also nichtDr. Herta Däubler-Gmelin
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wollen, daß diejenigen, die hier zum Beispiel keineHühnerfarmen mehr betreiben dürfen, hinter die tsche-chische Grenze gehen, dann müssen wir den Mittel- undOsteuropäern helfen, die Standards, die wir in der EUgemeinsam erarbeitet haben, tatsächlich zu erreichen.
Ungeachtet der Sparbemühungen haben wir in diesemHaushalt auch den Neubau des Umweltbundesamtes inDessau endlich finanziell abgesichert. Der hing nämlichauf Grund äußerst fragwürdiger Vereinbarungen zwi-schen dem damaligen Finanzminister, Herrn Waigel,und Frau Merkel finanziell in der Luft. Ich freue mich,pünktlich zum 25. Jahrestag des Bestehens des Umwelt-bundesamtes mitteilen zu können, daß diese Regierungdie 170 Millionen DM auch langfristig sichert.
Sie wissen, daß Umweltpolitik nicht eine Veranstal-tung ist, die lediglich im Umweltministerium stattfindet.Ich will nur darauf verweisen, daß allein im Haushaltdes BMZ ungefähr 1,42 Milliarden DM für Umwelt-projekte und nachhaltige Entwicklung eingestellt sind.Aber internationale Verantwortung führt eben auch da-zu, daß wir eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie ver-folgen müssen, gerade wenn wir unserer Verantwortunggegenüber den sich entwickelnden Ländern gerechtwerden wollen. Deswegen messen wir einer nationalenNachhaltigkeitsstrategie einen hohen Stellenwert bei.Ich freue mich, daß eine Politik, die über die Ressorts-grenzen hinweg eine solche Strategie entwickeln will,einhellige Zustimmung – im Ausschuß ohne Gegen-stimmen – findet.
Schließlich haben wir in zentralen Fragen bereitsWeichenstellungen für eine nachhaltige Entwicklung ge-setzt. Alle Parteien waren sich noch vor wenigen Jahreneinig, daß die Abgabenbelastung auf den Ressourcen-verbrauch erhöht und die auf menschliche Arbeit ge-senkt werden muß. Das hat der CDU-Bundesparteitagebenso beschlossen wie der Bayerische Landtag.Wir haben das umgesetzt: Die Steuern auf Strom undKraftstoffe werden ansteigen, und dafür wird die Ab-gabenlast beim Faktor Arbeit gesenkt. Wir wollen um-steuern und nicht – wie Sie das 16 Jahre lang getanhaben – Steuern und insbesondere Abgaben auf denFaktor Arbeit Schritt für Schritt erhöhen. Das ist dasNeue, das diese Regierung umwelt- und sozialpolitischangefangen hat.
Und – für eine nachhaltige Entwicklung von zentralerBedeutung –: Wir wollen die Energiewende. Wind-energie, Solarenergie, Geothermie, Biomasse – in alldiesen Bereichen muß die Förderung aufgebaut werden.Wir müssen dieses Ziel in einer äußerst schwierigen Si-tuation, nämlich in einem weitgehend liberalisiertenStrommarkt, erreichen. Das ist der Grund, warum wirdie Förderung regenerativer Energien gegenüber denvergleichsweise lächerlichen 20 Millionen DM, die Siedafür bereitgestellt haben, verzehnfacht und verstetigthaben. Wir haben gerade diejenigen, die mit hocheffek-tiven Gas- und Dampfkraftwerken, mit Kraft-Wärme-Koppelung vernünftig und energieeffizient produzieren,im Wettbwerb gleichgestellt. Wir müssen dafür sorgen,daß sie, wenn diese Energien wirklich das zukünftigeRückgrat der Energieversorgung sein sollen, nicht in ei-ne wettbewerbsverzerrende Konkurrenz zu ineffizientenAltanlagen – das sind Atomkraftwerke nun einmal – ge-raten. Deswegen müssen wir die Laufzeiten begrenzen.
Wir wollen noch in diesem Jahr die Energiesparver-ordnung verabschieden, weil wir glauben, daß Energie-sparen eine der größten Energiequellen ist. Im Ver-kehrsbereich haben wir erreicht, den Schwefelgehaltvon Benzin und Diesel drastisch zu reduzieren. Wirwerden dreieinhalb Jahre vor der EU einen Wert von50 ppm erreichen. Wenn die EU auf 50 ppm ist, werdenwir auf 10 ppm sein. Wir haben für schwere LKWs,Busse und ähnliches ambitionierte Grenzwerte ein-geführt. Wir machen den Rußpartikelfilter und denDeNOx-Katalysator zur Vorschrift in Europa. Schließ-lich glauben wir, daß mit einem Biotopverbundsystemerreicht werden kann, die Zerschneidung von Lebens-räumen für Tier- und Pflanzenarten zu beenden.Meine Damen und Herren, Nachhaltigkeit in allenPolitikbereichen, Klimaschutz, Energiewende, Atom-ausstieg, aktiver Naturschutz – das sind die Herausfor-derungen für eine Politik, die auf Erneuerung durchökologische und soziale Nachhaltigkeit setzt. Daraufkommt es an; das spiegelt sich in diesem Haushalt wi-der. Dafür bitte ich um Unterstützung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Jochen Borchert, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Ein Jahr nach der Bundes-tagswahl wird der zweite Haushalt der rotgrünen Bun-desregierung eingebracht. Das ist eine gute Gelegenheitfür die Bilanz ein Jahr rotgrüner Umweltpolitik. Ichdenke, Herr Minister, auch Ihre Einbringungsrede hatgezeigt, daß die Bilanz mager ist.
Sie haben wieder viele Ankündigungen gemacht. Dashabe ich auch nicht anders erwartet. Denn wenn die Bi-lanz positiv wäre, dann hätten Sie diese Bilanz sicherschon mit großem Presseaufwand in den letzten Wochenvorgelegt.Wir erinnern uns: Mit dem ersten Haushalt kam dieAnkündigung, den Ausstieg aus der Kernenergie zu be-Bundesminister Jürgen Trittin
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ginnen, die Wiederaufbereitung zu beenden und dieEndlagerung faktisch zu verbieten. Auch heute gibt eswieder Ankündigungen, was Sie machen wollen. SeitSeptember 1998 ist aber ein Jahr nutzlos verstrichen.
Wenn Sie heute gesagt haben, es gebe keine Alterna-tive zur Haushaltskonsolidierung, so stimme ich Ihnenzu. Man überlege sich aber einmal, wie die Aussagennoch bei der Einbringung des ersten Haushaltes waren.Damals ging es im Sinne der Kaufkrafttheorie um eineAusweitung der Ausgaben, um mehr Kaufkraft und ummehr Konsumausgaben. Heute, ein Jahr später, redenSie alle von der Konsolidierung.Wenn ich aber die letzten Jahre betrachte, dann stelleich fest, daß die Ausgaben im Haushalt 1998 unterhalbderer im Haushalt 1994 liegen, während wir vom Haus-halt 1998 zum Haushalt 2000 eine erhebliche Ausdeh-nung der Ausgaben haben. Das ist genau das Gegenteilvon Haushaltskonsolidierung.Zur Energiepolitik. Bis heute ist es bei Ankündigun-gen geblieben.
Bis heute gibt es von der rotgrünen Koalition keinschlüssiges energiepolitisches Konzept. Bis heute istnicht geklärt, wie der Ausstieg aus der Kernenergie er-folgen soll.
Planspiele und Spekulationen gibt es genug. Zuletzt wares ein vertrauliches Papier des Umweltministers. Es hatdas Sommertheater um einen Akt verlängert. Danachsollen bis zum Ende dieser Legislaturperiode sechsKernkraftwerke stillgelegt und die Laufzeit aller Meilerauf 25 Jahre begrenzt werden. Interessant sind die Re-aktionen darauf – sowohl in der Regierungskoalition alsauch bei den Energieunternehmen.Diese Reaktionen zeigen: Der Umweltminister undseine Vorschläge werden nicht mehr ernst genommen,weder von seinen Kabinettskollegen noch von Vertre-tern der betroffenen Wirtschaft und auch nicht von deneigenen Parteikollegen. Das Ergebnis dieser Entwick-lung ist, daß an seiner Stelle der Wirtschaftsminister undfür die Grünen der Außenminister mit den Vertretern derEnergieunternehmen verhandelt.Der Kollege Simmert, ein junger Linker der grünenFraktion, bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt:„Sein“ – Trittins – „öffentlicher Konfrontationskurswird keine Erfolge zeitigen.“ Damit wiederholt derKollege Simmert das, was führende Grüne in ihren The-sen zur Erneuerung bündnisgrüner Umweltpolitik ge-schrieben haben. In diesen Thesen macht sich der ge-ballte grüne Unmut über die Umweltpolitik Trittins Luft.Herr Bundesminister, in dieser Sache haben Ihre Kolle-gen recht. Sie haben keinen Erfolg und werden auchkeinen haben.
Das liegt einerseits an Ihrem Konfrontationskurs, an-dererseits auch an der Konzeptionslosigkeit Ihrer Politik.Ideologie ist keine ausreichende Basis für eine langfri-stige und verantwortungsbewußte Energiepolitik. Es ge-nügt eben nicht, wenn Sie auf Ihrer BMU-Homepagemitteilen, daß der Ausstieg aus der Kernenergie für dieGrünen „identitätsstiftend“ und eine „Herzensangele-genheit“ sei. Sie haben bis heute nicht die Frage beant-wortet, wie die Kernenergie ersetzt werden soll und wieSie die damit verbundenen ökologischen Probleme lösenwollen.Helmut Schmidt hat doch recht, wenn er in der „Weltam Sonntag“ vom 29. August schreibt,… daß man heute noch nicht entscheiden kann,welches der Risiken größer ist, das Risiko, daszwangsläufig mit Nuklearkraftwerken verbundenist, oder andererseits das Risiko der Erwärmungdurch die Verbrennung von Kohlenwasserstoffen.
Ich möchte gern, Frau Kollegin, Helmut Schmidt weiterzitieren:Aber die Grünen wollen einfach die nuklearenKraftwerke abschaffen, obwohl sie als Grüne docheigentlich genauso über den Temperaturanstieg be-sorgt sein müßten. Da fehlt es an Logik im Gehirnvon Herrn Trittin und Genossen.Dies ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit.Unlogisch ist aber nicht nur der Ausstieg aus derKernenergie, sondern auch die Art und Weise, in der Siediesem Ausstieg im Haushalt Rechnung tragen wollen.Gerade dann, wenn Zweifel an der Eignung von Gorle-ben als Endlager bestehen, sollte man diese durch ver-stärkte Erkundungen und mit dem Abschluß der Unter-suchungen beseitigen, aber nicht mit der Unterbrechungder Erkundung.Herr Bundesminister, ich möchte als weiteres Bei-spiel Ihr Verhalten bei der Verabschiedung der EU-Altautoverordnung nennen. Gegen Ihre Überzeugungund auf Weisung der Autoindustrie, vertreten durch denselbsternannten Automann Bundeskanzler Schröder, ha-ben Sie als amtierender Ratspräsident die EU-Altautoverordnung blockiert. Sie haben sich dadurchisoliert und wurden schließlich überstimmt. Der haus-haltspolitische Sprecher der Grünen, der Kollege Metz-ger, hat nach Ihrer Niederlage in Brüssel erklärt, mankönne „nicht ständig den Mund vollnehmen und dannam Boden kriechen“.
Weiter sagte der Kollege Metzger:Ich bin der Auffassung, wir würden einen Befrei-ungsschlag erleben, wenn Jürgen Trittin selber denHut nähme. Ein Rücktritt würde den Grünen sofortein bis zwei Prozentpunkte bringen.Nur, dies würde Ihnen in Sachsen auch nichts mehrhelfen. Dort helfen auch zwei Prozentpunkte nicht mehr.Jochen Borchert
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Insofern ist es für das Wahlergebnis egal, Herr KollegeKoppelin, ob Trittin im Amt bleibt oder zurücktritt.
Die erfolglose Umweltpolitik wird mit dem Haushalt2000 fortgesetzt. Der Haushalt des BMU sinkt im Jahr2000 um 3,4 Prozent im Vergleich zum Haushalt 1999.Gemessen am Finanzplan sinkt der Haushalt um7,4 Prozent. Für den Stammhaushalt beträgt die Sollkür-zung 265,8 Millionen DM bis zum Jahr 2003. Da dieAusgaben im Verwaltungshaushalt weitgehend festlie-gen und in Teilbereichen weiter ansteigen, müssen dieKürzungen im Programmhaushalt erbracht werden. Be-troffen sind davon schwerpunktmäßig die großen För-dertitel, die Pilotprojekte im In- und Ausland, Natur-schutzprojekte und Erprobungs- und Entwicklungsvor-haben auf dem Gebiet des Naturschutzes.Das führt dazu, daß von den Gesamtmitteln immerweniger für den Umweltschutz, aber immer mehr für dieVerwaltung benötigt wird. 1998 wurden vom Stamm-haushalt noch 52,5 Prozent für den Programmhaushaltund nur 47,5 Prozent für den Verwaltungshaushalt ein-gesetzt. Zwei Jahre später, im Haushalt 2000, dreht sichdas Verhältnis um: Der Programmhaushalt sinkt um20,5 Millionen DM auf nur noch 47,9 Prozent, und derVerwaltungshaushalt steigt auf 52,1 Prozent. Immermehr Verwaltung, aber immer weniger Mittel für denUmweltschutz. Dieser Trend wird sich in den nächstenJahren fortsetzen.Der Verwaltungshaushalt bleibt, und es findet immerweniger Umweltpolitik statt: Fehlanzeige bei der Ener-giesparverordnung, Fehlanzeige bei der Umsetzung derUVP-Richtlinie und der IVU-Richtlinie, Fehlanzeige beiden Energiekonsensgesprächen mit der Wirtschaft undFehlanzeige bei den Energiekonsensgesprächen mit derWirtschaft und Fehlanzeige bei einer echten ökologi-schen Steuerreform.Herr Bundesminister, von dieser Steuerreform gehtkeine Lenkungswirkung aus. Sie ist ein reines Modell,um mehr abzukassieren, um die Wirtschaft zu belasten,aber nicht, um umzusteuern.
Wenn die Grünen auf ihrer Klausurtagung in Weimarfeststellen, daß die akuten Umweltprobleme wie dieLuft- und Wasserverschmutzung zwar nicht gelöst, aberdoch zurückgegangen seien, dann ist dies eine außeror-dentlich positive Bewertung der Umweltpolitik derCDU/CSU aus den vergangenen 16 Jahren.
– Natürlich, Sie wollen doch nicht behaupten, daß diesdas Ergebnis Ihrer Politik seit zwölf Monaten ist.Sie haben in Ihrer Stellungnahme von Weimar deut-lich die Erfolge unserer Umweltpolitik zum Ausdruckgebracht. Sie hätten wenigstens versuchen können, diesepositive Politik weiter zu verbessern. Statt dessen habenSie seit der Bundestagswahl ein Jahr nutzlos verstrei-chen lassen. Die Bilanz in der Umweltpolitik ist traurigund selbst für einen Grünen unentschuldbar.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Ulrike Mehl.
Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr geehrter Herr Borchert, wenn Sie in den letz-ten 16 Jahren nicht so eine katastrophale Politik und ins-besondere so eine katastrophale Finanzpolitik gemachthätten, dann hätten wir jetzt diese Probleme nicht.
Wir müssen jetzt Ihre Suppe auslöffeln.Wenn Sie sich darüber beschweren, daß gespart wird,ist das wirklich der Gipfel der Frechheit. Auch ich wür-de lieber aus dem Füllhorn Politik machen. Aber wirmüssen jetzt das machen, was Sie jahrelang nicht ge-schafft haben. Wenn Sie sich über eine zu schlaffe Öko-steuer beschweren, dann kann man doch nur laut la-chen. Dazu fällt einem gar nichts mehr ein.
Frau Merkel hat vor ein paar Jahren einmal erwähnt, siesei der Meinung, daß die Ökosteuer etwas Sinnvolles ist.Es hat keine fünf Minuten gedauert, bis diese Meldungkassiert wurde.
Und Sie erzählen uns, es handele sich um eine zu gerin-ge und unwirksame Ökosteuer. Damit wird Ihre Glaub-würdigkeit wirklich auf den Kopf gestellt.
Sie haben uns einen riesigen Schuldenberg hinterlas-sen. Wir müssen jetzt den Haushalt auf ein Maß zurecht-stutzen, so daß man Politik wieder gestalten kann. Dasgeht natürlich nur in kleinen Schritten. Wenn Sie schonnach einem Jahr Bilanz ziehen, dann schauen Sie sichdoch einmal an, was Sie in den letzten 16 Jahren in derUmweltpolitik gemacht haben. Wenn Sie das getan ha-ben, dann werden Sie vielleicht ein bißchen kleinlauter.
Im Umweltbereich ist es bei knappen Haushaltsmit-teln besonders wichtig, vorausschauend zu denken undklug zu wirtschaften. Genau das spiegelt sich nicht nurim Haushalt des Bundesumweltministers wider; viel-mehr muß es sich auch in allen anderen Haushalten wi-derspiegeln. Sie haben in den letzten Jahren diese Zah-len immer genannt und gesagt, die Bundesregierung ge-be insgesamt über 8 Milliarden DM für umweltbezogeneProjekte aus. Das stimmt, und es ist auch richtig, daßJochen Borchert
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dieses Geld in allen Politikbereichen in die Hand ge-nommen wird. Aber wir werden zukünftig genauerüberprüfen, was daran wirklich umweltrelevant ist.Sie haben eben gesagt, auch im Zusammenhang mitdem Energiebereich gebe es nur Ankündigungen und essei nichts umgesetzt worden. Das ist schlicht und ergrei-fend falsch. Anderenfalls könnten Sie sich mit uns auchgar nicht streiten. Wir haben den Einstieg in die ökolo-gische Steuerreform geschafft,
und wir werden damit noch stärker als bisher die Lohn-nebenkosten senken. Das haben Sie jahrelang nicht ge-schafft; Sie haben sogar das Gegenteil gemacht.Außerdem werden wir mit einem Förderpaket, dasaus den Einnahmen aus der Besteuerung der regenera-tiven Energien gespeist wird, in diesen Bereich zurück-investieren. Das heißt, bis einschließlich 2003 werden200 Millionen DM zur Förderung erneuerbarerEnergien zur Verfügung stehen. Dazu kommen nochjährlich 180 Millionen DM für das 100 000-Dächer-Solarstrom-Programm. Allein bei diesem Programmgeht man davon aus, daß es Investitionen in Höhe vonvoraussichtlich 2,5 Milliarden DM auslöst. Das bedeutetnichts anderes, als daß wir mit diesem Programm unddiesen Investitionen Arbeitsplätze sichern und neueschaffen.Hinzu kommen noch weitere 190 Millionen DM, dieaus dem Wirtschaftsministerium für Forschungs- undEntwicklungsvorhaben im Bereich rationeller Energie-verwendung und erneuerbarer Energien bereitgestelltwerden.Mit dieser Politik haben wir einen neuen, in die Zu-kunft gerichteten Weg eingeschlagen, auf dem wirSchritt für Schritt dem Ziel näher kommen wollen, daßder Schutz natürlicher Lebensgrundlagen und der scho-nende Umgang mit natürlichen Ressourcen nicht längerals Bremsklotz für die wirtschaftliche Entwicklung an-gesehen werden. Dazu haben Sie in der öffentlichenDiskussion beigetragen.
