Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung um weitere Zusatzpunkte er-
weitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegen-
den Zusatzpunktliste aufgeführt:
5. Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Wolfgang
Schäuble und der Fraktion der CDU/CSU: Für ein glaubwür-
diges Angebot der EU an die Türkei
– Drucksache 15/126 –
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Angela Merkel,
Michael Glos, Volker Kauder, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU: Einsetzung eines Untersuchungs-
ausschusses
– Drucksache 15/125 –
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist es so beschlossen.
Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesordnungs-
punkt 1 – fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest-
stellung des Bundeshaushaltsplans für das Haus-
haltsjahr 2003
– Drucksache 15/150 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaus-
haltsplan für das Haushaltsjahr 2002
– Drucksache 15/149 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht über den Stand und die voraussichtliche
Entwicklung der Finanzwirtschaft des Bundes
– Drucksache 15/151 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige
Aussprache insgesamt 10,5 Stunden und für die Ausspra-
che morgen 5,5 Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanz-
leramtes.
Außerdem rufe ich den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten
Dr. Wolfgang Schäuble und der Fraktion der
CDU/CSU
Für ein glaubwürdiges Angebot der EU an die
Türkei
– Drucksache 15/126 –
Das Wort erteile ich dem Kollegen Michael Glos,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Zunächst herzlichen Dank dafür, Herr Bundeskanz-
ler, dass Sie unseren österreichischen Freunden so gehol-
fen haben.
Durch Ihren Einsatz – das war ein beispielloses Mobbing
eines kleines Landes –
und durch die Tatsache, dass Ihre Politik so abschreckend
gewesen ist, ist dieses Wahlergebnis in Österreich zu-
stande gekommen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Michael Glos
– Bevor Sie von der linken Seite her schon in aller Früh
so laut rufen, sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass es
Ihre Genossen in Österreich waren, die die Abschluss-
kundgebung mit Bundeskanzler Schröder aus Deutsch-
land abgesagt haben.
Aber es war zu spät. Es hat nichts mehr geholfen.
Das zeigt wieder, dass das alte Sprichwort noch gültig ist,
das da heißt: Niemand ist unnütz; er kann immer noch als
abschreckendes Beispiel dienen.
Wir wissen, dass Sie bei uns in Deutschland die Wahl
durch einen Parforceritt, der längerfristig zum Schaden
unseres Landes sein wird, knapp gewonnen haben. Wir
müssen das akzeptieren und wir werden das akzeptieren.
– Wenn Sie es nicht akzeptieren, dann lässt es sich auch
durch Lautstärke nicht heilen. – Ich fordere Sie und Ihre
Freundinnen und Freunde, wie es heißt, auf, endlich zu re-
gieren und endlich von Ihrem Mandat Gebrauch zu ma-
chen, statt ständig neue Kommissionen einzusetzen.
Herr Stiegler von der SPD ist ja zu Zeiten des Wahl-
kampfs Fraktionsvorsitzender gewesen. Sie müssen nun in
seine großen Schuhe hineinwachsen, Herr Müntefering.
Wo der Herr Stiegler Recht hat, hat er Recht.
Daran sieht man auch, welche Halbwertszeit vor allem
Ihre Machtworte haben. Sie haben am Montag im SPD-
Präsidium ein so genanntes Machtwort gesprochen. He-
rausgekommen sind wieder nur Kakophonie und über-
flüssige Debatten. Das hat unser Land und das haben die
Bürgerinnen und Bürger satt. Sie haben das nicht verdient.
Die „Süddeutsche Zeitung“, die Ihnen sonst sehr ge-
wogen ist, hat Recht, wenn sie ausgerechnet am 11. No-
vember Herrn Kister schreiben lässt – ich zitiere –:
Dies ist eine Regierung der Enttäuschung.
Zu ergänzen ist: Dies ist nicht nur eine Regierung der Ent-
täuschung, sondern auch eine Regierung der Täuschung
und der Irreführung, eine Regierung des Wahlbetrugs und
der Bilanzfälschung, eine Regierung der Faktenver-
schleierung und der Wirklichkeitsverweigerung. Das sind
die Tatsachen.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Herr Hartz, der langsam
die Rolle von Herrn Stollmann übernimmt – auch er war ein
Herzeigewirtschaftler, ausschließlich hervorgeholt, um die
letzte Wahl zu gewinnen – und in dessen Fußstapfen tritt,
hat mit der so genannten Ich-AG eine Legalisierung der
Schwarzarbeit vorgeschlagen. Nach der Ich-AG müsste
richtigerweise die Du-AG folgen. Die Du-AG müsste
Murksarbeit legalisieren; denn das, was Sie von Rot-Grün
bisher abgeliefert haben, war Murksarbeit.
Herr Bundeskanzler, Sie haben das in einem Interview
mit einer großen Hamburger Wochenzeitung als hand-
werkliche Fehler bezeichnet. Ich finde, man sollte das
deutsche Handwerk nicht beleidigen, indem man einen
solchen Murks mit handwerklichen Fehlern entschuldigt.
Wir haben es nicht nur in der Haushalts-, Steuer- und
Sozialpolitik, sondern auch – und das kann langfristig
noch schlimmer sein – in der Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik mit dilettantischem Verhalten zu tun.
Die Position der Bundesregierung in der Irak-Frage ist
ebenfalls von Irreführung und Verschleierung geprägt.
Die Wahrheit wird nur scheibchenweise preisgegeben.
Die Informationspolitik der Öffentlichkeit und dem Par-
lament gegenüber spottet jeder Beschreibung. Das Wort
„Volksverdummung“ ist nur ein milder Ausdruck dafür.
Im Inland werden aus wahltaktischen Gründen Pazifis-
mus, deutsche Sonderwege und Äquistanz – –
– Ich meinte natürlich: Äquidistanz. Herr Bundesminister
des Äußeren, Sie wollen – das ist Ihr Komplex – immer
wieder zeigen, dass Sie von einem Steinewerfer, von ei-
nem Bücherbesorger – ich drücke es vorsichtig aus; man-
che haben Sie „Bücherdieb“ genannt – endlich zu einem
Mann im Nadelstreifen geworden sind. Sie kennen sogar
Fremdworte. Sie versprechen sich nie. Sie sind eine groß-
artige Figur.
Aber machen Sie Ihre Großartigkeit endlich in der Politik
und im Verhältnis zu unseren amerikanischen Freunden
geltend!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, deutsche
Sonderwege sind falsch. Man ist jetzt bestrebt, in den
USAweiteren Flurschaden zu vermeiden. Das hat Struck
unlängst bei Rumsfeld versucht. Ich halte das für nötig
und für sinnvoll. Herr Bundeskanzler, Sie wissen, dass
sich in dieser Frage das Koordinatensystem geändert hat.
Der UN-Sicherheitsrat hat die Irak-Resolution einstim-
mig gebilligt und beschlossen. In Prag wurde die ein-
mütige Haltung der NATO bekräftigt.
Doch wenn es konkret wird, weichen Sie aus: Eine pas-
sive Beteiligung an einer möglichen militärischen Inter-
vention – so haben Sie das unlängst genannt – stellen Sie in
Aussicht, eine aktive Beteiligung lehnen Sie allerdings ab.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 873
Ich kann Ihnen nur empfehlen – Sie rufen: „Richtig!“ –:
Schaffen Sie Klarheit!
Machen Sie klar, wo eigentlich die Grenzen sind. Außer
Ihnen weiß das offensichtlich niemand. Den USA stellen
Sie logistische Unterstützung, IsraelAbwehrraketen und
möglicherweise Panzer in Aussicht. Im Wahlkampf haben
Sie noch jegliche Beteiligung kategorisch ausgeschlossen
und abgelehnt. Damit haben Sie Vorbehalte bei unseren
wichtigsten Verbündeten geschürt.
Das Verwirrspiel um die Fuchs-Panzer für Israel ist der
Gipfel von Dilettantismus. Auch Herr Struck hat sich in
dieser Frage nicht als schlauer Fuchs erwiesen. Man ge-
winnt den Eindruck, die zuständigen Herren sind den An-
forderungen nicht gewachsen.
Was besonders schlimm ist: Erstmals in der Geschichte
unseres Landes hat sich Deutschland bei einer existen-
ziellen Frage aus der westlichen Wertegemeinschaft
ausgeklinkt. Deutschlands Ansehen in der Welt wurde
massiv beschädigt. Unglaubwürdig, unberechenbar und
unzuverlässig – so wird Rot-Grün von unseren Freunden
zu Recht gesehen. Das ist schlimm für unser Land.
Unter Helmut Kohl war Deutschland ein verlässlicher
Partner der westlichen Gemeinschaft.
Unter Gerhard Schröder – Herr Bundeskanzler, diesen
Vorwurf muss ich Ihnen machen – herrschen Misstrauen
und Verunsicherung. Das Gerede von den deutschen
Sonderwegen hallt immer noch nach. Unsere Partner ha-
ben nicht vergessen, wohin deutsche Sonderwege in der
Geschichte des letzten Jahrhunderts und vorher geführt
haben.
Deswegen sollten Sie mit dem Wort von den deutschen
Sonderwegen vorsichtig sein. Wir wollen einen gemein-
samen europäischen Weg gehen, der die Erfahrungen un-
serer Geschichte mit beherzigt.
Was ganz besonders schlimm war: Nicht einmal die
Staatsräson, die eigentlich einen Bundeskanzler binden
sollte, hat Sie während des Wahlkampfes davon abgehal-
ten, mit billigem Antiamerikanismus auf Stimmenfang
zu gehen. Dafür bringe ich auch gerne Beweise. Es war
schlimm, eine Bundesministerin bis nach der Wahl im
Amt zu belassen, die es immerhin fertig gebracht hat, den
amerikanischen Präsidenten mit Hitler zu vergleichen und
ihn ins Zuchthaus zu wünschen.
Das ist die Tatsache. Sie haben sie im Amt belassen und
nicht weggeschickt.
Von Meinungsverschiedenheiten unter Freunden war
dann nur die Rede. Das ist sehr verharmlosend für das,
was sich angebahnt hat. Ich nenne beispielhaft die Ge-
spräche von Struck, über die er Sie sicherlich unterrichtet
hat. Diese Gespräche werden übrigens in den Vereinigten
Staaten anders gesehen als in Deutschland. Offensicht-
lich ist in Hintergrundgesprächen amerikanischen Journa-
listen etwas anderes gesagt worden, als deutschen Jour-
nalisten zur Veröffentlichung freigegeben wurde.
Herr Struck, Sie waren gleichsam eine Art Spürpanzer des
Bundeskanzlers in den USA.
Hinterher hieß es dann, das Eis sei jetzt gebrochen.
Aber ich stelle fest: Auf gebrochenem Eis kann man keine
Eistänze mehr aufführen und keine Pirouetten drehen. Vor
allen Dingen geht es darum: Wenn man schon auf dem Eis
tanzt, hat die Kür in diesen schwierigen Zeiten keinen
Sinn. Tun Sie endlich Ihre Pflicht!
George Bush senior hat gegenüber Helmut Kohl die
deutsch-amerikanischen Beziehungen seinerzeit unter das
Motto „Partners in Leadership“ oder „Partnership in
Leadership“ gestellt. Sie, Herr Bundeskanzler Schröder,
mussten sich bei Ihren Begegnungen mit Bush junior in
Prag – auf diese Begegnung haben Sie lauern müssen –
mit einem knappen Händedruck begnügen. Der NATO-
Gipfel in Pragwird als der Gipfel des erschlichenen Hän-
dedrucks in die Geschichte der deutsch-amerikanischen
Beziehungen eingehen.
Noch nie zuvor hat ein solches Treffen ohne Begegnung
zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem ameri-
kanischen Präsidenten stattgefunden.
Wir unterstützen die Außenpolitik, wenn sie die Ver-
antwortung unseres Landes in einer globalen Welt in den
Vordergrund stellt. Wir haben Ihnen Zustimmung in
schwierigen Zeiten gewährt, als Ihnen die eigenen
Freundinnen und Freunde die Gefolgschaft verweigert
haben. Auch wissen wir noch, dass Sie selbstverständ-
liche Bündnispflichten nur mit einem Misstrauensvotum
durchsetzen konnten. Deswegen bekennen wir uns aus-
drücklich zur Verantwortung Deutschlands in der Welt.
Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie diese Verantwortung
endlich wahr und nehmen Sie sie ernst!
Die UN-Resolution einschließlich der Androhung mi-
litärischer Gewalt gegen den Irak wurde im Sicherheitsrat
immerhin einstimmig angenommen. Deswegen ist es an
der Zeit, dass Sie die wahltaktisch begründete Eiszeit mit
unseren Freunden in den Vereinigten Staaten wieder be-
enden. Sie ist zum Schaden unseres Landes und der freien
Welt.
Ich meine, wir brauchen endlich wieder einen Schul-
terschluss mit all unseren NATO-Verbündeten, insbeson-
dere mit den wichtigsten. Deswegen hat es keinen Sinn, in
Deutschland auf antiamerikanische Stimmung zu setzen.
Michael Glos
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Michael Glos
Man kann zwar offensichtlich während des Wahlkampfs
in bestimmten Teilen unseres Landes kurzfristig damit
Punkte machen, aber wie Sie den jüngsten Umfragen ent-
nehmen können, ist auch dort die Stimmung mächtig ab-
gestürzt.
Zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung kann Deutsch-
land bei der Bewältigung weltweiter Krisen nicht die
Rolle des unbeteiligten Fernsehzuschauers übernehmen.
Herr Bundeskanzler, Ihr Canossa liegt nicht am Tiber,
sondern Ihr Canossa liegt am Potomac. Je eher Sie sich zu
Ihrem Canossagang nach Washington aufmachen, desto
günstiger wird es für unser Land. Jeder Tag, den Sie län-
ger warten, macht das Ganze teurer.
Wir diskutieren heute auch über einen Antrag, den die
CDU/CSU-Fraktion vorgelegt hat und in dem wir be-
schreiben, wie wir uns das Verhältnis zur Türkei künftig
vorstellen. Wir sind der Meinung – darin sind wir uns si-
cherlich einig –, dass eine stärkere Verankerung der Türkei
in der westlichen Wertegemeinschaft wichtig und richtig
ist. Aber die Ausstellung eines Blankoschecks für den
Beitritt der Türkei als Vollmitglied in die EU lehnen wir
ab, Herr Bundeskanzler.
Wir wissen, dass die EU in jeder Hinsicht damit überfor-
dert wäre. Wir dürfen auch die Position unseres Landes als
größter Nettozahler nicht außer Acht lassen; denn das
würde uns ungeheuer teuer zu stehen kommen. Die Tür-
kei ist weder ökonomisch noch politisch reif für den Bei-
tritt zur Europäischen Union. Wir sind auch der festen
Überzeugung, dass sich Europa auf ein gemeinsames kul-
turelles und auch religiöses Erbe gründet. Die Türkei
gehört nicht dem europäischen Kulturkreis an. Die Eröff-
nung einer echten Beitrittsperspektive für die Türkei hätte
eine Präzedenzwirkung zur Folge und könnte eine unab-
sehbare Lawine von weiteren Beitrittsersuchen von Ma-
rokko bis zur Ukraine nach sich ziehen. Das wäre die lo-
gische Folge. Eine geographisch grenzenlose Europäische
Union würde das Projekt Europa, in das gerade die Union
so viel Herzblut gelegt hat, für immer zerstören.
Herr Bundeskanzler, Sie haben hohe Erwartungen in
Ihre Rede hineinprojizieren lassen. Deshalb sollten Sie
auch zu einem Argument Stellung nehmen, das immer
wieder vorgebracht wird. Kommen Sie nicht mit den bil-
ligen Ausflüchten, das sei alles vor 40 Jahren in die Wege
geleitet worden! Der Hinweis auf die Zollunion mit der
Türkei in den 60er-Jahren geht fehl. Damals gab es ledig-
lich eine Wirtschaftsgemeinschaft und niemand hat sich
den Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
in eine echte Europäische Union mit einem staatenähn-
lichen Charakter vorstellen können. Das ist ein gewaltiger
Unterschied.
Die geostrategische Bedeutung der Türkei ist allge-
mein bekannt. Wir wissen, dass sich viele Menschen in
der Türkei zu Europa hinwenden wollen. Wir wissen aber
auch, dass deren Stimmungen nicht davon abhängig sind,
ob gerade Beitrittsverhandlungen geführt werden oder
nicht. Wichtig ist, dass die wirtschaftlichen Beziehungen
zur Türkei ausgebaut werden. Es ist vor allen Dingen
wichtig, dass eine Assoziierung im außen- und sicher-
heitspolitischen Bereich erfolgt. Genau darauf legen un-
sere amerikanische Freunde Wert.
– Herr Bundesaußenminister, Sie lachen wieder überheb-
lich. Lassen Sie doch Ihre Überheblichkeit!
Sie sind zwar Außenminister der Bundesrepublik Deutsch-
land; aber Sie sind Gott sei Dank und gottlob nicht der ein-
zige Vertreter unseres Landes, der Gespräche mit den Ver-
einigten Staaten von Amerika führt. Auch wir sind nicht
auf die Pförtner angewiesen, wenn wir in Amerika etwas
erfahren wollen. Vielmehr habe ich unlängst eine Reihe
von interessanten Gesprächen mit führenden Senatoren,
darunter auch dem Mehrheitsführer im Senat, geführt.
Es hat sich nämlich anders entwickelt, als Sie es sich ge-
wünscht haben. Ich erinnere mich an die Unterrichtung
der Fraktionsvorsitzenden, in der es hieß: Warten Sie erst
einmal den Dienstag ab! An dem besagten Dienstag haben
die Wahlen in den USA zu dem bekannten Ergebnis ge-
führt, das vielleicht ein bisschen anders ausgefallen ist, als
Sie es erwartet haben.
Man kann zwar mit unseren amerikanischen Freunden
diskutieren, aber man muss dabei Verständnis für den deut-
schen Standpunkt suchen. Wenn man einfach nur das, was
man vorher im Wahlkampf zerstört hat, wieder gutmachen
will, ist der Preis zu hoch. Den Preis der Vollmitgliedschaft
der Türkei, den Sie zu zahlen bereit sind, damit Sie sich in
den USAwieder sehen lassen können, ist uns zu hoch. Wir
lehnen – damit das ganz klar ist – diesen Preis ab.
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen.
Man zweifelt in den Vereinigten Staaten und in anderen
führenden Industrieländern – von dort aus wird ja inter-
nationales Kapital entweder zur Verfügung gestellt oder ab-
gezogen – an den wirtschaftlichen Fähigkeiten der
Deutschen, die Wirtschaft wieder nach vorne zu bringen.
Deutschlands Wirtschaft ist gelähmt. Man glaubt sich an
Heinrich Heine erinnert, der in seinem „Wintermärchen“
schreibt: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, werd ich
um den Schlaf gebracht.“ Die Stimmung bei Investoren und
Verbrauchern ist so eisig wie die deutsch-amerikanischen
Regierungsbeziehungen. Jede Woche wird eine neue
steuer- und abgabenpolitische Sau durchs Dorf getrieben
– darüber ist ja gestern ausführlich debattiert worden –, von
der ominösen Mindeststeuer über eine Wertzuwachssteuer
bis hin zur Wiederauferstehung der Vermögensteuer. Ich
bin ganz sicher, dass „Nachbessern“ das Unwort des Jahres
werden wird. Sie werden als einer der größten Kapitalver-
nichter in die Geschichte unseres Landes eingehen.
Sie haben nämlich nicht nur das Geldkapital und das Ka-
pital der kleinen Aktienbesitzer zerstört, sondern – das ist
noch schlimmer – Vertrauenskapital in der Wirtschaft ver-
nichtet. Dieses Kapital lässt sich sehr viel schwerer wie-
der aufbauen als Geldkapital.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 875
Jeder weiß, dass nach der nächsten Steuerschätzung
den Menschen weitere Belastungen drohen, die dem Stop-
fen immer neuer, selbst gebaggerter Löcher dienen. Hans
Eichel ist vom Hans im Glück zum Herrn der Löcher ge-
worden. Das ist ein beispielloser Absturz und zeigt im
Grunde den ganzen Niedergang von Rot-Grün.
Deswegen kann ich verstehen, wenn Herr Müntefering
als Fraktionsvorsitzender sehr allergisch auf unsere Ab-
sicht reagiert, einen Untersuchungsausschuss einzuset-
zen, der sich mit Hintergründen und Fakten beschäftigt,
der offen legt, wer zu welcher Zeit was über die katastro-
phale Haushaltssituation und die Tatsache wusste, dass
die im Maastrichter Vertrag festgelegte Defizitgrenze
nicht eingehalten werden kann und dass die Sozialversi-
cherungssysteme schon Mitte dieses Jahres pleite gewe-
sen sind, und wer dafür verantwortlich ist, dass dies der
Öffentlichkeit anders dargestellt worden ist.
Besonders schlimm ist: Sie misstrauen dem Handeln ein-
zelner Personen. Deswegen sagen Sie, Herr Müntefering
– das ist das alte linke, sozialistische Staatsverständnis –:
Gebt euer Geld doch dem Staat; denn dort ist es gut auf-
gehoben. – In Wirklichkeit denken Sie, dass alles, was der
Staat nicht zu 100 Prozent bekommt, ein ganz besonderer
Gunstbeweis sei. Ich sage Ihnen: Lassen Sie mehr Geld
bei den Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere wenn es
um die Finanzierung des Konsums geht! Die Menschen
sollen zumindest über ihren Konsum entscheiden können.
Wenn Sie, Herr Müntefering, mehr Geld fordern, dann
dient das nur dem Staatskonsum. Unsere Wirtschaft
kommt nicht auf die Beine, wenn Verbraucher und Inves-
toren auf Dauer verunsichert sind.
Karl Schiller hat einmal gesagt: Genossen, lasst die
Tassen im Schrank!
Ich glaube, das muss man Ihnen wieder zurufen; denn das,
was Sie jetzt machen, ist eigentlich ein Rückfall in die alte
linke Ideologie der 70er-Jahre. Es ist eigentlich nicht zu
fassen, dass zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch des
Sozialismus wieder eine solch furchtbare Staatsgläubig-
keit in Deutschland herrscht.
– Genauso ist es. Es ist nicht zu fassen.
In seinem „Zeit“-Interview verband der Bundeskanzler
seinen Tritt gegen Eichel, den er ihm aus Hamburg hat ge-
ben lassen, gleichzeitig mit einer Klage über die Wirt-
schaft. Er hat die Presse und die Wirtschaft beschuldigt,
ein Zerrbild von der ökonomischen Lage unseres Landes
zu zeichnen. Die Tatsachen sehen anders aus. Der Absturz
des „Handelsblatt“-Frühindikators zum sechsten Mal
in Folge und das Zwischenzeugnis, das die „Financial Ti-
mes Deutschland“ ausgestellt hat, besagen alles. Mir lie-
gen die entsprechenden Passagen vor. Wenn es gewünscht
wird, kann ich sie vorlesen. Jedenfalls dominiert in die-
sem Zeugnis die Note „mangelhaft“. Sie kommt öfter vor
als „ausreichend“. Die beste Note – sie gibt es nur ein-
mal – ist „befriedigend“.
Es besteht die reale Gefahr, dass die aktuelle Stagna-
tion erneut in eine Rezession einmündet. Ursache hierfür
ist die beispiellose Verunsicherung – ich habe es bereits
angesprochen – insbesondere der Verbraucher und der In-
vestoren. Ich bin sehr gespannt, Herr Bundeskanzler, ob
heute Ihr Auftritt als selbst ernannter Staatsschauspieler
daran etwas ändern wird.
Ich glaube nicht, dass man mit einer Rede irgend etwas
herumreißen kann. Wenn, dann kann man es nur mit ent-
sprechenden Taten tun und diese Taten fehlen.
Diese Taten sind allerdings auch sehr schwer zu verwirk-
lichen, wenn man einen Verein hinter oder vor sich hat,
wie er hier sitzt. Deswegen lassen Sie Ihr Geschrei und
Ihre Pfui-Rufe!
Wenn inzwischen vom kranken Mann Europas die
Rede ist, dann sind die Deutschen gemeint. Früher haben
wir uns als Deutsche immer umgedreht, wenn irgendwo
von einem kranken Mann Europas die Rede war, und ha-
ben geschaut, wer es denn sein könnte. Heute müssen wir
in den Spiegel schauen, wenn vom kranken Mann Euro-
pas die Rede ist. Diesen Zustand sollten Sie beenden.
Der gebetsmühlenartige Verweis auf die Weltkon-
junktur ist nichts als Ablenkungs- und Täuschungs-
manöver. Die Europäische Union hat uns mitgeteilt, dass
das konjunkturbereinigte, das heißt das strukturelle Defi-
zit in Deutschland von 1,4 Prozent am Ende der 90er-
Jahre auf mehr als 3 Prozent angestiegen ist. Das zeigt,
unsere Probleme sind hauptsächlich hausgemacht, und sie
müssen bei uns zu Hause in Deutschland gelöst werden.
Deswegen werden wir nicht ruhen, bis die Wahrheit ans
Licht gebracht ist. Ich finde, man kann einen Neuanfang
nur auf der Basis von Wahrheit und Klarheit machen.
Es bringt auch nichts, wenn Sie die Forschungsinsti-
tute und die Wirtschaftsverbände beschimpfen, die sich
um die Arbeitsplätze und die Existenz ihrer Firmen Sor-
gen machen. Das bringt überhaupt nichts.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Aller-
letztes:
Michael Glos
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Michael Glos
– Herr Poß, Sie haben soeben das Wort „Heuchler“ in
den Mund genommen. Dies sei Ihnen völlig unbenom-
men. Die schlimmste und schärfste Kritik kommt doch
aus Ihren eigenen Reihen. Das, was Lafontaine
sagt, hat keinen Oscar der Fairness verdient. Wir haben
Gerhard Schröder nicht mit Hitler verglichen. Aber
Lafontaine ist an den Rand gegangen, dieses zu tun. Der
Vergleich mit Brüning ist allerdings nicht so abwegig. Er
hat mit Notverordnungen regiert und Sie sprechen heute
von Notgesetzen, die Sie machen. Wo liegt da der große
Unterschied?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bundes-
kanzler verzichtet laut Presse angeblich darauf, eine Blut-
und Tränenrede à la Churchill zu halten. Er hätte es auch
nicht so gut gekonnt wie Churchill. Er kann nicht einmal
so gut Zigarren rauchen wie Churchill.
Wir sind leider in einer Situation, in der Politik ein ganzes
Stück in Peinlichkeit ausartet.
– Ich weiß überhaupt nicht, was Sie wollen. Ich habe mein
Hemd noch nicht ans Bundeskanzleramt geschickt. Es
sind doch die Bürgerinnen und Bürger, die massenweise
ihre Hemden dorthin schicken, um zu protestieren. Es wa-
ren auch nicht wir, die den so genannten Schröder-Song
finanziert haben. Das mit den bezahlten Songs war Herr
Eichel. Herr Eichel hat – aus Steuergeldern finanziert – ei-
nen Song zum Tag der offenen Tür des Bundesfinanzmi-
nisteriums erstellen lassen. Dort heißt es:
Er steht nicht auf hohe Schuldenberge, die soll’n run-
ter, dafür steht er ein, er will nicht, dass unsere Kin-
der sie erben und deshalb will er sparsam sein. Ver-
spricht nichts, was er nicht halten kann, er senkt die
Steuern, wo er kann, er bringt die Wirtschaft schon
auf Trab, damit die Jugend eine Zukunft hat.
Was ist denn davon übrig geblieben? Ich kann Ihnen
nur eines sagen: Dieser Song ist nicht in die Charts ge-
kommen und er wird nie in die Charts kommen.
Dafür ist jedoch der Schröder-Song in die Charts gekom-
men und er ist der Hit an sich. Das ist der Weg, Herr Bun-
deskanzler, vom Champagner zum Leitungswasser oder
von Brioni zu Hennes & Mauritz, den Sie inzwischen ge-
gangen sind.
Es ist einfach alles nur noch billig und die Menschen
spüren das. Beim Schröder-Song heißt es:
Was du heute kannst versprechen, darfst du morgen
wieder brechen und drum hol‘ ich mir jetzt jeden
einzel‘nen Geldschein, euer Pulver, eure Kohle, euer
Sparschwein!
Herr Bundeskanzler, jetzt haben Sie Gelegenheit, end-
lich die Wende herbeizuführen, die wir in unserem Land
brauchen. Ich sage noch einmal: Das wird allerdings nicht
mit einer Rede geschehen können, sondern nur mit kalku-
lierbarem richtigen Handeln, verbunden mit der Beendi-
gung der Kakophonie und mit sehr viel Klarheit.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Bundeskanzler Gerhard
Schröder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ich glaube, das, was wir eben gehört haben, ist cha-
rakteristisch für die Lage der deutschen Konservativen
unter Frau Merkel und Herrn Stoiber –
ein Niveau der politischen Auseinandersetzung, das an
Inhaltsleere und Bodenlosigkeit nicht mehr zu überbieten
ist,
ein Niveau der politischen Auseinandersetzung, das über
Inhalte gar nichts mehr weiß und auch nichts mehr wissen
will, sondern nur noch zum Instrument der persönlichen
Diffamierung greift. Das haben Sie, Herr Glos, heute hier
bewiesen.