Wir wollen den Schutz natürlicher Lebensgrundlagenzum Maßstab für eine zukunftsfähige, dauerhaft um-weltverträgliche Wirtschaft machen und nutzen dies alsTriebfeder für die ökologische Modernisierung.Selbst wenn man den Untersuchungen skeptisch ge-genübersteht, die beispielsweise besagen, daß durch eineVerschärfung der Wärmeschutzverordnung bis zu80 000 neue Arbeitsplätze im Baugewerbe entstehenwerden oder durch eine breitangelegte Elektronik-schrottverordnung 43 000 Menschen in neue Arbeits-verhältnisse kommen werden, wird doch wohl niemandhier im Hause der Meinung sein, daß die ökologischeModernisierung keine Arbeitsplätze schafft. Das sind dieArbeitsplätze der Zukunft, für die politisch die Weichengestellt werden müssen. Das tun wir bereits, und daswerden wir auch weiterhin tun.
Außerdem haben wir trotz allem Druck zum Sparendie Fördermittel für die Umwelt- und Naturschutz-verbände auf dem Niveau von 1999 gehalten, das vonuns bereits um 23 Prozent erhöht worden war. Damitkönnen die Umweltverbände recht zufrieden sein. Wiralle wissen, daß die Umweltverbände eigentlich nichtbezahlbare Arbeit, unschätzbare Dienste im Sinne derUmwelt leisten.
Sie sind Multiplikatoren in der Umweltaufklärung undAnwälte für die Natur. Das wollen wir auch weiterhinunterstützen.Auch der Ansatz für die Ressortforschung im Natur-schutzbereich konnte auf dem vorher schon um19,1 Prozent erhöhten Niveau gehalten werden, und dastrotz der großen Anstrengungen, die hier beim Sparen anden Tag gelegt werden mußten. Die Mittel für die Na-turschutzgroßvorhaben liegen immer noch über dertatsächlich gezahlten Fördersumme der letzten Jahre.Dies ist gleichwohl ein für mich, die ich mich in diesemBereich besonders engagiert habe, schmerzhafter Be-reich; aber wir müssen nun einmal in einer solchen Si-tuation auch an Bereiche herangehen, bei denen man esam liebsten gar nicht täte. Da gibt es auch beim Natur-schutz keine Ausnahme. Aber wir sind, wie gesagt, auchjetzt noch auf einem Niveau, zu dem Sie sich in IhrenHaushalten gerade mühevoll hochgerungen hatten.Trotz der angespannten Haushaltslage werden3 Millionen DM als Umweltberatungshilfe für dieStaaten in Mittel- und Osteuropa bereitgestellt. Das isteine besonders wichtige Neuerung in diesem Haushalt;denn bisher wurde Umweltberatung nur im Rahmen derWirtschaftsförderung und dort auch nur in relativ gerin-gem Umfang unterstützt. Deshalb ist es für uns sehrwichtig, daß wir jetzt aus dem Umwelthaushalt dieseArbeit der Umweltberatung mit 3 Millionen DM unter-stützen. Das dient erstens einer großen Umweltentla-stung, zweitens dem Transport unserer Umweltstandardsin diese Länder und drittens der Schaffung neuer Ar-beitsplätze dort, weil wir auf diesem Wege Umwelttech-nologie exportieren können. Das ist eine Investition indie Zukunft im doppelten Sinne.
Im Amsterdam-Vertrag haben sich alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, Umweltpolitik in alleFachbereiche zu integrieren. Das ist schon lange über-fällig und bisher nur unzureichend umgesetzt worden.Deshalb brauchen wir dringend – das mahnen wir schonseit vielen Jahren an – eine nationale Nachhaltigkeits-strategie, wie sie in manchen anderen europäischenLändern, wenn auch in unterschiedlicher Form, längstexistiert. Deutschland ist da weit zurück. Wir werdendieses Projekt angehen. Die NachhaltigkeitsstrategieUlrike Mehl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4789
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muß zum Beispiel für die Reduktion von CO2, Stick-stoff- und Schwefelemission, für die verbesserte Wär-medämmung im Gebäudebereich, für die Verminderungder Lärmbelästigung, was gerade in diesem Jahr wiederein sehr wichtiges Thema geworden ist, für die Verrin-gerung des Flächenverbrauchs oder für eine umwelt-freundliche Mobilität verbindliche Ziele und Umset-zungszeiträume festlegen.Gleichzeitig muß über den angestrebten Rat fürNachhaltigkeit eine Diskussion mit allen gesellschaftli-chen Akteuren geführt werden, um eine sinnvolle La-stenverteilung für diesen Nachhaltigkeitsprozeß und inder Gesellschaft eine breite Akzeptanz für die notwendi-gen Maßnahmen zu erreichen.Wir streben außerdem an, daß die öffentliche Ver-waltung selbst mit gutem Beispiel vorangeht, undwerden uns deshalb darum kümmern, daß gezieltesUmweltmanagement und Umweltcontrolling nun end-lich in der öffentlichen Verwaltung verankert werden.Allein dadurch können nach einer Studie des Umwelt-bundesamtes der Energie- und der Wasserverbrauch er-heblich gesenkt werden, und umweltfreundliche Ver-kehrsmittel können weiter gefördert werden. Im gleichenZuge würde das Umweltbewußtsein in den Behördengeschärft. Das ist ein Ziel, das wir dringend anstrebensollten.Insgesamt können damit nach Berechnung desUmweltbundesamtes Einsparpotentiale von 9 Milliar-den DM erschlossen werden. Das heißt, Umweltschutzist kein Luxus, den man sich leistet oder nicht, sondernein Gebot vernünftiger Haushaltspolitik.
Die ökologische Modernisierung unserer Gesell-schaft wird durch die enormen Einsparpotentiale für dieöffentlichen Haushalte, durch die Schaffung neuer Ar-beitsplätze, durch gezielte Investitions- und Förderungs-programme sowie durch einen anspruchsvollen, EU-weitharmonisierten und für die Unternehmen kalkulierbarenUmweltgesetzgebungsrahmen zu einem der wichtigstenEckpfeiler der Haushaltskonsolidierung. Deshalb müs-sen wir die ökologische Modernisierung der Industriege-sellschaft konsequent weiterführen. Wir werden das tun.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Liebe Frau Mehl, gleich zu Beginnzu dem, was Sie zum Schluß gesagt haben, nämlich daßUmweltschutz Aufgabe vernünftiger Haushaltspolitiksei. Wenn Sie sich nur auf dieses bißchen Haushalt ver-lassen,
dann werden Sie es in der Umweltpolitik nicht weitbringen.
Das haben wir in der Vergangenheit immer wieder dis-kutiert, daß ein guter Teil dessen, was für die Umweltgetan wird, außerhalb des Haushalts stattfindet. Nichts-destotrotz gibt es natürlich auch mit dem Haushalt dieMöglichkeit, Akzente zu setzen. Da haben wir von denGrünen außer vollmundigen Erklärungen im ersten Jahrder rotgrünen Amtszeit nicht viel gehört und gesehen.Außer daß das Ideologiethema „Ausstieg aus der Kern-energie“ und das Thema sogenannte Ökosteuer aufge-griffen wurden, läuft eigentlich nichts. Von eigenen Ak-zenten ist im Stammhaushalt des BMU weit und breitnichts zu sehen; im Gegenteil, er wird auch noch mehrals durchschnittlich abgesenkt.
– Ich habe sehr wohl zugehört, vor allen Dingen habeich aber den Haushalt gelesen, Frau Kollegin. Da stehtso etwas drin.
Die Zahlen sprechen also eine andere Sprache als das,was hier jetzt gerade vorgetragen wurde. Das gilt auchfür den Bereich Naturschutz. Bedauerlich sind vor al-lem die Kürzungen im Programmhaushalt, insbesonderebei Umweltschutzpilotprojekten im In- und Ausland, beiden Naturschutzgroßprojekten sowie bei Erprobungs-und Entwicklungsvorhaben auf dem Gebiete des Natur-schutzes, um insgesamt 14,6 Millionen DM. An denStellen, an denen Sie noch ein paar Akzente im Haushaltsetzen könnten, haben Sie den Haushaltsansatz gekürzt.Aber auch das reden Sie hier jetzt noch schön.
Der amtierende Bundesumweltminister konzentriertseine Tatkraft und seinen Einfallsreichtum ja mehr aufden Ausstieg aus der Atomenergie. Das, was im Haus-haltsplan schlicht als Änderung des Endlagerkonzeptesbezeichnet wird, ist in Wirklichkeit eine Vernichtungvon Vermögenswerten in großem Stil.
In die Endlagerprojekte Schacht Konrad und Gorlebensind in den vergangenen Jahren nämlich Milliardenbe-träge investiert worden.
Das Projekt Konrad ist so gut wie fertig und zur Auf-nahme schwachradioaktiver Abfälle sicher geeignet. Dasandere – Gorleben – befindet sich in einer fortgeschrit-tenen Phase der Erkundung und ist mit hoher Wahr-scheinlichkeit für die Aufnahme starkradioaktiver Ab-fälle geeignet.
Ulrike Mehl
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4790 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Jetzt hat der Minister den Abbruch der Arbeiten anden Projekten Konrad und Gorleben verfügt und die Er-kundung weiterer Standorte zur Endlagerung radioakti-ver Abfälle als Titel in den Haushalt aufgenommen. Essollen also Erkundigungen über weitere Standorte ein-geholt werden. Der Titelansatz in Höhe von 5 MillionenDM ist für diese Aufgabe recht kläglich; viel mehr alsdie Kosten für einen neu einberufenen Arbeitskreis, dieLiteraturrecherche und vielleicht einen Zaun um einnoch imaginäres Gelände werden damit nicht zu finan-zieren sein.
Daneben laufen die Kosten für die ausgesetzten Pro-jekte Konrad und Gorleben unter der Bezeichnung „Of-fenhaltungskosten“ munter weiter: Im Jahr 2000 sindallein 48 Millionen DM für Konrad und 49 MillionenDM für Gorleben vorgesehen. Weitere Kosten zur Un-terhaltung und Wartung der beiden Bergwerke werdenalso noch die nächsten 20 Jahre auf uns zukommen. Solange wird es nämlich wohl dauern, bis Alternativen er-kundet sind. Bis dahin gibt es auch kein Entsorgungs-konzept, von dem Sie immer so gerne reden.Sie, Herr Minister – das scheint ihn gar nicht zu in-teressieren –, haben vorhin gesagt, es gebe auch wenigerschmerzhafte Einschnitte, beispielsweise bei der Kür-zung im Endlagerbereich. Daraus schließe ich, daß Siesich Ihren Haushalt noch gar nicht richtig angeschauthaben, weil sich dort nämlich eine bemerkenswerte Be-sonderheit befindet: Für die Projekttitel Schacht Kon-rad und Gorleben ist eine gesetzlich geregelte Refinan-zierung vorgesehen; sämtliche Projektkosten werdendurch die zukünftigen Benutzer der Endlager wieder he-reinkommen, indem die EVUs sie auf Heller und Pfen-nig im nächsten Jahr an die Staatskasse zurückzahlen.
Das heißt also, daß Sie, wenn Sie im Haushalt desBMU die Titelansätze für die Projekte Konrad undGorleben aufstocken oder absenken, nicht über Steuer-mittel, sondern eigentlich über Gelder der EVUs unddamit letztlich der Stromkunden verfügen. Das erkenntman natürlich nur, wenn man sich den Haushaltsplangenau anschaut. Im Sinne der gewünschten Wahrheitund Klarheit sollte die Darstellung dieses Sachverhaltesim Haushaltsplan verbessert werden.Sie betreiben ja eine Politik, Herr Minister – meineAusführungen scheinen ihn überhaupt nicht zu interes-sieren – –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Hom-
burger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Selbstverständlich.
Frau Kollegin, wie be-
urteilen Sie das Verhalten des Umweltministers, der hier
erst seine Rede herunterleiert und anschließend bei der
Debatte nicht zuhört?
Es ist Ausdruck der üb-
lichen Amtsauffassung des Ministers, Herr Kollege.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Hom-
burger, die Frau Kollegin Lemke hat auch noch eine
Zwischenfrage.
Ja, bitte.
Frau
Homburger, ich möchte Sie fragen, ob Sie aus Ihrem
parlamentarischen Verständnis heraus der Meinung sind,
daß alle Kollegen, die einer Debatte nicht immer auf-
merksam folgen, also auch Mitglieder der CDU/CSU-
oder der F.D.P.-Bundestagsfraktion, in Zukunft zu höhe-
rer Aufmerksamkeit verpflichtet werden sollten.
Frau Kollegin, die Be-merkung bezog sich auf die gesamte Amtsauffassung ei-ner Person. Wenn die Amtsauffassung in Ordnung wäre,könnte man auch einmal hinnehmen, wenn zwischen-durch mit den Kollegen geredet wird. Wenn aber dieAufmerksamkeit für das eigene Thema permanent nichtvorhanden ist, halte ich das für einen großen Unter-schied.
So, jetzt möchte ich aber weitermachen: Man ver-sucht hier eine Politik der Nadelstiche. Man will dieEntsorgungswege verstopfen und die Fertigstellung undInbetriebnahme von Endlagern verhindern. Allein dieVerantwortung der Vorsitzenden der EVUs gegenüberihren Aktionären muß schon dazu führen, daß dieRechtmäßigkeit der Zahlungen daraufhin einmal ge-richtlich überprüft werden muß oder auch wird. Vor-sorglich haben Sie in Ihrem Haushalt beim Projekt Kon-rad schon einmal 5 Millionen DM für Verwaltungs-streitverfahren vorgesehen. Ich finde das sehr bezeich-nend.Außerhalb des Haushalts spielt inhaltlich nur nochdie sogenannte Ökosteuer eine Rolle. Damit wird imRahmen des neuen Entwurfs der Mißbrauch des Öko-etiketts für Steuererhöhung unter Ihrem Beifall, HerrUmweltminister, fortgesetzt. Die ökologischen Verwer-fungen innerhalb des Gesetzes werden sogar noch weiterverschärft. Alle anderen umweltpolitischen Fragen lei-den nach wie vor an der Ignoranz des Umweltministers.Sie haben sich vorher mit dem schnellen Einstieg inden schwefelfreien und schwefelarmen Kraftstoff ge-brüstet. Ich möchte doch gerne einmal wissen: Warumhaben Sie eigentlich nicht dafür gesorgt, daß der Antragdes Landes Baden-Württemberg auf Steuerspreizung imBirgit Homburger
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4791
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Bundesrat angenommen wird, wenn Ihnen so sehr vieldaran liegt? Das hätte die Sache noch viel schnellervorwärtsgebracht.
Aber da kommt natürlich nichts.Das Umweltgesetzbuch haben Sie gerade erfolgreichim Kabinett an die Wand gefahren. Bei der Nachhaltig-keitsstrategie muß Sie der Umweltausschuß zum Jagentragen. Der Beschluß ist nämlich, Frau Kollegin Mehl,dankenswerterweise von allen Fraktionen mitgetragenworden; das finde ich auch gut.
Im Abfallbereich haben Sie es, Herr Minister, übereine erzwungene, magere Stichpunkteerklärung imUmweltausschuß und einen peinlichen Auftritt bei derAltautoverordnung nicht hinausgebracht. Von Vorbe-reitungen auf zukünftige internationale Verhandlungs-runden zum Beispiel zum Klimaschutz hört man nichts.
Also, wenn es nach den Thesen zur Erneuerungbündnisgrüner Umweltpolitik, die im Sommerloch so ih-re Runde gemacht haben, noch eines weiteren Beweisesbedarf, dann zeigt der heute hier eingebrachte Umwelt-haushalt, daß Sie bisher auf der gesamten Linie ge-scheitert sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die
Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Umwelthaus-halt ist in den letzten zwei Jahren einiges in Bewegunggeraten. Eine neue Regierung setzt andere Prioritäten;das ist nicht überraschend. Überraschend aber ist, daßein grüner Umweltminister dazu gebracht wird, demSparkurs seiner CDU-Vorgängerin noch eins draufzu-setzen.
Wer hätte sich das am Wahlabend gedacht?Damit wir uns nicht falsch verstehen: Der Etat desUmweltministeriums liegt auch unter dem der Koalition,weil im letzten Jahr im Endlagerbereich gestrichen wur-de, was ja nur wünschenswert ist. Der Haushalt für dasJahr 2000 jedoch setzt den Rotstift anstatt im Atom-haushalt im Stammetat an – Frau Homburger hat dazuschon gesprochen –, in den Bereichen also, die die Auf-gaben des Bundes in den klassischen Bereichen desUmweltschutzes berühren.Daran glauben müssen vor allem die Umweltschutz-pilotprojekte Inland und Ausland, die Naturschutzgroß-projekte und die Erprobungs- und Entwicklungsvorha-ben auf dem Gebiet des Naturschutzes. Da auch dasBMU sein Scherflein zum Sparpaket beitragen soll unddie Mittel für den Endlagerbereich wieder um 6,7 Pro-zent erhöht werden, weil der Atomausstieg doch nicht soganz ernst gemeint war, soll hier kräftig gestrichen wer-den.Insbesondere der Titel, der die Investitionen zurVerminderung der Umweltbelastungen enthält, ist seitJahren der große Verlierer. Er wird im Haushalt 2000um 6,5 Millionen DM – das sind 14 Prozent – reduziert.Dabei ist zu beachten, daß dieser Titel seit 1993 – dastrifft jetzt die anderen – von damals 181 Millionen DMauf jetzt 40 Millionen DM zusammengeschmolzen wur-de, also insgesamt um 88 Prozent.Mit seinen 1,088 Milliarden DM beträgt der Haushaltdes BMU-Geschäftsbereiches nur 0,23 Prozent des Bun-desetats. Obwohl es kein Investitionshaushalt ist, sprichtdiese lächerliche Summe für sich. Es sind noch weitereKürzungen geplant. Bis zum Jahre 2003 sollen insge-samt 445 Millionen DM eingespart werden. Mit dieserSumme könnte, so meine ich, fast der halbe Umweltetateines Jahres finanziert werden. Es wird üblicherweiseimmer gleich nachgeschoben, in den anderen Haushaltensind ja auch noch massenhaft Umweltausgaben ver-steckt. Sieht man dann genauer hin, dann stellt sich her-aus, daß im kommenden Jahr, nimmt man die Zahlendes Finanzberichts, auch die Gesamtausgaben des Bun-des für den Umweltschutz um 5,5 Prozent sinken sollen– und das unter einem grünen Umweltminister.Doch daß die Bundesregierung dem dringend not-wendigen Übergang zu einer nachhaltig umweltverträg-lichen Wirtschaftsweise einen Impuls geben wird, ist –das sieht man auch am Haushalt – inzwischen ein Trep-penwitz. Sicher, es gibt einige kleine Bonbons für dieUmweltbewegung. Dazu zählen das 200-Millionen-Programm für die Förderung der erneuerbaren Energienund das 100 000-Dächer-Programm der Bundesregie-rung. Aber wir hätten uns eben mehr gewünscht.