Exakt dieses Niveau erleben wir seit einiger Zeit. Ich
fordere Sie auf, Frau Merkel, davon Abstand zu nehmen.
Das schadet unserem Land, das schadet dem demokra-
tischen Prozess und das schadet letztlich uns allen.
Es ist Ihre Verantwortung, diese Scharfmacher zurück-
zupfeifen, und zwar gründlich.
Wir werden über dieses Muster der inhaltslosen politi-
schen Auseinandersetzung noch zu reden haben.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 877
Zunächst aber: kein Wort des Hauptredners der CDU/
CSU zur realen Lage im Land.
Außer dümmlichen Sprüchen hat er nichts, aber auch
gar nichts vorgebracht.
Das Niveau zeigt in seltener Deutlichkeit, dass Sie zu kei-
ner einzigen der Fragen, die bei uns anstehen – gewiss
sind die schwierig genug –, auch nur den Hauch einer Ant-
wort haben.
Das ist doch der Grund, warum Sie nur zur persönlichen
Diffamierung und zu jeder Form von Klamauk in der po-
litischen Auseinandersetzung greifen,
weil Sie mehr nicht anzubieten haben. Das ist der Tatbe-
stand, über den man hier einmal reden muss.
Es kann kein Zweifel sein: Die ökonomische Situa-
tion im Land ist, was die Wachstumserwartungen angeht,
nicht so, wie sich die internationalen Organisationen, wie
sich die wissenschaftlichen Institute und wie sich auch die
Bundesregierung das zu Beginn dieses Jahres vorgestellt
und auf der Basis von wissenschaftlichen Untersuchun-
gen prognostiziert haben.
Wir haben gerade gestern alle miteinander den Ifo-In-
dex für die Weltwirtschaft zur Kenntnis nehmen müssen.
Weltweit – mit einem Schwerpunkt in Westeuropa und
keineswegs allein in Deutschland – gibt es einen Rück-
gang um 17 Prozentpunkte. Das hat Ursachen, meine Da-
men und Herren.
– Ich wende mich doch gar nicht mehr an Sie; denn was
Sie inhaltlich anzubieten haben, hat Herr Glos doch ge-
rade unter Beweis gestellt.
Ich wende mich an diejenigen, die politisch seriös argu-
mentieren wollen, und an diejenigen, die uns heute zu-
schauen.
Die Ursachen für die Fehlprognosen und für die nicht
erfüllten Wachstumserwartungen liegen auf dem Tisch.
Erstens: massive Einschnitte im Neuen Markt, und
zwar weltweit.
Zweitens: unseriöse Geschäftspraktiken, nicht nur in
den Vereinigten Staaten, sondern inzwischen auch in
Deutschland, was das Frisieren von Bilanzen und Ähnli-
chem angeht.
Drittens. Niemand kann sich doch Illusionen darüber
machen, dass das weltwirtschaftliche Klima durch die
Krise in und um den Irak aufs Schwerste geschädigt ist.
Das sind die zentralen Ursachen für die ökonomischen
Schwierigkeiten, mit denen natürlich auch unser Land zu
kämpfen hat. Anstelle von diffamierenden Reden und an-
stelle des Klamauks, zu dem Sie greifen, sollten Sie dis-
kutable, ernst zu nehmende Vorschläge zur Bewältigung
der Schwierigkeiten machen. Diese Vorschläge fehlen bei
Ihnen indessen doch völlig. Das ist doch das Strukturpro-
blem, mit dem Sie zu kämpfen haben.
Als Folge dieser ökonomischen Schwierigkeiten ha-
ben wir es in den Jahren 2002 und 2003 mit erheblichen
Einnahmedefiziten zu tun,
sowohl in den öffentlichen Haushalten, und zwar keines-
wegs nur in denen des Bundes, als auch in den sozialen Si-
cherungssystemen. Die Folge dieser Einbrüche aufgrund
nachlassender Konjunktur, die so von niemandem pro-
gnostiziert worden ist, ist natürlich, dass insbesondere in
den sozialen Sicherungssystemen die strukturellen Pro-
bleme und die durch die – Gott sei Dank – zu finanzie-
rende Einheit verursachten Probleme offenbarer denn je
geworden sind. Dafür schaffen wir kurz- und mittelfris-
tige Lösungen. Über die gilt es hier, in diesem Parlament,
zu reden und zu streiten. Der Ausweg, den Sie wählen
– persönliche Diffamierungen, unsinnigste Vergleiche –,
hilft doch niemandem in Deutschland. Das verunsichert
doch mehr, als Sie wahrhaben wollen.
Kein Zweifel: Über die ökonomischen Probleme ist zu
reden. Aber die Situation im Land hat auch eine andere
Seite. In den letzten Jahren sind die Löhne der abhängig
Beschäftigten anders als in den frühen 90er-Jahren, als
Sie am Ruder waren, real um 7 Prozent gestiegen. Ich
frage mich gelegentlich: Über welches Land reden Sie ei-
gentlich?
Anders, als Sie wahrhaben wollen, sind in der zweiten
Hälfte der 90er-Jahre und insbesondere in den letzten vier
Jahren die außenwirtschaftlichen Zahlen das, was mit
den Ausfuhren zusammenhängt, nicht zurückgegangen,
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
sondern gestiegen, und das inmitten einer weltwirtschaft-
lichen Krise, in der wir ohne Zweifel sind. Die Ursachen
sind bezeichnet. Der Marktanteil Deutschlands ist von
9 Prozent auf 10 Prozent gestiegen. Nehmen Sie das doch
einmal zur Kenntnis und sagen Sie es auch! Denn dahin-
ter stehen Leistungen von Menschen in unserem Land.
Diese Menschen haben es doch nicht verdient, von Ihnen
diffamiert zu werden.
Kein Zweifel: Es gibt ökonomische Probleme. Den
Willen der Menschen voranzukommen – das macht die
Kraft dieses Landes aus – zu verschweigen und zu diffa-
mieren ist falsch, selbst wenn man in der Opposition ist.
Opposition heißt doch nicht, in der Weise, wie Sie, Herr
Glos, es heute gemacht haben, vorzugehen, nämlich ehr-
abschneidend. Opposition heißt doch, real und ehrlich an-
dere Vorschläge zu machen, wenn man sie denn hat. Tun
Sie doch endlich Ihre Pflicht als Opposition!
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Glos?
Ich werde meine Rede zu Ende bringen.
– Das ist das Einzige, was Sie können: rumbrüllen und
stören, ohne einen einzigen sachlichen Vorschlag zu ma-
chen. Das ist die Opposition, wie sie sich heute darstellt!
Nichts anderes!
Aber glauben Sie nur nicht, dass Sie mit dieser Art, Er-
satzpolitik zu betreiben – denn zu Politik sind Sie nicht
fähig –, bei den Menschen auf Dauer ankommen.
Kurzfristig mag Ihnen das helfen, mittel- und langfristig
werden Sie mit dieser Art von Politik dort bleiben, wo Sie
hingehören, nämlich in der Opposition.
Ich denke, angesichts dessen, was wir an lösbaren Pro-
blemen haben – viele unserer Nachbarn und viele Länder
in der Welt würden uns um die Dimension der Probleme,
mit denen wir es zu tun haben, nun wahrlich beneiden, ob-
wohl ich diese Probleme keineswegs leicht nehmen will –,
seit Wochen ein Zerrbild dieses Landes zu zeichnen, egal
mit wessen Unterstützung, und diese Republik allen
Ernstes mit der Situation von Weimar zu vergleichen, wie
das immer wieder getan worden ist und getan wird, ist
falsch.
– Sie haben sich doch an diese Form von Verzeichnung
angehängt. Nichts anderes haben Sie getan. Lassen Sie
mich ein Wort dazu sagen: Gleichgültig, wer das macht,
gleichgültig, wer den Eindruck zu erwecken sucht, in die-
ser Republik hätten wir eine Situation, die auch nur
annähernd mit dem, was wir in Weimar leider erleben
mussten, vergleichbar ist, der handelt geschichtslos und
neben der Sache. Das gilt für alle, ob sie nun Glos oder
Lafontaine heißen.
Ich füge hinzu: Wer wie Sie und andere, die Ihnen hel-
fen, den demokratischen politischen Prozess als eine Art
Auseinandersetzung nicht zwischen Gegnern, sondern zwi-
schen Feinden betrachtet, wer dabei ist, statt öffentlicher
und offener, auch harter Auseinandersetzung innerstaatli-
che Feinderklärungen zu formulieren, der arbeitet gegen
einen dauerhaften politischen Prozess und nicht für ihn.
Das ist das Problem, in dem Sie gegenwärtig gefangen sind,
mit dem Sie sich auseinander setzen müssen, weil es in
der Republik sonst schief geht.
Niemand kritisiert harte und härteste Opposition, die
gelegentlich auch nicht vor persönlicher Herannahme
Halt machen kann; das weiß ich sehr wohl.
Aber was wir in den letzten Wochen erleben, meine Da-
men und Herren, ist ein Zerrbild unseres Landes, ge-
zeichnet aus politischem Opportunismus. Das ist Ihr Pro-
blem.
Ich sagte: Es besteht kein Zweifel, dass wir ökono-
mische und als Folge dessen auch politische Probleme
haben.
Es besteht aber auch kein Zweifel, dass dieses Land auf
der anderen Seite nach wie vor Wachstum hat und sich
nach wie vor in Europa sehen lassen kann. Sie sollten ein-
mal mithelfen, in Europa klar zu machen, was uns in
Deutschland von allen anderen europäischen Ländern,
auch was die ökonomische Situation, die ökonomischen
Probleme angeht, unterscheidet. Sie sollten mit uns zu-
sammen darauf hinweisen, dass wir allein durch Überka-
pazitäten in der Bauwirtschaft, deren Abbau notwendig
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 879
ist, jährlich 0,6 Prozent Wachstum real verlieren. Mit die-
ser Situation, meine Damen und Herren, hat kein anderes
Land in Europa und in der Welt fertig zu werden. Es ist
ein Zeichen für die Kraft und die Stärke der deutschen
Volkswirtschaft, dass das trotz allem in einer achtbaren
Weise gelingt. Auch das gehört in eine solche Debatte.
Ein Zweites. Der Finanzminister hat gestern zu Recht
darauf hingewiesen, was die Tatsache, dass wir die Ein-
heit ökonomisch zu bewältigen haben – politisch haben
wir sie ja Gott sei Dank bewältigt –, für die sozialen Si-
cherungssysteme und für die Ökonomie insgesamt be-
deutet. Der Finanzminister hat zu Recht darauf hingewie-
sen, dass die Lohnnebenkosten, die Ausgaben für die
sozialen Sicherungssysteme, etwa bei der Rente, um rund
2 Prozent niedriger sein könnten, wenn wir nicht als ein-
zige Nation der Welt diese gewaltige, aber natürlich auch
wunderbare Aufgabe zu schultern hätten, die wir mit dem
Glück der Einheit bekommen haben. Auch das gehört
doch in eine seriöse ökonomische Debatte.
Ich denke, vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass
deutlich wird, wie die Abfolge dessen ist, was wir kurz-
fristig und was wir mittel- und langfristig zu tun haben.
Worum geht es dabei? Es geht zunächst einmal darum,
dass der Haushalt, den wir heute samt Nachtragshaushalt
beraten, so betrachtet und beschlossen wird, wie es den
Notwendigkeiten des Landes entspricht. Wir haben deut-
lich zu machen, dass wir aufgrund ja nicht nur in Deutsch-
land bestehender Wachstumsschwäche, ja nicht nur in
Deutschland zurückgehender Steuereinnahmen für 2002
einen Fehlbetrag von rund 14 Milliarden Euro ausglei-
chen müssen und dass wir für 2003 mit einem solchen von
18,5 Milliarden Euro fertig werden müssen. Das ist die
Aufgabe, über die hier zu reden ist, über die bislang ja
nicht geredet worden ist.
Die Defizite, die sich da aufgetan haben, haben doch
nichts zu tun mit der Politik des einen oder anderen, son-
dern haben etwas zu tun mit einer europäischen, mit einer
weltweiten Wachstumsschwäche,
die natürlich Auswirkungen auf die Steuereinnahmen hat.
Meine Damen und Herren, wir sind darangegangen
und haben gefragt: Wie wird man mit dieser Situation fer-
tig? Der Finanzminister hat das gestern deutlich gemacht.
Es wäre bezogen auf den Haushalt 2002 doch falsch ge-
wesen, den Fehlbetrag, der aufgrund der Wachstums-
schwäche deutlich geworden ist, allein durch Streichun-
gen, wo auch immer, auszugleichen. In dieser Situation
im Jahr 2002 hätte man, wenn man es nur über Streichun-
gen versucht hätte, nirgendwo anders streichen können als
bei den Investitionen. Dass das aber konjunkturell das
Verkehrteste gewesen wäre, was wir hätten tun können,
liegt, denke ich, doch auf der Hand.
Also ging es für den Haushalt 2002 zunächst einmal da-
rum, kurzfristig und auf Zeit ein Defizit von über 3 Prozent
hinaus in Kauf zu nehmen, um nicht dort kürzen zu müs-
sen, wo es konjunkturschädlich geworden wäre. Ich denke,
das entspricht auch der Auffassung aller hier im Hohen
Hause. Das ist der Grund dafür, dass wir es in Kauf ge-
nommen haben, auch in dieser Situation die automatischen
Stabilisatoren wirken zu lassen und ein Defizit zwischen
3,7 und 3,8 Prozent in Kauf zu nehmen und dies auch ge-
genüber der Europäischen Kommission zu vertreten.
Bezogen auf den Haushalt 2003 haben wir durch die
Maßnahmen, die Ihnen bekannt sind, dafür gesorgt, dass
das Defizitziel, das wir in Europa vereinbart haben, wie-
der eingehalten werden kann. Ich bin ja sehr gespannt da-
rauf, welche Alternativen, bezogen auf dieses Problem, es
von der Union gibt,
wie Sie mit den Problemen fertig werden wollen, die auf-
grund der Wachstumsschwäche für den Finanzminister
und für die Regierung aufgetreten sind. Ich glaube nicht,
dass es zu dieser Politik eine vernünftige, eine konjunk-
turgerechte Alternative gibt.
Die Wachstumsschwäche, mit der wir es zu tun haben
– sie wurde übrigens von keinem wissenschaftlichen In-
stitut und keiner internationalen Institution prognosti-
ziert –, hat natürlich auch Auswirkungen auf die sozialen
Sicherungssysteme. Das ist doch gar keine Frage. Wir
haben das analysiert und haben gehandelt. Das ist der
Grund, warum wir gefragt haben: Was machen wir denn
zur Stabilisierung des Rentensystems, das durch die Kon-
junkturschwäche natürlich in Unordnung gebracht wor-
den war?
Wir haben gesagt – das ist Gegenstand unserer Gesetzge-
bung –: Wir können es verantworten, die Schwankungs-
reserve zu reduzieren, und wir können es verantworten,
die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben, weil wir nur
auf diese Weise sicherstellen konnten, die Möglichkeit zu
gewinnen, durchgreifende Veränderungen auf den Weg zu
bringen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Es geht bei den Maßnahmen, die jetzt auf den Weg ge-
bracht worden sind, um die Stabilisierung des Systems;
nicht, um es so zu lassen, wie es ist, sondern um die
Chance zu haben, ohne Verunsicherung der Betroffenen
– das sind sehr, sehr viele – die notwendigen Reformmaß-
nahmen einzuleiten.
Bezogen auf all diejenigen, die über die Beiträge dis-
kutieren, will ich nur sagen: Ohne die Maßnahmen, die Ih-
nen jetzt vorliegen und über die zu diskutieren ist, müsste
zum Beispiel der Rentenbeitrag auf knapp unter 20 Pro-
zent, auf exakt 19,9 Prozent, steigen. Mit diesen Maßnah-
men muss er das nicht. Das sage ich nur ganz nebenbei.
Ich weiß noch um die Zeit, in der wir über Renten-
beiträge von über 21 Prozent – jetzt reden Sie von zu ho-
hen Lohnnebenkosten; die müssen runter, keine Frage –
reden mussten.
Wir konnten sie nur senken, weil wir unsere Mehrheit im
Bundesrat seinerzeit nicht zur Blockade von Maßnahmen
benutzt, sondern der Mehrwertsteuererhöhung zuge-
stimmt haben. Das war doch der Tatbestand.
Das Gleiche gilt für die Gesundheitssicherungssys-
teme. Auch dabei geht es angesichts der Einnahmeaus-
fälle, die mit der konjunkturellen Entwicklung zu tun ha-
ben, zunächst einmal darum, dafür zu sorgen, dass die
weiter gehenden Reformmaßnahmen – sie müssen weiter
gehen – auf einer gesicherten Basis, die den Menschen
Vertrauen gibt, stattfinden können. Mit dem Paket, das
jetzt auf den Weg gebracht ist, wird der Grund bereitet.
Das ist die kurzfristige Aufgabe, vor der wir stehen und
die wir miteinander lösen werden.
Es geht – darauf kommt es mir an – bei diesen Geset-
zen, die wir in aller Schnelle, in hohem Tempo, auf den
Weg bringen mussten, um die Stabilisierung der sozialen
Sicherungssysteme, nicht mit dem Ziel, alles so zu lassen,
wie es ist, sondern mit dem Ziel, eine Basis für weiter
führende Reformen zu gewinnen. Ich werde darauf noch
zurückkommen.
– Nun warten Sie es doch einmal ab. Sie können es ja
kaum erwarten. Sie sind nun wirklich einer der größten
Schreihälse, die in dieses Parlament Einzug gehalten ha-
ben, Herr Kauder.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass die Gesetze,
die wir jetzt im Gesundheitswesen, bei der Rente und bei
der Konsolidierung des Haushalts auf den Weg bringen,
die Basis dafür bilden, die strukturellen Schwierigkeiten,
die sich in der konjunkturellen Krise besonders offenbart
haben, in Angriff zu nehmen. Ich beginne einmal bei dem,
was wir bei der Rente wollen und wollen müssen.
Ich erinnere noch die Zeit, in der hier über die Sicher-
heit der Renten geredet worden ist: Die einen hatten Un-
tertunnelungsvorschläge, die anderen sprachen von de-
mographischen Faktoren. Niemand in der damaligen Zeit
hat das eigentlich Notwendige getan – außer uns.
– Sie hatten doch 16 Jahre Zeit, um neben der umlagefi-
nanzierten Rente das Prinzip der Kapitaldeckung aufzu-
bauen. Sie haben das doch nie in Angriff genommen.
Sie wollen uns jetzt Belehrungen erteilen.
Ich habe noch im Ohr, was Nobbi Blüm immer zur Rente
gesagt hat – und das zu einem Zeitpunkt, als absehbar war,
dass eine Umlagefinanzierung allein nicht reichen würde.
Wir sind es doch gewesen, die neben die Säule Umlagefi-
nanzierung die Säule Kapitaldeckung gesetzt haben. Das
sind doch nicht Sie gewesen. Wollen Sie das alles verges-
sen machen?
Nur um deutlich zu machen, was mit diesem Reform-
schritt geleistet worden ist: Mit diesem Reformschritt ist
geleistet worden, dass zum Beispiel über die betriebliche
Altersversorgung inzwischen 18 Millionen Beschäftigte
zusammen mit ihren Tarifpartnern von dieser Möglichkeit
Gebrauch gemacht haben.
18 Millionen Beschäftigte haben über diesen Weg ein zu-
sätzliches Alterseinkommen zu erwarten. Das ist ein Rie-
senerfolg, der zu Ihrer Zeit nie möglich gewesen ist. Un-
sere Mehrheit hat diesen Schritt gemacht.
Die Versicherungswirtschaft sagt uns, in der zweiten
Säule seien bislang zwischen 2,5 und 3 Millionen Indivi-
dualverträge abgeschlossen worden. Man geht davon aus,
dass es bis Ende dieses Jahres 4 Millionen werden. Ange-
sichts der Tatsache, dass diese zweite Säule seit zwei Jah-
ren existiert, und angesichts der Tatsache, dass in 18 Mil-
lionen Fällen auf betrieblicher Ebene davon Gebrauch
gemacht worden ist und bis zum Jahresende nach den Er-
wartungen der Versicherer in 4 Millionen Fällen indivi-
duell davon Gebrauch gemacht wird, wird deutlich, dass
das ein wirklich stabilisierendes Element ist. Das ist eine
Erfolgsstory und nicht das Gegenteil dessen.
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Ich rate nun wirklich dazu, sich das in Ruhe anzu-
schauen und die Entwicklung abzuwarten. Sie können
doch nicht erwarten, dass ein die umlagefinanzierte Rente
ergänzendes System schon in zwei Jahren seine volle
Wirksamkeit erlangt. Das können Sie doch nicht in zwei
Jahren erwarten. Angesichts dessen ist das, was erreicht
wurde, ein großartiger Fortschritt, der aufgrund eines ver-
änderten Altersaufbaus in unserer Gesellschaft dazu bei-
tragen wird, Alterssicherung wirklich zu machen und
nicht nur darüber zu reden.
Natürlich wird es Aufgabe der Kommission von Herrn
Rürup und anderen sein,
zu schauen: Wo muss man nachjustieren, was muss sowohl
bei der kapitalgedeckten als auch bei der umlagefinanzier-
ten Seite der Rente verändert werden?
Es ist doch keine Frage, dass das sein muss. Dafür gibt es
diese Kommission.
Vor einem aber will ich warnen – das sage ich auch an
den einen oder anderen in den eigenen Reihen gerichtet –:
Es ist manchmal sinnvoll, sich mit den Zahlen auseinander
zu setzen. Die Hälfte der Rentenempfänger, insbesondere
die Rentnerinnen, leben von einer Rente, die aus der ge-
setzlichen Versicherung folgt. Die Zahlbeträge, also das,
was cash auf den Tisch kommt, liegen bei Männern im
Durchschnitt bei etwas weniger als 1 000 Euro und bei
Frauen bei etwas mehr als 500 Euro.
Folgendes sage ich an alle, die es angeht: Bezogen auf
diese Zahlbeträge und diese Gruppe, die Hälfte der 17 bzw.
18 Millionen Rentnerinnen und Rentner, unter dem Stich-
wort „Generationengerechtigkeit“ darüber zu sprechen,
dass man hier noch kürzen müsste, das – das sage ich ganz
ehrlich – sollte man sich dreimal überlegen.
Natürlich wird die Kommission über Veränderungs-
notwendigkeiten in den übrigen Bereichen nachdenken
müssen – gar keine Frage. Aber ich bitte sehr darum, bei
allen Debatten darauf zu achten, dass dieser Kreis der Be-
troffenen ernst genommen wird. Es sind nämlich nicht
diejenigen, die mit dem goldenen Löffel im Mund gebo-
ren sind. Sie haben sich auch keinen erwerben können.
Die Gründe dafür liegen nicht in ihrem individuellen
Schicksal. Das gilt es zu berücksichtigen.
Wir sollten uns daher darauf verständigen – und zwar
sowohl bei der Kapitaldeckung als auch bei der Umlage-
finanzierung –, das besser zu machen, was verbessert wer-
den muss. Ich nenne einen konkreten Punkt: Einige Un-
ternehmen kritisieren, dass die Leute mit knapp über
55 Jahren in Rente gehen. Sie sagen, das ginge nicht mehr.
Das stimmt auch, meine Damen und Herren.
Aber diejenigen, die zum Beispiel schon mit 60 Jahren in
Rente gehen – wenn man die Invalidenrenten einbezieht,
ist das das reale Renteneintrittsalter –, haben, genau ge-
rechnet, bis zu 30 Prozent an Abschlägen hinzunehmen.
Über die Frage, ob man hier wirklich noch mehr, zum Bei-
spiel über die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters,
machen kann, muss man sehr sorgfältig und ernsthaft dis-
kutieren.
Eines muss aber klar sein: Mit den Betrieben, die ihre
Personalprobleme über die Frühverrentung gelöst haben
und sich jetzt über das System beklagen und es als falsch
apostrophieren, muss man ein ernsthaftes Wort reden.
Im Bereich der Rente brauchen wir kurzfristig eine Sta-
bilisierung des Systems, damit wir auf der Basis des Ver-
trauens in das System – das betrifft die Kapitaldeckung –
weitermachen können. Wo es nötig ist, müssen wir büro-
kratischen Aufwand beseitigen. Wenn nötig, müssen wir
im Bereich der Umlagefinanzierung das auf den Weg brin-
gen, was uns von der Rürup-Kommission im Herbst des
nächsten Jahres vorgelegt wird. Diese Debatte in der Sa-
che zu führen ist vernünftig; die Menschen im Voraus zu
verunsichern ist unvernünftig, egal, wen es angeht.
Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Strukturen
auf dem Arbeitsmarkt aufbrechen müssen. Wir alle haben
viel zu lange damit gewartet; das ist keine Frage. Das will
ich durchaus selbstkritisch eingestehen. Aber die Umset-
zung des Hartz-Konzeptes gibt uns die einmalige Chance,
eine Regelung auf dem Arbeitsmarkt zu finden, die den
sozialen Sicherungsbedürfnissen auf der einen Seite und
den Erfordernissen einer globalisierten Wirtschaft auf der
anderen Seite Rechnung trägt.
Meine Damen und Herren, ich will ein paar Punkte he-
rausgreifen, die deutlich machen, worum es dabei geht.
Kernaufgabe ist es, Flexibilität bei der Zeit- und Leih-
arbeit zu erreichen. Wenn es richtig ist – es ist richtig –,
dass die niedrigere Arbeitslosigkeit in anderen Ländern,
etwa in den Niederlanden, aber auch in Großbritannien,
nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass dieses In-
strument dort sehr viel besser als bei uns genutzt wird,
dann ist folgerichtig, dass wir es besser nutzen müssen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Es stellt sich also nicht die Frage, ob wir es besser nutzen
müssen, sondern wie wir es nutzen.
Ich bin der Auffassung, dass das, was mit der Umset-
zung des Hartz-Konzeptes eingeleitet worden ist, richtig
ist. Wir sollten darauf vertrauen, aber auch drängen, dass
die Tarifparteien, die Zeitarbeitsverbände – es gibt einige,
die zusammengefasst werden – und die Gewerkschaften,
die sich bereits als Tarifgemeinschaft konstituiert haben,
wie vorgesehen am 18. Dezember beginnen –, vernünftige
tarifliche Regelungen, die flexibel sein müssen, für diesen
Bereich auszuarbeiten.
Ich lege wirklich Wert darauf, dass erkannt wird, dass
zum Beispiel die Gewerkschaften bereit sind, insbeson-
dere für die Problemgruppen am Arbeitsmarkt – die Lang-
zeitarbeitslosen, die Älteren und die geringer Qualifizier-
ten – Tarife auszuhandeln, die deutlich unter den
normalen Flächentarifen liegen und auch liegen müssen.
Lassen Sie uns doch diese Chance ergreifen! Lassen Sie
uns Druck ausüben, damit das geschieht! Die Betroffenen
sind dazu bereit.
Die Gewerkschaften wissen auch, dass wir bei den Ta-
rifverträgen – abhängig davon, wie lang die Leihzeit ist
und wie speziell die Aufgaben sind – auch über eine Ein-
arbeitungszeit über sechs Wochen hinaus reden müssen.
Ich hoffe, das wissen die Unternehmen auf der anderen
Seite auch.
Ich habe nicht nur die Hoffnung, sondern ich glaube, es
kann klappen, dass wir auf diese Weise einen Anteil an Zeit-
und Leiharbeit wie in anderen europäischen Ländern errei-
chen. Er liegt bei uns unter 1 Prozent, in den Niederlanden
bei mehr als 4 Prozent. Ich denke, dass wir alle miteinan-
der ein Interesse daran haben müssten, diese Chance nicht
verstreichen zu lassen, sondern sie offensiv zu nutzen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem sagen, was ins-
besondere den Mittelstand drückt. Darüber ist im Wahl-
kampf viel gestritten worden. Wir haben schon in dieser
Auseinandersetzung deutlich gemacht, was wir steuerpo-
litisch auf den Weg gebracht haben. Die faktische Ab-
schaffung der Gewerbeertragsteuer durch ihre Anre-
chenbarkeit auf die von den Personengesellschaften zu
zahlende Einkommensteuer hat sich der Mittelstand im-
mer gewünscht. Seine Verbände haben dies jedoch nie ge-
würdigt, obwohl es wirklich zu einer Besserstellung des
Mittelstands im System geführt hat.
Ich finde, dass die Politik einen Fehler macht, wenn sie
sich das, was sie auf den Weg gebracht hat und was
Deutschlands Wirtschaft wettbewerbsfähiger gemacht hat,
immer klein reden oder auch klein schreiben lässt.
Darüber hinaus ist klar: Es gibt ein zentrales Problem
des deutschen Mittelstands, der so wichtig ist für unser
Land. Das ist die Refinanzierung seiner wirtschaftlichen
Aufgaben in den Unternehmen.
Wir haben in diesem Zusammenhang eine lange Debatte
über Basel II geführt. All diejenigen in den Banken und
Sparkassen, die mit Hinweis auf Basel II eine restriktive
Kreditvergabe ausüben, täuschen. Sie täuschen in der Tat.
Wer sich die Ergebnisse von Basel II im Einzelnen an-
schaut, der wird finden, dass, bezogen auf die Refinanzie-
rung des deutschen Mittelstands, Basel II hilfreicher ist als
Basel I. Denn der deutsche Mittelstand refinanziert sich im
Unterschied zu dem in angelsächsischen Ländern nicht in
erster Linie über Eigenkapital, sondern über langfristige
Kredite –, das ist eine Besonderheit des deutschen Mittel-
stands. Darüber lässt sich ernsthaft nicht streiten. Das ist so.
Im Übrigen kann die aktuelle Krise im Mittelstand und
dessen Finanzierung gar nichts mit Basel II zu tun haben;
denn diese Neuregelung tritt erst 2006 in Kraft.
Auch an dieser Stelle erweist sich, dass Politik gelegent-
lich benutzt wird, um falsche Geschäftspolitik zu ka-
schieren. Das sollten wir auch deutlich sagen.
Was werden wir tun? Ich denke, zunächst einmal sind
die steuerlichen Maßnahmen, insbesondere die, die wir
im Zusammenhang mit der Anrechenbarkeit der Ge-
werbesteuer und mit der Wiedereinführung der Investiti-
onszulage durchgeführt haben, auf der Habenseite zu bu-
chen. Dort werden sie von denen, die fair mit dem, was
geleistet worden ist, umgehen, auch gebucht.
Lassen Sie mich ein Zweites sagen. Wir müssen mitei-
nander deutlich machen, dass sowohl die großen Geschäfts-
banken als auch die für diesen Zweck ehemals gegründeten
Sparkassen und sonstigen Selbsthilfeorganisationen des
Mittelstands ihre Geschäftspolitik so ändern müssen, dass
der Mittelstand ausreichend mit Kapital versorgt werden
kann. Dies zu verdeutlichen ist eine Aufgabe, die wir mit-
einander haben.
Das muss in erster Linie die Aufgabe der beteiligten
Banken und anderen Kapitalsammelstellen bleiben, ins-
besondere und nicht zuletzt der Sparkassen, die zu diesem
Zweck gegründet worden sind und mit diesem Zweck im
Übrigen auch massiv Werbung betreiben. Um das zu un-
terstützen, werden wir noch in diesem Jahr die Kredit-
anstalt für Wiederaufbau mit der Ausgleichsbank
zusammenlegen, um auf diese Weise für die Mittelstands-
finanzierung ein Rückgrat zu schaffen, das ebenso effi-
zient wie zureichend mit Kapital ausgestattet ist. Ich halte
das für notwendig.
Aber ich sage hier genauso klar: Das ist nicht der Er-
satz für die Aufgaben, die den Banken und den Sparkas-
sen gestellt werden, nämlich auch in Zukunft Geld auszu-
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leihen, damit wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet werden
kann. Das ist die Aufgabe, die die Verantwortlichen in den
Sparkassen und Banken haben und die nicht auf die Poli-
tik abgewälzt werden darf.
Das dritte große Thema, das wir behandeln müssen, be-
trifft die Entwicklung des Gesundheitssystems. Dazu
möchte ich einige wenige Bemerkungen machen. Ich
glaube, dass das, was wir zum Beispiel mit der Regelung
der Fallpauschalen in den Krankenhäusern begonnen ha-
ben, mehr Effizienz und mehr sorgsamen Umgang mit
dem zur Verfügung gestellten Geld bedeutet. Ich glaube,
dass das, was auf den Weg gebracht worden ist, nämlich
die Leistungserbringer zur sinnvollen Finanzierung und
zum sinnvollen Umgang mit den Ressourcen im System
anzuhalten, richtig ist und Unterstützung verdient.
Ich glaube, dass wir in Zukunft miteinander dafür sorgen
müssen, dass in dieses System mehr Markt einkehrt und
dass sich diejenigen, die sonst so sehr für mehr Markt sind,
als Leistungserbringer nicht hinter Institutionen verschan-
zen dürfen, wenn es zum Beispiel darum geht, dass auch
Krankenkassen Verträge mit denen aushandeln können und
sollen, die es besser und preiswerter machen als andere.
Wer hat denn etwas dagegen, wenn über Patienten-
quittungen transparent wird, was geleistet wurde und ab-
gerechnet wird, was mehr und was weniger nötig ist?
Wo steht eigentlich geschrieben, dass es in Deutschland
ehernes Gesetz sein muss, dass es Wettbewerb, wie es ihn
in den Drogerien gibt, bei den Apotheken mit Vorteilen für
die Konsumenten nicht geben darf? Nach meiner Kennt-
nis steht es geschrieben, aber nicht für die Ewigkeit. Des-
wegen kann und muss es geändert werden. Wir sind auf
dem Weg dorthin.
Ein Gesundheitssystem mit mehr Transparenz, mit
mehr Markt zu schaffen, auch dann, wenn die Leistungs-
erbringer nicht alles an Vorteilen wie bisher realisieren
können und deswegen ganz lautstark schreien, ist not-
wendig. Wir werden das tun. Seien Sie dessen sicher.
Eines ist klar: Wir werden auch auf der Seite derer, die
die Leistungen bekommen, das, was möglich ist, auf das
medizinisch Notwendige – aber dann für alle und nicht
nur für Teile der Gesellschaft – reduzieren müssen.
Auch das werden wir in Angriff nehmen. Machen Sie sich
darüber keine Sorgen.
Ich meine, es wird deutlich, dass wir kurzfristig für die
Stabilisierung der Systeme mithilfe der Gesetzgebungs-
maßnahmen sorgen müssen, die wir auf den Weg gebracht
haben und von denen wir hoffen, dass sie nicht aus par-
teipolitischen Egoismen heraus von der jeweiligen Mehr-
heit im Bundesrat angehalten werden. Das wäre fatal für
unser Land.
Ich hoffe, es ist allen deutlich geworden – nicht zuletzt
denen, die uns zuschauen –, dass das die Basis für weiter-
führendes Handeln und nicht der Ersatz für weitergehende
Reformen ist. So herum wird die Abfolge vernünftig: Erst
muss man die Grundlage dafür schaffen, dass man Refor-
men und Veränderungen ohne Angst für die Betroffenen
durchführen kann. Das ist die Abfolge, die in den Geset-
zen auf der einen Seite und den Strukturmaßnahmen auf
der anderen Seite sichtbar werden sollte. Vielleicht ist es
noch nicht ausreichend deutlich geworden. Das will ich
gern zugeben.
In dieser Auseinandersetzung hier und heute soll auch
nicht in Vergessenheit geraten, was wir über die Neu-
justierung von Haushalt und sozialen Sicherungssys-
temen hinaus in dieser Legislaturperiode auf den Weg
bringen wollen, angefangen mit diesem Haushalt. Es ist
nämlich die zentrale Aufgabe, unser Bildungssystem so
einzurichten, dass es internationalen Anforderungen wie-
der gerechter wird, als das gegenwärtig der Fall ist.
Ich weiß sehr wohl um die Zuständigkeiten. Niemand
von uns will sie über Gebühr strapazieren. Dies ginge
auch nicht; das wissen wir. Aber es muss doch klar sein,
dass das, was wir gegenwärtig anbieten, nämlich in Zu-
sammenarbeit mit den Ländern für ein massives Auswei-
ten der Ganztagsbetreuung von Kindern zu sorgen – nach
unserer Vorstellung zunächst in Schulen, aber dann auch
in den Krippen und Horten –, ein vernünftiger Weg ist,
und zwar einer, der darüber hinaus die Defizite im Bil-
dungssystem beseitigen kann. Es gibt doch die Korrela-
tion zwischen mangelnder Betreuung insbesondere der
Kinder aus sozial schwachen Schichten einerseits und
Bildungsversagen andererseits.
Was wir machen, ist bildungspolitisch vernünftig. Unter
dem Gesichtspunkt der Teilhabe von Frauen am gesell-
schaftlichen Leben sowie an der Erwerbsarbeit ebenso
wie an der Nichterwerbsarbeit ist es allemal vernünftig.
Deswegen möchte ich, dass dieses Projekt in fairer Zu-
sammenarbeit mit den Ländern, die die Zuständigkeit be-
sitzen, so umgesetzt wird, dass sichtbar bleibt, dass hier
nicht Geld vom Bund für den Haushaltsausgleich gegeben
wird, sondern für die zentrale gesellschaftliche Aufgabe
dieses Jahrzehnts, die notwendigen Betreuungseinrich-
tungen zu schaffen, dass auch Frauen die Chance haben,
sich auf dem Arbeitsmarkt oder in anderen Bereichen
betätigen zu können.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem
Thema machen, das vorhin angesprochen worden ist und
auch Gegenstand des eingebrachten Antrages ist. Es geht
um das, was wir in Kopenhagen zu beschließen haben
werden. Ich denke, es besteht Einigkeit in diesem Hohen
Hause darüber, dass gerade wir Deutschen die Aufgabe
haben, in Kopenhagen dafür zu sorgen – zu erträglichen
materiellen Bedingungen, das ist keine Frage –, dass ein
historischer Beschluss über die Erweiterung der Euro-
päischen Union nach Osten zustande kommt. Dies ist un-
ser fester Wille. Dafür werden wir hart arbeiten, dessen
können Sie sicher sein. Ich denke, darüber besteht in die-
sem Hohen Hause auch kein Streit.
Über die Bedingungen im Einzelnen wird noch zu reden
sein. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die dänische
Präsidentschaft – wenn auch noch nicht in allen Punkten –
generell auf einem richtigen Weg ist und wir in Kopenha-
gen einen Erweiterungsbeschluss fassen können, der ers-
tens der historischen Bedeutung dieser Aufgabe gerecht
wird und zweitens die materiellen Ressourcen eines Netto-
zahlers wie Deutschland nicht über Gebühr beansprucht.
Zum Nulltarif – ich denke, das wissen wir alle – wird
dies nicht zu haben sein. Das muss auch nicht sein; denn
wir, die Deutschen, werden diejenigen sein, die in erster
Linie sowohl politisch als auch ökonomisch davon profi-
tieren werden. Wenn Sie sich die Präsenz deutscher Unter-
nehmen auf den Märkten, um die es dabei geht, ansehen,
stellen Sie fest, dass wir überall die Nummer eins oder die
Nummer zwei sind. Diese Situation wird nicht schlechter,
sondern besser werden, wenn die Integration dieser Län-
der in die Europäische Union fortgeschrittener ist.
Deswegen sage ich den Beschäftigten, auch denjenigen
jenseits der Grenzen, die Angst haben: Es ist nicht nötig,
Angst zu haben, weil in der Erweiterung der Europäischen
Union sowohl ökonomisch als auch für die Menschen auf
den Arbeitsmärkten mehr Chancen als Risiken liegen. Wir
werden die Chancen maximieren und die Risiken mini-
mieren. Das begreifen wir als unsere Aufgabe.
Es ist wahr: Wir werden in Kopenhagen auch über die
Frage der Aufnahme der Türkei reden müssen. Dies ist
hier angeklungen und wurde auch in dem Antrag, der ein-
gebracht worden ist, thematisiert. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, ich rate dringend, dieses Problem nicht
als ein Problem zu betrachten, mit dem man einem Kolle-
gen in einem Bundesland – in diesem Fall in Hessen – ein
billiges Wahlkampfthema gibt.
– Sie kriegen es gleich. Warten Sie einmal ab!
Ich bin gefragt worden, wie die deutsche Bundesregie-
rung in Kopenhagen mit diesem Problem umgehen wird.
Natürlich haben Sie Anspruch darauf, das zu erfahren.
Deswegen sage ich Ihnen das auch gern. Zwei Punkte sind
zu nennen:
Erstens. Natürlich werden wir in Kopenhagen eine sehr
eng abgestimmte Haltung, möglichst eine gemeinsame
Position mit Frankreich, vertreten. Ich habe das Vergnü-
gen, heute Abend den französischen Staatspräsidenten in
Berlin zu Gast zu haben. Ich habe viel mit Jacques Chirac
darüber geredet. Wir sind uns eigentlich einig darüber,
dass es Sinn macht, in Kopenhagen eine gemeinsame
französisch-deutsche Position zu vertreten. Ich will
nichts vorwegnehmen, was heute Abend mit dem Gast zu
besprechen sein wird. Aber ich denke schon, es gibt in die-
sem Haus keinen Streit darüber, dass es Sinn macht, in
dieser so wichtigen Frage eine gemeinsame Position von
Frankreich und Deutschland zu erarbeiten.
– Auch nicht? Na gut, dann schauen wir mal weiter. Herr
Glos meint, keine gemeinsame Position von Deutschland
und Frankreich.
– Es wird jetzt langsam klar, was Sie eigentlich wollen.
Sie wollen nämlich nicht ein Problem lösen, sondern – das
scheint mir wirklich so zu sein, Herr Glos; das wird im-
mer deutlicher – ein Feuerchen anmachen.
Ich will die anderen Außenpolitiker über die Haltung
der deutschen Bundesregierung wenigstens informieren.
Ich bleibe dabei: Es macht Sinn, – die CDU/CSU-Frak-
tion kann das durch Frau Merkel nachher richtig stellen –,
eine abgestimmte Position zwischen Frankreich und
Deutschland zu erarbeiten. Herr Glos meint: nein; ich
meine: ja. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.
– Ich habe das verstanden. Sie können sich noch dazu
äußern.
Zweitens. Es sollte Einigkeit darüber bestehen, dass
wir ein großes, ein gemeinsames – ich sage: ein nationa-
les – deutsches Interesse daran haben, dass in der Türkei
die Kräfte unterstützt werden, die eine säkularisierte Tür-
kei im Sinne ihres Staatsgründers Atatürk wollen und
dafür auch einstehen, und dass diese Türkei nicht in den
islamischen Fundamentalismus abdriftet.
Es gibt auch keinen Streit darüber, dass wir ein nationales
Interesse daran haben, dass die Türkei eine immer enger
werdende Bindung an den Westen erfährt
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 885
und dass wir vor diesem Hintergrund auch ein gemeinsa-
mes Interesse daran haben, in der Politik gegenüber der
Türkei Kontinuität zu wahren. Dementsprechend werde
ich in Kopenhagen handeln.
Jetzt lese ich Ihnen einmal vor, auf welcher Basis ich
das tun werde. Ich zitiere – ich sage Ihnen gleich, wen –:
Ich habe in der Debatte auf zweierlei hingewiesen,
nämlich erstens darauf, dass wir, die Bundesrepublik
Deutschland, sehr damit einverstanden sind, dass die
Türkei in der Perspektive der Zukunft eine Chance
hat, der Europäischen Union beizutreten.
So Helmut Kohl in einer Pressekonferenz nach der Son-
dertagung des Europäischen Rats vom 20. und 21. No-
vember – nicht 1963, sondern 1997.
Das ist die Kontinuität, um die es geht. Die werde ich
wahren. Sie können sie verletzen, wenn Sie wollen.
– Herr Glos, derjenige, der das gesagt hat, war ein großer
Europäer. Er hat wohl gewusst, worüber er redet.
Jetzt zitiere ich einen nicht ganz so großen Europäer:
Bei der derzeit überaus lebhaften Debatte über die
Türkei sollten zwei Punkte nicht übersehen werden.
Erstens: Das Land strebt unverändert nach Vollmit-
gliedschaft in der Europäischen Union ... Was aber
soll uns Deutsche veranlassen, die Türkei auf diesem
Weg an vorderster Stelle zu unterstützen? Vieles
spricht dafür, nur wenig dagegen.
So Michael Glos am 23. Oktober 1997 in der „Welt“.
Das war damals in der „Welt“. Herr Glos, mir scheint, Sie
sind jetzt aus der Welt. Das ist das Problem, das Sie ha-
ben.
Damit wir sehen, auf welch löchrigem Boden Sie sich
mit Ihrem Antrag bewegen, zitiere ich einen noch „größe-
ren“ Außenpolitiker aus der CSU:
Es geht nicht an, dass ein wichtiges Brückenland
zwischen Europa und dem Nahen Osten und Zen-
tralasien an den Rand gedrückt und wie ein Aussät-
ziger behandelt wird.
Das ist noch Communis Opinio. Weiter heißt es:
Im EG-Assoziierungsabkommen vor nunmehr
30 Jahren war der Türkei bereits die volle EG-Mit-
gliedschaft in Aussicht gestellt worden. Diese zu-
mindest moralische, wenn nicht eigentlich sogar
rechtliche Verpflichtung sollten die Kollegen des Eu-
ropäischen Parlaments ... in ihrem Abstimmungsver-
halten im Auge behalten.
Diese Ausführungen in einer Presseerklärung der CSU-Lan-
desgruppe vom 17. März 1995 stammen von Christian
Schmidt, einem der großen Außenpolitiker Ihrer Fraktion.
Meine Damen und Herren, ich rate Ihnen dringend,
diesen Antrag, mit dem Sie die Bundesregierung auffor-
dern, etwas anderes zu tun, als Sie immer getan haben,
sang- und klanglos zurückzuziehen. Ich möchte Ihnen die
Blamage gerne ersparen.
Wenn Sie das nicht tun, besteht nicht mehr nur der Ver-
dacht, sondern die Gewissheit, dass Sie die Kontinuität in
der Außenpolitik nicht mehr wollen und dass Sie das Ver-
hältnis zur Türkei benutzen wollen, um Herrn Koch ein
billiges Wahlkampfmanöver zu erlauben. Sie müssen ver-
antworten, ob Sie sich auch dieses Mal wieder zwingen
lassen wollen wie damals mit dem Ausschuss unseligen
Angedenkens.
Darüber müssen Sie Auskunft geben. Es wird Ihnen,
meine Damen und Herren von der Opposition, nicht leicht
gemacht werden, mir nichts, dir nichts die Politik einfach
wegzuschieben, die nicht in Ihr Wahlkampfmanöver
passt. So leicht nicht, meine Damen und Herren von der
Opposition!
– So ist das, wenn man mit den Tatsachen allzu unhisto-
risch umgeht.
Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen.
Deutschland hat – das habe ich schon mehrfach deutlich
gemacht – hinsichtlich der Bekämpfung des internationa-
len Terrorismus und der Maßnahmen, die damit zusam-
menhängen, nun wirklich nicht den geringsten Grund, sein
Licht in irgendeiner Weise unter den Scheffel zu stellen.
Der Außenminister und ich haben auf dem Petersberg
deutlich gemacht, dass wir alleine in diesem Jahr für den
Einsatz in Afghanistan und den Wiederaufbau dieses Lan-
des 650 Millionen Euro ausgeben. Ich kenne nicht viele
Länder, die sich in ähnlicher Weise engagieren. Deswegen
hat Deutschland keinen Grund, sich Vorwürfe machen zu
lassen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
sollten nicht die Stichworte liefern, dass uns Vorwürfe ge-
macht werden können.
Wir sind auf dem Balkan präsent. Sie haben zu Recht
darauf hingewiesen, dass das unser gemeinsamer Wille
war. Ich betone: Sie haben Enduring Freedom nicht zuge-
stimmt, aber aus anderen Gründen als dem Inhalt. Da-
rüber besteht kein Streit. Diesen Willen haben Sie, wie ich
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
denke, dadurch bewiesen, dass Sie, als es um die Verlän-
gerung ging, mit an Bord waren.
Was wir auf dem Balkan und in Afghanistan im Rah-
men von Enduring Freedom tun, kostet uns im Jahr
2 Milliarden Euro. Das ist mehr, als jede andere Bundes-
regierung bisher aufwenden musste und aufgewendet hat.
Niemand in der internationalen Politik, mit Ausnahme der
Opposition im deutschen Parlament, macht Deutschland
den Vorwurf mangelnden Engagements bei der Wahrneh-
mung seiner internationalen Pflichten. Sie sollten das sein
lassen. Sie zerstören auf diese Weise den wohl verdienten
Ruf dieses Landes.
Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Irak-Reso-
lution 1441 etwas anders interpretieren als Sie, nämlich
als die Chance, durch die Inspektoren zu erfahren, was in
dem Land wirklich ist. Daraus werden wir die Konse-
quenzen ziehen, und zwar friedlich und ohne Krieg.
Das steht im Mittelpunkt unserer Politik. Darauf wollen
wir hinarbeiten.
Es gibt unterschiedliche Einschätzungen darüber, was
jetzt im Irak vor sich geht, welche Bewegungsmöglich-
keiten die Inspektoren haben und welche nicht. Wir soll-
ten es in dieser Frage mit Kofi Annan halten, der als Ers-
ter informiert wird und die Informationen an diejenigen,
die sie angehen, weitergibt. Gegenwärtig jedenfalls – ich
äußere mich sehr zurückhaltend – sieht es Gott sei Dank
so aus, als könnte es gelingen, das Ziel einer Entwaffnung
und der Vernichtung von Massenvernichtungswaffen – das
sage ich ganz bewusst – friedlich zu erreichen. Das hoffe
ich jedenfalls sehr. Ich führe keine theoretischen Debatten
darüber, was passiert, wenn dies nicht der Fall sein wird;
denn vor Self-fulfilling Prophecy habe ich doch aus-
drücklich zu warnen.
Wir haben deutlich gemacht, wo wir stehen und was wir
zu leisten imstande und bereit sind. Das habe ich den Frak-
tionsvorsitzenden und auch öffentlich gesagt. Das habe ich
hier in aller Deutlichkeit zu unterstreichen. Dabei bleibt es;
dem ist nichts hinzuzufügen. Dass wir im Einklang mit un-
seren Gesetzen und unseren materiellen Möglichkeiten al-
les tun, um die Sicherheit des Staates Israel und seiner
Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, gehört im Übri-
gen zu den guten Kontinuitäten deutscher Außenpolitik.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass wir schnell han-
deln mussten, um zur Stabilisierung des Haushalts – dazu
hat der Finanzminister gestern Richtiges und Wichtiges
gesagt – und der sozialen Sicherungssysteme beizutragen,
nicht mit dem Ziel, alles so zu lassen, wie es ist, sondern
mit dem Ziel, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswe-
sen und bei der Rente dort einzugreifen, wo es nötig ist,
aber mit der gebotenen Vorsicht und der sozialen Sensibi-
lität, weil es um Menschen geht, die eine Lebensleistung
erbracht haben. Sie darf man nicht ungestraft irgendwel-
chen Debatten aussetzen.
Bei diesen Gesetzen geht es um die kurzfristige Stabi-
lisierung mit dem Ziel, mittel- und langfristig jene struk-
turellen Probleme zu lösen, die nicht nur mit der Kon-
junktur zu tun haben, sondern auch mit der damals nicht
von allen kritisierten Finanzierung der deutschen Ein-
heit über die sozialen Sicherungssysteme. In der Krise
und bei Veränderungen im Altersaufbau unserer Gesell-
schaft werden diese strukturellen Mängel besonders deut-
lich. Sie müssen nun angegangen werden, und zwar auf
einer Basis, die den Menschen keine Angst macht, son-
dern ihnen Hoffnung gibt. Wir werden diese Aufgabe be-
wältigen. Seien Sie dessen sicher!
Weil wir sehr genau die Tatsache kennen, dass wir in der
zweiten Kammer, im Bundesrat, auf die Zusammenarbeit
mit der Opposition angewiesen sind, möchten wir die Op-
position auffordern, in den Punkten, in denen es keinen po-
litischen Streit gibt oder wo man ihn überwinden kann, im
Interesse des Landes und im Sinne einer Koalition der Ver-
nünftigen sachlich und fair mitzuarbeiten. Wir erwarten
nicht, dass nun harte Kritik von der Tagesordnung ver-
schwindet, bitten aber darum, dass jede Form der persön-
lichen Diffamierung in den Hintergrund tritt. Im Übrigen
glauben wir daran, dass wir unsere Aufgabe, die uns am
22. September 2002 übertragen wurde, mit aller Kraft aus-
füllen werden, dass aber ebenso die Opposition nicht nur
die Pflicht zur Kritik, sondern auch die Pflicht zur Verant-
wortung hat. Auch diese haben Sie wahrzunehmen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war ein bemer-
kenswerter Schlussapplaus. Vier Abgeordnete der SPD
sind sogar aufgestanden. Die müssen Sie sich merken!
Es ist schon bemerkenswert: Normalerweise kann man
an der Länge des Beifalls die Qualität einer Rede ablesen.
Ist der Beifall lang, war die Rede gut. Bei Ihnen ist es aber
genau umgekehrt. Seit Monaten ist zu beobachten: Je
schlechter Ihre Reden sind, desto länger applaudieren Ihre
Genossen,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 887
so, als wollten sie Ihnen ein bisschen Mut machen. Denn
nachdem der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch-
land etwas mehr als eine Stunde gesprochen hat, ist fest-
zuhalten, dass Sie, Herr Bundeskanzler, zwei Drittel Ihrer
Redezeit darauf verwandt haben, sich mit der Opposition
auseinander zu setzen und sie zu beschimpfen. In der ver-
bleibenden Zeit haben Sie nichts anderes gebracht als ein
paar Allgemeinplätze. In Wahrheit ist diese Rede, die
doch von Ihren Emissären als historische Rede angekün-
digt worden ist, sogar noch hinter Ihrer Regierungserklä-
rung zurückgeblieben, die Sie hier vor wenigen Wochen
abgegeben haben.
Sie haben eine Sammelsuriumrede gehalten. Ihre Rede
zeigt, dass Sie ausgebrannt sind und dass es Ihnen an Saft
und Kraft fehlt.
Sie haben am Anfang mit einer Heftigkeit auf die Op-
position eingeprügelt, die mich prompt an ein Zitat von
Johann Wolfgang von Goethe erinnert hat:
Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an
Wahrheit und an Kräften fehlt.
Das, was Sie heute gebracht haben, war sehr heftig, Herr
Bundeskanzler.
Was die Wahrheit angeht, möchte ich Sie darauf auf-
merksam machen, dass uns während Ihrer Rede eine Mel-
dung der Nachrichtenagentur dpa von 9.51 Uhr erreichte:
Die Zahl der Arbeitslosen ist im November wieder
über die Vier-Millionen-Marke gestiegen. Nach
Angaben der Bundesanstalt für Arbeit waren
4 025 800Menschen ohne Arbeit, 96 100mehr als im
Oktober und 236 900 mehr als vor einem Jahr.
Von einem Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland erwarte ich, dass er hier eine Konzeption
vorträgt und uns mitteilt, wie das Ziel der Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit durch Strukturreformen vorange-
bracht werden kann. Dazu sagen Sie aber nichts, Herr
Bundeskanzler.
Sie reden sich mit der Weltwirtschaft heraus.
Diese Regierung hat keinen Faden; sie hat noch nicht
einmal einen roten Faden. Das Problem ist, dass Sie keine
Struktur und keine Konzeption haben. Sie erzählen uns et-
was über Ihre Sicht zu Drogerien und Apotheken. Das ist
zwar außerordentlich wichtig, aber das kann doch nicht
allen Ernstes Ihre Antwort darauf sein, wie die demokra-
tiegefährdende Massenarbeitslosigkeit wieder reduziert
werden kann. Sie reden an den Menschen vorbei. Ihr Pro-
blem ist, Herr Bundeskanzler, dass Sie jetzt von Ihren Zi-
taten eingeholt werden. Sie haben zur Erheiterung des
Hauses fünf Jahre alte Zitate von Herrn Glos vorgetragen.
Bei Ihnen reicht es, fünf Wochen alte Zitate vorzutragen,
um Sie in der Wirtschaftspolitik als Umfaller zu entlarven.