– Das ist immer so.Doch nicht nur die Blockade bei der Altautoverord-nung oder beim Atomausstieg sind Belege dafür, wohinder Wind eigentlich weht. Der Umgang mit der Altauto-verordnung wurde auch von Herrn Borchert kritisiert.Nur, da muß ich Ihnen sagen: Sie hätten vor Jahren dieMöglichkeit gehabt, das umzusetzen. Ich habe es auchschon im Umweltausschuß gesagt: Sie sind genauso vorder Autolobby eingeknickt wie jetzt die rotgrüne Regie-rung. Beschweren Sie sich also nicht.Auch der verwerfliche Mißbrauch der Idee einerÖkosteuerreform, die in diesem Rahmen betriebenetotale Diskreditierung des Umweltschutzgedankens zueiner Umverteilungsmaschine von unten nach oben,macht den Wirtschaftsschmusekurs dieser Regierungdeutlich. Den Umweltverbrauch verteuern, ohne untereEinkommen zusätzlich zu belasten, wäre das mindeste,was man erwarten könnte. Aber das Gegenteil ist derFall.Birgit Homburger
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4792 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Rechnet man die zu erwartenden Energiesteuern imJahre 2003 gegen die Entlastung durch die Senkung derRentenbeiträge, dann gehen Familien mit mehr als dreiPersonen mit dieser Ökosteuerreform im Nettoeffektnicht nur leer aus, nein, sie zahlen noch kräftig drauf,und zwar um so mehr, je weniger sie verdienen. Einedreiköpfige Familie müßte ein sozialversicherungs-pflichtiges Einkommen von monatlich mindestens 8 000DM beziehen, um in den Genuß einer Nettoentlastungzu kommen. Haushalte mit einem Bruttoeinkommen vonweniger als 4 000 DM sind allesamt Verlierer dieser so-genannten Ökosteuerreform.Transferbezieherinnen und -bezieher, Rentner sowieStudenten und Studentinnen haben eine zusätzlicheMehrbelastung zu tragen. Sie können überhaupt nicht ander Senkung der Rentenbeiträge partizipieren. Das istfür uns eine Umverteilung von unten nach oben. Ich be-streite nicht, daß normale Haushalte Energie einsparensollten. Was aber ist mit der Industrie? Die bezahlendoch nicht mehr als 1 000 DM Steuern. Da gibt es na-türlich ein Volumen, das umverteilt wird. Das ist inzwi-schen berechnet. Sie sollten nicht immer leugnen, daß eshier eine Umverteilung von unten nach oben gibt.
Ich meine, darüber muß man diskutieren. Dazu gehörtauch, daß durch eine Senkung der Lohnkosten, die überdiese Ökosteuer erreicht wird, Arbeitsplätze geschaffenwerden sollen. Es gibt keinen Beweis dafür, daß dadurchauch nur ein Arbeitsplatz geschaffen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, den-
ken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich meine, daß
der ökologische Umbau nur dann gelingen kann, wenn
man das gesamte Geld aus der Ökosteuer in den ökolo-
gischen Umbau steckt. Hierdurch kann man auch Ar-
beitsplätze schaffen, auf andere Weise hingegen nicht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Win-
fried Hermann, Sie haben für die Fraktion Bündnis
90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Ökologinnen! Liebe Ökologen! Ich habe lei-der zu wenig Zeit, um all die Punkte, die Sie angespro-chen haben, ordentlich zu beantworten. Das bitte ich mirnachzusehen. Ich kann nur einiges beispielhaft heraus-picken.
Erster Punkt. Sie werfen uns vor, daß wir im Bereichdes Umwelthaushalts sparen. Ich muß Ihnen sagen:Wenn alle Ökologen über Jahre sagen, Sparen sei einurökologisches Prinzip, und wir immer wieder gemein-sam formuliert haben, daß wir nur dann, wenn wir sparen,zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik kommen, dannkann man nicht, wenn es um Haushaltspolitik geht, plötz-lich sagen: Alle sollen sparen, aber wir nicht. Das haltenSie nicht durch. Das findet auch keinen Niederschlag ineiner wirklich konsequenten nachhaltigen Finanzpolitik.
Insofern ist nicht die Frage wichtig, ob man sparensoll oder nicht. Wichtig sind vielmehr die Fragen, wieman sparen kann und ob wir die richtigen Akzente set-zen. Wir haben in diesem Haushalt trotz aller Kürzungenversucht, in manchen Bereichen unsere Akzente zu set-zen, zum Beispiel bei den Umweltschutzverbänden undbei der Beratung der osteuropäischen Länder hin zumehr Ökologie.Wir haben aber auch in Bereichen gespart, angesichtsderer man auf den ersten Blick fragen muß: Können wirdas überhaupt tun? Das betraf zum Beispiel die Natur-schutzgroßprojekte. Aber wenn man die Sache genaueranschaut, stellt man fest, daß es nicht der Bund ist, derim Moment zu wenig Geld ausgibt, sondern daß zumTeil die Länder und die freien Träger nicht in der Lagesind, gegenzufinanzieren.
Wir haben uns an den Istwerten orientiert und habenKürzungen vorgenommen. Das ist in diesem Bereichfaktisch gesehen keine Sparpolitik.
Sie werfen uns vor, daß wir aus der Atomenergieaussteigen wollen, und sagen, wir würden damit Kapitalvernichten. Die schlimmste Form der Kapitalvernich-tung aber sind Atomkraftwerke bzw. ist die Atomtech-nologie.
– Die Form der Entsorgung, so wie sie von Ihnen ange-legt worden ist, ist – ich hätte beinahe gesagt: ein arsch-teurer – ein verdammt teurer Irrweg. Mit dem, was Sieim Schacht Konrad bzw. in Gorleben organisiert haben,haben Sie viele Milliarden DM sozusagen unter Grundgesetzt.
Damit kommen Sie nicht weiter. Wir dagegen haben ge-sagt: Wir machen damit nicht weiter; wir sparen an die-ser Stelle; das können wir ändern. Denn wir braucheneinen neuen Entsorgungsweg, ein neues Gesamtkonzept.Dem haben Sie sich bisher verschlossen.
Eva-Maria Bulling-Schröter
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4793
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Herr Borchert, zugegeben, wir können Ihnen heutekein Ausstiegskonzept präsentieren. Wenn ich aber IhreAufforderung und Ihre Kritik richtig verstehe, dannwollen Sie uns bei dessen Formulierung helfen. Ich seheLicht am Horizont, wenn uns die CDU/CSU bei der Er-stellung unseres Ausstiegskonzeptes helfen will, indemsie anmahnt, daß wir das nicht schaffen.
Nächster Punkt. Auch hier sagt Kollege Borchert,was wir alles nicht geschafft haben. Es ist wahr, daß wirinnerhalb eines Jahres noch nicht so viel geschafft ha-ben, wie wir es uns erhofft hätten.
– Wir haben einiges erreicht. Ich will nicht das, wasschon von vielen gesagt worden ist, wie eine Leier wie-derholen. – Es ist schon ziemlich dreist, sich hier hinzu-stellen und zu kritisieren, wir hätten die UVP-Richtlinienicht umgesetzt. Dazu hatten Sie viele Jahre vorher Zeit.Das gleiche gilt für die IVU-Richtlinie. Sie haben dieUmsetzung all dessen verstreichen lassen. Sie haben inder letzten Woche vom Europäischen Gerichtshof dieQuittung dafür bekommen, daß Sie das Umweltinfor-mationsgesetz nicht richtig umgesetzt haben. Das sinddie Altlasten, mit denen wir zu tun haben. Hätten wirnicht so viele Altlasten, würden wir schneller nach vornekommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Her-
mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Homburger?
Nein; denn ich möchte meinen Gedanken weiter ausfüh-
ren. Danach kann die Kollegin Homburger gerne zu
Wort kommen, falls das dann noch angebracht ist.
Sie haben angemahnt, daß wir nicht genügend Ein-
zelerfolge haben, daß wir nicht genügend Ausgaben ma-
chen. Auf der anderen Seite haben Sie gesagt: Wir
überlegen uns eine neue Strategie. Natürlich ist es ange-
bracht, Ende der 90er Jahre über neue Strategien in der
Umweltpolitik nachzudenken. Es kann doch nicht wahr
sein, daß die Ausgaben bei Einzelposten des Umwelt-
haushaltes Maßgabe für den Erfolg von Umweltpolitik
sind.
Es kann doch nicht wahr sein, daß nur der Umwelt-
haushalt kritisch betrachtet wird. Es ist doch längst be-
kannt, daß die Umweltpolitik eine Querschnittsaufgabe
ist und daß wir heute an einem Punkt stehen, an dem wir
über Strategien nachdenken müssen.
Das haben Sie übrigens eingesehen. Sie haben doch
gemeinsam mit uns im Umweltausschuß die Strategie
einer nachhaltigen Entwicklung beschlossen. Denn auch
Sie haben erkannt: Der eigentliche Punkt ist, daß es
nichts nützt, Einzelmaßnahmen in diesem oder in jenem
Feld vorzunehmen. Vielmehr kommt es darauf an, diese
Dinge miteinander zu verknüpfen, daraus also ein Ge-
samtkonzept zu erstellen, und zwar mit Zielvorgaben,
mit der Überlegung, welche Methode am schnellsten zu
einem Erfolg führt, und mit Konzepten in anderen Be-
reichen.
Jetzt geht es um den Umweltetat. Aber ich sage Ihnen
ganz offen: Für mich bzw. für uns stellt der Wechsel im
Infrastrukturministerium die Herausforderung dar, daß
mit der Person des neuen Ministers das Infrastrukturmi-
nisterium ein Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsministe-
rium wird. Die Bundesverkehrswegeplanung muß zu
einer Nachhaltigkeitskonzeption werden.
– Herr Kollege Paziorek, ich habe Sie leider nicht ver-
standen. Sie können aber gerne eine Zwischenfrage
stellen.
– Jetzt dürfen auch Sie.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist leider vorbei. Das hätten Sie sich eher
überlegen müssen.
Das tut mir leid.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Her-
mann, das, was Sie vorhin eigentlich nicht sagen woll-
ten, habe ich besser nicht gehört; denn sonst müßte ich
Sie jetzt rügen.
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Peter Paziorek
von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren!Die Unzufriedenheit über die Umweltpolitik derRegierung ist unübersehbar.
Mit dieser Aussage beginnt ein Thesenpapier von Um-weltpolitikern der Bündnisgrünen zur Krise der Um-weltpolitik unter der rotgrünen Bundesregierung. Siesteht – das kann man unschwer feststellen – in scharfemGegensatz zu der geschönten Bilanz, die der Bundesum-weltminister in seiner Einbringungsrede gerade vorgetra-gen hat. Herr Minister: Da, wo bündnisgrüne Parlamenta-Winfried Hermann
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4794 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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rier recht haben, da haben sie recht. Diese Aussage ausdem Papier von Herrn Loske stimmt voll und ganz.
Weiter heißt es in diesem Papier – ich möchte, mitIhrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, daraus zitieren –:Es mangelt nicht an der Formulierung von Zielen –im Gegenteil kann die Umweltpolitik bei den mei-sten Anliegen auf starke Unterstützung in der Be-völkerung und auch bei den Medien rechnen. Wasoffenkundig mißlingt, ist die öffentliche Gestaltungeiner Politik, die diese Unterstützung für ihre Re-formen auch tatsächlich mobilisiert.Man kann das auch anders formulieren: Tatsache ist, daßeine Umweltpolitik der Bundesregierung in weiten Be-reichen überhaupt nicht stattfindet – und da, wo sie statt-findet, stößt sie auf breite Ablehnung in der Bevölke-rung. Das ist nicht die Folge einer mangelhaften Dar-stellung in den Medien. Die rotgrüne Bundesregierungstößt mit ihrer Umweltpolitik auf Ablehnung, weil dieausführliche Darstellung ihrer Politik von der Öffent-lichkeit verstanden wird und weil deutlich wird, daß indieser Politik völlig falsche Akzente gesetzt werden.
Als ich die Rede von Herrn Hermann hörte, mußteich feststellen, daß er die Argumente vorgetragen hat,die wir über acht Jahre hinweg gegen die Kollegen vor-getragen haben, Herr Hermann, die vorher Oppositions-politik betrieben haben. Es ist erstaunlich, daß Sie aufeinmal unsere Argumente aus der Regierungszeit über-nommen haben.
Rotgrün hat immer versucht, mit Umweltpolitik Oppo-sitionspolitik zu betreiben. Ich kann mich noch gut daranerinnern, wie stark der rhetorische Aufwand bei Attak-ken gegen Bundesumweltminister Töpfer und gegenBundesumweltministerin Merkel war.Sie haben sich bei Ihrer Koalitionsabsprache ehrgei-zige Ziele gesetzt. Das Entscheidende aber ist doch: Wiesieht die Bilanz aus? Nach gut einem Jahr rotgrünerUmweltpolitik fällt diese Bilanz erschreckend schwachaus.
Von den vollmundigen Absichtserklärungen Ihrer Um-weltpolitik ist in der täglichen Arbeit nichts, aber wirk-lich gar nichts übriggeblieben. Man wäre ja schon froh,wenn Sie, Herr Trittin, zumindest ein Ankündigungsmi-nister wären; dann könnte man in diesem Hause wenig-stens über Konzeptionen streiten. Aber auch auf diesemGebiet leisten Sie nichts, rein gar nichts.
Die Regierung Schröder zehrt auch im täglichenVollzug der Umweltpolitik von den Ergebnissen der er-folgreichen und fortschrittlichen Umweltpolitik ihrerVorgängerregierung.
Die Organisation Greenpeace hatte recht, als sie im Maidieses Jahres folgendes vernichtende Urteil über dieUmweltpolitik der Bundesregierung mit der knappenFormulierung gefällt hat: Die rotgrüne Bilanz in derUmweltpolitik ist ein einziges Debakel.
Die Politik des Bundesumweltministers beschränktsich auf den ideologiegeprägten Wunsch, möglichstschnell möglichst viele Kernkraftwerke abzuschalten.Darüber hinaus ist er auch noch bereit, für eine Steuer-erhöhungspolitik einzutreten, die fälschlicherweise mitdem Siegel der Ökosteuer belegt ist. Für die übrigen90 Prozent der Themen der deutschen Umweltpolitikscheint sich dieser Minister dagegen überhaupt nicht zuinteressieren.
Umweltpolitik fand in den vergangenen Monaten mitAusnahme der beiden Themenbereiche überhaupt nichtstatt. Das ist der wirkliche Befund zur augenblicklichenUmweltpolitik dieser Bundesregierung.Klimaschutzpolitik – bislang international respek-tierter und anerkannter Vorzeigepunkt deutscher Politik– ist vollständig ins Abseits geraten,
so auch deutsche Initiativen, Frau Ganseforth, die Siefrüher bekämpft haben. Ich hätte mir Ihren Einsatz inden vergangenen Wochen viel stärker vorgestellt, näm-lich als deutlich wurde, daß im Bereich der Klima-schutzpolitik von Schubkraft und Durchbruch überhauptnicht mehr die Rede sein kann.Ich kann mir noch vorstellen, wie es dem Ministergegangen ist, als er in Buenos Aires zunächst die mage-ren Ergebnisse zu einem großen Erfolg hochjubelnwollte. Als aber dann all die kritischen Experten, dievorher die Bundesregierung kritisiert hatten, mit einem„Expertenspott“ über die Äußerungen des Ministers her-gefallen sind, hat er sich ganz schnell bequemt – das wardas einzig Kreative –, die schlechten Ergebnisse vonBuenos Aires nicht mehr hochzureden.Konsequenzen für die Umweltpolitik auf internatio-naler Ebene sind aber daraus von BundesumweltministerTrittin überhaupt nicht gezogen worden. Von einerWeiterentwicklung nach innen in der Klimaschutzpolitikist doch gar nichts zu spüren. Meine Damen und Herren,es gibt zur Zeit keine neuen Initiativen über die vonTöpfer und Merkel eingeleiteten Reduktionsmaßnahmenhinaus. Man muß sogar sagen, daß die bereits eingelei-teten Maßnahmen nur zögerlich und unlustig fortgeführtwerden, wie zum Beispiel die Energieeinsparverord-nung. Sie haben immer erklärt: Die kommt sofort, wennwir drankommen.
Wir warten darauf. Es wird angekündigt, und man stelltfest: Nichts von den ganzen großen Versprechungen, dieSie gemacht haben, wird eingehalten.
Dr. Peter Paziorek
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4795
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Das ist das große Problem. Sie haben nämlich in derUmweltpolitik eine Glaubwürdigkeitslücke. Noch voreinem Jahr wurden die Klimaschutzziele der RegierungKohl als mangelhaft, der globalen Katastrophe nicht an-gemessen,
der Rolle des industriestarken Deutschlands nicht ge-recht werdend angegriffen. Unter Führung des grünenUmweltministers Trittin ist aber nirgendwo zu erkennen,auf welchem Gebiet und zu welchen Punkten neueSchwerpunkte in der internationalen Umweltpolitik ge-setzt werden.Und was noch viel schlimmer ist: Von all dem, wasunter den Vorgängerregierungen auf den Weg gebrachtworden ist, wird heute nichts mehr realisiert. Das allseitsanerkannte internationale Profil der deutschen Umwelt-politik ist schon nach wenigen Monaten rotgrüner Poli-tik bis zur Unkenntlichkeit verblaßt. Das ist das traurigeErgebnis der Umweltpolitik dieser Bundesregierung.
Naturschutzpolitik – verschoben auf eine nicht nä-her festgelegte Zukunft. Zur Umsetzung europäischerRichtlinien können Sie noch so viel erzählen, Herr Her-mann, aber mein Befund ist richtig: Bei der IVU-Richtlinie und der UVP-Richtlinie gibt es keinen Schrittüber die Vorarbeiten der Vorgängerregierung hinaus.
Das ist das Entscheidende. Zeit wird verspielt, Ideenwerden nicht entwickelt, Lösungen nicht gefunden. Unddie Zeit verrinnt.Das Umweltministerium hat eine Querschnitts- undProgrammfunktion wahrzunehmen. Leider werden Sie,Herr Minister, dieser Aufgabenstellung überhaupt nichtgerecht. Das alles ist traurig, aber durchaus nachvoll-ziehbar; denn diese Regierung hat sich in ihrer Umwelt-politik so auf das Thema Kernenergieausstieg festgelegt,daß für eine sachliche Arbeit auf den übrigen Feldernder Umweltpolitik keine Zeit verbleibt.Natürlich versucht die Regierung, über diese Fehl-entwicklungen öffentlichkeitswirksam hinwegzukom-men. Aber das wird ihr auf Dauer nicht gelingen. Dagibt es ein sogenanntes Strategiepapier zur Sommer-smog-Verordnung. Wer sich mit diesem Thema befaßt,kann feststellen, daß es sich dabei nur um das Aufwär-men alter, untauglicher Kamellen handelt – vom über-zogenen Tempolimit bis zum undifferenzierten Fahrver-bot.
Von Wissenschaftlern ist das schon mehrfach wider-legt worden. Dennoch kann man immer wieder feststel-len: Sie wollen auf diese Argumente der Wissenschaftnicht eingehen. Wissenschaftliche Anregungen werdennicht mehr ernst genommen, nur um die eigene Parteiba-sis mit rotgrünen Schlagworten zufriedenzustellen. An-erkannte Wissenschaftler wie zum Beispiel ProfessorBirkhofer in der Atompolitik werden aus der Reaktorsi-cherheitskommission abberufen, nur weil dieser Um-weltminister unabhängigen wissenschaftlichen Sach-verstand nicht ertragen kann.
– Ich weiß, das tut weh, aber was Sie als Witz bezeich-nen, ist ganz einfach die Tatsache, daß Sie ein großesProblem im Umgang mit unabhängigen Wissenschaft-lern haben. Es ist traurig, daß Sie das als eine witzigeAngelegenheit ansehen, Herr Kubatschka.
Das Fazit, das sich auch jetzt wieder bei den Haus-haltsplanberatungen deutlich zeigen wird, ist ein enor-mer umweltpolitischer Glaubwürdigkeitsverlust dieserBundesregierung.