Was haben Sie nicht alles versprochen! Sie wollten – mit
dieser Aussage sind Sie in den Wahlkampf gegangen – die
Steuern und die Schulden nicht erhöhen und die Abga-
benbelastung auf einem stabilen Niveau halten. Nichts da-
von ist erfüllt worden. Es ist ja bemerkenswert, mit wel-
cher Wortakrobatik Sie uns mittlerweile die Erhöhung der
Abgaben schmackhaft machen wollen, ausgerechnet Sie,
der noch im Sommer dieses Jahres gesagt hat, dass eine
solche Politik in der jetzigen konjunkturellen Situation
ökonomisch unsinnig sei und deshalb nicht in Betracht
gezogen werde. Nein, Sie können sich mit dem Hinweis
auf die Lage der Weltwirtschaft nicht beliebig herausre-
den. Das Problem in Deutschland ist nicht irgendeine kon-
junkturelle Krise. Sie hoffen und vertrauen darauf – das ist
in Wahrheit das Problem der Regierung –, dass die Welt-
konjunktur anspringt, indem die Vereinigten Staaten von
Amerika strukturelle Maßnahmen beschließen und durch-
führen, die Sie in Deutschland ausdrücklich verweigern.
Das ist Ihr großes Problem, Herr Bundeskanzler.
Sie hoffen darauf, dass die Weltwirtschaft durch Wachs-
tum in den USA in die Gänge kommt. Aber Sie sind nicht
bereit, Ihren Beitrag zu leisten und auf die strukturellen
Prozesse in Deutschland entsprechend zu reagieren.
Wir haben in Deutschland nicht irgendeine Konjunk-
turkrise, sondern eine Krise der Strukturen. Wenn diese
Wahrheit nicht von Ihnen und von der Regierung ange-
nommen wird, dann wird es in diesem Winter 4,5 Millio-
nen Arbeitslose geben. Arbeitslosigkeit ist ein schlimmes
Schicksal für die Betroffenen und deren Familien. Dazu
sagen Sie aber nichts. Sie sprechen stattdessen stunden-
lang über Herrn Glos und seine Zwischenrufe. Sie gehen
auf das Problem der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
nicht ein.
Sie sind angeschlagen und ausgebrannt. So war auch Ihre
Rede. Sie haben keine Ziele formuliert. Das ist das Pro-
blem Deutschlands.
Wenn an der schlechten Situation in Deutschland allein
die Weltwirtschaft bzw. die Weltkonjunktur schuld wäre,
dann wäre es schlechterdings nicht erklärbar, warum
Deutschland unter Ihrer Regierung – das war früher nicht
der Fall – bei nahezu allen ökonomischen Daten zum
Schlusslicht in Europa geworden ist. Das wird auch in
diesem Jahr wieder so sein: Nach den Prognosen wird das
Wirtschaftswachstum in Deutschland bei 0,4 Prozent, in
Frankreich bei 1,1 Prozent, in Großbritannien bei 1,4 Pro-
zent, in Griechenland bei 2,5 Prozent und in Irland bei
3,5 Prozent liegen. Das heißt, Deutschland ist das Schluss-
licht beim Wachstum in Europa. Wenn an der schlechten
Situation in Deutschland nur die Weltwirtschaft bzw. die
Weltkonjunktur oder die „böse“ Globalisierung schuld
wäre, dann müssten doch die anderen europäischen Län-
der zumindest in vergleichbaren Schwierigkeiten stecken.
Dr. Guido Westerwelle
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Guido Westerwelle
Aber in Wahrheit machen diese, ausdrücklich auch die so-
zialdemokratisch regierten, eine andere Politik. Ich möch-
te aus der Rede zitieren, die der britische Schatzkanzler
am 5. November 2002 – das ist also nur wenige Wochen
her – gehalten hat:
Heute erläutere ich die radikalen Maßnahmen für
mehr Wettbewerb, für weniger Bürokratie und für die
Senkung der Unternehmensteuern zur Förderung
von Entrepreneurship, um die Unternehmenskultur
in der britischen Wirtschaft zu erweitern und zu ver-
tiefen.
Sozialdemokratische Führer in Europa gehen also den
Weg der ordnungspolitischen und marktwirtschaftlichen
Erneuerung. Sie gehen dagegen den Weg der bürokrati-
schen Staatswirtschaft. Das ist das Grundproblem unserer
Republik.
Mit was kommen Sie jetzt an? Sie kommen mit einer
Steuererhöhung nach der anderen an.
Es ist ja bemerkenswert, für welche Sprachverwirrung Sie
in der laufenden Debatte sorgen. Das, was Sie vorgelegt
haben, nennt sich Sparpaket. Seit wann handelt es sich
um ein Sparpaket, wenn die Steuern, die Abgaben und die
Schulden erhöht werden? Die Einzigen, die nach Ihren
Vorstellungen sparen müssen, sind die Bürger.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben wörtlich gesagt – das
ist eigentlich eine freudsche Fehlleistung, die Ihre wahre
Geisteshaltung ausdrückt –:
Weniger für den privaten Konsum – und dem Staat
Geld geben, damit Bund, Länder und Gemeinden
ihre Aufgaben erfüllen können.
Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Ihrer und
unserer Politik: Sie wollen Volkseigentum, wir wollen ein
Volk von Eigentümern.
Sie führen den Klassenkampf fort. Sie können nicht
einmal mehr kaschieren, wie sehr Sie sich den Reformen
entziehen, wie strukturunfähig die Koalition aus Sozial-
demokraten und Grünen ist. Das kann man den jüngsten
Äußerungen von Herrn Stiegler, die uns gestern wieder
beglückt haben, entnehmen. Ich bin mir gar nicht sicher,
ob ich so etwas zitieren darf.
Darf ich das zitieren, Herr Präsident?
Das ist schon zitiert worden.
Dann darf ich es zitieren. Ich bin beruhigt.
Da setzt die Bundesregierung eine Kommission zur
Reform der Rentensysteme ein
und Herr Stiegler sagt dazu:
Ich erwarte, dass die Professoren wie Herr Rürup uns
nicht länger mit ihrer Ejaculatio praecox beglücken.
– Ich möchte das jetzt nicht übersetzen, Frau Kollegin.
Das wäre mir zu peinlich, Ihnen offensichtlich nicht.
Weiter heißt es:
Ich habe die Schnauze voll davon, dass wir vor un-
seren Mitgliedern und Wählern täglich den Kopf hin-
halten müssen für dieses Professoren-Geschwätz.
Damit entlarven Sie, warum Sie die Rürup-Kommission
eingesetzt haben. Diese Kommission soll in einer Zeit das
Richtige denken, damit Sie in derselben Zeit die Mög-
lichkeit haben, weiter das Falsche zu machen.
Sie müssten diesem Land eine ordnungspolitische Ant-
wort geben, eine Antwort, die in der Erneuerung der so-
zialen Marktwirtschaft liegt. Es ist nämlich Unfug zu
glauben – das ist Ihr typisches Denken –, man müsse die
Steuern erhöhen, damit mehr Geld in die Staatskassen
kommt. Senken Sie die Steuern! Dann kommt mehr Geld
in die Staatskassen. Ein Problem des Wirtschaftsstandorts
Deutschland ist die zu hohe Steuer- und Abgabenlast.
Steuersenkung ist das beste Beschäftigungsprogramm
und nur über mehr Beschäftigung bekommen wir wieder
gesunde Staatsfinanzen. So einfach ist das. Das machen
uns die anderen Länder vor.
Vereinfachen Sie das Steuersystem! Anstatt einen Vor-
schlag für ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres
Steuersystem vorzulegen, fügen Sie lauter neue Steuern
hinzu. Jahrelang hat die deutsche Politik überparteilich
den Bürgerinnen und Bürgern gesagt: Wir brauchen mehr
private Zusatzvorsorge für das Alter.
Baut mehr für eure Zukunft vor! – Was passiert jetzt? Sie
führen eine Steuer für diejenigen ein, die im Laufe ihres
Lebens fleißig gewesen sind, die vorgesorgt, Wohneigen-
tum geschaffen oder in Fonds angespart haben.
Die Menschen haben das Geld, das sie für das Alter anle-
gen können, schon x-mal versteuert. Deshalb ist es unge-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 889
recht, eine weitere Steuer in Höhe der hier diskutierten
15 Prozent draufzusetzen, die Sie uns als Wohltat weis-
machen wollen.
Lassen Sie mich auch noch auf die anderen Steuern zu
sprechen kommen, zum Beispiel die Vermögensteuer.Das
wird insbesondere für den Wahlkampf in Niedersachsen das
entscheidende Thema werden. Was die Menschen vergessen
und Sie ihnen vormachen, ist Folgendes: Als die Vermö-
gensteuer seinerzeit vom Bundesverfassungsgericht für un-
zulässig erklärt worden ist, gab es in vollem Umfang eine
Kompensation für die Länder. Jetzt will man die Kompen-
sation vergessen und die Vermögensteuer wieder einführen.
Ihnen fällt nichts anderes ein als eine neue Steuer, eine
neue Subvention, ein neuer Paragraph. Das ist der falsche
Weg. Die Vermögensteuer ist in Wahrheit keine Steuer ge-
gen die Reichen. In zwei Dritteln der Fälle war es eine be-
triebliche Vermögensteuer. Wie wollen Sie einem Hand-
werker, der über seinem kleinen Geschäft wohnt, erklären,
das eine sei betriebliches und das andere privates Vermö-
gen? Das ist an der Realität vorbeigedacht, Herr Eichel.
So kann nur jemand reden, der noch nie eine Mark eigen-
ständig erwirtschaften musste.
Die Zusammensetzung Ihrer Fraktion – 75 Prozent
Gewerkschaftsfunktionäre – spiegelt sich in Ihrer Politik
wider. Sie ist ohne marktwirtschaftliche Vernunft, ohne
wirtschaftlichen Sachverstand.
Wir brauchen aber eine Politik, die sich bezüglich der so-
zialen Sicherungssysteme auf die Herausforderungen un-
serer Zeit einlässt.
Wir haben gesehen, wie mit Kommissionsergebnissen
umgegangen wird. Einen ganzen Wahlkampf lang durfte
Herr Hartz für Sie reden. Einen ganzen Wahlkampf lang
haben Sie das Hartz-Konzept als die Wunderwaffe zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit angeführt. Mittlerweile
aber – das ist noch nicht einmal eine Woche her – verab-
schiedet sich Herr Hartz von dem, was Sie hier unter sei-
nem Namen als Politik reklamieren. Von Hartz und den
kostbaren Ansätzen im Sommer ist außer dem Namen
nichts übrig geblieben.
– Wenn auf irgendjemanden das Wort „Strukturkonserva-
tiver“ zutrifft, dann mit Sicherheit auf Sie, Herr Kollege
Mölle ––
– Herr Kollege „Münte-Möllemann“.
–Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Ih-
nen dazu etwas sagen: Sie haben völlig Recht, wenn Sie
dazu Zwischenrufe machen. Aber wenn ausgerechnet Sie
dazwischenrufen, ist das wirklich ein starkes Stück. Wis-
sen Sie, worin der Unterschied zwischen uns besteht? Bei
Ihnen werden diejenigen, die eine Affäre haben, wie Herr
Schlauch bei den Meilen oder wie manche bei der SPD im
Rheinland, auch noch in die Regierung befördert. Wir zie-
hen die Konsequenzen.
Das ist der Unterschied zu Ihnen und Ihrer Scheinheilig-
keit in diesem Hause.
Herr Kollege Westerwelle, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Müntefering?
Ja sicher.
Bitte schön.
Herr Westerwelle, haben Sie inzwischen von Ihrem
Schatzmeister auch die Kassen Ihrer Partei in den anderen
Bundesländern untersuchen lassen oder nur die in Nord-
rhein-Westfalen oder sind Sie bereit, das zu tun?
Ich beantworte Ihre Frage damit: Wie weit sind Sie mit
Ihrem Gespräch mit Frau Wettig-Danielmeier?
Lassen Sie doch solche Mätzchen!
Wir haben alle unsere Probleme zu schultern, das ist wohl
wahr.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, hier geht es
um die Frage, wie dieses Land vorangebracht werden soll.
Daran merkt man übrigens auch, wie die Situation ist.
Wenn Sie bei einer Debatte über die Zukunft unseres Lan-
des mir als Gegner aus der Opposition nichts anderes ent-
gegenzubringen haben als die innerparteilichen Klärungs-
prozesse, die wir in der Tat zu bewältigen haben, dann
zeigt das, dass Sie nichts mehr im Köcher haben, was die-
ses Land voranbringen könnte. 0,0 ist bei Ihnen an Sub-
stanz zu hören.
Dr. Guido Westerwelle
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Guido Westerwelle
Ich möchte noch einmal auf den entscheidenden Punkt,
die sozialen Sicherungssysteme, eingehen. Wir werden
erleben, dass mit der Rürup-Kommission genau das-
selbe wie mit der Hartz-Kommission passiert. Es wird das
Richtige gedacht, es wird mit Sicherheit auch Hervorra-
gendes aufgeschrieben, aber wie bei Hartz wird nichts da-
von übrig bleiben.
Der Generalsekretär der Sozialdemokraten sagt mitt-
lerweile, bei der Rente müsse gar nichts passieren, es
könne alles so bleiben.
Die Worte „die Rente ist sicher“ sind bekannt. Diese Aus-
sage ist demjenigen, der sie gemacht hat, oft genug bitter
aufgestoßen.
Die Herausforderung unserer Zeit besteht aber darin,
die Themen Beitragsstabilität, Rentensicherheit und Ge-
nerationengerechtigkeit anzugehen. Keines dieser Ziele
erreichen Sie mit Ihrer Politik, weil Sie sich bis heute vor
wesentlichen Strukturfragen drücken. Das gilt zum Bei-
spiel für die Frage der Lebensarbeitszeit. In Wahrheit
geht es doch nicht um die Frage des gesetzlichen Ren-
teneintrittsalters, sondern um die Frage des durch-
schnittlichen beruflichen Eintrittsalters. Wenn wir es
schafften, die junge Generation, die bei uns im Schnitt
vier bis fünf Jahre später als in vielen unserer europä-
ischen Nachbarländer in den Beruf kommt, ein Jahr
früher in den Beruf zu bringen, wären wir in der Lage,
die Beiträge um 1 Prozent zu senken. Dazu hören wir
von Ihnen kein Wort.
Sie reden hier zwar über die Zukunft unseres Landes,
aber Sie nennen keine Rezepte, wie man Arbeitslosigkeit
bekämpft. Sie sagen auch nichts zur Bildungspolitik als
der wichtigsten Zukunftsfrage unseres Landes. Sie gehen
nicht auf die Strukturreform bei der Rente oder bei den so-
zialen Sicherungssystemen insgesamt ein. Sie eröffnen
dazu nur ein paar Nebenkriegsschauplätze. Was uns die
Regierung bietet, das ist konzeptionslos. Diese Konzepti-
onslosigkeit muss beendet werden. Sie werden in den
nächsten Wochen eine noch größere Ablehnung Ihrer Po-
litik in der Bevölkerung erleben. In Wahrheit fürchten Sie
sich vor einer Revanche am 2. Februar 2003.
Ein gegen Sie gerichteter Untersuchungsausschuss
ist notwendig, damit die Wähler vor den Landtagswahlen
sehen können, dass Sie vor einer Wahl abermals die Un-
wahrheit sagen – das ist der entscheidende Punkt –; denn
die Mehrwertsteuererhöhung haben Sie längst beschlos-
sen. Genauso waren die jetzt stattfindenden Steuererhö-
hungen vor der Bundestagswahl längst beschlossen.
Ich komme auf die Außenpolitik zu sprechen. Was das
ausländische Engagement unserer Bundeswehr angeht,
versuchen Sie, eine überparteiliche Politik zu betreiben.
Das ist richtig und soll an dieser Stelle in gar keiner Weise
geschmälert werden, ganz im Gegenteil. In dieser Hin-
sicht haben Sie auch im letzten Jahr eine richtige Politik
betrieben, Herr Bundeskanzler. Ich darf allerdings daran
erinnern, dass Sie für diese richtige Politik stets mehr Un-
terstützung durch die Opposition in diesem Hause als
durch die Mitglieder der Koalitionsfraktionen erfahren
haben.
Es ist eben nicht so, dass dieser Wahlkampf an unseren
außenpolitischen Beziehungen spurlos vorbeigegangen
ist. Zu den peinlichsten Momenten in der Außenpolitik
zählte der Moment, als Sie beim NATO-Gipfel in Prag
geradezu flehentlich um ein Lächeln und um einen
freundlichen Händedruck von Herrn Bush vor den Kame-
ras gebeten haben.
Das wurde von Ihren Sprechern schon als Durchbruch zu
gesunden deutsch-amerikanischen Beziehungen gefeiert.
Wenn man einen mit einem Lächeln verbundenen Hände-
druck schon als Ausdruck der Funktionsfähigkeit der
deutsch-amerikanischen Verhältnisse hochstilisiert, dann
ist es um die Beziehungen zwischen der US-amerikani-
schen und der deutschen Regierung ganz schön schlecht
bestellt.
Auf diesem Feld ist eine andere Politik notwendig. Die
Außen- und auch die Innenpolitik müssen mehr Linie ha-
ben.
Ich glaube, dass viele Menschen erkennen können,
dass Sie als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch-
land gemeinsam mit Ihrem Finanzminister vor der Wahl
bewusst die Unwahrheit gesagt haben und dass Sie dabei
sind – das bestätigen immer wieder sämtliche Ausrutscher
aus Ihren eigenen Reihen –, vor den Landtagswahlen Sel-
biges noch einmal zu tun.
Die „Financial Times“ schreibt zur Wahrhaftigkeit in
der Politik heute Folgendes:
Als Helmut Kohl seinerzeit „blühende Landschaf-
ten“ versprach, hat er sich geirrt; aber er hat nicht ge-
logen. Als Gerhard Schröder sich im Sommer dieses
Jahres kategorisch gegen Steuererhöhungen aus-
sprach, hat er sich nicht geirrt, er hat gelogen.
Damit ist der Unterschied auf den Punkt gebracht. Man
kann vor einer Wahl unterschiedliche Einschätzungen
über die Entwicklung nach einer Wahl haben. Aber wenn
man amtlich weiß, dass man zum Beispiel die Defizitkri-
terien nicht erfüllen wird, dann darf man vor der Wahl
nicht amtlich die Unwahrheit sagen. Dass Sie das dennoch
getan haben, kann nicht ohne Folgen bleiben. Dabei mit-
zuhelfen ist auch ein Beitrag zur demokratischen parla-
mentarischen Kultur.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort der Kollegin Katrin
Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
890
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 891
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Westerwelle, Sie haben dem Bundeskanzler gerade
vorgeworfen, er sei zu heftig gewesen. Ich muss sagen:
Ihnen hat es wieder einmal nicht an Heftigkeit gefehlt; in
Ihrer Rede hat es nur an Substanz gefehlt. Aber das sind
wir schon gewohnt, Stichwort „18 Prozent“.
Sie haben sich hier hingestellt und gesagt, die Massen-
arbeitslosigkeit in Deutschland – sie ist in der Tat ein
großes Problem, das wir mit allen Mitteln angehen – sei
demokratiegefährdend. Ich will Ihnen sagen, was ich für
demokratiegefährdend halte: Ich halte es für demokratie-
gefährdend, dass Sie, Herr Westerwelle, dabei zusehen,
wie in Ihrer eigenen Partei mit antisemitischen Ressenti-
ments Wahlkampf gemacht wird.
Es ist in der Tat sehr bemerkenswert – der Bundes-
kanzler hat zu Recht darauf hingewiesen –, was wir hier
in den letzten Wochen von der Opposition und von Teilen
der politischen Rechten im Land erleben, alles getarnt
als politische demokratische Auseinandersetzung. Das,
meine Damen und Herren, ist wirklich beispiellos in der
Geschichte. Was Sie veranstalten, Frau Merkel, ist heuch-
lerisch, es ist eine unredliche Kampagne ohnegleichen,
nur nach hinten, ohne Inhalt.
Wir – damit meine ich Rot und Grün – werden diese Art
von Kampagne und diese Art von Schauspiel nicht hin-
nehmen. Das erleben Sie heute hier in diesem Hause.
Liebe Frau Merkel, ich frage Sie allen Ernstes: Woher
nehmen Sie eigentlich die Unverfrorenheit zu dieser maß-
losen Inszenierung? Sie haben heute schon wieder Michel
Glos auf die Bühne geschickt, um genau das weiterzutrei-
ben, was Sie seit Wochen hier veranstalten.
Ausgerechnet Sie, die im Bundestagswahlkampf wie
eine Drückerkolonne von Haus zu Haus gelaufen sind, mit
unverfrorenen Versprechungen, bei denen Sie das Blau-
Weiße vom Himmel versprochen haben,
stellen sich heute hier hin und wollen über Wahrheit re-
den.
Sie haben ein Sofortprogramm für 20 Milliarden Euro
auf den Tisch gelegt und die ganzen Verheißungen kosten
über 70 Milliarden Euro. Glauben Sie denn allen Ernstes,
dass die Menschen in Deutschland das schon vergessen
haben?
Da fragt man sich schon, was Sie geritten hat, sich von
Herrn Koch den Untersuchungsausschuss aufschwatzen
zu lassen. Vielleicht hatten Sie heute Morgen schon Gele-
genheit zur Zeitungslektüre. Die Attribute übertreffen
sich von Blatt zu Blatt. „Irrwitzig“ ist noch eines der
harmloseren. Herr Westerwelle, auch Sie haben sich ge-
rade dafür ausgesprochen. Herr Döring, Ihr Parteikollege,
hat das als größten politischen Schwachsinn bezeichnet.
Ich kann dem Mann nur zustimmen.
Frau Merkel, Sie lassen sich ausgerechnet von einem
Herrn Koch instrumentalisieren, in dessen Verantwor-
tungsbereich CDU-Schwarzgelder in jüdische Vermächt-
nisse umgelogen werden. Haben Sie denn keine Möglich-
keit mehr, die Realität in diesem Lande wahrzunehmen?
Ausgerechnet der „brutalstmögliche Aufklärer“, der seiner-
zeit erklärt hat, dass sein einziger Fehler gewesen sei, die
Öffentlichkeit falsch informiert zu haben! Frau Merkel,
kehren Sie zurück zur politischen Kultur und zum gesun-
den Menschenverstand in diesem Lande!
Jetzt kommt er also, der Untersuchungsausschuss, der
„große konzeptionelle Renner der Opposition“, so hat es
die „Neue Zürcher Zeitung“ genannt. Mehr ist es nicht.
Herr Glos, ich habe auch schon eine Idee, womit sich der
Untersuchungsausschuss beschäftigen kann. Sie haben
vorhin in der Debatte schon deutlich gemacht, was Sie ei-
gentlich wollen. Sie haben hier nämlich in Richtung Re-
gierungsbank gesagt, einer Mehrwertsteuererhöhung
würden Sie zustimmen. Das haben wir alle gehört
und werden es im Protokoll nachlesen können. Das ist
doch eine gute Aufgabe für den Untersuchungsausschuss,
was Michel Glos hier zum Thema Mehrwertsteuer-
erhöhung sagt. Vielen Dank! Dabei werden Sie Herrn
Westerwelle wahrscheinlich an Ihrer Seite haben.
Ich wüsste gerne, wo Ihre Vorschläge zur Reform der
Rentensysteme in Deutschland, zur Reform des Gesund-
heitssystems, Ihre Alternativen zur Haushaltssanierung
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
bleiben. Vielleicht haben Sie, Frau Merkel, heute noch
Gelegenheit, deutlich zu sagen, worum es Ihnen eigent-
lich geht.
Wir haben Sozialsysteme, die in der Tat auf den Prüf-
stand gehören. Die Sozialsysteme müssen der Altersent-
wicklung der Gesellschaft gerecht werden. Das müssen
wir nicht nur in Bezug auf heute und auf das Rentenni-
veau, das wir heute erreichen können, überlegen, sondern
auch mit Blick darauf, wie es in 20, 25 oder 30 Jahren aus-
sieht. Genau darauf kommt es an. Deswegen brauchen wir
weitere Reformen.
Bisher hören wir von Ihnen nichts weiter als Klamauk
und Tamtam. Ich bin wirklich erschüttert: Was ist nur aus
der bürgerlichen Volkspartei CDU geworden?
Sie können noch nicht einmal ordentlich Opposition be-
treiben; man stelle sich vor, Sie hätten regieren müssen.
Gute Nacht, Deutschland, kann ich da nur sagen.
Wenn wir heute über den Haushalt debattieren, meine
Damen und Herren, dann tun wir das vor dem Hintergrund
einer wirklich schwierigen wirtschaftlichen Situation.
Nicht nur im Bundeshaushalt muss gespart werden. Auch
in den Ländern muss gespart werden, ebenso in vielen Un-
ternehmen im Land, von den großen Verlagen bis zu den
kleinen mittelständischen Unternehmungen. Diese Lage ist
nicht schönzureden – das tut hier auch niemand –, sondern
damit muss man umgehen, und zwar mit zwei Dingen: mit
vernünftigem Sparen und mit intelligenten Reformen, die
wir auf den Weg bringen.
Aber es macht keinen Sinn, Herr Glos und Herr Merz, die
Situation schlechter zu reden, als sie ist. Sie scheinen ja
Ihre Berufung genau darin gefunden zu haben. Herr Merz
sprach gestern hier von der Psychologie des Schlechtre-
dens. Wer ist es denn hier im Hause, der tut, als sei
Deutschland bereits ein Entwicklungsland? – Das sind
Sie.
Wer ist es denn, der behauptet, Deutschland stünde am
Abgrund? – Das sind wiederum Sie. Und wer ist es, ver-
dammt noch mal, der versucht, das Ansehen dieses Lan-
des international zu beschädigen?
Es gelingt Ihnen nicht, aber Sie versuchen es. Das sind
wiederum Sie.
Tatsache ist doch: Es geht uns in diesem Land nicht
mehr so gut wie vor Jahren
– im Osten wusste man das übrigens schon etwas länger –,
aber viele klagen auf relativ hohem Niveau. Und was fiel
Ihnen, Herr Merz, gestern in Ihrer Rede ein? – Nicht die
Arbeitslosenhilfeempfänger, nein, Ihnen fallen die
Dienstwagen- und Hausbesitzer ein. Das ist der Unter-
schied zwischen uns.
Wir sagen: „Alle müssen anpacken“ und Sie machen
kleinkarierte Klientelpolitik. Das werden die Menschen in
diesem Land wissen.
Wir können uns ja einmal vorstellen, wie es wäre,
wenn Stoiber nun unser Kanzler wäre. Dann hätten wir
nämlich statt des Steuersongs den Stoibersong und Frau
Merkel spielte wahrscheinlich die Schalmei dazu.
Dann hätten wir jetzt den „Jetzt habt ihr mich gewählt“-
Song für Stoiber. Ich sage Ihnen: Dann hätten wir wirk-
lich den Salat.
Erstens. Die Kassen wären leer, in Bayern, in Hessen
und im Bund. Die Maastricht-Kriterien würden nicht ein-
gehalten, weil die Steuereinnahmen mehr als gedacht
zurückgegangen sind, in Bayern, in Hessen und im Bund.
Hätte die Union auch noch ihr Sofortprogramm umgesetzt,
dann lägen wir bei den Maastricht-Kriterien nicht bei über
3 Prozent, sondern bei fast 5 Prozent. Das ist die Realität.
Zweitens. Der hessische Ministerpräsident müsste
einen Lügenausschuss einrichten, weil die Wahlverspre-
chen der Union in keinem einzigen Punkt realisiert wor-
den wären. Familiengeld? – Fehlanzeige. Kinderbetreu-
ung? – Wollten Sie gar nicht machen; machen wir dafür.
Reform am Arbeitsmarkt? – Gequatsche; wieder Fehlan-
zeige. Mittelstand? – Steuern runter bestimmt nicht, da
kein Geld vorhanden. Ihre 40-40-40-Nummer schließlich
würde 170 Milliarden Euro kosten. Das wäre das Ende
jeglicher Ausgaben des Bundes in der Sozial- und Ar-
beitsmarktpolitik. Damit würde sich der Lügenausschuss
dann beschäftigen, meine Damen und Herren.
892
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 893
Ich verstehe schon, dass Edmund Stoiber sich ein biss-
chen ärgert; denn wäre er Kanzler geworden, egal wie,
hätte er jetzt wenigstens ein Lied für sich. Nun hat nur
noch die leichte Sonnenbräune und einen Beraterkreis um
sich herum, der ihm das Gefühl gibt, er hätte doch noch
irgendwie gewonnen.
Das ist wie in dem Märchen vom Kaiser mit den neuen
Kleidern. Irgendjemand muss es ihm einmal sagen.
Frau Merkel, vielleicht können Sie es einmal tun. Sagen
Sie ihm: erstens, der Kaiser ist nackt, und zweitens,
Stoiber ist nicht Bundeskanzler. Das ist die Lage im Land.
Wenn ich mir die Lage in Hessen ansehe – 2 Milliar-
den Neuverschuldung statt 800 Millionen –, muss ich sa-
gen: Das ist eine reife Leistung. Man braucht Ausschüsse
im Bund, um davon abzulenken: Wann hat Koch eigent-
lich was genau gewusst?
Der Typ kommt mir vor wie ein volltrunkener Piratenka-
pitän, der auf einem halb abgesoffenen Kahn steht und
blind vor Gier noch ein viel größeres Schiff rammen will.
Ich sage Ihnen: Dieses große Schiff, der rot-grüne Kahn,
ist verdammt in Ordnung und weiß vor allen Dingen, wo-
hin es fahren will.
Im Gegensatz zu Ihrem Steuersenkungsfundamentalis-
mus haben wir ein ausgewogenes Paket vorgelegt. Herr
Westerwelle, es stimmt eben nicht, dass nicht beim Staat
gespart wird, sondern nur bei den Bürgerinnen und Bür-
gern. Zwei Drittel der Sparmaßnahmen liegen beim
Staat und ein Drittel liegt bei den Bürgerinnen und Bür-
gern. Das die Wahrheit; mit der sollten Sie sich einfach
einmal auseinander setzen.
Ja, wir erhöhen die Staatsverschuldung maßvoll. Ja, wir
beseitigen Steuervergünstigungen. Wir haben auch Maß-
nahmen zur Sicherung der Sozialsysteme ergriffen. Man
muss nicht mit jeder Maßnahme einverstanden sein. Es ist
richtig, dass man in der Koalition darüber diskutiert. Wer
aber etwas anderes will, der muss auch einmal ehrlich sa-
gen, was er will. Meine Damen und Herren von der Union,
allein die Aussetzung der Ökosteuer würde die Renten-
beiträge flott auf über 20 Prozent ansteigen lassen. Wenn
es das ist, was Sie wollen, dann sagen Sie das hier bitte.
Machen Sie Ihre Steuersenkungsversprechungen auf
Kosten höherer Schulden? Sagen Sie uns bitte, wie Sie
das umsetzen wollen.
Sagen Sie uns endlich einmal, welche Reformen Sie auf
den Weg bringen wollen und welche Sie wenigstens ein-
mal durchgerechnet haben.
Es stimmt, dass wir es in Deutschland mit einer sehr
speziellen Psychologie zu tun haben, wenn es um große
und wichtige Reformen geht: Den einen ist schon die
kleinste Reparatur am Haus Deutschland zu viel, die an-
deren wollen das Haus am liebsten gleich ganz abreißen
und neu aufbauen. Was beide Akteure nicht merken, ist,
dass sie beide Teil jener Reformblockade sind, die sich ge-
rade anbahnt. In aller Freundschaft zu den Gewerkschaf-
ten und mit aller Freundlichkeit zu den Verbänden sage
ich: Reform heißt immer auch, bei sich selbst anzufangen,
auch und gerade wenn es um Einschränkungen geht.
Ich sage das aber auch in Ihre Richtung, Frau Merkel.
Der Maximalismus der Union – Sie stellen Forderungen
und setzen immer noch eins drauf – ist in Wahrheit die
größte Reformblockade, mit der wir in Deutschland zu
kämpfen haben. Meine Damen und Herren von der Op-
position, Frau Merkel, auch die Opposition trägt eine Ver-
antwortung für das Land und ist nicht nur dafür da, mög-
lichst viel Krawall zu schlagen. Sie reden Deutschland
schlecht und ziehen Deutschland herunter.
In Deutschland gab es noch nie eine Opposition, die die
demokratischen Institutionen der Republik derart schlecht-
geredet hat und so mit Dreck beworfen hat, wie Sie das
machen:
Erst war es der Bundespräsident, dann der Bundestagsprä-
sident, dann gab es zwischendurch Klamauk im Bundesrat
und jetzt ist es der deutsche Bundeskanzler.
Dabei reden Sie von Patriotismus. Wer sind denn die
wahren vaterlandslosen Gesellen in diesem Land?
Sie sind nicht nur schlechte Verlierer, sondern auch
eine miserable Opposition. Wie würden Sie die Kom-
plettblockade bezeichnen? Was nicht alles blockiert wer-
den soll: Wir haben die Rentenblockade, die Ökosteuer-
blockade, die Arbeitsmarktblockade usw.
Ich kann Sie nur auffordern, mitzumachen und sich an
der Debatte konstruktiv zu beteiligen.
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
Vielleicht kriegt sich ja sogar Herr Koch noch ein.
Die Hartz-Vorschläge sind nach wie vor eine wirklich
große Herausforderung an Politik und Gesellschaft. So
viel Reformgeist hat es auf dem Arbeitsmarkt in Deutsch-
land noch nie gegeben: Personal-Service-Agenturen, Ich-
und Familien-AGs, Minijobs. All diese Maßnahmen brin-
gen Bewegung in den Arbeitsmarkt. Sie wollen dabei
außen vor bleiben? Ich kann Sie im Interesse der Men-
schen, die ohne Arbeit sind, nur bitten: Machen Sie mit!
Es gibt aber noch mehr Bereiche, bei denen es auf ge-
meinsames Handeln und gemeinsame Verantwortung an-
kommt. Wer den Sozialstaat erhalten will, der muss jetzt
handeln. In Deutschland befinden wir uns zum ersten Mal
in einer Situation, in der alles nicht einfach nur immer
mehr wird. Frau Merkel, das war auch der zentrale Fehler
in Ihrem Wahlkampf. Die Leute haben Ihnen nicht ge-
glaubt, dass man immer weiter auf Wachstum setzen
kann. Jetzt kommt es darauf an, die Sozialsysteme zu-
kunftsfest zu machen. Das heißt auch, dass wir den Men-
schen wieder mehr Eigenverantwortung und Entschei-
dungsfreiheit zurückgeben müssen.
Darauf wird es ankommen.
Für den sozialen Schutz der Menschen kann es in Zu-
kunft nicht mehr so wichtig sein, ob jemand abhängig be-
schäftigt oder selbstständig ist. Die modernen Berufsbio-
grafien sind nicht mehr so eindeutig. Einmal ist man in
einem Unternehmen beschäftigt, einmal ist man selbst-
ständig und einmal in Erziehungszeit. Der Sozialstaat hat
nicht allein die Aufgabe, zu versorgen und zu betreuen. Er
muss die Menschen in die Lage versetzen, ihr Leben in die
eigene Hand zu nehmen und sich selbst helfen zu können.
Darum geht es bei der Reform des Sozialstaates.
Gerade weil wir eine Gesellschaft wollen, die denen
zur Seite steht, die in existenzielle Nöte geraten sind, müs-
sen wir das Anspruchsdenken des Versorgungsstaates
überwinden. Deswegen brauchen wir langfristig ange-
legte Reformen der sozialen Systeme und keine, die nur
bis morgen oder übermorgen reichen.
Gerade in schwierigen Situationen wissen wir, dass wir
eine Gesellschaft von sehr verantwortungsbewussten
Bürgerinnen und Bürgern sind. Darauf muss die Politik
bauen.
Um die Freiheit der Entscheidung und um Eigen-
verantwortung geht es auch in der Wirtschaft. Trotz der
Probleme in der Konjunktur kann man auch positive Bei-
spiele nennen: Nordex, Windkrafthersteller, zum Beispiel
verkündet in diesen Tagen einen Gewinnanstieg um
26 Prozent. Dies ist ein Unternehmen von vielen, das in
die Zukunft investiert und Zukunft hat.
Wenn die Grünen auch oft belächelt worden sind,
bleibt dennoch richtig: Öko schafft Arbeitsplätze und
schreibt schwarze Zahlen in dieser Republik. Das sollten
Sie sich einmal anschauen.
Wichtig ist, dass wir bei den wirtschaftlichen Rahmen-
bedingungen nicht reglementieren, sondern reformieren.
Dafür ist die Arbeitsmarktreform ein wirklich gutes Bei-
spiel. Das betrifft solche Dinge wie den Ladenschluss, der
– jenseits des Sonntags natürlich – gelockert werden muss.
Das betrifft die Entbürokratisierung derWirtschaft.
Der Bundeskanzler hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
sie mit großen Schritten vorangehen muss. Der Arbeits-
markt muss durchlässiger werden. Mit den Möglichkeiten
der Wahl zwischen Minijobs und Zeitarbeit, Selbststän-
digkeit und Weiterbildung, die wir schaffen, machen wir
endlich die Mauer zwischen dem überregulierten Markt
der Arbeitsplatzbesitzer, den riskanten Selbstständigen
und den Arbeitslosen durchlässig. Dafür wurde es höchs-
te Zeit.
Die Lohnnebenkosten müssen ohne Wenn und Aber
herunter, damit in Deutschland wieder in Arbeit investiert
wird.
Entscheidungsfreiheit ist aber auch ein Thema in der
Familienpolitik. Das war allen hier im Hause vor den
Wahlen relativ wichtig; ich erinnere mich gut. Was wir
machen, ist, Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder
und Ganztagsschulen auf den Weg zu bringen und damit
gerade für Frauen Entscheidungsfreiheit herzustellen,
wirklich zwischen Beruf und Familienarbeit wählen zu
können.
Eines aber muss auch klar sein: Eltern müssen in die-
sem Land selbst entscheiden können, wie sie ihre Kinder
betreuen lassen. Hier ist jetzt die Innovationsfreude der
Länder sehr gefragt. Ob das zum Beispiel in Form von
Gutscheinen oder anderem geschieht, ob man sich für eine
Tagesmutter, für die Kinderkrippe, für einen Waldkinder-
garten oder die Betreuung zu Hause entscheidet, das muss
dem Staat in Deutschland egal sein.
Das gilt auch für die Schulen. Eine Verbesserung der
Qualität erreicht man nun einmal nicht zentralistisch und
von oben herab, sondern indem jede Schule Entschei-
dungsfreiheit hat und in den Wettbewerb mit anderen tritt.
Wie wichtig es ist, dass wir in Deutschland ein Bildungs-
system haben, das innovativ ist, und wie sehr das eine
Frage der sozialen Verantwortung ist, das wissen wir. Ge-
rade deswegen muss es vielfältige Angebote und die Ei-
geninitiative von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und
natürlich von den Schülern selbst geben.
Die Reformbereitschaft ist so groß wie der Reform-
bedarf in unserem Land. Wir brauchen den Mut dazu. Rot-
Grün hat ihn.
Das gilt auch für die Außenpolitik. Im Gegensatz zu
Ihnen von der Opposition haben wir da eine sehr klare
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 895
Haltung. Was heißt denn, wir hätten mit Kriegsangst
Wahlkampf gemacht? Immer noch hoffen wir – die Bun-
desregierung hat wirklich alles dazu getan –, dass es kei-
nen Angriff auf den Irak gibt. Wollen Sie denn wirklich je-
mandem weismachen, dass es sich dabei nicht um eine
reale Gefahr handelt? Wo leben Sie denn?
In Wahrheit sind Sie es doch, die in dieser Frage seit
Monaten einen politischen Eiertanz vorführen: Mal sollen
wir aus Solidarität zum Angriff bereit sein und dann will
Stoiber die Überflugrechte nicht einräumen.
Was wir wollen und tun, das ist klar: keine Beteiligung an
einer Intervention im Irak; denn wir halten sie für falsch.
Was Sie wollen und tun, ist offensichtlich nicht klar. Bei
Ihnen geht es je nachdem, wie es gerade kommt und wie
es einem einfällt.
Herr Glos, dass wir unseren Verpflichtungen nach-
kommen, das ist ja wohl selbstverständlich. Dabei handelt
es sich um keine indirekte Beteiligung, sondern um Ver-
tragstreue.
Dass man Ihnen das hier erklären muss, das ist bizarr und
peinlich; aber ich tue es trotzdem.
Nun zu Ihrer Haltung zum EU-Beitritt der Türkei;
dazu ist heute Morgen schon einiges gesagt worden. Es
geht Ihnen doch gar nicht um die Türkei oder die EU. In
Wahrheit geht es um eine Neuauflage des ausländerfeind-
lichen Wahlkampfes in Hessen.
Sie halten an dem Bild der undemokratischen und unre-
formierbaren Türkei bzw. an dem des bäuerlich rückstän-
digen Türken fest. Schon wieder bauen Sie ein
Schreckensszenario auf, mit dem Sie dem Land und der
europäischen Einigung schaden. Das ist bizarr und das
werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Natürlich hat die Türkei noch einen langen Weg
zurückzulegen, aber wir können doch nicht die positiven
Prozesse, die gerade jetzt angestoßen worden sind, im An-
satz zerstören, indem wir einen Rückzieher in der Frage
des EU-Beitritts machen. Ich kann nur davor warnen,
schon wieder in Ihrer üblichen Spaltermanier Wahlkampf
auf Kosten von Minderheiten zu betreiben. Die Menschen
wollen die Hetze gegen Ausländer und Minderheiten in
diesem Land nicht. Sie erinnern sich noch gut an die
Schmutzkampagne zur letzten Landtagswahl in Hessen
und so etwas wollen sie nicht wieder erleben.
Hören Sie endlich auf, immer dann, wenn es Probleme
in der Wirtschaft und im Land gibt, diese auf die Schwa-
chen oder die Minderheiten, im Zweifelsfall sogar auf die
Ökologie zu schieben.
Das ist billig und das wissen Sie auch. Die wirtschaftliche
Lage im Land und das gesellschaftliche Klima hängen
eng zusammen.
Die Stammtischparolen Ihres Herrn Koch sind beides:
gefährlich für die Schwachen und gefährlich für die Wirt-
schaft, die alles andere braucht als ein Klima von Angst
und Repression.
An dieser Stelle lassen Sie mich eines sagen, was
mich in den letzten Monaten sehr umgetrieben hat. Paul
Spiegel ist als Vorsitzender des Zentralrates der Juden
wieder gewählt worden. Ich gratuliere ihm von dieser
Stelle aus sehr herzlich.
Kurz vor seiner Wahl hat er wiederholt, dass sich die Ju-
den allein gelassen fühlen in ihrem Kampf gegen den Anti-
semitismus in Deutschland. Meine Damen und Herren,
wenn das trotz aller Beteuerungen und Versuche so ist, dann
müssen wir uns tiefe Gedanken um die Situation in unserem
Land machen. Dann müssen wir energisch und sehr, sehr
klar sein! Darauf kommt es an – in der Politik, aber vor al-
lem bei den Kindern und Jugendlichen in den Schulen.
Immer mehr Jüdinnen und Juden entscheiden sich, in
Deutschland zu leben. Ich bin unendlich froh darüber und
deswegen ist es nur folgerichtig, dieser Entwicklung mit
einem Staatsvertrag Rechnung zu tragen, wie das der
Bundeskanzler getan hat. Wir alle müssen aber dafür sor-
gen, dass diejenigen, die sich für ein Leben in Deutsch-
land entschieden haben, diese Entscheidung niemals be-
reuen. Das ist eine Aufgabe für uns alle.
Deswegen meine dringende Bitte: Es darf keinen
Wahlkampf geben auf Kosten von Minderheiten in die-
sem Land.
Frau Merkel weiß das im Grunde auch längst. Sie hat die
Müller-Kommission zur Zuwanderung unterstützt und ist
dann leider eingeknickt.
Sie hat eine innerparteiliche Programmdebatte angestoßen
und sofort wieder einkassiert. Die Programmdebatte liegt
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
wahrscheinlich in der Kammer des Schreckens der Union,
gut bewacht vom starken Roland.
Nun wird viel über die Stimmung in der Koalition ge-
redet und geschrieben. Ich sage Ihnen: Die Stimmung ist
gut.
Das sage ich Ihnen allen Ernstes.
Wir haben große Probleme in diesem Land zu schul-
tern und wir diskutieren über den richtigen Weg. Die Dis-
kussion über den richtigen Weg ist genau das, was Ihnen
fehlt. Das schweißt diese Koalition zusammen und darauf
kommt es in diesem Land an.
Noch nie gab es in einer wirtschaftlich angespannten
Situation derart klares Handeln im Sinne der Schwachen,
der Familien und der künftigen Generationen. Sie, Frau
Merkel, wissen noch nicht einmal, wohin die Reise gehen
soll, geschweige denn wie man am besten ankommt.
Stattdessen haben Sie zwei echte Revolutionäre an Ih-
rer Seite, den bekannten Frankfurter Straßenkämpfer
Frank Schirrmacher und den Altrevoluzzer Arnulf Baring.
Jetzt höre ich, da will sich auch Edmund Stoiber einrei-
hen. Ich stelle mir das lustig vor, wenn der Edmund vor
der Bayerischen Staatskanzlei im schwarzen Block neuen
Typs mitmarschiert. Vielleicht kriegt er dann doch noch
ein Lied oder wenigstens einen coolen Spruch nach dem
Motto: Stoiber läßt’s Regieren sein, kommt herunter, reiht
sich ein.
Wolfgang Gerhardt hilft auch mit. Die Lahmlegung ei-
nes Finanzamtes ist der schönste zivile Protest, sagte er.
Meine Güte, jetzt verstehe ich das endlich. Dass Sie Ihre
Parteikasse an den Regeln des Steuerrechts vorbei gefüllt
haben, ist in Wirklichkeit ein Akt zivilen Ungehorsams in
der Republik.
Ganze Finanzämter und Staatsanwaltschaften werden so
lahm gelegt und von der Arbeit abgehalten. Ich stelle mir
das jetzt einmal praktisch vor, Herr Gerhardt. Da lassen Sie
sich im zugegebenermaßen steuerfinanzierten Dienstwa-
gen vorfahren und ketten sich am Finanzamt in der Hei-
matstadt an. Diese Vorstellung ist einfach wunderbar.
Aber wahrscheinlich ist es richtig: Die FDP muss sich ir-
gendwie auf die außerparlamentarische Opposition vor-
bereiten. Da braucht man so etwas. Da macht man so et-
was. Tun Sie es bitte.
Im Land allerdings geht es um andere Dinge. Im Kern
geht es um Generationengerechtigkeit und Nachhaltig-
keit. Im Kern geht es um gerechte Teilhabe an Arbeit und
Bildung. Im Kern geht es um gerechte Globalisierung. Es
geht um Chancen. Es geht um Freiheit und es geht um Ver-
antwortung. Dafür wird diese Regierung arbeiten, vier
Jahre lang erfolgreich und mit dem notwendigen Mut für
Reformen.
Sie, Frau Merkel, sollten endlich aus der Schmuddel-
ecke kochscher Politik kommen. Beenden Sie den pri-
vaten Nachwahlkampf und kehren Sie zur Sachpolitik
zurück. Angesichts der Lage im Land ist das bitter nötig.
Wir handeln. Die Politik von Rot-Grün ist Politik mit Ver-
antwortung. Sie haben die Chance, mitzumachen oder zu
bleiben, wo Sie sind.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Angela Merkel von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tagelang
war Berlin angesichts der für heute erwarteten Rede in
eine größere Aufregung versetzt.
Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen ganz offen: Ich habe
für die Menschen im Lande gehofft, dass die für heute an-
gekündigte große Rede auch wirklich eine große Rede
werden würde,
eine Rede, bei der die Menschen bei allem Streit, den wir ha-
ben müssen, eine Linie und ein wenig Licht am Ende des
Tunnels hätten erkennen können. Was Sie uns dann aber ge-
boten haben – besonders beeindruckend in den Passagen,
bei denen Sie geradezu gebrüllt haben –, war im Grunde der
Eindruck, dass da ein Mann mit dem Rücken an der Wand
steht und nichts weiter kann, als die Opposition zu verdäch-
tigen, zu verleumden und in ein schlechtes Licht zu rücken.
Deutschland hat in diesen Tagen eine Sehnsucht nach
Führung, nach Verlässlichkeit und vor allem – das wäre
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 897
erst einmal ein Beginn – nach Wahrnehmung der realen
Situation, wie sie in unserem Lande besteht.
Bei Ihnen haben die heute verkündeten Arbeitslosen-
zahlen überhaupt keine Rolle gespielt. Ich weiß nicht, ob
die 4 Millionen Menschen Sie interessieren. Ich weiß
nicht, was in Ihnen vorgeht – das muss ich Sie ganz ehr-
lich fragen –, wenn es heute über 200 000 mehr sind als vor
einem Jahr. Ich weiß nicht, ob Sie sich innerlich damit aus-
einander setzen, dass der Anstieg gegenüber Oktober drei-
mal so hoch war wie sonst im Durchschnitt der letzten
zehn oder 20 Jahre. Das interessiert aber die Menschen.
Damit hier nun nicht wieder gesagt wird, wir würden
das Land schlechtreden,
darf ich einmal zitieren. Sie haben ja langsam einen Tun-
nelblick in Bezug auf das, was die Realität in diesem
Lande ausmacht.
Herr Schrempp, immerhin einer Ihrer geschätzten Ge-
sprächspartner – ich habe nichts dagegen, der Mann hat
für viele Arbeitsplätze in diesem Land gesorgt –, ist ange-
sichts der Lage sprachlos. Herr Scholl von Merck, einem
Unternehmen im MDax, kann sich nicht erinnern – und
das sind nicht meine Worte –, dass es je „eine solche Per-
version von Wahlversprechen“ gegeben habe. Herr Haupt
von Tengelmann sagt, Deutschland sei führungslos.
– Hören Sie genau zu; Sie müssen sich schon mit der Rea-
lität in diesem Land auseinander setzen.
Der Vorstandsvorsitzende von Merck sagt: Wir sind be-
straft, dass wir so lange am Standort Deutschland festge-
halten haben. – Der Chef von Infineon sagt: Wir werden uns
schwer tun, in Deutschland noch zu investieren. – Tausende
und Abertausende andere sagen gar nichts mehr, sie han-
deln einfach und lassen ihr Kapital außer Landes wandern.
Das ist die Wahrheit über Deutschland in diesen Tagen.
Herr Bundeskanzler, hinter dem steht, was in den letz-
ten Jahren passiert ist:
Die Menschen haben Sie inzwischen durchschaut. Sie
glauben Ihnen nicht mehr, weil sie wissen, dass alles, was
Sie einmal sagen, kaum berechenbare Halbwertzeiten hat,
dass dies manchmal nicht einmal die Dauer einer Unter-
richtung überlebt – ich erinnere nur an die Sache mit dem
Fuchs: Spürpanzer oder Transportpanzer? –, dass sich die
Autoren Ihrer Vorschläge schneller von allem verabschie-
det haben, als Sie gucken können, weil sie sehen, dass Sie
das alles nicht richtig umsetzen. Ihre eigene Glaubwürdig-
keit ist verloren gegangen. Das ist für die Führung eines
Landes einer der größten Verluste, die passieren können.
Nun gibt es in dieser ganzen Sache eine neue Platte, die
da heißt: „Zerstörung meiner sozialen Integrität“. Diese
Platte spielen Sie dann gleich als Ehepaar; ich möchte
mich dazu nicht weiter äußern.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, können Sie sich ei-
gentlich noch erinnern, was Sie den Menschen in diesem
Lande schon alles zugemutet haben? Von 1998 bis 2000
waren Sie stolz, „Genosse der Bosse“ genannt zu werden.
Danach hatten wir einen Sommer der „ruhigen Hand“. Im
Wahlkampf dann haben Sie begonnen, die Wirtschaft in
diesem Lande zu beschimpfen, und sie als „fünfte Ko-
lonne der Opposition“ bezeichnet. Diejenigen, welche die
Arbeitsplätze in diesem Lande schaffen, sind in den Au-
gen des Herrn Bundeskanzlers die „fünfte Kolonne der
Opposition“; Sie haben in diesem Zusammenhang auch
noch von „Kettenhunden“ und „Helfershelfern“ gespro-
chen. Und, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, als Sie ge-
rade etwas Oberwasser im Wahlkampf hatten,
waren Sie es, der – ich hätte mir eine solche Aussage
zweimal überlegt – dem Wettbewerber im Wahlkampf die
Führungsfähigkeit für dieses Land abgesprochen hat.
Sie haben damit eine Schärfe in die Debatte gebracht, die
es bisher im Wahlkampf nicht gegeben hat. Deshalb: Be-
klagen Sie sich bitte nicht über die Zerstörung Ihrer so-
zialen Integrität. Sie haben die Stimmung angeheizt.
Schon nach der Wahlniederlage in Sachsen-Anhalt
sind Sie zu unser aller großem Erstaunen aus einer Präsi-
diumssitzung der SPD gekommen mit den Worten: „Er
oder ich!“ – Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht: Sie
oder wir, Stillstand oder Fortschritt,
Staat oder Freiheit, Belastung oder Entlastung, Täu-
schung oder Verlässlichkeit, das sind die Alternativen in
diesem Lande.
Um diese Alternativen geht es.
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
–Wissen Sie, was die Leute besonders gut leiden können?
Das ist Ihr dauerndes Grinsen und Lachen auf der Regie-
rungsbank.
Natürlich leben wir in einer Zeit, in der sich alles ver-
ändert. Ich glaube, in einem sind wir uns einig: Diese Ver-
änderung beschreiben wir gemeinsam mit Globalisierung.
Nur bezüglich der Frage, was wir denn angesichts dieser
Globalisierung machen, gibt es einen grundsätzlichen
Unterschied.
Für Sie ist das so etwas wie höhere Gewalt. Für Sie ist
das die Grundlage für Ausreden nach dem Motto, dass es
nicht anders sein kann. Für uns ist es eine Chance, eine
Hoffnung auf die richtigen Veränderungen mit den richti-
gen Wirkungen für die Menschen im Lande.
Sie spüren, dass die Menschen Ihnen das mit der höhe-
ren Gewalt und der Globalisierung nicht abnehmen, weil
sie sehen, dass sich die Dinge in anderen Ländern besser
entwickeln. Herr Bundeskanzler, wann hat es das eigent-
lich gegeben, dass man in einem Nachbarland von
Deutschland eine Wahl deutlich gewinnt, weil man sagt:
So wie in Deutschland soll es bei uns nicht werden? Das
ist doch nun wirklich Ausdruck der Tatsache, dass andere
Länder wissen, sie können es anders machen als Deutsch-
land. Dies ist der Unterschied zwischen uns und den an-
deren: Dort weiß man um die Gestaltungsmöglichkeiten
und handelt. Sie gestalten Politik eben nicht.
Herr Bundeskanzler, nun haben Sie in den letzten Tagen
viele Interviews gegeben und sich mit dem Gemeinwohl
befasst. Sie haben einen Gegensatz zwischen den Partiku-
larinteressen, den Einzelinteressen und dem Gemeinwohl
beschrieben. Sie haben gesagt: Ich muss mir den Freiraum
dafür erkämpfen, dass ich das Gemeinwohl gegen die Ein-
zelinteressen durchsetzen kann.
Ich möchte Sie als Erstes bitten, dass Sie von dieser
Pauschaldiffamierung aller Verbände in diesem Land ein
Stück Abstand nehmen. Es gibt viel ehrenamtliches En-
gagement, ohne das wir in diesem Land nicht auskommen
würden.
Ich frage Sie: Was tritt denn eigentlich an die Stelle der
von Ihnen so verfemten Verbände? Wer soll denn, bitte
schön, das Gemeinwohl definieren?
Ich gewinne hier den Eindruck, dass an die Stelle aller
Verbände nur noch einer tritt, der die Definitionshoheit,
also sozusagen den Alleinvertretungsanspruch hinsicht-
lich des Gemeinwohls hat, und das ist der Bundeskanzler
der Bundesrepublik Deutschland. Das hielte ich nun wirk-
lich für fatal. Hierbei machen wir mit Sicherheit nicht mit.
Herr Müntefering leitet ein: Weniger für den privaten
Konsum ausgeben und dem Staat das Geld geben, damit
die Kasse stimmt! – Herr Gabriel in Niedersachsen tönt
dazu: Die Menschen verballern immer noch Millionen zu
Silvester. Auch dies könnte dem Staat zufließen. – Ich
werde jetzt meine überschüssigen Wunderkerzen abge-
ben, die ich noch zu Hause in der Schublade habe. Viel-
leicht hilft es ja.
Ministerpräsident Beck möchte natürlich auch dabei sein.
Zitat: „Beinahe würde ich mit Asterix sagen: Die spinnen –
nicht die Römer, sondern in dem Fall die Deutschen.“
Wir sind ganz kurz davor, dass wir mit Bertolt Brecht
fragen müssen:
Wäre es nicht einfacher, die Regierung löste das Volk
auf und wählte ein anderes?
Das sind Ihre Maxime und wohl Ihre Hoffnung, Herr Bun-
deskanzler.
Nun weiß auch ich, dass wir uns natürlich um das Ge-
meinwohl kümmern müssen.
Die Definition des Gemeinwohls steht im Übrigen – das
sage ich auch – keiner Person zu,
sondern das Gemeinwohl entsteht in einer Demokratie,
wenn Parteien in einem fairen Wettstreit um die beste po-
litische Lösung ringen.
Genau an diesem fairen Wettstreit werden wir uns betei-
ligen.