Das führt zu Politikverdruß, zu Politikablehnung undbringt uns in der Umweltpolitik kein Stückchen weiter.Frau Ganseforth, wir werden die Haushaltsplanbera-tungen nutzen, darzulegen, wie Sie Akzente falsch ge-setzt haben, aber Sie müssen verstehen, daß es geradefür uns und für mich heute abend sehr erfreulich ist,einmal darlegen zu können, wie Sie vollmundig gestartetsind und wie Sie umweltpolitisch nur Seifenblasen pro-duziert haben. Es ist natürlich auch der tiefere Sinn vonHaushaltsberatungen, deutlich zu machen: Der Mund istvoll genommen worden, aber die Ergebnisse sind äu-ßerst mangelhaft.Der Haushaltsplanentwurf für das Jahr 2000 setzt denfalschen Weg der letzen Monate fort. Neue Schwer-punkte in der Umweltpolitik sind nicht zu erkennen.Auch mit diesem Haushaltsplanentwurf wird dieGlaubwürdigkeitslücke von Rot und Grün in der Um-weltpolitik nicht geschlossen werden können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-vention erteile ich das Wort dem Kollegen Loske,Bündnis 90/Die Grünen.
möchte zu vier Punkten des letzten Beitrags ein paarGedanken äußern.Erstens zum Thema Klimaschutzpolitik. Herr Kolle-ge Paziorek, Sie haben moniert, daß in diesem Bereichnicht genug geschieht. Ich möchte zunächst einmal umDr. Peter Paziorek
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der historischen Wahrheit willen die Tatsachen klarstel-len. Die Tatsachen sehen nämlich so aus, daß Sie in Sa-chen Klimaschutzpolitik nichts auf den Weg gebrachthaben und daß all das, was in Sachen CO2-Reduktion er-reicht worden ist, darauf zurückzuführen ist, daß in denneuen Bundesländern die Industrie kollabiert ist. Siewollen das doch nicht ernsthaft als Erfolg Ihrer Klima-schutzpolitik darstellen. Das kann doch nicht Ihr Ernstsein; da ist nur sehr wenig geschehen.
In den neuen Bundesländern sind die CO2-Emmissionenderzeit sogar angestiegen, in den alten Bundesländernsind sie aus dem genannten Grund gesunken. BleibenSie also bitte bei der Wahrheit, und idealisieren Sie nichtdie goldenen Zeiten der Klimaschutzpolitik unter Töpferund Merkel! So war es nicht.Zweitens. Die Dinge, die wir gemacht haben – bei-spielsweise die ökologische Steuerreform, der das Fi-nanzwissenschaftliche Forschungsinstitut ausdrücklichattestiert, daß sie einen klimapolitischen Lenkungseffekthat, das 100 000-Dächer-Programm, das Förderpro-gramm für erneuerbare Energien, die Energiesparver-ordnung, die jetzt natürlich kommen wird, die gesamteEnergierechtsnovelle oder die Einspeisungsverordnung–, laufen unter der Überschrift Klimaschutzpolitik, undsie werden ihre Folgen zeitigen.
Drittens. Sie können andere Prioritäten haben – dasist völlig klar –, Sie können aber nicht sagen, es würdeeine ausschließliche Konzentration auch auf die ThemenAtomausstieg und ökologische Steuerreform stattfinden.Es findet sehr wohl eine Konzentration auf andere The-men statt. Der Minister hat ganz klar beschrieben, daßdie nationale Nachhaltigkeitsstrategie ein solcherSchwerpunkt ist. Wir haben einen Antrag zustande ge-bracht, der sich durchaus vorzeigen läßt.Das, was Sie in der letzten Legislaturperiode gemachthaben, war, daß Sie sich zu unverbindlichen Plauderrun-den zusammengefunden haben, an deren Ende überhauptnichts herausgekommen ist. Das wollen wir ändern.
Viertens zur Besetzung der Kommission. Es ist so:Jeder hat seine Prioritäten; das ist normal. Tun Sie aberbitte nicht so, als wären alle Wissenschaftler, die Sievorschlagen, völlig interessenfrei und dienten nur derehernen Wahrheit, während alle, die wir vorschlagen,interessengeleitete Leute sind. So ist es doch nicht. DieWahrheit ist: In der Reaktorsicherheitskommissionhaben nur Atombefürworter und keine Skeptiker geses-sen. Das haben wir jetzt einigermaßen ins Lot gebracht.Das ist nur gut so.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Pazio-
rek zur Erwiderung.
Zu zwei Punktenmöchte ich Ihnen antworten, und zwar erstens zu denAusführungen zur Klimaschutzpolitik und zweitens zuder Frage der Lenkungswirkung der ökologischen Steu-erreform.Herr Loske, Sie selbst haben vor Ihrer parlamentari-schen Tätigkeit wissenschaftlich zu dieser Frage gear-beitet. Ich weiß überhaupt nicht, wie Sie sich zu derAussage versteigen konnten, der Rückgang der CO2-Emmissionen in Deutschland – es kann strittig sein, obdas seit 1990 14 Prozent, 15 Prozent oder 16 Prozentsind – sei nur auf den Zusammenbruch der sozialisti-schen Planwirtschaft zurückzuführen.
– Im wesentlichen. Das ist hochinteressant.Darüber hinaus wissen Sie, Herr Loske, ganz genau:Diese Erfolge sind nur möglich gewesen, weil wir es inDeutschland – auch in den alten Bundesländern – seit1987 im industriellen Bereich in der Tat geschafft ha-ben, eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum undEnergieeinsatz vorzunehmen.
Ohne diese Entkopplung hätten wir diese Bilanz nichtgehabt.Sie können die Aussagen von Prognos – vielleichthaben Sie nicht daran gedacht, weil das zu Ihrer frühe-ren Beschäftigung ein Konkurrenzinstitut ist – oder an-deren Instituten heranziehen. Sie besagen: Ein Rückgangist vorhanden. Es ist nur strittig, welche Maßnahmennotwendig sind, um, ausgehend von dem Mittelwert von15 Prozent Reduktion seit 1990, jetzt noch die letzten10 Prozent zu erreichen, damit wir im Jahr 2005 bei25 Prozent landen.
– Frau Ganseforth, es wird doch spannend, ob Sie jetztnoch mit dem Zeitrahmen hinkommen. Es soll ein Ener-giedialog angestrebt werden, ohne daß wir genau wis-sen, was diese rotgrüne Bundesregierung vorhat. Even-tuell soll jetzt in Fragen des Klimaschutzes ein solcherDialog beginnen; Frau Mehl hat dies heute abend gesagt.Wir haben das Jahr 1999 und nur noch sechs Jahre Zeit.Ich bin gespannt, wann diese Regierung eigene Vor-schläge auf den Tisch legt, damit wir im Parlament sau-ber darüber beraten können.Zweitens zum Lenkungseffekt der ökologischenSteuerreform. Es ist nicht so, daß alle wissenschaftli-chen Institute, Herr Loske, der ökologischen Steuerre-form unter umweltpolitischen Gesichtspunkten so zuge-Dr. Reinhard Loske
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stimmt haben, wie Sie es hier gerade geschildert haben.Eines ist schon erstaunlich: Bei den Haushaltsplanbera-tungen, auch bei den Beratungen der mittelfristigenFinanzplanung, erlebt man, daß das Aufkommen aus derökologischen Steuerreform ansteigend veranschlagt ist.Wenn es sich wirklich um eine ökologische Steuerre-form handeln soll, muß diese Steuer doch so angelegtsein, daß das Verhalten der Menschen geändert wird.Mit anderen Worten: Das Verhalten der Menschen sollsich ändern, dadurch soll die Bemessungsgrundlage ge-ringer werden, und dadurch muß dann, wenn es eineökologische Steuerreform ist, schon mittelfristig dasAufkommen der Steuer geringer werden.
Das riesige Problem ist, daß Sie es eigentlich andersangelegt haben. Denn sonst bekommen Sie langfristigIhre Sicherungssysteme nicht unter Kontrolle.
Aus dem Grunde ist es ein Abkassiermodell und keineökologische Steuerreform.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Michael Müller, SPD-
Fraktion.
Herr Paziorek,Ihre Aussage „nicht einmal ein Ankündigungsminister“kann man eigentlich nur so werten, daß Sie meinen, dieVorgänger, Frau Merkel und Herr Töpfer, seien Ankün-digungsminister gewesen.
Das ist ein schönes Eingeständnis. Das haben wir immergewußt. Wir danken für die Bestätigung.Meine Damen und Herren, es ist klar, daß man aufSie so reagieren muß. Sie haben bei Ihren VorwürfenGott sei Dank immer ein wenig gelächelt. Deshalb findeich das immer noch recht sympathisch. Daran merktman, daß Sie es besser wissen. Lassen Sie mich deshalbzur Sache mehr sagen als zu dieser Form des Vortrages;ich glaube, daß uns das nicht viel weiterhilft.
Ich möchte auf zwei Punkte tiefer eingehen: zum ei-nen auf den Ausstieg aus der Atomkraft und zum ande-ren darauf, daß ich uns allen wünsche, daß wir mehrMut in der Ökologie zeigen.Ich fange mit dem Atomausstieg an. Ich muß ent-schieden zurückweisen, daß die Forderung nach demAusstieg aus der Atomkraft Willkür sei. Es gibt zweiüberragende Gründe dafür, die wir immer genannt ha-ben. Das ist einmal die Sicherheitsproblematik. Mankann ein Atomkraftwerk nicht mit einer anderen, zeitlichund räumlich begrenzten Technologie vergleichen. DieAtomkraft hat eine andere Dimension. Deshalb ergibtsich schon daraus eine legitimatorische Position für denAusstieg. Das ist zum anderen die ungeklärte Entsor-gung, daß wir sozusagen unzählige Generationen mit ei-ner Hinterlassenschaft belasten, die wir immer wenigerverantworten können. Bei der alttestamentarischen Fristging es um vier Generationen. Beim Atommüll jedochreden wir über tausend Generationen. Das ist eine ganzandere Dimension. Auch das berechtigt zur Kritik andieser Technologie.Frau Homburger, Sie haben von einer Verstopfungs-strategie geredet. Dazu muß ich Ihnen sagen: DenTransportstopp für Atommüll hat Frau Merkel erlassen.Daran möchte ich Sie erinnern. Sie hat damals, im Mai1998, gesagt, der bleibe so lange bestehen, bis alle zehnPunkte eines Aktionsprogramms der Bundesregierungabgearbeitet seien. Man ist im Augenblick dabei, dies zutun, und zwar mit den Betreibern. Was reden Sie denneigentlich?
Auch wir machen das, obwohl wir Weitergehendeswollen als das, was Sie wollten.Aber lassen Sie mich den sehr viel wichtigeren Grundnennen: Ich glaube, daß wir im Augenblick in der Ener-giepolitik an einer Weichenstellung angekommen sind:Wollen wir in erster Linie zurück zur Strategie der gro-ßen Stromverkäufer im europäischen Verbund, oder sa-gen wir: Gerade weil die Situation so ist, müssen wir ei-nen Strukturwandel in der Energiepolitik einleiten, dersehr viel stärker auf Energiedienstleistung, auf neueMärkte etc. ausgerichtet ist? Das ist die Scheidelinie, ander wir derzeit stehen.Meine These ist, auch mit Blick auf die Klimapro-blematik: Sie werden die Klimaproblematik mit einerVerlängerung der sich im Augenblick zeigenden Ten-denzen auf den Energiemärkten, zu einer im wesentli-chen auf den Stromverkauf ausgerichteten europäischenVerbundwirtschaft zu kommen, nicht lösen. Sie werdenauch nicht den entsprechenden Schub kriegen, um bei-spielsweise Klimaschutztechnologien, Energietechnolo-gien oder solare Technologien in den Markt zu bringen.Dies ist eine Schlüsselfrage, bei der die Politik denRahmen setzen muß. Diese Rahmensetzung hat viel mitder Veränderung der heutigen Strukturen zu tun. Auchdeshalb reden wir über die Atomkraft.
Die Atomkraft ist nämlich unter energetischen Ge-sichtspunkten ineffizient. Vor allem ist sie wegen derGroßstruktur der entsprechenden Unternehmen in derBundesrepublik letztlich nur wirtschaftlich, wenn vielStrom verkauft wird. Das ist einer der entscheidendenGründe, warum wir sagen, daß sich die Struktur derDr. Peter Paziorek
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Energieunternehmen von einer zentralisierten Strukturhin zu einer eher dezentralen Flexibilität ändern muß.Das leistet die Atomindustrie aber nicht. Insofern ist derAusstieg aus der Atomkraft eine industrie-, beschäfti-gungs- und umweltpolitische Entscheidung.Wenn der Staat im Interesse der Zukunftsfähigkeitund des Allgemeinwohls die Weichen in diese Richtungstellen will, dann ist es nicht Willkür, sondern es ist seinRecht und seine Pflicht, so zu handeln. Es ist also einepolitische Entscheidung, die wir unterstützen.
Obwohl ich um die Schwierigkeiten weiß, will ichnoch kurz folgenden Einwand machen. Sie zitieren Ihreneigenen Beschluß zum Klimaschutz immer sehr unzu-reichend. Denn die Zahl von 25 Prozent war auf die al-ten Bundesländer bezogen, Herr Paziorek. Im Beschlußhieß es damals weiter, daß der Prozentsatz in den neuenBundesländern sehr viel höher liegen müsse.
– Herr Paziorek, Ihr Beschluß war 1990 in diesem Punktunspezifiziert – und zwar aus einem ganz einfachenGrunde: Damals hatten wir zu wenig Daten über dieEinsparpotentiale in den neuen Bundesländern. Deshalbwurde der Prozentsatz nicht konkretisiert. Sie habendamals im übrigen noch hinzugefügt, daß Sie darüberhinaus ökologische Steuerungsinstrumente, etwa eineRestverschmutzungsabgabe, mittels einer Steuerreformeinführen wollten. Ich will Ihnen jetzt nicht beckmesserisch vorwerfen,daß Sie diese Vorgaben nicht erfüllt haben. Tatsächlichist es so, daß in den alten Bundesländern die CO2-Emissionen gegenüber den Emissionen des Jahres 1990weiter angestiegen sind. Trotzdem ist die heutige Pro-blematik eine andere. Wir haben durch die Entwicklun-gen in den 90er Jahren, insbesondere durch den Struk-turwandel in den neuen Bundesländern, eine erheblicheCO2-Reduktion erreicht. Unser Vorwurf ist aber, daßdiese Reduktion im wesentlichen nicht auf Basis eineraktiven Energiepolitik und durch eine aktive Klima-schutzpolitik, sondern daß sie letztlich nur auf Grunddes ökonomischen und politischen Trends erreicht wur-de.
– Schauen Sie sich doch an, was Ihre Regierung in denBerichten der Interministeriellen Arbeitsgruppe „CO2-Reduktion“ geschrieben hat! Davon haben Sie kaum et-was umgesetzt. Das ist leider die Wirklichkeit. Jetztkommt es darauf an, über die Gründe nachzudenken.Wir sagen, daß der entscheidende Punkt die Weichen-stellung ist. Ich glaube, daß durch die folgenden dreiMaßnahmen die Substitution der Atomenergie möglichist, ohne den Ausstieg mit der Klimakatastrophe zu be-zahlen:Erster Punkt. Wir müssen eine massive Steigerungder Energieproduktivität erreichen. Wir haben heuteein Wachstum der Energieproduktivität von 1,7 Prozent.Dieses Wachstum kann ohne Schwierigkeiten auf3 Prozent gesteigert werden, wenn wir dafür den politi-schen Rahmen setzen.
Zweiter Punkt. Wir wollen die Kraft-Wärme-Kopplung schützen und ausbauen. Im Augenblick pas-siert leider durch die Marktentwicklung das Gegenteil.Deshalb müssen wir in diesem Bereich schützend ein-greifen.
Erreichen wir eine Verdopplung der Energieerzeugungdurch Kraft-Wärme-Kopplung – eine Verdopplung istein realistisches Ziel –, erreichen wir einen zweiten we-sentlichen Baustein der Energieversorgung in den näch-sten 10 Jahren. Somit bekommen wir einen wesentlichenBeitrag zum Klimaschutz.Dritter Punkt. Wenn wir den Anteil der regenerati-ven Energien in den nächsten 10 Jahren verdreifachen,dann haben wir ein Gesamtpaket, das es ermöglicht, daßwir aus der Atomkraft aussteigen, ohne daß dieser Aus-stieg zur Klimakatastrophe führt. Sie wissen ebenfalls,daß das eine mögliche Strategie ist.
Aber auch aus einem anderen Grunde müssen wirdiese Energiepolitik betreiben. Ich sehe mit großer Sor-ge, daß der Energiestandort Bundesrepublik Deutsch-land als Erzeugungsstandort zunehmend gefährdet ist.
Diese Gefahr ist entstanden, weil Sie ein Energiegesetzgemacht haben, das die Handlungsmöglichkeiten derPolitik nicht genutzt hat. Es hat vielmehr den gesamtenEnergiemarkt einem ungleichen, aber nicht einem sinn-vollen, geregelten Wettbewerb, den wir alle wollen,ausgesetzt. Das ist das eigentliche Problem.
Man müßte manchmal Ludwig Erhard zitieren, damitSie begreifen, daß Marktwirtschaft eben nicht nur freieMarktwirtschaft ist, sondern vor allen Dingen das Setzenvon Rahmenbedingungen für den Wettbewerb bedeutet.Dies ist gerade in der Ökologie der entscheidende Punkt,bei der wir es unter anderem mit den Lebensinteressenkünftiger Generationen zu tun haben.
Der Marktprozeß selbst kann diesen Rahmen in einersinnvollen Weise nicht setzen.Wir machen uns aus Beschäftigungs- und aus Um-weltschutzgründen große Sorgen. Deshalb treten wir füreine aktive Klimaschutzpolitik ein. Sie kann nämlich ei-nen wesentlichen Beitrag zur Sicherung einer vernünfti-gen und zukunftsorientierten Energiepolitik leisten.Michael Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4799
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Ich wollte noch eine Bemerkung machen: Ich glaube,wir sollten Ökologie vor allem als Chance verstehen.Ökologie wird im Augenblick sehr stark als Belastungempfunden. Ich glaube, daß sie die wichtigste Antwortist auf die globalen Veränderungen. Denn ökologischePolitik im Sinne von Nachhaltigkeit bedeutet, neueMärkte zu erschließen, bedeutet, Innovationen zu för-dern, bedeutet aber vor allem, regionale Standortfakto-ren zu stärken. Das ist ein ganz wichtiger Ansatz.Sie wissen vielleicht: Aus meiner Sicht ist es dasWichtigste, in der Globalisierung die Entgrenzung vonZeit und Raum zu sehen. Das ist die neue Qualität derGlobalisierung.
– Es kann ja sein, daß Sie keine Bücher lesen. Aberwenn Sie die internationale Debatte verfolgen, dannwerden Sie feststellen, daß die Ökonomisierung der Zeitdas entscheidende Kriterium der Globalisierung ist.
– Klar, Sie kennen das alles. Deswegen habe ich von Ih-nen auch schon so viele Beiträge dazu gehört.Wenn also die Entgrenzung die Haupttriebkraft derGlobalisierung ist, dann müssen wir alles tun, umStandortfaktoren zu stärken. Die Ökologie ist ein zen-traler Standortfaktor – eine Stärke, die wir haben und diewir nutzen sollten. Ökologie ist nicht Belastung, sondernZukunftschance.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmel-
dungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liegen
nicht vor.