Deshalb müssen wir einmal überlegen: Was sind ei-
gentlich unsere Maßstäbe dafür, wie wir vorgehen wol-
len? Herr Bundeskanzler, ich habe mir viel Mühe gege-
ben, vor dieser Rede einmal zu überlegen: Was könnte
denn ein Maßstab oder eine verlässliche Grundlage sein,
auf der wir hier miteinander darum ringen können: Tun
wir das Richtige? Tun wir das Falsche? Wie sind unsere
Ideen zu bewerten?
Ich habe gedacht, ein Fundament könnte doch sein:
Wenn sich eine Bundesregierung einen Sachverstän-
digenrat beruft – das tut sie selbst und gibt eine Menge
Geld dafür aus –,
898
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 899
dann könnten wir uns in diesem Haus doch einfach ein-
mal über die Ratschläge der Sachverständigen unterhalten
und fragen: Wie steht welche Partei zu dem Ratschlag der
Sachverständigen?
Nun bin ich gestern Abend natürlich wieder in leichte
Depression verfallen;
denn der Herr Stiegler, der heute gar nicht mehr richtig auf
Deck darf,
hat uns gesagt, dass alles das, was von Leuten mit Profes-
sorentitel kommt, irgendwie Geschwätz ist. Sie haben
sich diese Meinung nicht zu Eigen gemacht, Sie haben das
aber auch nicht zurückgenommen. Ich vertraue weiterhin
darauf, dass die von Ihnen berufenen Sachverständigen-
räte hinreichend Neutralität haben – drei der Professoren
sind übrigens in der SPD –, sodass wir uns darüber unter-
halten können.
Der Sachverständigenrat setzt sich gleich im ersten
Punkt damit auseinander, wie es weitergehen muss, und
mit der Frage, warum wir eine Wachstumskrise haben. Ich
unterstelle jetzt einmal den Fall: Wir können uns noch da-
rauf verständigen – da bin ich mir bei den Grünen leider
nicht so sicher –, dass Wachstum ein Schlüssel für eine
gute Entwicklung dieser Gesellschaft ist. Dazu sagt der
Sachverständigenrat, dass nur ein konsequenter Steuer-
senkungskurs die Not in diesem Land wenden kann.
Dieser Steuersenkungskurs müsse sicherlich mit einer
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, aber gleichzei-
tig auch
mit einer Senkung der Steuersätze verbunden sein. Sie
verbreitern die Bemessungsgrundlage, aber Sie erhöhen
die Steuern, statt sie zu senken – glatte Fehlentscheidung
gegenüber der Empfehlung des Sachverständigenrats!
All die Steuererhöhungen, die Sie vorhaben, er-
schließen sich ohnehin kaum noch – für Hundefutter
bleibt die Mehrwertsteuer bei 7 Prozent; kriegt die Kuh
Futter, gilt ein höherer Mehrwertsteuersatz –; ich weiß
nicht, ob Sie das alles besser verstehen. Ich bin Physike-
rin; mir ist das zu hoch. Es scheint aber auch in den Rei-
hen der SPD schwer verständlich zu sein; denn unsere
schleswig-holsteinischen CDU-Kollegen haben einen fle-
henden Brief der Landwirtschaftsministerin aus Schles-
wig-Holstein bekommen, nach dem sie sich doch dafür
einsetzen möchten, dass die Erhöhung der Besteuerung
von Baumschulen in Schleswig-Holstein verhindert wird.
Die Opposition sozusagen als tatkräftiger Helfer gegen-
über dem Unsinn der Regierung – diese Rolle nehmen wir
gern an, Herr Bundeskanzler.
Nun kommen wir mal zu der im Augenblick ja in aller
Munde befindlichen Vermögensteuer.
Unbeschadet dessen, dass eine Kompensation dafür, dass
die Vermögensteuer nicht mehr erhoben wird, bereits er-
folgt ist, gibt es jetzt den Vorschlag, die Vermögensteuer
wieder einzuführen.
Ganz vornweg sind dabei Herr Gabriel und Herr Bökel,
die ja unter besonderem Druck stehen.
Jetzt sage ich Ihnen ganz einfach: Das können wir tun.
Wir werden das so machen, dass wir Gesetzentwürfe mit
dem Ziel der Außerkraftsetzung des Torsos der bundes-
weiten Grundlage zur Erhebung der Vermögensteuer ein-
bringen – das werden wir im Bundesrat tun, damit sich
Herr Gabriel auch gleich dazu äußern kann –, und darin
werden wir ausdrücklich regeln, dass der Bund auf seine
Kompetenz, diese Steuer zu erheben, verzichtet. Dann
können die Länder zuschlagen, wo immer sie wollen.
Herr Bundeskanzler, als Herr Gabriel, der Ministerprä-
sident in Niedersachsen, davon gehört hat, hat er gleich
gesagt, so gehe das nicht;
denn wenn das gemacht werde und Niedersachsen die
Steuer erhöbe, führte das dazu, dass sich das Kapital aus
Niedersachsen in andere Bundesländer verflüchtige, was
er nicht wolle.
Herr Bundeskanzler, was für das Verhältnis von Nie-
dersachsen zu Nordrhein-Westfalen oder Bayern gilt, das
gilt auch für das Verhältnis von Deutschland zu Österreich
und Holland. Bei der Globalisierung geht so etwas eben
nicht.
Es ist abenteuerlicher Unsinn, eine Steuer zur Finan-
zierung der Bildung erheben zu wollen. Ich sage Ihnen:
Die niedersächsischen Schüler hätten mehr davon, wenn
Sie die Tausenden von Beamten, die Sie zur Erhebung der
Vermögensteuer brauchen, als Lehrer in Niedersachsen
anstellen würden. Dann hätten sie in den nächsten zwei
Jahren wenigstens vollen Unterricht.
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
Das eigentlich Gravierende, das an all Ihren Maßnah-
men deutlich wird, ist, dass Sie nicht an Wachstum glau-
ben. Sie glauben nicht daran, dass man auch auf anderem
Weg mehr Geld in die Kasse bekommen kann als dadurch,
unentwegt an der Steuerschraube zu drehen. Und das tun
Sie auch noch in einer Art und Weise, die all diejenigen
bestraft, die versuchen, für die Risiken ihres Lebens Vor-
sorge zu tragen. Es kommt derjenige gut durch, der auf
den Bahamas alles verjubelt hat oder der sein Geld jeden
Abend in der Kneipe verprasst.
Schlecht weg kommen hingegen diejenigen, die Anteile
kaufen, die in Fonds anlegen, die Aktien kaufen oder Le-
bensversicherungen abschließen. Sie alle werden ge-
schröpft. Das ist der falsche Weg, wenn Sie, wie Frau
Göring-Eckardt beteuert, mehr Eigenverantwortung wol-
len.
Ich hätte erwartet, von Ihnen heute wenigstens eine
mittelfristige Vision dazu zu hören, wie man aus diesem
Steuerkuddelmuddel wieder herauskommt.
Es gibt in unserer Gesellschaft vielerlei Versuche, zum
Beispiel von Herrn Professor Kirchhof, mit einer durch-
schlagenden Steuerreform die Akzeptanz der Bürger für
das, was in Deutschland passiert, zu erhöhen. Wir haben
uns davon nicht verabschiedet. Wir werden dranbleiben
und werden eine Steuerreform ausarbeiten, die einfach,
transparent und für die Bürger verständlich ist. Wenn Sie
nicht mitmachen, dann legen wir alleine einen Vorschlag
dazu vor.
Ein weiterer großer Komplex über den Sie heute ge-
sprochen haben und der auch im Sachverständigengut-
achten behandelt wird, ist der Arbeitsmarkt.
Deutschland hat nicht nur weniger Wachstum als die
meisten Länder um uns herum, unser Land braucht auch
ein besonders hohes Wachstum, bevor hier neue Arbeits-
plätze entstehen. Es wäre ein ganz ehrenwertes Ziel, wir
würden es schaffen, dass wie in anderen Ländern auch be-
reits bei einem Wachstum von 1,5 Prozent neue Arbeits-
plätze entstehen und nicht erst bei einem Wachstum von
2,5 Prozent.
Wie ist das zu schaffen? Sie versuchen das mit dem
Hartz-Konzept.
Wenn Sie den Vorschlag von Hartz wenigstens eins zu
eins umsetzen würden! Aber Sie müssen ja sogar aufpas-
sen, dass Ihnen Herr Hartz nicht das Gebrauchsrecht für
den Namen entzieht, weil er selber so unzufrieden ist.
Ich sage Ihnen:
Wir müssen die Selbstständigkeit fördern.
Dazu reicht es aber nicht aus, durch die Zusammenlegung
von zwei schon bestehenden Banken eine neue Bank zu
gründen. Dazu müssen vor allen Dingen die Sparkassen
beitragen, von denen ich, wie Sie, der Meinung bin, dass
sie ihre Arbeit machen müssen. Man braucht auch nicht
die Ausrede Basel II heranzuziehen. Aber da die konjunk-
turelle Lage in unserem Land im Moment so ist, dass es
40 000 Insolvenzen gibt, ist offentsichtlich auch die Be-
rechenbarkeit für die Vergabe von Krediten für die deut-
schen Bankinstitute schlechter geworden. Sorgen Sie des-
halb dafür, dass es nicht so viele Insolvenzen gibt; dann
können die Banken auch wieder bessere Kredite verge-
ben. Das ist die Wahrheit, Herr Bundeskanzler.
Sie werden mit der verquasten Ich-AG keine neuen
Arbeitsplätze und keine Deregulierung auf dem Arbeits-
markt schaffen. Das deutsche Handwerk ist froh, dass
seine Berufe endlich aus der Definition herausgenommen
wurden, und der Bundesfinanzminister ist bis heute noch
nicht in der Lage, einen Steuersatz dafür festzulegen. Was
soll das also für eine Institution sein? Deshalb fordern wir
– auch Friedrich Merz hat das gestern gesagt –: Wir brau-
chen eine richtige Förderung aller Selbstständigen durch
weniger Bürokratie und durch die Abschaffung des
Scheinselbstständigkeitsgesetzes.
Das wäre heute ein offenes Wort von Ihnen wert gewesen.
Unsere Zustimmung wäre Ihnen sicher.
– Hören Sie zu, Herr Poß, bevor Sie wieder schreien:
Nichts, nichts, nichts!
Ich komme auf die Entlastung im Dienstleistungsbe-
reich in Zeiten der Globalisierung zu sprechen. Sie schla-
gen uns Folgendes vor: Wenn Sie die Tür von innen wi-
schen, gibt es 500 Euro. Das ist die eine Sorte der
Beschäftigung.
Eine andere Sorte von Beschäftigung ist: Wenn Sie die Tür
von außen streichen, wird nach dem alten 630-DM-Gesetz
bezahlt. Eine dritte Sorte von Beschäftigung ist: Wenn Sie
das Schloss an der Tür durch jemanden von der Personal-
900
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 901
Service-Agentur reparieren lassen, wird nach Verdi-Tarif
und möglichst noch nach BATbezahlt. – Das ist die Wahr-
heit Ihrer Entbürokratisierung. Dazu haben wir wirklich
bessere Vorschläge.
Wagen Sie doch den mutigen Sprung im Bundesrat!
Die Türen sind doch gar nicht verschlossen; ich weiß gar
nicht, wovon Sie da die ganze Zeit geredet haben. Im Bun-
desrat ist alles an den Vermittlungsausschuss überwiesen
worden.
Nichts ist blockiert oder abgelehnt worden. Morgen findet
die Sitzung statt. Dann überlegen wir einmal, was gut für
Deutschland ist.
Herr Bundeskanzler, Sie legen sich ja derzeit mit jedem
in Deutschland an, aber in der „Zeit“ haben Sie als Erstes
erklärt, dass dies mit den Gewerkschaften nicht nötig ist.
Nun haben Sie uns heute umfänglich das Konzept bei der
Leih- und Zeitarbeit erläutert: ein Riesenpaket von Ta-
rifverhandlungen mit allen möglichen Abstufungen nach
oben und unten. Können Sie mir einmal erklären, warum
es in Deutschland nicht möglich ist, für eine begrenzte
Zeit, maximal zwölf Monate, einfach den Betrieben, den
Entleihern und den Leihern zuzutrauen, sich ohne ein rie-
siges Paket von abgestuften Tarifverträgen und Regelun-
gen einigen zu können? Das muss doch in diesem Land
möglich sein.
All diese umständlichen Regelungen, die uns jetzt
beim Kampf zwischen den Branchengewerkschaften wie-
der ereilen werden, ob hier Verdi, die IG Chemie oder die
IG Metall tätig werden darf, beschließen Sie doch nicht,
weil Sie sie für richtig halten. Das wissen wir doch: Nicht
einmal Herr Clement hält sie für richtig; bei den anderen
weiß ich das nicht. – Das ist schlicht Ihr Dankeschön für
die Unterstützung der Gewerkschaften, die von ihrer Par-
teiunabhängigkeit abgewichen sind und die Sozialdemo-
kraten in diesem Wahlkampf unterstützt haben. Das ist die
reine Wahrheit. Es geht nicht um die Menschen, sondern
um ein einfaches Dankeschön.
Jetzt kommt wieder unsere Alternative. Globalisierung
bedeutet, dass die betriebliche Realität viel vielfältiger
wird, als das in der Industriegesellschaft der Fall war.
Weil das so ist, sagen wir: Wenn es um die Sicherung von
Beschäftigung geht,
dann sollten wir im Betriebsverfassungsgesetz den Be-
triebsräten die Möglichkeit eröffnen, mit den Arbeitge-
bern betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schließen,
gegen die die Tarifpartner bei einem begründeten Wider-
spruch Einspruch erheben können.
Ich frage Sie: Warum trauen Sie das den Menschen
nicht zu? Sie haben es im Übrigen dort, wo Sie als Helfer
tätig waren, nämlich bei Holzmann, durchgedrückt. Aber
wenn es der normale kleine Mittelständler haben will,
dann sperren Sie sich, weil Sie eben nicht bereit sind,
Flexibilisierung zuzulassen und Vertrauen in die Men-
schen vor Ort zu setzen. Das ist die Wahrheit: Regulierung
durch den Staat ist auf alles Ihre Antwort.
Dies ist übrigens ein Vorschlag des Sachverständigen-
rates, den Sie nicht umsetzen. Genauso fordert der Sach-
verständigenrat: Wir müssen schnellstens dahin kommen,
dass sich Arbeit lohnt. Wer arbeitet, muss mehr bekom-
men, als wenn er nicht arbeitet. Dazu brauchen wir fle-
xible Regelungen. Die hessische Landesregierung hat
dazu eine entsprechende Initiative in Form des OFFEN-
SIV-Gesetzes im Bundesrat eingebracht. Damit könnte
experimentiert werden. Sie haben es aufgehalten, weil Sie
im Bundestag dagegen gestimmt haben, sonst wäre
Deutschland weiter.
Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie diesem Gesetz
zu! Dann kann es morgen in Kraft treten und wir gewin-
nen endlich Spielräume in Deutschland.
Darüber hinaus hat sich der Sachverständigenrat rich-
tigerweise mit den sozialen Sicherungssystemen ausei-
nander gesetzt, insbesondere mit dem Gesundheitssys-
tem.Die grundsätzlichen Empfehlungen, die auch ich nicht
alle im Detail teile – das sage ich ganz ausdrücklich –, ge-
hen in eine Richtung: mehr Wettbewerb.
Was Sie in der Bundesregierung machen, hat mit Wettbe-
werb im Allgemeinen wirklich nichts zu tun.
Sie haben über die Apotheken gesprochen. Sagen Sie
doch bitte einmal die Wahrheit darüber, was Sie bei den
Apotheken vorhaben! Haben Sie mit dem Apothekerver-
band gesprochen und sich das aktuelle Verfahren erklären
lassen? Dass sie den Krankenkassen einen Rabatt ge-
währen müssen, sind die Apotheker bereits gewöhnt. Da-
rüber hinaus sind aber auch Rabatte für den Großhandel
und den Arzneimittelhersteller vorgesehen.
Abgesehen davon, dass Sie gegenüber der pharmazeuti-
schen Industrie wortbrüchig geworden sind,
bleibt es jetzt dem Apotheker überlassen, die unterschiedli-
chen Rabatte vom Hersteller bis zum Großhändler wieder
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
einzutreiben. Das heißt, Sie schaffen mehr Bürokratie,
statt sie abzubauen. Deshalb sind wir dagegen, Herr Bun-
deskanzler.
Ich weiß nicht, was das Gerede der Frau Bundesge-
sundheitsministerin über die Vielzahl von Krankenkas-
sen soll. Schließlich hat sich der Markt in diesem Bereich
schon ein Stück weit entwickelt. Statt der einst 600 Kran-
kenkassen gibt es nur noch etwas mehr als 300.
Das ewige Gerede über die große Zahl der Krankenkas-
sen mit dem Hintergedanken, die AOK werde am besten
zu einer Allgemeinen Zentralen Krankenkasse umgestal-
tet, werden wir nicht mittragen, weil der Wettbewerb zwi-
schen den Krankenkassen ein Element des Wettbewerbs
im Gesundheitswesen darstellen wird.
Mit all unseren Vorstellungen, ob Gesundheit, Arbeits-
markt oder Steuern, stehen wir – das kann ich sicherlich
weitgehend unwidersprochen feststellen –
dem von Ihnen einberufenen Sachverständigenrat wohl
näher als Sie. Ich wundere mich schon darüber, dass Sie
in einem solchen Umfang Steuermittel einsetzen, ohne
sich auch nur einmal auf Ihren eigenen Sachverständi-
genrat zu berufen. Sie könnten zumindest erläutern,
warum Sie die Ratschläge nicht annehmen. So aber kann
es nicht weitergehen. Dann berufen Sie lieber keine Sach-
verständigenräte mehr ein, sondern sagen gleich, dass Sie
sich selbst genug sind. Das wäre schließlich auch eine Er-
kenntnis für das deutsche Volk.
Zum Thema Rente. Auch wir haben – das gebe ich
wieder ehrlich zu –
zu lange gesagt, die Rente sei sicher. Wir haben dann aber
1998 als ersten wichtigen Schritt den demographischen
Faktor eingeführt. Wir haben heute bereits über den poli-
tischen Umgang miteinander gesprochen. Lassen Sie
mich in diesem Zusammenhang feststellen: Seinerzeit
war das Verhetzungspotenzial gegen die Einführung des
demographischen Faktors wider besseres Wissen so groß,
dass Sie sich, als Sie die Wahl gewonnen hatten, selbst
nicht mehr getraut haben, den demographischen Faktor
beizubehalten. Anschließend mussten Sie sogar Herrn
Riester entlassen, weil er den blümschen demographi-
schen Faktor nicht erhalten durfte und deshalb so viel
Murks machen musste. Das ist die Wahrheit!
Als wir seinerzeit den demographischen Faktor einge-
führt haben, haben wir darauf hingewiesen, dass dies nur
ein erster Schritt sein kann. Deshalb war es vom Grund-
satz her richtig, dass Sie eine freiwillige private kapital-
gedeckte Vorsorge eingeführt haben. Jetzt wollen Sie sie
zu einer zweiten Säule der Rentenversicherung weiterent-
wickeln. Eine zweite Säule der Rentenversicherung haben
Sie bereits, nämlich die Zapfsäule. Die funktioniert gut.
Aber wenn die private kapitalgedeckte Vorsorge wirk-
lich zu einer zweiten Säule weiterentwickelt werden soll,
darf man nicht, wie Sie es heute ausgeführt haben – ich
habe es genau mitgeschrieben –, sagen: „Vereinfachung,
wo notwendig!“. Sie regieren schließlich jetzt und stellen
nicht irgendwelche Vorhaben für die Zeit in zehn Jahren
vor. Schmeißen Sie doch den gesamten bürokratischen
Schrott heraus und beschränken Sie sie auf wenige Krite-
rien; dann wird die private Vorsorge auch wirklich eine
zweite Säule! Wir beteiligen uns, Herr Bundeskanzler.
Ich habe im Interesse der Menschen, vor allem der äl-
teren Menschen, eine Bitte. Ich halte das, was die Grünen
erreicht haben, zwar für richtig, nämlich dass eine Kom-
mission zur Weiterentwicklung der sozialen Siche-
rungssysteme eingesetzt wird. Als beschwerlich emp-
finde ich es aber, dass Sie den Chef dieser Kommission
nicht davon abhalten können, jedes Wochenende irgend-
ein Interview abzusondern. Noch schlimmer erscheint
mir, dass sich nun auch noch jemand aus Ihren Reihen
über das „Professorengeschwätz“ und Sonstiges be-
schwert. Ich möchte mich dazu an dieser Stelle nicht wei-
ter äußern.
Sie müssen schon zum Ausdruck bringen, was Sie wol-
len, Herr Bundeskanzler. Hat diese Kommission Ihre Un-
terstützung oder ist sie nur eine Beruhigungspille für die
Grünen? Ist es Ihnen eigentlich völlig egal, was bei dieser
Kommission herauskommt? Soll in den nächsten zehn
Jahren überhaupt etwas passieren oder wollen Sie weiter-
hin von Tag zu Tag abwarten? Auf diese Fragen haben Sie
heute keine Antwort gegeben. Sie haben nichts, aber auch
gar nichts dazu gesagt.
Wir werden Vorschläge auch für eine langfristige Siche-
rung der Sozialsysteme vorlegen.
Die Wahrheit ist: Sachverstand in Deutschland liegt
vor. Der von Ihnen eingesetzte Sachverstand ist von mir
zitiert worden. Ich sage Ihnen aber: Mit der jetzigen Ko-
alition und insbesondere mit der jetzigen SPD-Truppe
können Sie, Herr Bundeskanzler, die notwendigen Refor-
men in Deutschland nicht auf den Weg bringen. Deshalb
sind Sie führungsschwach und den Aufgaben, die heute in
Deutschland zur Erledigung anstehen, nicht gewachsen.
Das ist die Wahrheit.
Soziale Marktwirtschaft bedeutet auch heute auf der ei-
nen Seite wirtschaftliche Effizienz – darüber, dass diese
mit Ihnen nicht zustande kommt, habe ich eben gespro-
chen – und auf der anderen Seite moralische Qualität. Da-
902
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 903
mit komme ich auf gesellschaftspolitische Fragen zu spre-
chen. Ich möchte ganz klar sagen: Wo immer Frauen und
Männer, Väter und Mütter erwerbstätig sein wollen, wer-
den wir sie unterstützen und die Grundlagen für die Ver-
einbarkeit von Beruf und Familie verbessern; das ist
keine Frage. Aber wir wollen eine Politik, die die Kom-
munen vor Ort – um deren Zustimmung müssen auch Sie
jetzt buhlen – finanziell in die Lage versetzt, die entspre-
chenden Aufgaben durchzuführen. Deshalb fordere ich
Sie auf: Machen Sie eine ordentliche Steuerreform und
beteiligen Sie die Kommunen angemessen am Steuerauf-
kommen! Dann wird sich auch das Kinderbetreuungsan-
gebot verbessern. Machen Sie nicht den Umweg über die
Ganztagsbetreuung von oben! Das ist Reichszentralismus
und entspricht nicht dem, was wir unter Subsidiarität in
Deutschland verstehen.
Sie haben einen neuen Generalsekretär, der auch uns ab
und an überrascht. Er hat für die Sozialdemokratie weg-
weisende Äußerungen – diesen ist bis heute nicht wider-
sprochen worden – über die Notwendigkeit einer kultu-
rellen Revolution gemacht und will die Lufthoheit über
den Kinderbetten erobern. Glauben Sie – ich frage das vor
allen Dingen die Grünen – eigentlich ernsthaft, dass deut-
sche Eltern sehnlichst darauf warten, dass der Generalse-
kretär Olaf Scholz als Vertreter der deutschen Avant-
garde an ihrer Haustür klingelt, das Kind aus dem
Laufställchen reißt, der Mutter am besten noch ein rotes
Stirnband von Che Guevara umbindet und anschließend
erklärt, dass es eine Besuchserlaubnis für die Eltern nur
noch jeden letzten Montag im Monat gebe, aber auch nur
dann, wenn sie vorher auf das Ehegattensplitting verzich-
teten und nach 20 Uhr aus dem Büro kämen?
Solange die Union in Deutschland etwas zu sagen hat,
werden wir dafür sorgen, dass sich über deutsche Kinder-
betten die deutschen Eltern und sonst niemand beugt. Das
ist unser Ansinnen.
In Zeiten der Globalisierung ist es wichtig und notwen-
dig, dass ein Land nicht nur im Innern erfolgreich ist, son-
dern auch Verlässlichkeit nach außen ausstrahlt. Es ist
schon relativ absurd – das ist noch freundlich formuliert –,
dass Sie, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch-
land, der in schamloser Weise Wahlkampf mit der Kriegs-
angst der Menschen gemacht hat,
es wagen, uns vorzuwerfen, die Diskussion über die Mit-
gliedschaft der Türkei in der EU werde deshalb geführt,
weil wir Wahlkämpfe gewinnen wollten. Das ist absurd
und fern der Realität, Herr Bundeskanzler.
Ich finde es bemerkenswert, dass Sie heute nur aufgrund
unseres Antrages zu diesem wichtigen Thema etwas
sagen.
Der Rat in Helsinki – ich habe es mir inzwischen von
Leuten erzählen lassen, die dabei waren – hat in einer Art
Überfallaktion und in wenigen Minuten darüber befun-
den, dass man der Türkei eine Vollmitgliedschaft in Aus-
sicht stellen will. Es gab keine Debatte dort über den jet-
zigen Zustand, es gab keine Debatte in der Bevölkerung
und in diesem Parlament. Heute heißt es: Weil es Helsinki
gab, müssen wir natürlich in Kopenhagen weitermachen.
Herr Bundeskanzler, das Thema ist in jeder Hinsicht – ich
hoffe, Frau Roth ist noch anwesend, damit sie nachher
nicht wieder falsches Zeug erzählt – zu ernst. Die Türkei
ist in einem komplizierten außenpolitischen und innenpo-
litischen Prozess. Es darf nicht sein, dass ein großes Land
wie Deutschland und die Europäische Union Signale aus-
senden, die für die Türkei innenpolitisch so verstanden
werden können, dass wir sie zurückweisen und ihnen
falsche Versprechungen machen. Deshalb sage ich Ihnen:
Es war ein Fehler, dass in Europa über Jahre zu wenig
Ehrlichkeit in der Frage der Türkei geherrscht hat.
– Auf das Kohl-Zitat komme ich gleich zu sprechen. Ich
wünschte mir, Helmut Kohl wäre immer so oft Ihr Kron-
zeuge, wie er es heute ist. Dann wären wir in Deutschland
weiter, meine Damen und Herren.
Die Türkei ist in einem ausgesprochen schwierigen
Prozess. Der Internationale Währungsfonds hat massiv
stützen müssen, damit die wirtschaftlichen Daten so sind,
wie sie sind. Die Türkei hat heute 60 Millionen Einwoh-
ner – sie wird in zehn Jahren vielleicht mehr Einwohner
haben als wir –, ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von
22 Prozent des europäischen Durchschnitts, in diesem
Jahr eine Inflationsrate von 40 Prozent und ein Staatsde-
fizit von 15 Prozent,
sodass alleine schon die ökonomischen Grundlagen dafür
sprechen, dass man außerordentlich vorsichtig sein muss.
Derzeit – das wissen auch die Grünen – gibt es in der
Türkei ein Strafverfahren gegen die Mitarbeiter der po-
litischen Stiftungen. Der Bundespräsident hat sich dan-
kenswerterweise der Sache angenommen.
Gegen die Mitarbeiter unserer Stiftungen gibt es massive
Gefängnisandrohungen für ganz normale politische
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
Betätigungen. Glauben Sie wirklich, dass jetzt der rich-
tige Zeitpunkt ist, der Türkei zu sagen, ab 2004 können
wir vielleicht Beitrittsverhandlungen führen?
Sie begeben sich doch in einen unglaublichen Beschleuni-
gungsprozess. Sie stehen doch am Ende unter einem
großen Druck. Mit der Begründung, wenn wir es jetzt nicht
machen, dann geht in der Türkei die Entwicklung nicht
richtig voran, begeben Sie sich in eine Zwangslage, die ich
mir für die Europäische Union niemals vorstellen konnte
und die ich nicht für richtig halte, meine Damen und Her-
ren. Darüber muss in diesem Hause gesprochen werden.
Herr Bundeskanzler, 1963 ging es um eine Zollunion.
1997 hatten sich die Dinge weiterentwickelt. Die Per-
spektiven, die Helmut Kohl damals genannt hat, halte ich
persönlich immer noch für optimistisch. Damals schienen
sie jedoch erreichbarer als heute. Heute sprechen wir je-
doch nicht über Mittelfristigkeit, über irgendwann und ir-
gendwo, sondern beim Rat in Kopenhagen – wir sind ge-
spannt, was Sie heute Abend mit Jacques Chirac
besprechen – wahrscheinlich über den 1. Januar 2004. Die
Türken werden natürlich Erwartungen mit diesem Tag
verbinden. Wenn man so meilenweit in der politischen
Struktur von dem entfernt ist, was man in Europa – auch
im Verfassungskonvent – unter dem politischen gemein-
samen Europa versteht, dann darf und kann man solche
Angebote nicht machen. Ich halte das für unverantwort-
lich. Das hat mit Wahlkampf überhaupt nichts zu tun.
Über die Grünen wundere ich mich wirklich. Sehen Sie
sich das doch einmal an. Bauen Sie doch einmal eine Kir-
che in der Türkei. Sehen Sie sich einmal den Umgang mit
Minderheiten und das Frauenbild an.
Glauben Sie, in den nächsten zwölf Monaten wird sich dort
etwas verändern? Meine Damen und Herren, wir nehmen
gerade zehn neue Länder in die Europäische Union auf.
Die Menschen müssen der Politik folgen können. Es hilft
der Türkei nicht, wenn wir sagen: Nur weil ihr nicht das
richtige Angebot bekommt, haben wir Verständnis dafür,
wenn euer politischer Prozess nicht vernünftig läuft.
Es kann nicht zum Prinzip der Europäischen Union
werden – das sage ich noch einmal in allem Ernst –, dass
ein Land, wenn man ihm einen Gefallen nicht tut, sich
falsch entwickelt.
Ein Land muss seinen Demokratisierungsprozess einzig
und allein aus sich selbst heraus schaffen. Ansonsten ist
das Fundament auf Sand gebaut. Davon bin ich zutiefst
überzeugt, Herr Bundeskanzler.
Die außenpolitischen Probleme mit Amerika sind
natürlich überhaupt nicht geglättet.
Sie schmücken sich jetzt mit der UN-Resolution, Sie
schmücken sich mit Kofi Annan. Kofi Annan war beim
amerikanischen Präsidenten und hat das Vorgehen be-
sprochen. Es wäre kein einziger Inspekteur heute im Irak,
wenn man nach deutschem Gusto verfahren wäre. Diese
Entwicklung ist Amerika zu verdanken und sonst nie-
mandem.
Was die Verlässlichkeit im Verhältnis zu Amerika an-
geht, gibt es erhebliche Zweifel. Alle spannenden Fragen
sind offen. Ich hoffe genauso wie Sie, dass es im Irak zu
keinem Krieg kommt. Aber wenn es dazu kommt, ist doch
überhaupt nicht klar, wie in der Bundesregierung bei den
einzelnen Fragen vorgegangen wird. Wie wird es denn mit
den Spürpanzern werden – Anruf in Deutschland, War-
nung über Amerika: biologischer Alarm oder chemischer
Alarm? Was macht dann der deutsche Spürpanzer? Darf
der Soldat darin seinem amerikanischen Kameraden hel-
fen oder darf er es nicht? Wen muss er fragen? Wer ent-
scheidet?
Sagen Sie uns beizeiten, wie Sie sich das alles vorstel-
len. Es besteht ein großes Wirrwarr, weil Sie Ihre falschen
Wahlversprechungen aufrechterhalten wollen und falsche
Brandmauern ziehen. Zumindest die Meinung der Union
ist: Wir werden amerikanischen Soldaten immer helfen.
Überlegen Sie sich einmal, wie es sich mit der Verläss-
lichkeit bei einem ganz einfachen, aber entscheidenden
Projekt verhält. Wenn wir möchten, dass Europa im Ver-
hältnis zu Amerika auch eigene Interessen vertreten kann,
dann brauchen wir in Europa eine eigenständige militäri-
sche Rüstungsentwicklung.
Jetzt sehen Sie sich einmal die Geschichte – fast hätte
ich gesagt: die Skandalgeschichte – zur Beschaffung des
Transportflugzeuges A400M an, geschmückt mit unse-
ren Gängen zum Bundesverfassungsgericht. Ganz Europa
wird danken, wenn sich endlich nach Monaten die deut-
sche Regierung dazu durchringt, eine abschließende Zahl
für diese Transportflugzeuge zu nennen. Wir haben die
Nerven und die Bereitschaft der europäischen Rüstungs-
industrie bei diesem einen öffentlich bekannt gewordenen
Punkt bis aufs Äußerste gespannt. Ich will nicht wissen,
bei wie vielen Projekten wir europäische Initiativen ver-
säumen, weil Deutschland eben keine Steigerung beim
Verteidigungsetat hat. Eine solche Steigerung muss es in
Deutschland geben, damit dieses Land in Europa und in
der Welt mitspielen kann.
Deshalb ist Verlässlichkeit innenpolitisch und außen-
politisch so wichtig.
Roman Herzog hat nicht ohne Bedacht gesagt, wir
hätten in Deutschland eine handfeste Vertrauenskrise.
904
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 905
Wir haben nicht nur Politikverdrossenheit, sondern wir
haben eine Krise des Vertrauens in Deutschland.
– Hören Sie zu und schreien Sie nicht immer so viel, Herr
Poß.
Ohne das Vertrauen der Bürger werden Sie keinen ein-
zigen Bürger davon überzeugen, dass Veränderungen in
unserem Land notwendig sind.
Wenn Sie wirklich ein einsichtiger und großer Bundes-
kanzler hätten werden wollen, dann hätten Sie sich heute
hier hingestellt, hätten sich bei den Deutschen für Ihren
Wahlbetrug entschuldigt und hätten gesagt, Sie beriefen
sich auf den Sachverstand und Sie seien bereit, mit der
Opposition jedes Jahr einmal zu messen, wie weit
Deutschland vorangekommen sei. Dann hätten wir es
nicht nötig gehabt, noch einmal das auf die Tagesordnung
zu bringen, was wir im Untersuchungsausschuss auf die
Tagesordnung bringen müssen.
Ich sage ganz klar: Wir kämpfen mit diesem Untersu-
chungsausschuss dafür,
dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes einen
Wahlkampf, wie sie ihn zuletzt erlebt haben, und solche
Momente gespielter Überraschung am Tag nach der Wahl
nicht wieder erleben müssen. Das ist unser Ansinnen. Wir
müssen Ihnen mit diesem Untersuchungsausschuss auf den
Zahn fühlen und herausbekommen, was Sie gewusst haben,
ob Sie gelogen, betrogen oder Wahrheiten verschwiegen
haben.
Wir werden dort ohne Schaum vorm Mund, ganz sachlich
und auf die Zukunft ausgerichtet reden.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von Gerhard Schröder
enden. Er hat in einer bemerkenswerten Rede gesagt:
Demokratie ... braucht starke Charaktere, starke Per-
sönlichkeiten. Nicht Stärke, sondern Schwäche
kommt zum Vorschein, wenn Politiker dem Bürger,
dem Wähler nicht zutrauen, dass er die Wahrheit ver-
trägt. ... Ein derartiges Verhalten greift die Wurzeln
der Demokratie an,
es ruiniert Glaubwürdigkeit und Vertrauen, ohne die
die Demokratie nicht leben und funktionieren kann.
Ich hätte mir gewünscht, Gerhard Schröder wäre wie die-
ser Gerhard Schröder. Aber leider sagte dies der von der
CDU gestellte Außenminister Gerhard Schröder ver-
gangener Jahre. Dem heutigen Bundeskanzler Gerhard
Schröder kämen solche Aussagen nicht über die Lippen.
Er ist heute nicht jener Gerhard Schröder, sondern der
Bundeskanzler, der von einer ziemlich unfähigen Fraktion
getragen wird.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Franz Müntefering von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Diese Debatte gilt als die Stunde der Opposition. In
dieser Debatte kann sich die Opposition nämlich mit der
Politik der Bundesregierung insgesamt auseinander set-
zen. Dass das geschieht, haben wir erwartet. Aber Frau
Merkel, die die Oppositionsführerin sein will, hat heute
Morgen gekniffen und den Gassenhauer Glos vorge-
schickt. Das zum Thema „Führung der Opposition“, sehr
geehrte Frau Merkel.
Gestern erlebten wir einen schwächelnden Merz – er
verhedderte sich im Zahlengestrüpp – und heute einen pö-
belnden Glos. Im Vergleich zu der Art und Weise, wie sich
Frau Merkel soeben ausdrückte, ist – da haben einige
schon Recht –, die Sprache der „Bild“-Zeitung Literatur.
Die Ausreißer, die Sie sich leisten, gehen über das hinaus,
was in der Demokratie und insbesondere in diesem Parla-
ment üblich sein sollte.
Von Verantwortung gegenüber diesem Land und ge-
genüber diesem Staat war wenig zu hören. In Ihrer Rede
haben Sie vor allen Dingen viel agitiert und diffamiert. Sie
haben versucht, Menschen persönlich anzugreifen. Frau
Merkel, ich sage Ihnen: Es ist Zeit, dass wir uns in diesem
Land besinnen. Es ist Zeit, dass Sie endlich verstehen: Mit
der Art, wie Sie Opposition machen, muss Schluss sein.
Das, was Sie machen, hat wenig mit Opposition zu tun.
Sie versuchen, jenseits der demokratischen Regeln Men-
schen in diesem Lande und auch die Bundesregierung zu
diffamieren. Hören Sie damit auf und besinnen Sie sich!
Sie haben angekündigt, im Vermittlungsausschuss
morgen Abend solle alles offen sein. Das ist eine
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Franz Müntefering
interessante Mitteilung. Ich bin sehr gespannt, ob Herr
Koch das gewusst hat. Bei dem, was Sie dann gesagt ha-
ben, habe ich allerdings Zweifel bekommen, dass Sie es
wirklich ernst meinen. Sie haben die Hartz-Vorschläge
angesprochen und die Regelung, die wir im Gesetz veran-
kern wollen, als etwas herunterzureden versucht, was nicht
funktionsfähig sein könne.
Wir beschließen, dass es für gleiche Arbeit gleichen
Lohn gibt. Vielleicht können wir uns auch in diesem Par-
lament darauf einigen, dass das in dieser Republik das
Normale sein sollte.
Wir beschließen darüber hinaus, dass in Tarifverträ-
gen vereinbart werden kann, dass es davon Ausnahmen
gibt. Herr Sommer vom DGB und andere, auch Arbeitge-
ber, haben in der Anhörung des Deutschen Bundestages
deutlich gemacht: Sie sind damit einverstanden, dass an
dieser Stelle sehr flexibel dafür gesorgt wird, dass dieses
Instrument funktioniert. Mein Eindruck war, Frau Merkel,
dass Sie das entweder nicht verstehen wollen oder es nicht
verstanden haben. Meine Bitte an Sie ist: Wenn Sie in den
Vermittlungsausschuss gehen, lesen Sie sich das vorher
noch einmal durch, damit Sie wissen, worüber Sie reden.
Das, was wir vorschlagen und was Wolfgang Clement er-
kämpft hat, ist eine vernünftige Regelung, die dazu bei-
tragen wird, dass im Bereich der Leiharbeit unter geord-
neten Bedingungen mehr Menschen in Arbeit kommen als
bisher. Dafür werden wir sorgen.
Aber es geht eigentlich um etwas ganz anderes. Es geht
darum, dass Sie es schon schlimm finden, dass es in
Deutschland überhaupt noch Gewerkschaften gibt. So-
zialdemokraten werden dafür beschimpft, dass sie in der
Gewerkschaft sind. Ich finde das verwunderlich, aber das
kommt in Ihren Worten zum Ausdruck.
Das kommt auch zum Ausdruck, wenn Sie über das
Bündnis fürArbeit im Betrieb sprechen. Auch in diesem
Bereich wissen Sie nicht Bescheid. Es gibt Bündnisse für
Arbeit im Betrieb, die mit den Gewerkschaften vereinbart
worden sind. Aber darum geht es Ihnen ja gar nicht. Sie
wollen, dass es Bündnisse für Arbeit im Betrieb gibt, aber
keine Flächentarifverträge mehr, in denen so etwas ver-
einbart werden kann. Sie wollen den Gewerkschaften das
Kreuz brechen. Das ist Ihre Politik und das werden wir
Sozialdemokraten nicht mitmachen.
Das wäre im Übrigen auch leichtfertig. Die großen Or-
ganisationen, die wir in diesem Lande haben, Arbeitneh-
mer und Arbeitgeber, Gewerkschaften, Zentralverband
des Deutschen Handwerks und BDA, bilden eine der
Grundlagen dafür, dass wir in Deutschland wohlstands-
fähig geworden sind. Da sitzen Leute miteinander am
Tisch, die verhandeln und etwas durchsetzen können. Die
haben nämlich etwas im Kreuz. Die Ideologie der totalen
Privatisierung der Lebensrisiken, die Sie vertreten, führt in
die Irre. Das werden wir nicht mitmachen. Zum Sozialstaat
gehört, dass die großen Interessen gebündelt und geschlos-
sen vertreten werden können. Das ist unsere Position.
Dann haben Sie etwas zur Riester-Rente gesagt. Auch
da muss ich Ihnen sagen, verehrte Frau Oppositionsfüh-
rerin: Sie haben nicht verstanden, um was es da geht. Sie
haben kritisiert, dass die Riester-Rente angeblich büro-
kratisch sei. Wenn man einen Vertrag zur Riester-Rente
abschließen will, muss man zwei Dinge tun: erstens ein
Formular ausfüllen, auf dem der Name, das Geburtsda-
tum, der Familienstand und das Einkommen stehen, und
zweitens seinem Arbeitgeber sagen, dass man diesen Ver-
trag abschließen will. Das hat mit Bürokratie wenig zu
tun. Dass es diese Koalition – und nicht Sie – in der ver-
gangenen Legislaturperiode hinbekommen hat, diese zu-
sätzliche private, kapitalgedeckte Vorsorge einzuführen,
ist eine große, historische Leistung. Darauf werden wir
aufbauen bei allem, was wir in Zukunft im Sinne der Al-
terssicherung tun werden. Das funktioniert, keine Sorge.
Jetzt ist es 1 Prozent, im Jahre 2008 sind es dann 4 Prozent.
Herr Rürup wird mit seiner Kommission im Verlauf
dieses Jahres und des nächsten Jahres ein Konzept für die
nachhaltige Finanzierung der Systeme der sozialen Si-
cherung insgesamt entwickeln. Sie werden dabei die de-
mographische Entwicklung in diesem Lande beachten.
Auf dieser Grundlage werden sie uns Vorschläge machen.
Mit dem Blick auf die lange Linie der Alterssicherung
wird das ein wichtiges Ergebnis sein, mit dem wir uns aus-
einander zu setzen haben. Wir alle werden es im Bundes-
tag wiederfinden. Beim Thema Alterssicherung geht es
nicht nur um die nächsten fünf oder zehn Jahre, sondern
es muss bis in die nächsten Generationen hinein geplant
werden. Auch die, die heute 20, 25 und 30 Jahre alt sind,
wollen von uns wissen, wie das eigentlich in Zukunft
läuft. Deshalb sagen wir: Die Riester-Rente, die gut und
richtig ist, wird über eine ganze Reihe von Jahren tragen,
aber wir wissen angesichts unserer demographischen Ent-
wicklung, dass wir auch darüber hinaus denken müssen.
Das werden wir tun und deshalb wird die Kommission,
die Herr Rürup leitet, uns wichtige Erkenntnisse an die
Hand geben.
Unabhängig davon werden wir schon im Verlauf des
kommenden Jahres im Rahmen der Gesundheitsreform
viele Dinge mit der Zielsetzung auf den Weg bringen,
nicht zusätzliches Geld ins System zu holen, sondern den
Wettbewerb im System zu verbessern. Wir werden dafür
sorgen, dass wir mit dem vielen Geld, das im System vor-
handen ist, die Qualität der medizinischen Versorgung ge-
genüber heute verbessern.
906
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 907
Sie haben den EU-Beitritt der Türkei angesprochen.
Ich hatte den Eindruck, dass Sie von den Zitaten ziemlich
kalt erwischt worden sind. Ich konnte Ihre Begeisterung
sehen, so wie sie Ihnen auch jetzt gerade wieder ins Ge-
sicht geschrieben steht.
Auf dem CSU-Parteitag gab es dazu eine Diskussion. Wir
sehen natürlich die begleitenden Dinge, wenn solche Sa-
chen im Bundestag auftauchen. Ich frage Sie, ob es falsch
ist, dass Herr Beckstein den Auftrag hat, bei seinen Auf-
tritten im hessischen Wahlkampf primär über die EU-Er-
weiterung um die Türkei zu sprechen. Ich frage Sie, ob der
Antrag, den Sie heute hier vorlegen und der nicht ein Ver-
such der differenzierten Auseinandersetzung mit dem
Thema ist, nicht die eindeutige Linie verfolgt, die Türkei
definitiv von einem Beitritt zur EU auszuschließen. Dazu
sage ich Ihnen: Das, was Sie machen, kann man nur tun,
wenn man so tief in der Opposition ist, wie Sie es sind. Sie
können keine Hoffnung haben, jemals wieder in der Re-
gierung zu sein. Wenn Sie heute da säßen, würden Sie ei-
nen solchen Antrag nicht stellen.
Ich sage Ihnen: Es ist zu vermeiden, dass die Türkei in ih-
rer strategischen Bedeutung an den Rand und zurück in
die islamische Region gedrückt wird. Es muss mit ihr über
die Bedingungen gesprochen werden, unter denen sie
Mitglied der EU werden kann. Das muss jede verantwor-
tungsvolle Regierung der Bundesrepublik Deutschland
tun. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
In Ihrer Rede, Frau Merkel, sind die wichtigsten Dinge,
um die es in diesem Lande geht, Erneuerung und Ge-
rechtigkeit und Nachhaltigkeit, nicht vorgekommen.
Wir haben die Riester-Rente in der letzten Legislaturpe-
riode durchgesetzt, wir haben erneuerbare Energien vo-
rangebracht, wir haben die LKW-Maut eingeführt,
wir haben gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften
ermöglicht,
wir haben die Mitbestimmung erweitert und wir haben die
Haushaltskonsolidierung vorangebracht. Und wir haben
Hartz auf den Weg gebracht. Diese Linie der Erneuerung
werden wir auch in dieser Legislaturperiode weiter ver-
folgen. Wir werden das mit dem sozialdemokratischen
Anspruch und dem Anspruch dieser Koalition tun, eine
Politik der Gerechtigkeit zu machen.
Nur ganz Starke können sich einen schwachen Staat
leisten. Wir stehen auf der Seite der Menschen, die auf
die Solidarität der Gemeinschaft angewiesen sind.
Gemeinwohl ist kein Spruch, Gemeinwohl ist uns wich-
tig. Das bleibt auch so. Man kann auch auf Gemein-
wohldenken verzichten, aber ich sage Ihnen ganz klar:
Wir wollen so nicht sein. Gemeinwohl und Solidarität
sollen auch in Zukunft in dieser Gesellschaft eine Rolle
spielen.
Wenn Herr Westerwelle oder Herr Merz mir entgegen-
halten, eine solche Haltung sei altmodisch,
das sei Beton, sage ich: Sei’s drum. Beton ist ein dankba-
rer Stoff, mit dem man viel machen kann. Mir ist davor
nicht bange. Ich sage Ihnen: Gemeinwohldenken, Solida-
rität in dieser Gesellschaft und auch Sozialstaat sind mo-
derner, als Sie es sich überhaupt vorstellen können. Wir
werden in dieser Gesellschaft nicht darauf verzichten
können und wollen.
Wir haben genug Probleme in diesem Land, die zu be-
wältigen sind, das ist unbestritten, leider auch durch eine
Opposition, die vor allen Dingen destruktiv ist. Wir lassen
uns auf das Niveau nicht ein, Frau Merkel. Ich will Ihnen
noch sagen: Wir werden auch die Tinte nicht saufen, in die
Sie uns hineinzuziehen versuchen.
Die Heuchelei im Zusammenhang mit dem Wahlkampf
und dem Verhalten der Regierung in dieser Zeit ist schon
außerordentlich. Im August dieses Jahres, als der Bundes-
finanzminister eine Haushaltssperre verhängte – wir alle
wissen, was das bedeutet –, hat der Kanzlerkandidat der
CDU/CSU, Herr Stoiber, ein 100-Tage-Programm ver-
abschiedet und zusammen mit Frau Merkel und Herrn
Merz und natürlich mit Herrn Glos verkündet. Nach
diesem 100-Tage-Programm sollten im nächsten Jahr
22 Milliarden Euro ausgegeben werden. Was ist das denn
für eine Heuchelei? Wie kann jemand den Menschen im
August – der Bundesfinanzminister hat eine Haushalts-
sperre verhängt – 22 Milliarden für das kommende Jahr
versprechen, obwohl er, weil er die Verantwortung in ei-
ner Landesregierung trägt, über die Situation mindestens
so gut Bescheid weiß wie die Bundesregierung? Das ist
der eigentliche Skandal in diesem Wahlkampf gewesen.
Sie können ganz sicher sein, dass das auf den Tisch kom-
men wird.
Weil es sich um einen kochschen Diffamierungsaus-
schuss handelt, sage ich auch ein Wort zu Herrn Koch. Er
übertrifft in seinem Haushalt alles. Ursprünglich hat er
650 Millionen Euro Nettoneuverschuldung vorgesehen;
dann hat er sie auf 818 Millionen Euro erhöht und jetzt
sind es 2 Milliarden Euro in Hessen.
Franz Müntefering
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Franz Müntefering
Auf Bundesebene überschreiten wir das, was wir uns vor-
genommen haben, um 65 Prozent.
Herr Koch überschreitet das, was er sich in Hessen vor-
genommen hat, um 140 Prozent.
So viel zum Können und zur Wahrheit dieses Herrn Koch.
Frau Merkel, mit Ihrer Sprache und Ihren Anwürfen
verlassen Sie den Boden demokratischer Argumentation.
Es lohnt sich, die Äußerungen der letzten Wochen zu ver-
folgen. Laut Laurenz Meyer – ich sehe ihn gerade vor mir –
taumelt Deutschland in eine Katastrophe. Aber auch an-
dere können zitiert werden: „Lügenausschuss“ und
„Flächenbombardement an Steuern“. Frau Merkel lacht
noch wohlwollend dazu. Wenn ich Flächenbombarde-
ment höre, ist mir immer ein wenig gruselig zu Mute.
Es wäre gut, wenn Sie Ihre Äußerungen ein wenig kon-
trollieren würden. Das gilt übrigens auch für „Steuer-
terror“ und andere Begriffe kriegerischer Art, die Sie ge-
brauchen.
Der „Barrikadenkampf“ wird verkündet, der „Ab-
grund“ wird aufgetan, es wird vom „Sanierungsfall“ und
von der „Katastrophe“ gesprochen. Sie sind der schweren
Hysterie offensichtlich in hohem Maße verfallen. Bei uns
zu Hause – Herr Merz ist nicht anwesend – sagt man: Ge-
hen Sie einmal zum Klapsdoktor. Bei Ihnen ist inzwischen
ein Stadium erreicht, bei dem man dringend etwas tun
müsste. Ich sage Ihnen: Das geht so nicht weiter.
Zur Opposition gehört aber auch die FDP. Insbeson-
dere nach dem Auftritt, den Herr Westerwelle hier eben
hingelegt hat, will ich sie gerne ansprechen.
Herr Westerwelle, als ich das Stichwort Möllemann da-
zwischengerufen habe, haben Sie in Ihrer Reaktion auf die
finanzielle Dimension dieser Veranstaltung hingewiesen.
Ich habe diesbezüglich nachgefragt. Ich frage Sie noch
einmal: Haben Sie die Kasse Ihrer Partei nur in Nord-
rhein-Westfalen oder auch in den anderen Bundesländern
auf die Frage hin geprüft, ob Herr Möllemann auch in
diesen Bundesländern unterwegs war und vielleicht ge-
gen Sie – das kann ja sein – Truppen gesammelt hat?
Das eigentlich Schlimme an dieser Situation ist aber,
dass Sie das Geld und nicht das eigentlich Wichtige an-
sprechen. Am 5. Juni dieses Jahres fand vor der FDP-Zen-
trale in der Reinhardtstraße in Berlin eine Demonstration
von FDP-Mitgliedern und jüdischen Mitbürgern gegen
die antisemitischen Aktionen von Herrn Möllemann und
seinen Freunden statt. Hunderte aufgebrachte Bürgerin-
nen und Bürger nahmen an dieser Demonstration teil. Der
Parteivorsitzende Guido Westerwelle hat sie beruhigt und
gesagt: Das hat mit der FDP und meinem Vize nichts zu
tun.
Herr Westerwelle, zu diesem Punkt müssen Sie sich noch
bekennen.
Die Sache Möllemann hat aufgrund des Verstoßes ge-
gen das Parteiengesetz eine finanzpolitische Dimension.
Das Schlimme an dieser Sache ist aber, dass Sie monate-
lang zugelassen und akzeptiert haben, dass in Deutsch-
land in einer ungeheuerlichen Weise, hart am Rande anti-
semitischer Vorbehalte, Wahlkampf gemacht worden ist.
Dazu werden Sie sich als Parteivorsitzender der FDPnoch
äußern müssen.
Herr Kollege Müntefering, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Westerwelle?
Ja.
Bitte, Herr Westerwelle.
Herr Kollege Müntefering, ich habe zwei Fragen an
Sie.
Erstens. Sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass
ich bei ebendieser Demonstration nicht anwesend war,
sondern – nach meiner Erinnerung – zur selben Zeit in
diesem Hause eine Debatte zu bestreiten hatte, und unse-
rer früherer Vorsitzender Klaus Kinkel bei dieser Demons-
tration war, es ihm aber nicht gestattet wurde, das Wort zu
ergreifen?
Zweitens. Sind Sie bereit, mir zu sagen, in welchen
Landesverbänden, Bezirks- und Unterbezirksverbänden
Sie weitere Untersuchungen finanzieller Art – neben de-
nen in Wuppertal, Saarbrücken und Köln – vorgenommen
haben?
Ich habe den Eindruck, so umfassend wie bei uns hat bei
Ihnen kein Einziger hinschauen wollen.
908
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 909
All diejenigen, die klatschen, scheinen Bescheid zu
wissen. Das ist ja interessant.
Zum ersten Teil Ihrer Frage. Sie haben sich in der FDP
in den Tagen nach dieser Demonstration sehr wohl dazu
geäußert.
Sie haben Möllemann die ganzen Wochen und Monate
hinweg den Rücken gestärkt.
Ich sage Ihnen: Der Hehler ist so schlimm wie der Steh-
ler. Herr Westerwelle, Sie haben das, was da stattgefunden
hat – im Letzten auch das Flugblatt –, zu verantworten.
Stehen Sie endlich dazu und machen Sie an dieser Stelle
klar Schiff!
Wollen Sie auch die zweite Frage beantworten oder
nicht?
Wir kontrollieren all unsere Bezirke und Landesver-
bände regelmäßig; da können Sie ganz sicher sein.
– Sie reagieren in Unkenntnis der Realitäten. Das zeigt,
dass Sie keine Ahnung davon haben, wie die Geschäfte ei-
gentlich laufen. Fragen Sie noch einmal in Ihren Landes-
verbänden nach, damit Sie erfahren, wo Möllemann über-
all gewesen ist!
Frau Merkel, was Sie heute praktizieren, erinnert an et-
was, was vor vielen Jahren schon einmal aufgeschrieben
worden ist. Einige Zitate daraus sollte man sich noch ein-
mal zu Gemüte führen:
Zur Taktik jetzt: Nur anklagen und warnen, aber
keine konkreten Rezepte etwa nennen ... Auf keinen
Fall sollten wir ... der Regierung irgendwelche Hilfe
bei Steuererhöhungen zusagen. Also eine politische
Mitverantwortung bei Steuererhöhungen zusagen,
das auf keinen Fall ...
Es muss wesentlich tiefer sinken, bis wir Aussicht
haben, politisch mit unseren Vorstellungen, Warnun-
gen, Vorschlägen gehört zu werden. Es muss also
eine Art Offenbarungseid und ein Schock im öffent-
lichen Bewusstsein erfolgen. Wir können uns gar
nicht wünschen, dass dies jetzt aufgefangen wird ...
Das war Sonthofen I. Diese Melodie ist damals ge-
scheitert. Sie machen jetzt Sonthofen II. Auch diese Me-
lodie wird scheitern; das sage ich Ihnen voraus.
Wir wollen, dass der Staat handlungsfähig ist und
handlungsfähig bleibt. Das machen wir dadurch, dass wir
die Schulden erhöhen, die Nettokreditaufnahme weniger
schnell abbauen, als wir es vorgesehen hatten. Das ma-
chen wir dadurch, dass wir Ausgaben reduzieren. Das ma-
chen wir dadurch, dass wir zusätzliches Geld einnehmen,
indem wir Steuerschlupflöcher schließen. Das, was wir
tun, hilft Bund, Ländern und Gemeinden. Es hilft den Ge-
meinden mit 9,4 Milliarden Euro und den Ländern mit
18 Milliarden Euro im Verlauf der Legislaturperiode.
Weil wir dies tun, können wir unsere Investitionen
auch im kommenden Jahr erhöhen. Die Ausgaben für Bil-
dung und Forschung betrugen 1998 unter der Regierung
Kohl 7,26 Milliarden Euro. 2003 sind es 9,12 Milliarden
Euro, also ein Plus von 25,6 Prozent. Das ist die Politik
dieser Koalition.