Ich rufe jetzt den Einzelplan 10 auf: Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Einbrin-
gung seines Haushalts hat der Bundesminister für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz Funke.
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Über die finanzpoli-
tische Situation und darüber, daß gespart werden muß,
daß es keine Alternative zum Konsolidierungspro-
gramm der Bundesregierung gibt
– vielleicht können wir, speziell was den Einzelplan 10
anbelangt, noch einige hören –, ist heute vormittag, aber
auch im Laufe des ganzen Tages gesprochen worden.
Deutlich geworden ist, so glaube ich, auch, daß diese
Konsolidierung schmerzliche Eingriffe mit sich bringt.
Ich mache überhaupt keinen Hehl daraus, daß auch der
Haushalt des Bundesministers für Ernährung, Landwirt-
schaft und Forsten von den notwendigen Sparmaßnah-
men schmerzlich betroffen ist.
– Ich bin ja immer gespannt darauf, ob ich Vorschläge
bekomme, wie man es anders gestalten sollte. Denn es
ist ja wohl klar, daß es nicht sein kann, daß man einen
Haushalt oder einige Haushalte vom Sparen ausnimmt.
Wenn man die Debatte verfolgt, muß man zu der Auf-
fassung gelangen, daß Sie alle Haushalte vom Sparen
ausnehmen wollen.
Bisher habe ich überhaupt nicht vernommen, welche
Haushalte Sie denn nun zum Sparen heranziehen wollen.
Man hört nur überall, welche man verschonen sollte,
welche weniger betroffen sein sollten und daß es so
nicht gehen könne. Das ist natürlich eine Scheinalterna-
tive.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Ja, gerne.
Er hat ja nach Alternati-
ven gefragt, Kollege Schmidt. Er wird dann immer ganz
unruhig.
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten: Ich neige gar nicht zur Un-
ruhe, Herr Kollege.
Das weiß ich. Dafür sindSie ja bekannt.Herr Minister, wären Sie bereit, sich zum Beispieleinmal das Schröder-Blair-Papier durchzulesen, undkönnten Sie sich vorstellen, daß sich dann, wenn mandas verwirklicht, durch Steuersenkungen Steuermehr-einnahmen erzielen lassen? Damit hätten dann auch Siewieder Geld.Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,Landwirtschaft und Forsten: Es ist schade, daß ich nur10 Minuten zur Verfügung habe. Sonst würde ich gernelänger darüber reden. Unter anderem geht es ja darum,daß man mehr Markt organisieren soll. Angesichts derTatsache, daß in einigen Pressemitteilungen – je nach-Michael Müller
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dem, für wen sie gerade geschrieben sind –, insbesonde-re denen aus Ihrer Fraktion, mal von mehr Markt unddann wieder von Markt- und Preisstützung die Rede ist –was dann mit Markt weniger zu tun hat –, weiß ich, wiewidersprüchlich Ihre Vorschläge sind. Ich bin dann inder schwierigen Lage, mir zu überlegen, welches IhrerKonzepte man nehmen sollte. Ich bin gerne bereit, Ihnendie Pressemitteilungen in ihrer unterschiedlichsten Formauf den Tisch zu legen. Sie müssen sich dann schon ent-scheiden. Sie beklagen auf der einen Seite die Strei-chung von Steuervergünstigungen
– doch, auch das ist Ihren Pressemitteilungen, zumindestteilweise, zu entnehmen –, obwohl jeder weiß, daß diesnotwendig ist, und auf der anderen Seite beklagen Siedie Veränderung bei den Steuertarifen. Sie beklagen alsobeides oder fordern beides, je nachdem, wie es Ihnen ge-rade paßt. Das sind keine sachlichen Beiträge, die einemweiterhelfen. Das ist nichts anderes als politische De-klamation – je nachdem, wie sich das Publikum geradezusammensetzt. Damit kommen wir in der praktischenPolitik des Alltags nicht zurecht. Das muß ich Ihnendeutlich sagen.
Es gibt also schmerzliche Eingriffe, meine Damenund Herren. Natürlich ist es besonders schmerzlich,wenn zum Beispiel der Sozialetat des Bundesministersfür Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betroffen ist.Angesichts der fast mitternächtlichen Stunde will ichjetzt nicht in Einzelheiten gehen. Aber eines muß ichschon sagen: Ich beklage, daß sich der Einzelplan 10über viele Jahre – über Verantwortlichkeiten brauchenwir insofern ja nicht zu streiten – dahin gehend entwik-kelt hat, daß 70 Prozent des Landwirtschafthaushaltesausschließlich für die sozialen Sicherungssysteme in derLandwirtschaft ausgegeben werden. Das ist ein Struk-turproblem im Haushalt an sich.Ich wundere mich – das sage ich ohne Zorn und Ei-fer, auch nicht anklägerisch; das sage ich, damit wir unsrichtig verstehen –, daß in den letzten fünf bis zehn Jah-ren nicht darüber nachgedacht worden ist, in der Organi-sation, in der Struktur der landwirtschaftlichen Sozi-alversicherungssysteme zu Änderungen zu kommen.Dieses System ist auf Dauer so nicht finanzierbar. Daswird ja wohl deutlich. Da sind Sie zusammen mit uns –das will ich überhaupt nicht bestreiten – in der Verant-wortung. Sich aber herauszuziehen und so zu tun, alssei, wenn man von 870 Millionen DM steigend auf 1,4Milliarden DM im Jahre 2003, spricht, die Existenz derLandwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland inFrage gestellt, ist keine redliche Diskussion – weder vonIhnen noch, um das deutlich zu sagen, von manchenVertretern des Bauernverbandes.
Es wäre gut gewesen, wenn man bereits in den letztenfünf bis zehn Jahren über Struktur- und Organisations-fragen nachgedacht hätte. Denn ein System, das fastausschließlich am Tropf der öffentlichen Haushaltehängt, kann auf Dauer nicht tragfähig sein.Ich bestreite nicht – auch das meine ich mit schmerz-lichem Eingriff –, daß es auch unter dem Gesichtspunktder Wettbewerbsverzerrung in Europa zu sehen ist,wenn man an die Streichung der Gasölverbilligung her-angeht. Ich leugne das überhaupt nicht. Wenn man abernicht will, daß in diesem Bereich eingespart wird – ichsage noch einmal, daß ich das als schmerzlich empfinde–, muß man schon sagen, welche Alternativen man dazuhat. Ich wäre sehr dankbar, wenn wir im Zuge der Aus-schußberatungen Alternativen vorgestellt bekämen. Dassage ich in Richtung der Oppositionsfraktionen vonCDU/CSU und F.D.P., das sage ich aber auch in Rich-tung des Bauernverbandes.Gar nicht über Alternativen reden zu wollen, bevorder Landwirtschaftshaushalt nicht insgesamt von denSparmaßnahmen ausgenommen ist, ist angesichts derTatsache, daß Sie ganz genau wissen, daß man die Ge-samtsparleistung nur solidarisch erbringen kann, eini-germaßen verantwortungslos.
So ist die Diskussion aber in den letzten Monaten gelau-fen. Es ging bis hin zum Schreiben von Briefen, die zuzitieren ich mir heute ersparen will und die überhauptnicht weiterhelfen.
– Ich kann mich ja nur wundern, wenn Vokabeln wie„Vernichtungskrieg der Bundesregierung gegen diedeutsche Landwirtschaft“ oder „ … gegen Bauern undBäuerinnen“ fallen. Als hätte es einen Strukturwandelerst im letzten Jahr gegeben!
– Ja, doch! Ich habe das doch alles sorgfältig verfolgt.Als würde es Betriebsaufgaben erst in der Zukunft, erstauf Grund des Sparpaketes dieser Bundesregierung ge-ben! Jeder weiß, daß es Strukturwandel in der Vergan-genheit gegeben hat und auch in der Zukunft gebenwird.
– Ich kann die Zahlen ja einmal nennen. Wenn ich esrichtig im Kopf habe, hatten wir im Jahre 1980 noch800 000 Betriebe, jetzt haben wir rund 480 000 Betriebe.320 000 sind während dieser Zeit aufgegeben worden.Ich sage nicht, daß dies etwa Schuld der vorherigenBundesregierung sei – selbstverständlich nicht. Im übri-gen ist in diesen Größen die zusätzliche Zahl der Exi-stenzgründungen in den fünf neuen Bundesländern ent-halten. Dies müßte also noch statistisch bereinigt wer-den. Wie gesagt, ich sage nicht, daß es ausschließlichSchuld der letzten Bundesregierung sei, daß diese Ent-wicklung eingetreten ist. Hier spielen selbstverständlichviele ökonomische Gründe eine Rolle. Deshalb sollteman auch jetzt nicht den Teufel an die Wand malen undso tun, als sei durch die Einsparungen im Haushalt desBundeslandwirtschaftsministers in Höhe von 7,4 ProzentBundesminister Karl-Heinz Funke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4801
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das Ende der deutschen Landwirtschaft vorgezeichnet.Das ist nicht der Fall.
– Nun fällt das Stichwort „abkassieren“. Es ist schonbemerkenswert, welches Niveau manche Zwischenrufe– ich muß das bei aller Sympathie sagen – haben.
Es wird immer wieder über den Landwirtschafts-standort Bundesrepublik Deutschland diskutiert. Es wirdüber Wettbewerbsverzerrungen und Erwerbsbedingun-gen in der Landwirtschaft debattiert. Ich bin bereit, aneiner Diskussion über das Stichwort „abkassieren“ unterBerücksichtigung der Wettbewerbsbedingungen in Eu-ropa teilzunehmen. Man muß die Frage stellen, wo an-gesichts der Umsetzung der Agenda Modulationen vor-genommen werden und wo „cross compliances“ erzieltwird. Angesichts einer verbleibenden Restredezeit vongut zwei Minuten kann ich darauf nicht im einzelneneingehen. Vielleicht müßte ich dem einen oder anderensogar erklären, welche Auswirkung die Umsetzung derAgenda hat. Wir müssen diskutieren, welche Gesamt-belastungen die Agenda mit sich bringt, nicht nur für diedeutsche Landwirtschaft, sondern auch für die Länder,die mit uns in Konkurrenz stehen.Ich bin bereit – das gilt sicherlich für alle, die an denzukünftigen Ausschußberatungen teilnehmen werden –,über Alternativen zu reden. Wir sind bereit, darüber zureden, wie die Folgen der Agenda sozialer ausgestaltetwerden können, wenn es möglich ist. Wir sind auch be-reit, darüber zu reden, wie die Bedingungen in derLandwirtschaft wettbewerbsgerechter gestaltet werdenkönnen. Aber eines muß ich auch sagen – das ist deut-lich geworden –: Es kann nicht angehen, einen Haushaltvon den notwendigen Sparbemühungen auszunehmen.Es gibt – das kann man in den Bundesbankberichten undin Veröffentlichungen entsprechender Institutionennachlesen – zu all dem, was in den verschiedensten Be-reichen der Politik und der Gesellschaft schmerzlichgetan wird, nur folgende Alternativen: Steuererhöhun-gen oder Zinserhöhungen. Was diese Alternativen ange-sichts der Lage des Standortes BundesrepublikDeutschland gerade für die deutsche Landwirtschaft be-deuten, müßte auch Ihnen – wenn man das Einmaleinsder Ökonomie beherrscht – klar sein. Deshalb gibt esschmerzliche Eingriffe. Sie sind notwendig für die Zu-kunftsfähigkeit auch des deutschen Staates.
– Herr Kollege Deß, das merke ich auch, wenn ich inBayern bin. Ich erlebe dort ja nicht nur schöne Stunden.
– Nein, nicht weil ich zuviel versprochen habe. Das istnicht der Punkt. Die Bauern sind enttäuscht, weil einigeden Eindruck erweckt haben – ich nenne das als kon-kretes Beispiel –, als könne man auf Grund von Garanti-en des Staates mit 28 Kühen im Stall dauerhaft als Voll-erwerbslandwirt überleben. Wer das versprochen hat,dem muß klargemacht werden, was er den Leuten damitangetan hat und welche Erwartungen er damit geweckthat.
Über Alternativen reden wir sehr gerne. Deshalbfreue ich mich auf die Ausschußberatungen. Aber esmüssen auch realistische Alternativen sein.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Josef Hollerith, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Mei-
ne sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Herausragendes Merkmal und Kenn-
zeichen der Politik der rotgrünen Bundesregierung mit
Bundeskanzler Gerhard Schröder an der Spitze ist die
Täuschung der Wählerinnen und Wähler in unserem
Land. Kennzeichen ist die Täuschung der Rentner durch
eine Rente nach Kassenlage, die Täuschung durch die
Ökosteuer,
die Täuschung der Arbeitslosen durch Abbau von
360 000 Arbeitsplätzen seit dem Regierungsantritt von
Gerhard Schröder und die Täuschung der Öffentlichkeit
durch das sogenannte Sparpaket. Es ist eine Roßtäusche-
rei, wenn diese Bundesregierung im Jahre 1999 den
Haushalt um 30 Milliarden DM aufbläht und Wahlge-
schenke verteilt und dann bei der Verabschiedung des
Haushaltes im nächsten Jahr behauptet: Wir sind Hel-
den, weil wir in der Lage sind, zu sparen. Dazu muß
man sagen, daß das sogenannte Sparpaket bis auf 7,5
Milliarden DM aus Luftbuchungen besteht und deshalb
eine Mogelpackung ist. Das ist Roßtäuscherei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Holle-
rith, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Diller?
Nein, ich möchte mei-ne Rede fortsetzen.Herr Minister Funke, mein Vorwurf an Sie lautet, daßSie die Landwirte getäuscht haben. Sie sind mit demVersprechen angetreten, die Landwirtschaft in Deutsch-land wettbewerbsfähiger zu machen. Genau das Gegen-teil von dem, was Sie versprochen haben, tun Sie. Des-wegen nenne ich Sie in aller Öffentlichkeit einen politi-schen Roßtäuscher.
Bundesminister Karl-Heinz Funke
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4802 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Wie sieht die Belastung der Landwirtschaft, bezo-gen auf die mittelfristige Finanzplanung von Theo Wai-gel bis zum Jahre 2003, im einzelnen aus? Erstens. DieStreichung der Gasölbeihilfe liegt bei 835 MillionenDM. Bei der landwirtschaftlichen Alterssicherung betra-gen die Beitragszuschußkürzungen 460 Millionen DM.115 Millionen DM werden bei der landwirtschaftlichenUnfallversicherung gekürzt. Bei der Krankenversiche-rung fallen 250 Millionen DM weg. Die Agrarstruktur-und Küstenschutzaufgabe muß mit 19 Millionen DMweniger auskommen. Insgesamt liegen die Kürzungen indiesem Haushalt, bezogen auf die mittelfristige Finanz-planung, bei 1,5 Milliarden DM.Hinzu kommen die Streichungen beim Branntwein-monopol in Höhe von 90 Millionen DM. Eine Netto-mehrbelastung von 600 Millionen DM durch die zweiteStufe der Ökosteuerreform – eine Strompreiserhöhungum viermal 0,5 Pfennig plus Mehrwertsteuer; viermal 6Pfennig auf Benzin und Diesel plus Mehrwertsteuer –kommt hinzu; die Gegenfinanzierung durch die Entla-stung bei der Sozialversicherung ist eingerechnet. Dasergibt zusammen in diesem Haushalt eine Mehrbela-stung von 1,5 Milliarden DM.Zweitens. Dazu kommt eine Mehrbelastung von1 140 Millionen DM aus dem Steuerentlastungsgesetzvom 19. März 1999.Drittens. Hinzu kommt weiter eine Mehrbelastungvon noch einmal 300 Millionen DM aus der ersten Stufeder ökologischen Steuerreform.Viertens: 90 Millionen DM Mehrbelastung ergebensich durch Streichungen beim Branntweinmonopol.Fünftens: Rund 1,5 Milliarden DM Nettomehrbela-stung der deutschen Landwirtschaft resultieren aus denAgenda-2000-Beschlüssen.Das ergibt – bei einem Einkommen von 18 Milliar-den DM – rund 4,5 Milliarden DM an zusätzlicher Bela-stung für die deutsche Landwirtschaft. Ein Viertel derEinkommen der Landwirte wird gestrichen. Das bekla-gen wir, und das greifen wir neben Ihrer Täuschung derWählerschaft an.
Sie strafen diesen Berufsstand in einer dramatischen,unverhältnismäßigen und unsozialen Art und Weise indiesem Land ab. Was die Bundesregierung mit dem Be-rufsstand der Landwirte veranstaltet, ist gemein und un-sozial.
Sie haben im zurückliegenden Wahlkampf immer vonsozialer Gerechtigkeit geredet. Wo bleibt die sozialeGerechtigkeit, wenn Sie bei der landwirtschaftlichenAlterskasse streichen, aber nicht den Mut haben, auchbei der knappschaftlichen Rentenkasse zu streichen?Was Sie hier tun, das ist sozial ungerecht, feige undverlogen.
Herr Minister Funke, niemand hat abgestritten, daß esin der Vergangenheit einen Strukturwandel gegebenhätte. Aber die Ergebnisse Ihrer Politik werden denStrukturwandel in der Landwirtschaft dramatisch be-schleunigen. Was die Möglichkeiten der Landwirte an-geht, Arbeitsplätze zu finden, habe ich keine Sorge. Je-der Unternehmer weiß, daß Landwirte arbeiten gelernthaben; jeder Handwerker weiß, daß Landwirte motiviertund zuverlässig sind. Deswegen werden die Landwirte,die aus der Landwirtschaft ausscheiden, Arbeitsplätzefinden. Aber es wird zugleich einen Verdrängungseffektgeben, wodurch die Probleme auf dem Arbeitsmarktweiter verschärft werden. Das ist auch ein Ergebnis derAgrarpolitik dieser Bundesregierung.Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch dra-matischer beurteile ich die Auswirkungen auf das Land,auf unsere Dörfer und auf die Regionen. Wir werden –das befürchte ich – weite Teile unserer Heimat nichtmehr wiedererkennen, wenn sich diese Politik so fort-setzt.
Das hat in den sozialen und ökologischen DimensionenAuswirkungen, die noch gar nicht in Gänze abgesehenwerden können.
Wir haben nie die Notwendigkeit von Einsparungenbezweifelt.
Deswegen hat ja Theo Waigel in seine mittelfristige Fi-nanzplanung klar das Ziel einer Senkung der Netto-kreditaufnahme und einer Senkung der Staatsquoteauf das Niveau, das wir vor der Wiedervereinigung hat-ten, nämlich auf 45 Prozent, aufgenommen.
– Wir haben das gemacht. Sie brauchen nur die Zahlendes Haushalts des Jahres 1997
und die Finanzplanung von Theo Waigel mit der Fi-nanzplanung von Hans Eichel vergleichen. Dann werdenSie feststellen – das sind die Zahlen, die das Bundesfi-nanzministerium vorlegt –, daß der Haushalt um54 Milliarden DM aufgebläht wird. Das ist keine Spar-politik; das ist genau das Gegenteil von dem, was wirbrauchen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sindbereit, über Strukturfragen zu diskutieren. In meinerletzten Rede im Rahmen einer Haushaltsdebatte habe ichzur Frage der landwirtschaftlichen Unfallversiche-rung Gedanken vorgetragen, die ich jetzt in knapperForm wiederhole. Natürlich macht es Sinn, die landwirt-schaftliche Unfallversicherung zu reformieren. Dazusind wir bereit. Ich denke an ein Modell, bei dem diealte Last, die aus dem Strukturwandel der Vergangenheitherrührt, sauber herausgerechnet und dann vom BundJosef Hollerith
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finanziert wird und alle übrigen, die in der Landwirt-schaft verbleiben, sich privat versichern.
Das hätte den Effekt, daß der Staat entlastet würde undzugleich die Landwirte durch ein privates Versiche-rungsmodell erhebliche Beiträge sparen könnten.
Wir sind offen, auch darüber zu reden, wie wir dieStruktur und die Organisation der Krankenkassen undder Rentenversicherungsträger neu gestalten. Dafür wa-ren wir immer offen und bereit. Es ist völlig falsch, HerrMinister Funke, wenn Sie uns vorwerfen, die Oppositionsei nicht bereit, darüber zu reden.
– Herr Minister, liebe Zwischenrufer, Tatsache ist, daßin der Zeit, in der wir die Regierungsverantwortung ge-habt haben und in der wir als Fraktionen die RegierungKohl/Waigel gestärkt und getragen haben, die Maßnah-men finanzieren konnten. Sie sind doch jetzt durch Ihreverfehlte Politik, nämlich dadurch, daß Sie in diesemJahr für 30 Milliarden DM Wahlgeschenke verteilt ha-ben, in die Situation gekommen, eine neue Konsolidie-rungsaktion machen zu müssen. Dies ist doch hausge-macht; daher müssen Sie die Suppe, die Sie sich einge-brockt haben, auch auslöffeln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich verlan-ge von dieser Regierung und von Ihnen Herr MinisterFunke, mehr Redlichkeit in der Diskussion.
Ich verlange ferner, daß das Sonderopfer, das Sie denLandwirten abverlangen wollen, nicht realisiert wird.Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Steffi Lemke.
WerteFrau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Kollege Hollerith, falls Sie noch zuhören mögen. Siehaben eben Redlichkeit eingefordert. Ich finde, Sie soll-ten damit bei sich selbst anfangen.
Denn Sie haben hier einen Beitrag abgeliefert – ich wer-de bei der Frage der Unfallversicherung darauf zurück-kommen –, der mit Haushaltskonsolidierung wirklichnichts zu tun hat.
Der Agrarhaushalt 2000 untersteht, wie alle übrigenEinzelhaushalte auch, dem Ziel der Haushaltskonsoli-dierung. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat inden vergangenen Wochen deutlich gemacht, daß sie dievorgesehenen Sparziele für notwendig und unumgäng-lich hält und daß wir die Einsparsummen auch im land-wirtschaftlichen Bereich erbringen müssen. Im Gegen-satz zur früheren Bundesregierung, die den Agraretat zu-rückgeführt hat, ohne eine Haushaltskonsolidierung zuerreichen, werden wir ein Maßnahmenpaket vorlegen,das zwar an manchen Stellen Bitteres enthält – dasbestreiten wir nicht –, insbesondere was den Agraretatbetrifft, mit dem wir aber Handlungsspielräume zurück-gewinnen werden, die die Vorgängerregierung verspielthat.
Sie haben heute im Laufe des Tages mehrfach auf die30 Milliarden DM abgestellt, um die wir den Haushalt indiesem Jahr angeblich erhöht haben. Ich möchte daraufaufmerksam machen, daß die frühere Bundesregierungihren allerersten Wahlkampf im Jahre 1983 vor allemmit dem Argument bestritten hat, sie werde alles tun, umdie unvertretbar hohe Staatsverschuldung von 350 Milli-arden DM zu beseitigen.
350 Milliarden DM sind eine Last, über die man heuteganz anders diskutieren würde als über die 1,5 Billio-nen DM, mit denen wir uns momentan herumzuschlagenhaben.
Ich möchte noch einmal Bezug auf die Agenda 2000nehmen. Ich möchte vor der Debatte warnen, die derKollege Hollerith heute mit seinen polemischen Äuße-rungen begonnen hat. Sie wissen genau, wie wir nachdem Regierungswechsel hier in die Agenda-2000-Debatteeingestiegen sind. Es gab damals im Berufsstand undauch in der Opposition eine große Aufregung. Damals istJosef Hollerith
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von Ihnen der Untergang des Bauernstandes beschworenworden. Jetzt fangen Sie an, das zu wiederholen.
Ich nehme die Sorgen und die Ängste der Bauernernst.
Wir geben zu, daß es im Agrarhaushalt schmerzlicheEinschnitte gibt. Aber Sie sollten sich, gemeinsam mitdem Deutschen Bauernverband, fragen, wie oft Sie die-ses Spiel von dem Beschwören des Untergangs
und dem letztlichen Akzeptieren des Verhandlungser-gebnisses, das bei der Agenda 2000 erzielt werdenkonnte – das räumt der Bauernverband inzwischen offenein – wiederholen können. In der landwirtschaftlichen Sozialpolitik führt keinWeg an Einschnitten vorbei. Wenn Sie sich den Haus-halt anschauen, stellen Sie fest, daß inzwischen mehr alszwei Drittel der Agrarausgaben in die Sozialpolitik flie-ßen.
Wenn man in der Debatte seriös argumentieren will unddas Einsparziel der Bundesregierung auch für denAgrarhaushalt akzeptiert – ich denke, anders kann maneine Konsolidierungsdebatte hier nicht führen –,
wird man auch an dem Bereich der Sozialpolitik nichtvorbeikommen.Die Ausgangslage stellt sich so dar, daß die Mittel fürinvestive Maßnahmen und Strukturentwicklung imländlichen Raum unter der Vorgängerregierung stärkerzurückgenommen worden und für die Sozialpolitik im-mer höhere Ausgaben notwendig geworden sind. Ichwerfe das nicht den Bauern vor; das ist nicht richtig. Ichwerfe Ihnen vor, daß Sie nicht versucht haben, rechtzei-tig auf diese Entwicklung einzuwirken, daß die seit lan-gem als unumgänglich erkannte Strukturreform bei denlandwirtschaftlichen Sozialversicherungsträgern von Ih-nen verschleppt worden ist.Wir packen das jetzt an und tun das gemeinsam mitden beteiligten Verbänden und Gewerkschaften, die die-se Initiative unterstützen. Denn alle Betroffenen, außerIhnen offensichtlich, haben erkannt, daß es zu diesemKonsolidierungskurs keine Alternative gibt.
Zur Unfallversicherung. Der Haushaltsentwurf siehtfür die Unfallversicherung eine maßvolle Verringerungdes Bundeszuschusses vor. Der Bundeszuschuß ist einefreiwillige Leistung des Bundes, auf die kein Rechtsan-spruch besteht. Unser Ziel ist es aber, den Bundeszu-schuß auf einem Niveau von 500 Millionen DM zu ver-stetigen.
Das ist das Ziel, mit dem wir in die Haushaltsberatunggegangen sind. Wenn Sie als Opposition jetzt, nachdemSie bei der letzten Haushaltsberatung eine Aufstockungder Unfallversicherung um 300 Millionen DM geforderthaben – das spielt jetzt offensichtlich keine Rolle mehr,eine Privatisierung der Unfallversicherung als Konsoli-dierungsbeitrag fordern, Herr Hollerith, möchte ich Siefragen, ob Sie durchgerechnet haben, welche Last dasfür den Bund bedeutet.
Wenn die alte Last in den Bundeshaushalt übernommenwird, haben Sie letztendlich eine Ausgabensteigerung.Wo da der Konsolidierungsbeitrag liegen soll, hat sichmir bisher nicht erschlossen.Wir halten eine eigenständige agrarsoziale Versiche-rung für absolut notwendig, zum einen, weil die land-wirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und die Land-wirte Planungssicherheit in diesem Bereich brauchen,
und zum anderen, weil wir die Lasten für den Bundes-haushalt in diesem Bereich nicht nach oben treibenwollen.
Wir werden auch im Bereich der landwirtschaftlichenAlterskassen nicht um Einschnitte herumkommen. Wirsind auch hier – diesen vermutlich nutzlosen Appellrichte ich an die Opposition, vor allen Dingen aber andie Versicherungsträger – zum Gespräch bereit.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jo-
chen Borchert?
Ja,
natürlich. Bitte sehr.
Frau Kollegin, Siehaben gesagt, Sie hielten eine eigenständige agrarsozialeVersicherung für notwendig. Eine eigenständige sek-torale Sicherung der Landwirtschaft hat nicht nur denungleichmäßigen Altersaufbau, mit dem die Rentenver-sicherungen insgesamt zu kämpfen haben, sondern auchSteffi Lemke
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den Strukturwandel in der Landwirtschaft zu verkraften.Können Sie mir verraten, wie Sie, wenn Sie sich für eineeigenständige agrarsoziale Versicherung aussprechen,die Last des Strukturwandels finanzieren wollen? WennSie gleichzeitig kürzen, müssen Sie die Lasten desStrukturwandels allein den Landwirten zumuten. DieEntscheidung für eine sektorale Versicherung hat aberder Bundestag getroffen. Wenn Sie hier kürzen, distan-zieren Sie sich von dieser Entscheidung und muten denBauern diese Belastung zu.
Nein,
das tun wir nicht. Sie müssen schlicht und einfach zwi-
schen einer Kürzung, die im Rahmen der sektoralen
Versicherung noch vertretbar ist, und einer Abschaffung
der sektoralen Versicherung bzw. Privatisierung, wie Sie
sie eben in der Haushaltsdebatte gefordert haben, unter-
scheiden.
Außerdem habe ich Sie darauf aufmerksam gemacht –
– lassen Sie mich doch wenigstens einmal auf die Zwi-
schenfrage antworten, und reden Sie nicht ständig da-
zwischen; der Kollege möchte die Antwort vielleicht hö-
ren –,
daß die Last für den Bund beim Übertragen der alten
Last schlicht und einfach höher wird und dadurch kein
Konsolidierungsbeitrag erreicht wird. Unser Ziel ist es,
eine Verstetigung auf einem Niveau, das eine sektorale
Versicherung noch ermöglicht, zu gewährleisten, aber
gleichzeitig Einsparungen vorzunehmen und die in die-
sem Bereich notwendige Strukturreform, die unter ande-
rem vom Bundesrechnungshof angemahnt worden ist,
voranzutreiben. Sie haben das verschlafen. Wir wollen
dieses jetzt nach Möglichkeit im Konsens mit den Ver-
sicherungsträgern vorantreiben.
Bei der Alterssicherung der Landwirte wird sich in
Zukunft auf Grund des fortschreitenden Strukturwandels
die Schere zwischen Beitragszahlern und Zuwendungs-
empfängern weiter öffnen. Der Bund sieht sich hier in
der Pflicht, Einschnitte vorzunehmen, damit das System
finanzierbar bleibt. Wir streben auch hier in erster Linie
eine Konsolidierung an, das heißt, daß keine überpro-
portionalen Einschnitte vorgenommen werden und vor
allem die unterste Einkommensschicht geschützt wird.
Wir haben deshalb im Haushalt 2000 eine schrittweise
Anpassung vorgesehen, die auf der maßvollen Anhe-
bung des Einheitsbetrages durch schrittweise Verringe-
rung des Abschlages bei der Beitragsberechnung beruht.
Liebe Kolle-
gen, es ist wirklich schwierig für die Rednerin, wenn Sie
bei jedem Satz dazwischenrufen, mit ihrer Rede fortzu-
fahren, zumal es auch schon so spät ist.
DieKollegen kommen heute alle selber nicht dazu, zu reden;deshalb ist das Mitteilungsbedürfnis so groß.Des weiteren werden die Beitragszuschüsse verrin-gert und die Einkommensgrenzen herabgesetzt. Im unte-ren Sektor wird es jedoch nach wie vor Zuschüsse ge-ben, allerdings nicht in voller Höhe, wie es bisher derFall gewesen ist. Wenn wir aber das Ziel der Haushalts-sanierung mittragen wollen, kommen wir um dieseMaßnahme nicht herum.Die Gasölbeihilfe, Sie haben es angesprochen; das istrichtig – ist bei den Landwirten direkt einkommenswirk-sam. Wenn Sie aber den Haushalt konsolidieren wollenund nicht einen Bereich überproportional belasten wol-len, werden Sie auch beim Agrarhaushalt in alle Berei-che eingreifen müssen.
Die Verringerung der Gasölbeihilfe ist, wenn man dieKritik des Bauernverbandes als Maßstab nimmt, ja of-fensichtlich das größte Problem im Sparhaushalt. Ichwill auch nicht in Abrede stellen, daß es dadurch zuWettbewerbsverzerrungen auf europäischer Ebenekommen kann.
Dies müssen wir durch zweierlei Maßnahmen vermei-den:Erstens werden wir die Harmonisierungsbemühungenauf EU-Ebene verstärken.Zweitens werden wir den Landwirten Alternativenmit innovativem Charakter anbieten, die inzwischenselbst vom Bauernverband eingefordert werden.Wir werden die Verwendung von Pflanzenölen, ins-besondere von Bio-Diesel, in landwirtschaftlichen Fahr-zeugen fördern, indem wir diese durch die Fortführungder Flächenstillegung im Rahmen der Agenda und dieBefreiung von der Mineralölsteuer bereits heute wett-bewerbsfähig machen. Außerdem ist es unser Ziel, Inve-stitionshemmnisse bei der Umrüstung älterer Maschinenauf Pflanzenöl zu beseitigen und eine Verbesserung derInfrastruktur für biogene Treibstoffe zu erreichen. Wirwollen deshalb die Markteinführung zeitlich begrenztunterstützen. Wer den Landwirten neue Märkte eröffnenwill, sollte massiv in diesen Bereich hineingehen. Erstellt eine echte Alternative gerade auch vor dem Hin-tergrund der Diskussion um die Gasölbeihilfe dar.
Zur Gemeinschaftsaufgabe. Sie ist meiner Ansichtnach das zentrale Instrument einer Agrarpolitik auf na-Jochen Borchert
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tionaler Ebene, die überhaupt noch gestalten will. Den-noch hat die frühere Bundesregierung hier überpropor-tional gekürzt. Der Bundesanteil wurde seit 1994 um einDrittel verringert. Unser Ziel ist es, die Gemeinschafts-aufgabe auf dem derzeitigen Niveau von 1,7 MilliardenDM zu verstetigen, sie mit neuen Aufgaben zukunftsfä-hig zu machen und den Landwirten neue Möglichkeitenzu eröffnen.
Deshalb wollen wir bei der Beratung über die zu-künftigen Aufgaben in der Gemeinschaftsaufgabe dieneue Schwerpunktsetzung vorantreiben. Regionale Ver-arbeitung, Vermarktung und umweltgerechte Landwirt-schaft sind Möglichkeiten, um den Landwirten neueMärkte zu eröffnen. Wir wollen in diesen Bereichen dieFörderziele der Gemeinschaftsaufgabe erweitern, umden Landwirten im Interesse der Verbraucher weitereMöglichkeiten zu eröffnen.Zusammenfassend möchte ich Ihnen noch einmal mitauf den Weg geben, daß Sie versuchen sollten, dieseDebatte ehrlich zu führen, sich in die Beratung mit ein-zubringen. Wir sind durchaus bereit, über Alternativvor-schläge Ihrerseits zu diskutieren. Wenn ich mir aller-dings die Debatte, die Sie heute im Laufe des Tages ge-führt haben, anschaue, dann weiß ich, daß Sie bei jedemEinzelplan, der heute beraten worden ist, davor gewarnthaben, überhaupt irgendwelche Einschnitte vorzuneh-men. Sie haben darauf verwiesen, daß man prinzipiell zueiner Haushaltssanierung bereit sei. Aber bisher ist vonIhrer Seite überhaupt kein Vorschlag gekommen, wiedas Ganze realisiert werden soll.
Deshalb ist unser Ziel, alle Einzelpläne gemeinsam indieses Konsolidierungskonzept einzubinden. Wir wer-den Ihre Beteiligung an den Haushaltsberatungen ansubstantiellen Alternativvorschlägen messen und nichtan einer Polemik, die ausschließlich darauf abzielt, die-ses Konsolidierungskonzept in Frage zu stellen.Danke.
Es war auch
eine mit Zwischenrufen gespickte Rede.
Jetzt hat der Kollege Heinrich das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme zwei
Stichworte des Herrn Bundesminister Funke auf. Wir
sollen erstens Alternativen vorlegen; zweitens würde die
Bundesregierung solidarisch handeln.
Die Alternative, Herr Bundesminister, würde bedeu-
ten, daß wir Ihre Wahlversprechen in der Form nicht
durchgeführt und umgesetzt hätten und daß die zusätzli-
che Aufblähung des Haushalts um 30 Milliarden DM,
die unter Lafontaine geschehen ist, nicht stattgefunden
hätte.
Wenn Sie auf der einen Seite – aus welchen Gründen
auch immer – Ihr Geld ausgeben und auf der ande-
ren Seite kassieren und dann die Solidarität einklagen,
dann will ich Ihnen einmal sagen, wie die Solidarität, die
Sie jetzt praktizieren wollen, denn in Wirklichkeit aus-
sieht.
Herr Kollege
Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Diller?
Nein. Herr Kollege Diller,
ich will Ihnen sagen, ich schätze Sie sehr, aber ich
möchte diese Agrardebatte nicht zur Lächerlichkeit ver-
kommen lassen.
Die Art und Weise, wie hier Solidarität definiert wird,
darf ich an ein paar Beispielen darstellen. Das Rhei-
nisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung hat
festgestellt, daß die Landwirtschaft überproportional von
der Ökosteuer betroffen ist. Wo ist hier das solidarische
Verhalten?
Davon ist nichts zu spüren. Die Sache geht einseitig zu
Lasten der Landwirtschaft. Der Haushalt wird um etwa
knapp 6 Prozent gekürzt, was im Ernährungshaushalt
fast immer ausschließlich direkt auf die Einkommens-
situation der Landwirtschaft durchschlägt. Auch das
wissen Sie. Das hat zur Folge, daß wir insgesamt mit ei-
ner Einkommensminderung von 15 bis 20 Prozent zu
rechnen haben, und das ohne die Beträge, die durch die
Agenda 2000 uns ohnehin noch serviert werden.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Uli Höf-
ken?
Nein, ich möchte meineGedanken hier vortragen. Ich habe nur sieben Minutenund lasse mich nicht durch Zwischenfragen von meinenGedanken abbringen.
Steffi Lemke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4807
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Die Tatsache, daß wir durch Kürzungen im Agrar-haushalt direkt einkommenswirksame Kürzungen zu re-gistrieren haben, zeigt sich auch ganz deutlich an fol-gendem: In Ihrem Kürzungspaket, mit dem Sie bei denZuschüssen für die landwirtschaftlichen Alterskassenganz besonders solidarisch eingreifen, nämlich bei denEinkommen zwischen 16 000 und 20 000 DM, bei denEinkommen, bei denen alle sieben Einkommensartenzugrunde gelegt werden, haben Sie die Stirn und verlan-gen von den Landwirten, daß sie zwischen 162 und 100Prozent höhere Beiträge bezahlen, als es derzeit der Fallist. Das ist Ihre Definition von Solidarität.Wenn Sie jetzt mit dem Kopf schütteln, Herr Mini-ster, dann muß ich sagen: Ich habe hier die Zahlen, dieaus Ihrem Hause stammen und die genau zeigen, wiesich das in den einzelnen Betrieben darstellt.
Das ist Solidarität à la Bundesregierung.Lassen Sie mich noch ein Weiteres anführen; Solida-rität im Bereich der Berufsgenossenschaft. Es gibt Kür-zungen auch auf diesem Gebiet, die einseitig zu Lastender deutschen Landwirtschaft gehen.
Es gibt Kürzungen im Dieselölbereich. Dazu sagenSie großspurig: Ich weiß, es verschlechtert die Wettbe-werbsfähigkeit der Landwirtschaft. Ich habe aber keineandere Möglichkeit. – Sie haben dieses Jahr Null vorge-sehen, weil Sie sonst von der gesetzlichen Abfolge herdie entsprechenden Daten nicht mehr erreichen und daseingesparte Geld, die 50 Millionen DM, die ursprünglicheingesetzt waren, nicht mehr bekommen. Was machenSie? Sie schlagen es einfach im Bereich der Kranken-kassen drauf. Für die Krankenkassen waren ursprünglich200 Millionen DM veranschlagt. Aber weil man beimDiesel in diesem Jahr nicht zulangen kann, schlägt manbei den Krankenkassen noch einmal 50 Millionen DMdrauf. Das ist Solidarität à la Funke.
So einfach ist das. Das wirkt sich natürlich negativauf die Beitragsgestaltung aus; denn man kann nicht be-liebig in die Reserven eingreifen, ohne daß man dasspäter in Form einer Beitragserhöhung wieder kompen-sieren muß.
– Herr Minister, mir wäre es recht, wenn von der Regie-rungsbank keine Zwischenrufe kämen.
– Frau Präsidentin!
Herr Minister,
der Redner weist zu Recht darauf hin, daß Sie auf der
Regierungsbank schweigen und zuhören müssen.
Ich bitte darum, daß mir
die Zeit nicht angerechnet wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Diesel-
bereich führt zu einer absolut einseitigen Wettbewerbs-
verzerrung zu Lasten der deutschen Landwirtschaft.
Wenn Sie den Abbau der 41,5 Pfennig pro Liter nehmen
und die 30 Pfennig Ökosteuer, die im Laufe der näch-
sten drei Jahre dazu kommen, hinzurechnen – 6 Pfennig
haben wir ja schon –, dann sind es 70 Pfennig, die Sie
drauflegen dürfen. Dann liegen Sie bei über 1,70 DM.
Das heißt, im Vergleich zu den französischen Nachbarn
liegen Sie um 1 DM pro Liter höher.
Jetzt können Sie ausrechnen: Wenn Sie 130 Liter im
Schnitt pro Hektar zugrunde legen, dann wissen Sie, daß
die Landwirtschaft in Deutschland allein durch die Die-
selöl- und die Ökosteuer um 130 DM stärker belastet
wird. Das ist Solidarität à la Funke.
Man kann gar nicht drastisch genug darstellen, wie
die Auswirkung dieser Politik in den nächsten Jahren
sein wird. Die Auswirkung wird sein, daß sich der
Strukturwandel beschleunigt. Das, was Sie vom Struk-
turwandel sagen, Herr Minister Funke, habe ich jetzt
schon fünfmal gehört. Das wird deshalb nicht rich-
tiger. Es überzeugt überhaupt nicht; denn das, was Sie
hier anfachen, indem Sie in den Geldbeutel der Land-
wirte greifen und ihnen letztendlich die Perspektive
nehmen, geht ja noch weiter. Sie können heute den
Landwirten auf Grund des vorliegenden Haushaltes und
der absehbaren Entwicklung der nächsten drei Jahre kei-
ne positive Perspektive geben. Dazu kommt noch die
Herausforderung der europäischen und weltweiten
Agrarpolitik. Die WTO steht vor der Türe. Das wird zu
einer Situation führen, die Sie – und niemand anders –
zu verantworten haben. Wir werden klar und deutlich
sagen, daß der beschleunigte Strukturwandel und das
verstärkte Höfesterben auf Ihr Konto – und auf kein an-
deres – gehen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Das Fazit des vorgelegten Haus-haltsplanes für das Jahr 2000 liest sich in Fortsetzungdes Planes für 1999 etwa so: Wir spannen die Bauernvor den Karren der Neoliberalisierung, füttern sie mitder Agenda 2000 und geschmackvollen Worten zumnotwendigen Strukturwandel gut an und lassen sie danndie Karren in Richtung Weltmärkte ziehen. Die Bauern,die es dorthin nicht schaffen, lassen wir über die Klingespringen.Jegliche lautstarken Proteste und Feuerzeichen stoßenauf taube Ohren. Viel wohltuender für die Bundesregie-Ulrich Heinrich
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4808 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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rung sind da die Worte des Präsidenten des DeutschenIndustrie- und Handelstages, Hans Peter Stihl, der Bun-deskanzler Schröder den Rat gibt, nicht zu wackeln, daes geradezu tödlich wäre, wenn er vom gerade erst ein-geschlagenen Pfad der ökonomischen Tugend wiederabweichen würde.Doch wer hat nach den vergangenen Landtagswahlennicht längst schon das Wackeln der Bundesregierungbemerkt? Wie die Ausgänge der letzten Landtagswahlenzeigen, läuten die Bäuerinnen und Bauern, aber auch dieBevölkerung in den ländlichen Regionen das absehbareEnde einer kurzen SPD-Ära ein.
Angesichts dessen, daß die Bundesregierung auf dembesten Weg ist, noch schneller noch mehr Bauern abzu-schaffen, und angesichts dessen, daß wettbewerbsfähigeBauern auf Expansion setzen müssen, versichere ich Ih-nen: Die Landwirtschaft der Zukunft wird amerikani-sche Züge annehmen, was auf jeden Fall nicht nur beider PDS auf Widerstand stoßen wird.
Auf 3 bis 5 Milliarden DM schätzt der Deutsche Bau-ernverband die Belastungen der Landwirtschaft durchdie Agenda 2000 und die Haushalts- und Steuerpolitikder Bundesregierung. Man muß kein Hellseher sein, umdie Folgen dieser Politik für die Agrarbetriebe, dielandwirtschaftlichen Arbeitsplätze und die Entwicklungder ländlichen Räume vorherzusehen. Die sinkendenEinkommen nötigen dazu, die Produktion weiter auszu-dehnen und zu intensivieren, und das mit erheblichenUmweltfolgen und Veränderungen im Landschaftsbildsowie im ländlichen Raum. Die Schröder-Regierungschafft in einem Jahr, wozu die Kohl-Regierung mehrals zehn Jahre gebraucht hat. Sie hat den Draht zur Rea-lität verloren.
Die drastische Kürzungspolitik wird nicht nur konse-quent fortgesetzt, sondern überdimensional auf die Bau-ern abgewälzt.
Bei Einsparungen von 1,5 Prozent im Gesamthaushaltgegenüber dem Vorjahr will die Bundesregierung imAgrarhaushalt 4,6 Prozent, also mehr als das Dreifache,einsparen. Ist das die Antwort der Bundesregierung aufdie existentiellen Sorgen der Bauern?Es ist nicht nachzuvollziehen, was die Bundesregie-rung zu einer solchen Politik des Harakiri treibt. Es istalso an der Zeit, daß der Kanzler und mit ihm die Bun-desregierung über echte Alternativen nachdenken. Dennsein Gerede – Minister Funke hat dies soeben auch be-tont –, es gebe keine, aber auch gar keine Alternative, istder Vollzug der Wende von der Marktwirtschaft zur rei-nen Profitwirtschaft.Staatssekretär Dr. Wille antwortete auf unsere Kritikder dramatischen Einkommensentwicklung in derLandwirtschaft mit den Worten, daß in Betrieben, diedurchschnittliche Produktionsbedingungen aufweisenund die ordnungsgemäß geführt werden, die wirtschaft-liche Existenz einer bäuerlichen Familie nachhaltig ge-währleistet ist. Welch Hohn für alle Bäuerinnen undBauern, die um das Überleben kämpfen!Fast eine halbe Milliarde DM soll bei der landwirt-schaftlichen Sozialpolitik eingespart werden. Was hatdas noch mit sozialer Gerechtigkeit zu tun? Das ist mehrals schmerzlich, Herr Minister Funke. Auch die Hoff-nung auf eine Verbesserung dieser Situation durch dieÖkosteuer war eine Fehlanzeige. Ein Familienbetrieb hatzwar die Belastungen aus der Ökosteuer, aber keine Ein-sparungen bei den Lohnnebenkosten.Es ist sicherlich richtig, daß Biomasse, Biogas undnachwachsende Rohstoffe gefördert werden sollten.Dies ist aber erstens ein Tropfen auf den heißenStein und zweitens werden den Landwirten solche För-dergelder über soziale Kürzungen, die Ökosteuer undKürzungen der Gasölverbilligungen wieder abgenom-men.Diese Politik läuft sozialökologischen und regionalenWirtschaftskreisläufen entgegen. Je rücksichtsloser sichdas Großkapital der Konzerne über die Lebensziele dervon ihnen abhängigen Bauern hinwegsetzt, um so größerwird die Verpflichtung des Staates, sich wenigstens alssoziales Regulativ auszuweisen.Die PDS fordert deshalb: Der agrarpolitische Kursder Bundesregierung muß korrigiert werden. Er darfnicht die weiteren Vorhaben bei der Steueränderung, beider Neustrukturierung der landwirtschaftlichen Kran-kenkassen und bei der Umsetzung der Agenda 2000bestimmen. Die Kürzungen im Agrarhaushalt sind zu-rückzunehmen. Wir fordern daher eine Aufstockungbzw. eine Zurückführung auf 11,8 Milliarden DM. Au-ßerdem sind zusätzliche Mittel bereitzustellen, durch die– zusammen mit den Mitteln der EU – in den ländlichenRäumen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Dasmindeste wäre, wieder die Möglichkeit zur Beantragungeiner Produktionsaufgaberente für Landwirte zu schaf-fen.Es ist für die Sozialdemokratie und für die europäi-sche Linke verhängnisvoll, wenn die SPD und Bündnis90/Die Grünen den Versuch fortsetzen, eine nachholen-de Thatcher-Politik zu betreiben, um in die Fußstapfenvon Tony Blair zu treten. Noch ist im Agrarbereich Zeitzur Umkehr. Dazu aber benötigen wir den politischenWillen.Danke schön.
Kersten Naumann
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Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Bernhard Brinkmann, und zwar zu
seiner Jungfernrede. Wir werden also genau zuhören.
Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir, daß ich zunächst eine kurze Vorbe-
merkung mache. Es ist für mich eine besondere Freude,
daß ich heute, wenn auch zu später Stunde, fast gegen
Mitternacht, meine erste Rede hier im neuen Plenarsaal
des Reichstagsgebäudes halten darf; Frau Präsidentin hat
schon darauf hingewiesen.
Sie werden sicher verstehen, daß ich deshalb ein we-
nig aufgeregt bin; aufgeregt bin ich aber auch auf Grund
der Äußerungen zumindest der zwei Vorredner und der
Vorrednerin von Herrn Hollerith, von Herrn Heinrich
und der Kollegin von der PDS. Es ist doch eine festste-
hende Tatsache – das kann man gar nicht oft genug wie-
derholen –: Angesichts der enormen Staatsverschul-
dung und des für jeden sichtbaren Scherbenhaufens, den
die heutige Opposition hinterlassen hat, muß sich die
jetzige Bundesregierung damit befassen, wie der weitere
Gang in die Staatsverschuldung gestoppt werden kann
und wie die Scherben einigermaßen gerecht beseitigt
werden können.
– Herr Kollege, auf diesen Zwischenruf will ich Ihnen
eine deutliche Antwort geben. Aus der Anfangszeit mei-
ner kommunalpolitischen Tätigkeit habe ich noch genau
im Ohr, daß Ihre Parteifreunde Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten vorgeworfen haben, sie könnten nicht
mit Geld umgehen. Was Sie in 16 Jahren gemacht ha-
ben, ist der Beweis dafür, daß Sie mit Geld überhaupt
nicht umgehen können:
Fast jede vierte Steuermark aus dem Bundeshaushalt
wird für Zinsen benötigt. 1,5 Billionen DM an Staats-
schulden ist die Bilanz der Regierungszeit aus
CDU/CSU und F.D.P. Sie sprechen – wie auch im Ver-
lauf der heutigen Debatte – sehr oft diese 30 Milliarden
DM an und lassen dann Zwischenfragen des Staatsse-
kretärs Diller nicht zu. Diese 1,5 Billionen DM Staats-
schulden, Herr Ronsöhr, sind doch nicht die Bilanz aus
einem Jahr Rotgrün, sondern die Bilanz Ihrer Politik aus
16 Jahren.
– Herr Kollege Heinrich, hören Sie aufmerksam zu!
Ich füge hinzu – Sie nehmen für sich in Anspruch,
davon eine ganze Menge zu verstehen –: Jeder Privat-
mann würde bei dieser hohen Schuldenlast gehörige Zu-
kunftsängste haben; jeder Unternehmer würde mit Recht
von seinen Banken zum Konkursrichter geschickt wer-
den. Wir werden das in Ordnung bringen: Das müssen
wir, das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern in
Deutschland und gerade den nachfolgenden Generatio-
nen schuldig.
Herr Bundesminister Funke hat schon darauf hinge-
wiesen: Der Agrarbereich kann davon nicht ausgenom-
men werden. Weil mittlerweile 70 Prozent des Agrar-
haushaltes auf Ausgaben für die Agrarsozialpolitik ent-
fallen, kann auch dieser Bereich nicht vollkommen aus-
gespart bleiben.
Um Sparprogramme haben wir uns nicht gerissen,
und bei den Ausgaben für die Sozialpolitik kürzen wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht gera-
de gern und schon gar nicht leichtfertig, was Sie uns
ständig unterstellen.
Wir werden uns die vorgeschlagenen Maßnahmen noch
einmal genau ansehen und prüfen, ob das eine oder an-
dere noch geändert werden kann, damit sozial gerechte
und für die Betriebe tragbare Lösungen gefunden wer-
den können.
Wir haben in diesen Tagen hierzu ja sehr viele Briefe
bekommen, von Landwirten, von Bauernverbänden und
auch von deren Präsident, Herrn Sonnleitner. Ihnen ist
vielleicht auch bekannt, daß ich aus einem durchaus
landwirtschaftlich strukturierten Wahlkreis komme, daß
ich in Gesprächen mit den beiden Landvolkverbänden
meines Wahlkreises
in dem einen oder anderen Punkt schon durchaus Ver-
ständnis gefunden habe. Es hilft nämlich wenig, wenn
man sich so verhält, wie Sie es tun und wie es Ihre Bau-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Verhandlungsbasisgibt es nicht, sondern wir bestehen darauf, daß es imAgrarhaushalt keine Kürzungen gibt.
Daher nehmen wir diese Briefe und die Ergebnisseaus den geführten Gesprächen auch sehr ernst und wer-den uns mit den aufgezeigten Argumenten sehr intensivbeschäftigen.
Auffallend daran aber ist, daß die Notwendigkeit zumSparen offenbar nicht bezweifelt wird, aber doch, bitteschön, nur bei den anderen, nicht bei den Landwirten.So geht das beim besten Willen nicht.
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4810 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Vorschläge, wie etwas besser ausgestaltet werdenkann, welche Alternativen es gibt, kommen leider auchnicht von der heutigen Opposition.
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU undF.D.P., tragen die volle Verantwortung für die desolateHaushaltssituation, die wir vorgefunden haben.
Überall höre ich von Diskussionen und sogar Be-schlüssen über die Fusion von Sozialversicherungsträ-gern. Von der Kürzung der Bundesmittel für die Unfall-versicherung in diesem Jahr, für die man uns signalisierthatte, daß Beitragserhöhungen zunächst nicht erforder-lich werden, ist offenbar ein geradezu heilsamer Druckausgegangen.
Die Diskussion um die Struktur der landwirtschaftlichenSozialversicherung ist nun nicht neu. Die Kolleginnenund Kollegen, die etwas länger diesem Hause angehö-ren, können mir das sicherlich bestätigen. Das Gutachtendes Bundesrechnungshofes und die darin aufgezeigtenMißstände beziehen sich auf eine Zeitspanne, für dieSie, meine Damen und Herren von der Opposition, diealleinige Verantwortung tragen.
Wir müssen vielmehr das Ziel neu und wie folgt defi-nieren: Die soziale Sicherung der in der LandwirtschaftBeschäftigten ist so auszugestalten, daß innerhalb desSektors im Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppenund beim Verhältnis von aktiven Landwirten zu Rent-nern ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Beiträgenund Leistungen besteht.
Der Bund entzieht sich nicht seiner Verantwortung.Weiterhin wird er zur agrarsozialen Sicherung in erheb-lichem Umfang beitragen und dafür auch erheblicheMittel des Agrarhaushaltes aufwenden.Ich gestehe gerne ein, daß wir uns über die Ausge-staltung im einzelnen noch unterhalten müssen, daß wirim Rahmen der weiteren Haushaltsplanberatungendurchaus redlich diskutieren und weiter beraten werden.Hierzu laden wir alle ein, die bereit sind, konstruktiveVorschläge zu unterbreiten, damit das eine oder anderenoch verändert werden kann, allerdings unter der großenÜberschrift: Das Einsparvolumen darf dabei nicht inFrage gestellt werden.Vielen Dank.
Danke schön,
Herr Kollege. Ich möchte Ihnen, wie wir das so halten,
zu dieser ersten Rede gratulieren.
Ich darf vorsichtig anmerken, daß auch bei einer er-
sten Rede fünf Minuten nur fünf Minuten sind.
Das Wort hat jetzt Herr Abg. Schindler.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Heute ist für mich eigentlich
ein sehr schöner Tag, nicht wegen des Themas, aber ich
habe mir vor zehn Jahren beim Beginn der Weinlese und
der Herbstarbeiten nicht vorstellen können, daß ich ein-
mal im Reichstag reden werde. Ich habe mir aber auch
nicht vorgestellt, daß wir im Jahre 1999 über einen
Haushaltsansatz für das Jahr 2000 reden, bei dem Sie,
Herr Minister Funke, auf zwei Zwischenfragen einge-
hen, aber nicht die notwendigen Begründungen zu dem
Vorschlag Ihres Hauses anführen. Ich konstatiere aber:
Respekt, das war heute keine Karnevalsrede, wie Sie sie
schon gehalten haben. Man hatte manchmal den Ein-
druck, die Agrarpolitik wird im Parlament bewußt lä-
cherlich gemacht. Das ist heute nicht passiert.
Um so trauriger ist der Ansatz, der uns heute vorge-
legt wird, und dies unter dem Eindruck – den ich den
ganzen Tag über gewonnen habe –, daß 1,5 Billionen
DM Schulden 1,5 Billionen Mark Schulden zuviel sind.
– Das ist so richtig. Herrn Brinkmann sehe ich das noch
nach, aber Ihnen, Herr Schmidt, und Ihnen, Herr Diller,
nicht. Sie sind schon lange genug im Parlament.
1990 fand die deutsche Einheit statt. Diese haben wir
gemeistert. Es war besser und billiger, die Zukunft unse-
res Volkes zu finanzieren, als militärisch aufzurüsten.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Ich bin stolz auf die
Schulden in Höhe von 1,1 Billionen DM, die durch die
deutsche Einheit entstanden sind.
Ich bin stolz auf diese Schulden – ich sage das noch
einmal – und auf das, was wir in diesen zehn Jahren ge-
leistet haben. 16 Jahre Kohl-Regierung hört sich an wie
ein Trauerchor, es waren aber mit die schönsten und be-
sten Jahre dieser Bundesrepublik Deutschland.
Herr KollegeSchindler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-gen Diller?Bernhard Brinkmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4811
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Er wurde so oft
abgewiesen, und ich mag ihn persönlich gut leiten. Bitte
schön.
Herr Kollege Schindler, zu Ihrer
Information, damit Sie die Zahlen richtig im Kopf ha-
ben, möchte ich Ihnen folgendes sagen.
Möchten Sie bitte endlich zur Kenntnis nehmen, daß
sich in der ersten Hälfte der Amtszeit von Kanzler Kohl
zwischen 1982 und 1990 die Schulden, die die Re-
gierung Kohl übernehmen mußte, für die der Bund gera-
dezustehen hatte, verdoppelt haben? Diese verdoppel-
ten Schulden haben Sie seit der deutschen Einheit
noch einmal verdoppelt. Sie können nicht 1,1 Billionen
DM von 1,5 Billionen DM der deutschen Einheit an-
lasten. Das ist eine Mär. Nehmen Sie das bitte zur
Kenntnis.
Ich nehme das gern
zur Kenntnis, Herr Kollege Diller, und mache Ihnen die
Rechnung auf: Der Saldo von Staatskosten und Steuer-
erträgen in den jungen Bundesländern betrug 600 bis
700 Milliarden DM. Dazu kommen die geerbten Alt-
schulden der DDR. Dann komme ich auf 1,1 Billionen
DM. Ich glaube, auch ich habe die vier Rechenarten ge-
lernt.
Zu den Altschulden der Regierung Schmidt habe ich
keine Aufrechnung gemacht. Sie bewegen sich um
400 Milliarden DM. Wenn Sie von Altlasten reden,
müssen Sie alles aufzählen.
Gerade die Infrastruktur in den jungen Bundesländern
hat sich vorbildlich entwickelt. Ich war vor acht Tagen
in Polen. Was schauen die Menschen dort mit Begierde
nach Westen. Mit Blick auf das, was gemeinsam vom
deutschen Volk in den neuen Bundesländern geleistet
wurde, sage ich noch einmal: Ich bin stolz auf diese
Schulden.
Es wird vom Sparpaket geredet. Ich will das nicht
wiederholen. Tatsächlich werden zwischen 5 und 8 Mil-
liarden DM gespart. Das hat Minister Waigel alle Jahre
mit viel Streit und auch Vorführen der Opposition auf
den Weg gebracht. Wenn man die Modernisierung der
Rheinbrücke in Worms auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
verschiebt oder wenn man Verlagerungen in die Länder
vornimmt und dies bei Herrn Müntefering als Sparmaß-
nahmen abbucht, dann ist das unredlich. Ich habe mir
angesehen, was wo gespart wird und was uns Bauern
mit 1,7 Milliarden DM in der Gesamtsumme der mittel-
fristigen Finanzplanung bis zum Jahr 2002 genommen
wird. Der Entwurf betrifft heute 850 Millionen DM, und
dies unter dem Eindruck der Agenda-Beschlüsse vom
23. März 1999 in Berlin. Dazu verkünden Sie, Herr
Funke, was wir Deutsche alles geleistet haben. Ich er-
kenne schon an, daß die Vorschläge Fischlers an-
dere waren. Es muß aber auch deutlich gesagt werden:
Der beste Anwalt war hier der französische Staatsprä-
sident.
Das können Sie gern in den Protokollen über die
deutsch-französischen Konsultationsgespräche nachle-
sen.
Mit der Agenda 2000 wurde, Herr Funke, eine Bela-
stung beschlossen, ohne den Milchpreisrückgang von
1,6 Prozent zu berücksichtigen.
Herr Minister,
zum zweitenmal schaue ich in Ihre Richtung.
Herr Minister, ichhabe Sie auch nicht unterbrochen. Wir können nachhernoch ein Bier trinken und dies vertiefen. Dagegen habeich nichts. Dann reden wir über Eiswein und Eisbein –weil Sie solche Redewendungen so mögen – und könnendabei die Materie vertiefen.Die Agenda wird uns mittelfristig – ohne den ge-fürchteten Rückgang des Milchpreises zu berücksichti-gen – mit, vorsichtig geschätzt, zirka 1,7 Milliarden DMbelasten.Herr Kollege Weisheit, es wurde auch eine Steuerbe-lastung für die deutschen Bauern beschlossen. Sie wis-sen selbst, welchen Einfluß Sie bei diesen Themen in Ih-rer Fraktion haben: null Komma null. Das ist ein beina-he so schlechtes Prozentergebnis wie das, das Sie derzeitbei den Wahlen einstreichen. Sie klagen an, die Berufs-verbände und Agrarpolitiker seien nicht mehr ge-sprächsbereit und es gebe keinen Spielraum mehr, umdie Interessenlage des ländlichen Raumes zu berück-sichtigen. Aber was sollen wir vor dem Hintergrund die-ses Haushaltes denn noch machen? Ein leerer Sack kannkeine Geldbörse mehr beinhalten. Wie sollen wir denndem eigenen Klientel, den Landwirten, draußen noch er-klären, wo ein konstruktiver Vorschlag möglich ist?Dann kommen Sie und zitieren die Berufsgenossen-schaft.Jetzt hat man 55 oder 65 Millionen DM in diesemJahr einfach über Nacht beschlossen. Im nächsten Jahrsind es 115 Millionen DM. Das bedeutet für unsin Rheinland-Pfalz eine Beitragserhöhung um 20 bis25 Prozent. Hier findet ein Abstrafen des strukturschwa-chen Südens unserer Republik statt. Der Norden kommtetwas besser dabei weg. Das sage ich nicht zynisch, aberes ist Realität.Dann wird der Bundesrechnungshof geholt. Aber wasbesagt dessen Gutachten in der Konsequenz? Ich lassemich so nicht vorführen. Dafür bin ich zu lange dabei.Ich habe schon Fusionen mitgemacht. Es besagt: Wennes bundeseinheitlich wäre, wäre es möglich, 0,6 Prozent
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des Gesamtvolumens des Haushaltes in den nächstenJahren zu sparen. – Was eine Fusion kosten kann, habeich selbst erlebt. Für die Konzentration, dafür, die Ver-bände bundeseinheitlich zusammenzuführen, die Ver-bände mit Sonderstrukturen und die mit gesundenStrukturen wie zum Beispiel in Westfalen-Lippe oderBraunschweig, wünsche ich viel Glück. Es gibt Vor-schläge dazu. Es ist nicht so, daß sich der Berufsstanddem verweigert. Über fünf oder sechs Mittelzentrenkann man vernünftigerweise reden. Dafür sind wir auchoffen.Zu den Einsparungen, die man vornimmt, um die al-ten Lasten wegzubekommen, muß ich nach dem, wasich dazu gehört habe, Beispiele wie aus der Bibel brin-gen: Von 20 Bauernkindern geht nur eines in den Berufder Eltern. Von diesen 20 Bauernkindern haben zwölfoder zehn Elternteile. Wer übernimmt bei einem Unfalldiese alte Last, wenn dann nur noch eines von 20 Kin-dern übrigbleibt?Wir geben aus dem Bauernstand – ich bin selbstpraktizierender Landwirt – unser bestes, ausgebildetesMenschenmaterial in die andere Arbeitswelt ab. DieseMenschen steigen dort neu und jung als Beitragszahlerein. Uns fehlen sie dann im Generationenvertrag. Dasmuß man doch einsehen. Deswegen liegt die alte Lastnicht bei 615 Millionen DM – das haben wir auch beider alten Regierung immer wieder kritisiert, haben unsaber nicht so durchgesetzt, wie es notwendig gewesenwäre –, sondern bei 720 bis 730 Millionen DM. DiesenBetrag kürzt man einfach auf 500 Millionen DM. Siewären noch weiter gegangen, wäre nicht der großeDruck auch aus der Vergangenheit gekommen.Nun zur Gasölbeihilfe: Diese wird auf Null gefahren,obwohl die Kosten für einen Liter Treibstoff in Holland,in Frankreich und in England bei nur 27 Pfennig liegen.Dies sage ich zur Information. Wie erkläre ich es mei-nen Südpfälzer Bauern oder den Badensern, die über denRhein schauen, warum diese Wettbewerbsverzerrungund diese Preise in Frankreich weiterhin möglich sind,man uns Deutschen aber mit der zweiten Stufe der Öko-reform einen Preis von 1,70 DM oder 1,80 DM pro LiterTreibstoff zumutet? Das bedeutet unter dem Strich eineWettbewerbsverzerrung in der Größenordnung von 160bis 170 DM pro Hektar. Trotzdem reden wir von Wett-bewerbsgleichheit und von der Globalisierung derMärkte.
Herr Funke, das ist der verkehrte Ansatz; das wissenSie genauso gut wie ich. Angesichts der Tatsache, wasbei den Verhandlungen zur Agenda gelaufen ist, hätteich an Ihrer Stelle wirklich einmal auf den Tisch gehau-en, so daß – um es auf Pfälzisch auszudrücken – dieAschenbecher vom Tisch gefallen wären. Wo war IhrEinsatz im Kabinett? Nach acht Monaten Regierungszeitweist Ihre Bilanz Verluste für die Landwirte auf, die Jo-chen Borchert und Kiechle in neun Jahren nicht zu ver-antworten hatten. Wenn ich die EU-Mittel herausrechne,dann stelle ich fest, daß Ihre Kürzungen im Bundes-haushalt in acht Monaten das Niveau der Kürzungen seitdem Jahr 1991 erreichen. Deswegen kann man Sie beimbesten Willen nicht loben.
– Da wäre es vielleicht einmal gut, dem LandsmannRonsöhr zuzuhören, der gute Vorschläge macht und guteIdeen hat.
Man geht an die Gemeinschaftsaufgabe zu lockerheran. Das ist aber das einzige Instrument, mit dem dieLänderagrarminister die Möglichkeit haben, mit Kom-pensationsmitteln vor Ort etwas zu gestalten. Daß wir indiesem Zusammenhang einen Konflikt zwischen Nordund Süd haben, verpflichtet Sie eigentlich bei dem an-stehenden Strukturwandel und bei den preislichen Vor-gaben, diese Mittel genauso aufzustocken wie die Mittelder Berufsgenossenschaft. Aber es wird der andere Weggegangen.Herr Minister, es wurden in acht Monaten Belastun-gen für die deutsche Landwirtschaft in der Größenord-nung von 5 Milliarden DM pro Jahr beschlossen. Dassind 12 Prozent der landwirtschaftlichen Wertschöp-fung. Das heißt in der Konsequenz: Ein Berufsstandwird sich, gemessen an der Zahl seiner Mitglieder, hal-bieren. Dies wird nicht in 10 oder 20 Jahren passieren,sondern in den nächsten zwei bis drei Jahren. Wenn diesdie Agrarstrukturpolitik der Zukunft ist, dann kann ichnur sagen: Gute Nacht!Diese Politik setzt die falschen Zeichen bei der jun-gen Generation. Wer sind denn die billigsten Land-schaftspfleger überhaupt? Das sind nicht die Um-weltapostel in den Kreisverwaltungen, sondern das sinddie Bauern. Erklären Sie einmal einem Landwirt die Re-gelung mit dem Gasöl. Manager und Urlauber fahrenmit steuerfreiem Flugbenzin zu ihren Terminen. DieBauern sollen aber in der Kälte und in der Hitze dieErnte einbringen, wobei der Steueranteil des Gasöls beiüber 1 DM liegt. Das ist den Landwirten nicht zu erklä-ren.
Diese Punkte passen nicht ins Gesamtkonzept. Ichhabe den Eindruck, daß die Bauern in Sippenhaft ge-nommen werden, weil sie nicht so gewählt haben, wiesich das mancher von Ihnen vorgestellt hat.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Matthias Weisheit.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Es ist bemerkenswert, wie in derNorbert Schindler
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Opposition eine Verdrängung dessen stattfindet, waswar. Die 1,5 Billionen DM Schulden – diesen Punktmuß man wiederholen – sind Ihre Erblast.
Die Darstellungen über die Wahlgeschenke und dieAufblähung um 30 Milliarden DM treffen auch nicht zu.Das hat der Herr Staatssekretär heute schon zweimaldargestellt. Sie wollen diese Tatsache nicht zur Kenntnisnehmen.
Sie verdrängen die Geschichte.
– Nur Sie sind nicht schuld.Norbert Schindler hat mich gerade fast zu Tränen ge-rührt, als er gesagt hat, er sei stolz auf die Schulden, dieauf Grund der Einheit entstanden sind.
Der Urfehler Ihrer Politik war doch, zu behaupten, diedeutsche Einheit ließe sich aus der Portokasse bezahlen.Dabei hat doch jeder gewußt, daß sie eine Menge Geldkostet.
Damals hätte man eine Steuererhöhung oder eine Abga-be „Deutsche Einheit“ einführen können, die jeder ak-zeptiert hätte. Wir stünden heute nicht vor der Auf-gabe, einen Haushalt konsolidieren zu müssen, den Siean die Wand gefahren haben, inklusive des Verscher-belns des Tafelsilbers und all dem, was dazugehört. Siesind ja froh, daß Sie heute in der Opposition sind undsagen können: Wir brauchen doch gar nicht zu sparen.Wir sind stolz auf die Schulden. Wir können – das habeich heute gehört – in jedem Haushalt mehr ausgeben. –Das gilt natürlich vor allem für den Landwirtschafts-haushalt.Auch das gehört zur Redlichkeit: In den letzten Jah-ren haben Sie den Landwirtschaftshaushalt um 17 Pro-zent zurückgefahren, während der Gesamthaushalt desBundes um 18 Prozent gestiegen ist. Sie haben ihn inallen wichtigen Positionen zurückgefahren.
– Natürlich! – Doch nicht wir, sondern Sie haben dieGemeinschaftsaufgabe um 300 Millionen DM gekürzt.Richtig ist: Der soziokulturelle Einkommensausgleichdurfte nicht mehr ausgezahlt werden. Aber auch das da-durch eingesparte Geld hätte man sinnvoller nutzenkönnen, zum Beispiel um Strukturen zu verändern – dieNachteile in Süddeutschland, die zweifellos vorhandensind, auszugleichen – und die Vermarktung zu verbes-sern.
– Ach, schwätz doch nicht. – Der Ausgleich durfte nichtmehr ausgezahlt werden. Er ist aus dem Agrarhaushaltgestrichen worden.Überall dort, wo man vernünftige, zukunftsträch-tige Strukturen hätte entwickeln können, haben Sie ge-strichen. Nur dort, wo es um Einkommensbeihilfenging, haben Sie nicht gestrichen. Insofern sind Sie ineiner feinen Lage. Aber uns, die wir den Haushalt kon-solidieren müssen, bleibt gar nichts anderes übrig, alsan die einkommenswirksamen Ausgaben heranzuge-hen.
– So ein Unfug. Es gibt nichts Dümmeres als das Gerede– wahrscheinlich von Ihnen oder vom Deutschen Bau-ernverband erfunden –, wir wollten die armen Bauernabstrafen, weil sie uns nicht wählen.
Zurück zu dem, was notwendig ist. Ich sage nocheinmal in aller Deutlichkeit und Klarheit: Es geht nichtnach dem Motto „Wir müssen sparen, aber bitte nichtbei mir“, auch wenn ich das heute schon den ganzen Tagvon der Opposition höre. Es geht nur, wenn tatsächlichjedes Ressorts die Vorgabe – Einsparungen von 7,84Prozent – erfüllt.Ich danke Karl-Heinz Funke ganz ausdrücklich dafür,daß er sich solidarisch mit seinen Kollegen verhält undEinsparungen in Höhe von 7,48 Prozent vorgeschlagenhat. Er kann sich darauf verlassen, daß die Koalitions-fraktionen seinen Haushalt innerhalb dieser Leitplankenverabschieden wird.
Jetzt warte ich die ganze Zeit schon auf Vorschlägevon Ihnen, woher wir das Geld nehmen sollen.
– Dieses Motto funktioniert nicht.
Liebe Kol-leginnen und Kollegen, Herr Schindler, einen Mo-ment.Matthias Weisheit
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4814 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999
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Es gibt keine Strafaktion.
Jeder Haushalt hat den gleichen Anteil zu erbringen.
Wenn Sie den Agrarhaushalt nicht in den letzten bis zum
Gehtnichtmehr ausgemolken hätten, würden auch nicht
bei den einkommenswirksamen Leistungen eingespart
werden müssen.
– Das kann doch überhaupt nicht sein, Siegfried.
– Nein, das kann nicht sein, weil ihr ihn schon so runter-
gefahren habt, daß wir jetzt, wenn wir die Einsparungen
erbringen müssen, an die Dinge heranmüssen.
Wenn ich das Geweine über die Änderungen bei der
Gasölbeihilfe höre, dann fühle ich mich an frühere
Haushaltsberatungen erinnert. Die Gasölbeihilfe war
nicht nur bei uns im Gespräch.
Sie war auch bei Ihnen immer im Gespräch, aber wurde
lieber zu einer Gemeinschaftsaufgabe gemacht. Damit
wurde verhindert, daß das, was notwendig ist, nämlich
Strukturwandel zu begleiten, den ökologischen Landbau
zu fördern und die regionale Vermarktung zu fördern,
gemacht wird.
– Ach, das ist doch gar nicht wahr.
– Das ist doch gar nicht wahr, lieber Siegfried.
– Nein, ihr habt in diesem einzigen Strukturmaßnah-
menbereich gekürzt und konntet dann die Gasölbeihilfe
retten. Das geht jetzt nicht mehr.
Wir wollen die Gemeinschaftsaufgabe in der Höhe
erhalten, wie sie im letzten Haushalt war.
– Ach, rede doch keinen Schmarren! –
Wir müssen doch auch die Mittel aus Brüssel abrufen
können. Dann kann man sich ausrechnen, wo es noch
Möglichkeiten gibt, die Millionen an Einsparungen zu
erbringen, die wir erbringen müssen, um das Einsparziel
zu erreichen.
Bei allem Verständnis dafür, daß man als Abgeordne-
ter, der gleichzeitig Bauernverbandsfunktionär ist, Spra-
che und Gestus und all das übernimmt, was im Moment
vom Bauernverband kommt, glaube ich doch, daß das
unangemessen ist. Das wäre nämlich genauso – –
– Ich laß das. Es ist wirklich unredlich, was ihr da treibt.
– Was?
– Ich wüßte nicht – –
– Es ist wunderbar!
Lassen Sie mich noch einmal auf das Thema zurück-
kommen. Der Konsolidierungsbeitrag wird von uns er-
bracht. Ich warte darauf, daß wir im Ausschuß klären,
daß wir innerhalb der Leitlinien, die Gemeinschaftsauf-
gabe nach Möglichkeit nicht antasten, daß aber Beiträge
kommen, wo wir rangehen können. Daran führt kein
Weg vorbei. Das ist kein Sonderopfer für die Landwirt-
schaft, sondern genau dasselbe – –
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schind-
ler?
Ganz bestimmt nichtmehr. Ich möchte jetzt zum Schluß kommen.Es wird der notwendige Beitrag der Landwirtschaft
– wie in jedem anderen Bereich auch – zum Sparhaus-halt geleistet. Eigentlich müßten Landwirte dafür Ver-ständnis haben. Denn wir betreiben damit eine nachhal-tige Politik: Wir bauen Schulden, die nicht von uns zuverantworten sind, ab, bauen die Nettokreditaufnahmeab und bauen die Zinsleistungen ab, damit wir für unsund für die nächste Generation wieder Handlungsoptio-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 54. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. September 1999 4815
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nen eröffnen. Das ist nachhaltige Politik. eigentlichmüßte in der Landwirtschaft genau dafür großes Ver-ständnis bestehen.Danke schön.
Weitere
Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf heute, Donnerstag, den 16. September
1999, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.