Im Ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswe-
sen betrug der Investitionsanteil 1998 45 Prozent. 2003
sind es 50,4 Prozent, also ein Plus von 5,4 Prozentpunk-
ten. Wir investieren mehr in die Verkehrsinfrastruktur.
1998 waren es 9,49 Milliarden Euro. 2003 sind es
11,49 Milliarden Euro, also ein Plus von 21 Prozent.
Das JUMP-Plus-Programm, eine Hilfe für junge Men-
schen, die Ausbildungs- und Arbeitsplätze suchen, um-
fasst 100 Millionen Euro. Im Laufe der Legislaturperiode
werden Ganztagsschulen mit 4 Milliarden Euro und Krip-
penplätze mit 1,5 Milliarden Euro gefördert.
Wir wünschen uns, dass sich bis Ende dieser Legisla-
turperiode 40 Prozent der jungen Menschen im Studium
befinden. Wir brauchen in Deutschland mehr Studentin-
nen und Studenten, als wir derzeit haben. In den Studien-
gängen für Informations- und Kommunikationstechnolo-
gien sollten sich zu 40 Prozent Frauen befinden.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird durch
Maßnahmen, die bereits angesprochen worden sind, ver-
bessert.
Deutschland muss mehr in Bildung und Forschung
investieren, um seine Zukunftsfähigkeit zu sichern. Die
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Franz Müntefering
„Bild“ zu konsumieren reicht nicht. Bildung und For-
schung sowie Schulen kosten Geld. Nicht jeder hat das
Geld vom Papa. Deshalb muss der Staat in der Lage sein,
einen Teil dessen, was wir heute erwirtschaften, in die
Köpfe und Herzen der jungen Menschen zu investieren: in
Kindergärten, in Schulen, in Hochschulen, in Forschung,
in Technologie, in neue Unternehmen, in den ÖPNV, in die
Polizei, in Krankenhäuser, in all das, was uns wichtig ist.
Wir müssen als Staat in der Lage sein, diese Aufgabe auch
in Zukunft zu übernehmen. Dafür streiten die Sozialde-
mokraten in dieser Koalition – ich hoffe, sie tun das er-
folgreich.
Deutschland hat die beste Infrastruktur weltweit.
Deutschland hat qualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitge-
ber. Deutschland ist ein Hochtechnologieland und Vize-
weltmeister im Export. Deutschland hat alle Vorausset-
zungen, um in eine gute Zukunft zu gehen. Wir sorgen
dafür, dass dies auch möglich wird – sozial, tolerant, soli-
darisch und souverän.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Kampeter von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! An einer Stelle der Rede des Genossen Müntefering
hat es mich richtig umgehauen: als der für den Wahlkampf
der Sozialdemokratischen Partei verantwortliche Gene-
ralsekretär die Sprache der politischen Auseinanderset-
zung kritisierte. Wenn es jemanden in Deutschland gibt,
der für Brutalität und Verrohung der politischen Sprache
steht, dann ist es Müntefering und sonst keiner.
Von Ihnen Ratschläge entgegennehmen zu müssen,
was die politische Kultur angeht, ist schwer erträglich.
Das gilt auch für Ihre Anwürfe gegenüber anderen Par-
teien bezüglich ihrer Parteispenden und Finanzsituation.
Müntefering ist derjenige, der in Nordrhein-Westfalen
lange Verantwortung in der Sozialdemokratischen Partei
getragen hat, die von einer Korruption in eine andere
Spendenaffäre hineintrudelt.
Gestern hat der Staatsanwalt für den Oberbürgermeis-
ter von Wuppertal Kremendahl 18 Monate Bestrafung ge-
fordert. Herr Müntefering, an Ihrer Stelle würde ich den
Mund nicht so voll nehmen; denn Sie tragen mit Verant-
wortung für all die Skandale, die unter Ihrer Regentschaft
in Nordrhein-Westfalen stattgefunden haben.
Ich will mich mit einigen Argumenten auseinander set-
zen, die Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben. Es ist schon
einigermaßen erstaunlich: Deutschland befindet sich in
einer großen Wachstumskrise, während andere vergleich-
bare Volkswirtschaften sehr viel schneller wachsen.
Wenn andere Volkswirtschaften schneller als die eigene
wachsen, bedeutet das den Export von Arbeitsplätzen und
Wohlstand dorthin.
Es gab kein Wort, weder vom Bundeskanzler noch vom
Fraktionsvorsitzenden der SPD, dazu, wie wir Wachstum
und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland för-
dern und Bürokratie beseitigen wollen. Stattdessen wird
ausschließlich über die Verteilung dessen schwadroniert,
was noch gar nicht erwirtschaftet worden ist. Dies kann
keine verlässliche wirtschaftspolitische Handlungsanwei-
sung sein.
Es wird sehr viel von Gemeinwohlorientierung gere-
det. Herr Müntefering, in der Koalitionsvereinbarung ha-
ben Sie beispielsweise etwas über das Gemeinnützig-
keitsrecht für Kultur, Sport und anderes geschrieben. Der
SPD-Parteitag hat das einstimmig abgesegnet. Wenn Sie
das Gemeinwohl in Deutschland tatsächlich fördern wol-
len – wie Sie es hier deklamiert haben – dann dürfen Sie
Vorschläge, die die gesamte Kulturförderung in Deutsch-
land auf den Kopf stellen würden, nicht machen. Derje-
nige, der auch im Geiste für die Kultur- und Gemeinwohl-
förderung ist, muss so etwas zurückweisen. Sie aber
haben das einstimmig auf Ihrem Parteitag beschlossen.
Hanebüchen war auch Ihre Argumentation bezüglich
der Investitionen in Bildung und Forschung.
Die Investitionen in Bildung und Forschung stiegen, hieß
es. Die Kollegin Bulmahn ist gerade draußen, trotzdem
sage ich: Wenn Sie die Etats für Bildung und Forschung
sowie Wirtschaft zusammenfassen würden, würden Sie
sehen, dass die Etats stagnieren und der Investitionsanteil
für Bildung und Forschung zurückgeht.
Sie liefern ein absolutes Zerrbild nicht nur von der
Wirklichkeit, sondern vor allen Dingen von den angebli-
chen Erfolgen Ihrer Regierungsarbeit. Sie haben in Ihrer
Rede jedweden Bezug zur Wirklichkeit vermissen lassen.
910
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 911
Das gilt im Übrigen auch für die Verkehrsinvesti-
tionen. Deutschland steht im Stau und der Generalse-
kretär a. D. und jetzige Fraktionsvorsitzende, der Genosse
Müntefering, versucht, uns zu erklären, noch nie sei so
viel in den Verkehr investiert worden. Die Wahrheit ist:
Trotz der Abkassiererei durch die Verkehrsmaut werden
die Verkehrsinvestitionen in Deutschland sinken. Im ge-
samten Haushalt haben wir die historisch niedrigste Inves-
titionsquote seit Beginn der Finanzrechnung. Das ist die
bittere Wahrheit, die Herr Münterfering hier zu verschlei-
ern versucht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird im-
mer wieder die Frage gestellt: Wo sind die Alternativen
der Opposition?
Ich frage mich, ob nicht zugehört wird. Ich will einige
Elemente dessen, was wir heute schon zweimal vorgetra-
gen haben, hervorheben.
An erster Stelle steht eine Steuerreform, nach der sich
Leistung in Deutschland wieder lohnt. Bei dem, was Sie
jetzt in das Parlament eingebracht haben, handelt es sich
ausschließlich um Steuererhöhungen mit einem Gesamtvo-
lumen von etwa 40 Milliarden Euro in dieser Legislaturpe-
riode. Wir aber brauchen Leistungsanreize für die Men-
schen draußen, die sich regelrecht abkassiert und nicht in
ihrem Anliegen wahrgenommen fühlen, dass sie für unsere
Volkswirtschaft auch etwas leisten wollen. Nur wer eine
Steuerreform in dem von mir genannten Sinne angeht, wird
auch bei den Bürgern wieder Leistung ernten. Das ist der
erste Punkt, den wir hier heute angesprochen haben.
Der zweite Punkt ist die Deregulierung des Arbeits-
marktes. Es ist in dieser Woche bereits darauf hingewie-
sen worden, dass wir kurzfristig unser Minijobgesetz ge-
meinsam mit allen Fraktionen in diesem Haus
verabschieden und in Kraft setzen könnten. Es ist deutlich
gemacht worden, dass die Initiativen für betriebliche
Bündnisse für Arbeit, die Sie – entgegen Ihrer Rede, Herr
Müntefering – mit den geltenden Regelungen blockieren,
ermöglicht werden müssen. Es wäre doch ein kleiner Akt
für mehr Selbstständigkeit in Deutschland, dieses krank-
hafte Scheinselbstständigengesetz zum Jahresende aus-
laufen zu lassen.
Die Liberalisierung der Teilzeitarbeit ist ein weiterer
wichtiger Schritt, der – ebenso wie die Umsetzung des
OFFENSIV-Gesetzes – schon mehrfach vorgeschlagen
worden ist. Herr Müntefering, Sie haben heute behauptet,
die Opposition habe keine klaren Konturen erkennen las-
sen. Das ist genauso ein Zerrbild der Wirklichkeit wie vie-
les andere, was Sie hier heute vorgetragen haben.
Auch von neutraler Seite ist das Urteil über die derzei-
tige Haushaltssituation in Deutschland eindeutig. Der so-
zialistische EU-Kommissar Solbes, der für Haushaltsfra-
gen zuständig ist, stellt fest, das hohe Haushaltsdefizit
resultiere nicht nur aus einem außergewöhnlichen Ereignis,
das sich der Kontrolle entziehe. Grund seien, so Solbes, die
zum Teil selbst verschuldeten Haushaltslücken und die
Einnahmeausfälle aufgrund einer verfehlten Steuerpoli-
tik. Wenn Sie nicht bereit sind, die Ursachenanalyse zu
akzeptieren, die es weltweit in Bezug auf Deutschland
gibt, werden auch alle Ihre Rezepte und Instrumente, die
Sie aufgrund Ihrer falschen Ursachenanalyse entwickelt
haben, nicht wirken. Sie werden unsere Volkswirtschaft
aus der Stagnation in die Rezession führen. Das muss
dringend verhindert werden.
Was das Rentensystem angeht, Herr Kollege
Müntefering, so ist zu sagen, dass wir über dieses Thema be-
reits in verschiedenen Bundestagswahlkämpfen, an denen
Sie höchstpersönlich beteiligt waren, streitig diskutiert ha-
ben. Ich kann mich an Plakate in meinem Wahlkreis erin-
nern, auf denen es hieß: Wenn ihr CDU oder CSU wählt,
steigt der Rentenversicherungsbeitrag, wenn ihr SPD wählt,
bleibt er stabil.
Tatsache ist, dass Sie offensichtlich schon damals, als Sie
als Generalsekretär das Plakat verantwortet haben – denn
Sie sitzen auch in den politischen Entscheidungsgremien
Ihrer Partei, sind also wesentlich beteiligt –, wussten, dass
der Rentenbeitragssatz erheblich steigen würde, und
zwar – wie wir heute wissen – auf den Höchststand von
19,9 Prozent. Das war Ihnen damals bekannt.
Wenn Sie eine solche Ignoranz gegenüber den Tatsachen
walten lassen – dabei interessieren Sie als Generalsekretär
uns weniger; uns interessieren mehr die durch Diensteid
verpflichteten Mitglieder der Bundesregierung – und die
Öffentlichkeit in die Irre führen, dann müssen wir darauf
hinweisen, dass das nicht geht, und zwar insbesondere im
Hinblick auf die Zukunft. Lügen und unvollständige
Wahrheiten dürfen sich nicht auszahlen. Dem dient der
von uns ausschließlich zum Zwecke der Wahrheitsfin-
dung eingerichtete Untersuchungsauschuss.
Deswegen werden wir die politische Auseinandersetzung
in aller Sachlichkeit, aber auch mit der gebotenen Schärfe
führen. Er ist notwendig, damit die politische Kultur in
Deutschland nicht unter Unwahrheiten und Verdrehungen
leidet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden
bei den Haushaltsberatungen unsere Alternativen deutlich
machen. Aber eines ist wichtig: Es geht nicht nur um
Haushaltspositionen. Was dringend notwendig ist, ist ein
Stimmungswechsel in diesem Land. Dieser Stimmungs-
wechsel wird nur dann eintreten, wenn sich diese falsche
Politik grundlegend ändert. Sonst wird es mit Deutsch-
land nicht aufwärts gehen. Wir wollen aber, dass sich die
Steffen Kampeter
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Steffen Kampeter
Leistung der Menschen in Deutschland wieder lohnt. Des-
wegen werden wir auch unsere Alternativen in den ein-
zelnen Etats darlegen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Hermenau vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
lege Kampeter, ich hätte mir schon ein bisschen mehr in-
tellektuelle Herausforderung gewünscht. Aber es hat nicht
sollen sein.
Wenn Sie hier wieder mit derselben Idee wie in den
letzten Jahren kommen – Wachstum setze sich so fort, wie
es sich in den 70er-Jahren in Westdeutschland einmal eta-
bliert habe, und dann sei alles in Ordnung –, sage ich Ih-
nen – übrigens Zitat Lambsdorff, der unverdächtig ist,
was Sympathien mit grüner Politik betrifft –: Die fetten
Jahre, Herr Kampeter, sind vorbei. Das heißt, Politik wird
in Zukunft in Deutschland nur derjenige machen können,
der in der Lage ist, bei geringeren Wachstumsmargen
trotzdem noch Staat zu machen, und zwar nicht auf Pump.
Sie werden sich jetzt überlegen, wie das mit den
Wachstumsmargen sein kann. Es ist ganz einfach. Ei-
gentlich müssten Sie mitbekommen haben, dass die Indus-
triegesellschaft – wenn nicht gänzlich, so doch zum
größeren Teil – jedes Jahr ein Stückchen mehr in eine
Gesellschaft übergeht, die vor allen Dingen auf Informa-
tionstechniken und Dienstleistungen beruht, auch perso-
nennahen Dienstleistungen, zum Beispiel Pflege, auch
auf solchen Berufen, in denen keine Wertschöpfung in
dem Sinne stattfindet, die aber trotzdem bezahlt werden
müssen.
Wenn Sie sich diese Berufe einmal vor Augen führen,
erkennen Sie zwei Tatsachen. Die eine ist: Die Wachs-
tumsmargen in diesen Branchen sind geringer, weil man
mit Menschen arbeitet und nicht mit Maschinenparks, die
man erneuern kann, um Produktionssprünge zu schaffen.
Das zweite Problem, das Sie erkennen, ist: Die Rolle der
Lohnnebenkosten nimmt deutlich zu, weil wir viel mehr
darauf angewiesen sind, Menschen in diesen Berufen zu
haben, die gut ausgebildet sind und die ihr Geld wert sein
wollen.
Das heißt, es gibt große Veränderungen in diesem
Land, die sich genau in diesen beiden Bereichen abspie-
len: auf der einen Seite weniger Wachstum, mit dem wir
auskommen und gut Staat machen müssen, und auf der
anderen Seite die wachsende Bedeutung der Lohnneben-
kosten.
Diesen neuen Herausforderungen stellen wir uns. Wir
stellen uns ihnen im Haushalt 2003 und stellen uns ihnen
mit unseren Entscheidungen.
Dass Sie die Notoperation 2002 jetzt ständig als Kurs-
wechsel zu diffamieren versuchen, ist eigentlich nur Ihrer
fehlgeleiteten Betrachtung geschuldet; denn Sie sind
nicht in der Lage, diese neuen Tatsachen einzuordnen.
Das Brechen mit althergebrachten Gewohnheiten ist ein
zäher Prozess. Ich erlebe die CDU/CSU im Moment stän-
dig in einem Kulturkampf, bei dem Versuch, das Alther-
gebrachte zu bewahren, weil Sie glauben, dazu seien Sie
verpflichtet, ohne zu sehen, wo die Zukunftschancen lie-
gen. Für mich sind Sie eine ganz altmodische Partei.
Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das bemerken. Frau
Merkel hat ja versucht, die CDU/CSU ein bisschen auf
Reformtempo zu bringen. Sie ist sofort von all den älteren
Herren ihrer Partei „eingesammelt“ worden. Sie bemer-
ken es wahrscheinlich nicht – weder Herr Kampeter noch
Frau Merkel noch sonst jemand –, aber die CDU/CSU
verpasst gerade den Anschluss. Sie halten sich mit Ihrem
inszenierten Oppositionstheater auf und verpassen den
Anschluss, was die Regelung für unsere Zukunft anbe-
langt. So einfach ist das.
Wir haben in den letzten vier Jahren versucht, Refor-
men in sehr vielen Bereichen zu machen, und haben fest-
gestellt, wie schwer und kompliziert es ist, neue Werte zu
prägen. Es geht nicht immer darum, einen Werteverfall zu
bejammern, wie Sie es immer tun. Es kann ja auch sein,
dass manche Werte aus gutem Grund nicht mehr so hoch
gehalten werden wie früher. Das ist kein Werteverfall, das
ist ein Wertewandel. Ich finde, dass uns in Deutschland ei-
nige Wertewandel zum Guten gereichen.
Dies zu unterstützen, diese Werteprägung vorzunehmen,
das haben wir in den letzten vier Jahren versucht und, wie
ich finde, auch in vielen Lebensbereichen geschafft. Dass
Ihnen das nicht passt, bemerke ich an Ihrem Rumgezicke.
Das heißt aber noch lange nicht, dass die Politik falsch ist.
Herr Solbes hat vor kurzem gesagt, den Deutschen
fehle es nicht an Geld, sie wollten es nur nicht ausgeben,
denn sie fürchteten sich vor der Zukunft. Und darin haben
Sie Ihre Aktie. Sie sprechen ständig davon, dass die Hälfte
der Wirtschaft Psychologie sei. Damit gebe ich Ihnen
Recht. Aber wer verbreitet seit Wochen immer nur Getöse
und irgendwelche Untergangsstimmung? Lassen Sie sich
das einmal von einer Partei sagen, die auch ihre Erfah-
rungen damit gemacht hat, was geschieht, wenn man ein
Anliegen übertreibt.
In den 80er-Jahren haben wir in unseren Reihen einige
Leute gehabt, die die ökologische Bedrohung zum Kata-
strophismus hochstilisiert haben. So etwas Ähnliches pas-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 913
siert Ihnen gerade. Sie verstehen den Wertewandel nicht
und halten ihn für Werteverfall. Sie predigen die zivilisa-
torische Katastrophe, die außer in Ihren Köpfen aber über-
haupt nicht stattfindet.
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Otto von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
die dankbare Aufgabe, in zwei Minuten als Vorband für
die Kulturstaatsministerin zu sprechen. Da die Zeit so
knapp ist, komme ich gleich zu einer Feststellung und ei-
ner Empfehlung.
Die Feststellung ist: Die nach mir sprechende Christina
Weiss ist nach meiner tiefen Überzeugung bisher das wohl
erfolgreichste Mitglied dieser Bundesregierung. Sie hat es
immerhin – das muss man ganz deutlich und mit Respekt
sagen – geschafft, dass die von der Bundesregierung ge-
plante unsägliche Anhebung der Mehrwertsteuer auf
Kulturgüter unterbleibt.
Sie hat es auch geschafft, dass die Spendenabzugsfähig-
keit für Körperschaften erhalten bleibt.
Indem Sie, Frau Weiss, zwei von der Bundesregierung
intendierte Verschlechterungen unter Aufbietung Ihrer
gesamten Kraft haben verhindern können, werden Sie
schon zum besten Mitglied dieser Bundesregierung. Sie
haben also den Status quo gerade so halten können. Aber
dies ist schon ein großer Erfolg und nötigt mir Respekt ab.
In zwei Minuten kann ich Ihnen nur eine Empfehlung
geben: Hüten Sie sich
vor allzu großspurigen Ankündigungen, die Sie später nicht
umsetzen können. Dazu nenne ich zwei Beispiele aus der
Koalitionsvereinbarung. Darin heißt es vollmundig:
... wird der Bund sein kulturelles Engagement für
seine Hauptstadt erhalten und ausbauen.
Ich habe mir natürlich den Haushaltsentwurf angeschaut.
Ich stelle nüchtern fest: Dieser Haushaltentwurf gibt hierfür
überhaupt nichts her, insbesondere sind keinerlei belastbare
Ansätze für die Umsetzung der großspurigen Ankündigung
enthalten, man werde die Investitionen für die Museums-
insel in Berlin übernehmen. Ich möchte einmal sehen, wer
das bei dieser Haushaltslage finanzieren soll.
Das zweite Beispiel: In der Koalitionsvereinbarung
steht ebenfalls vollmundig:
Das Kulturförderprogramm für die neuen Länder
wird mit 30 Millionen Euro p. a. fortgeschrieben, ...
Im Haushalt sieht dies anders aus: Das Kulturförder-
programm für die neuen Bundesländer wird um ein
sattes Drittel von 30,7 Millionen Euro auf 20,5 Milli-
onen Euro heruntergefahren.
Frau Weiss, wenn Sie bei dieser Bundesregierung für
die Kultur finanziell mal eben den Statuts quo erhalten
können, dann verdienen Sie unseren Respekt. Verspre-
chen Sie aber den Kulturschaffenden nichts, was Sie nicht
halten können. Wo das Geld fehlt, sind Kreativität und
Ideen gefordert.
Die Opposition hat keine Haushaltsmittel zu verteilen.
Wir haben aber kreative Ideen und werden Ihnen diese un-
terbreiten.
Wir unterbreiten Ihnen zum wiederholten Male ein Ko-
operationsangebot. Es liegt an Ihnen, ob Sie die Ideen der
Opposition aufgreifen. Ich hoffe sehr, dass die Bundesre-
gierung in Zeiten knapper Kassen darauf vertraut, dass
man hier gemeinsam etwas schaffen kann. Wir stehen
dazu bereit.
Herzlichen Dank.
Für die Bundesregierung spricht jetzt die Staatsminis-
terin Christina Weiss.
D
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Die Erfahrungen mit dem vor vier Jahren neu ge-
schaffenen Amt der Kultur- und Medienbeauftragten der
Bundesregierung und nicht zuletzt auch die Erfolge bele-
gen, dass die Übernahme der nationalen Verantwortung
des Bundes für die Kulturentwicklung in Deutschland und
die Schaffung des Amtes der Staatsministerin für Kultur
und Medien nicht mehr gerechtfertigt werden müssen. Im
Gegenteil: Zu lange fehlte den Kulturschaffenden ein An-
sprechpartner auf Bundesebene, ein Ideengeber, ein Inte-
ressenvertreter der Kultur und Medien, der in Deutschland
und in Europa anerkannt wird. Diese Funktion – da bin ich
mir sicher – wird sich auch in der kommenden Legisla-
turperiode festigen.
Lassen Sie mich die Grundideen einer nachhaltigen
Kulturpolitik an wenigen prominenten Beispielen erläu-
tern, allen voran an der Kulturstiftung des Bundes, die
die Regierung Anfang dieses Jahres ins Leben rief. Mit
Antje Hermenau
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Staatsministerin Dr. Christina Weiss
dieser Stiftung haben wir eine Institution geschaffen, die
dabei ist, zu einem geistigen Zentrum der Bundesrepublik
zu werden, und die sich viel mehr der Initiative als der Ali-
mentation verpflichtet fühlt,
eine Institution, die Debatten anstoßen kann, die Debatten
organisieren kann und die allen Unkenrufen zum Trotz die
Vorteile föderaler Verfasstheit mit der Aufwertung zentra-
ler Vorhaben durch den Bund auch vereinen kann. Die
KSB wird das Engagement der Bürgerinnen und Bürger
für die Belange von Kunst und Kultur fördern, die
Kraftzentren kreativer und geistiger Entwicklung stärken
und nicht zuletzt auf der europäischen Ebene sichtbar
agieren.
Zur Stärkung dieser Zukunftsaufgabe sieht der vorlie-
gende Haushaltsentwurf vor, die Mittel für die Bundes-
kulturstiftung auf 25,6 Millionen Euro zu verdoppeln,
womit die Stiftung in ihre zweite Entwicklungsstufe ein-
treten kann. Ab dem Jahr 2004 sind dann in der Endstufe
38,3 Millionen Euro jährlich geplant.
Doch wir haben noch eine weitere Stiftung, die wie die
KSB prädestiniert ist, das Miteinander von Bund und
Ländern in der Frage von Kunst und Kultur zu repräsen-
tieren, nämlich die Stiftung PreußischerKulturbesitz in
Berlin.
Noch vor einem Jahr wollten die Länder die SPK gern
verlassen. Jetzt wollen sie sich weiter an der Finanzierung
der SPK beteiligen. Das ist eine gute Entwicklung, für die
mein Haus lange gekämpft hat.
Diese Entwicklung ist zugleich ein gutes Zeichen für den
Fortgang der Gespräche zur Systematisierung der Kultur-
förderung, in denen wir inzwischen auch weit vorange-
kommen sind.
Eines der wichtigsten Projekte der SPK, vielleicht das
wichtigste Projekt, ist die Sanierung der Berliner Mu-
seumsinsel. Sie haben Recht: Der Bund hat die Finanzie-
rung dieser symbolträchtigen Aufgabe übernommen;
denn sie besitzt wie kaum eine zweite wirklich nationalen
Rang. Die Museumsinsel lässt sich nur noch mit dem
Louvre oder dem British Museum vergleichen.
Deshalb stellt der Bund auch 100 Millionen Euro zur Er-
haltung dieses Weltkulturerbes zur Verfügung.
Gerade in Zeiten, in denen, wie wir es heute wieder
gehört haben, immer wieder von Abschwung, von Krise,
gar von Depression die Rede ist, in Zeiten, in denen Men-
schen glauben, die Orientierung zu verlieren, brauchen
wir eine große Vision wie dieses Museumsbauprojekt, das
die Kraft der Kultur versinnbildlicht. Es ist nur die kultu-
relle Identität, die uns aufrichten kann.
Ohne sie ist das geistige, seelische und soziale Überleben
in unserer Gesellschaft immanent gefährdet. Die Größe
und Vielfalt der Kunst gibt uns Richtung und Maßstab vor.
Sie hilft dem Einzelnen, sich zu orientieren und zu posi-
tionieren. Sie hilft der Gesellschaft, die Gegenwart auch
als Chance zu begreifen, um die Ecke zu denken, flexibel
und kreativ zu sein.
Wie in einem Brennspiegel konzentrieren sich diese Auf-
gaben und Chancen von Kunst und Kultur auf der Berli-
ner Museumsinsel.
Im vergangenen Jahr hat der Bund mit dem Land Ber-
lin einen Vertrag zur Kulturfinanzierung in der Bundes-
hauptstadt geschlossen. Das bis dahin gültige System der
pauschalen Förderung von Berliner Kultureinrichtungen
wurde abgeschafft. Eindeutige Zuständigkeiten wurden
definiert. Dieses Prinzip hat sich bewährt. Wir führen mit
dem Land Berlin auch bereits die ersten Gespräche zur
Fortsetzung unserer Förderung nach dem Jahr 2004.
Dabei kann und will sich der Bund nicht als Retter des
Berliner Haushalts etablieren, im Gegenteil: Mein Haus
versteht sich gegenüber Berlin, wie gegenüber allen an-
deren Bundesländern, als Vermittler und Moderator, der
davon überzeugt ist, dass eine Hilfe zur Selbsthilfe noch
immer die beste Unterstützung ist.
Ganz anders ist dieses Selbstverständnis dagegen mit
Blick auf die verheerende Flut, die uns, besonders Sach-
sen und Sachsen-Anhalt, letzten Sommer heimgesucht
hat, eine Flut, die für uns alle ein großer Schock war, ein
Kulturschock. Jedem sind die Bilder von den überflute-
ten Kulturstätten in Dresden oder Dessau oder Wörlitz
noch vor Augen. Es ist wichtig, dass für die Wiederher-
stellung der schwer getroffenen Kulturstätten auf Initia-
tive meines Hauses das „Kulturelle Fluthilfeprogramm“
eingerichtet wurde. Dafür stehen insgesamt 100 Milli-
onen Euro zur Verfügung. Ich bin stolz darauf, dass da-
rüber hinaus aus dem Budget meines Hauses kurzfristig
3 Millionen Euro und von der KSB 2 Millionen Euro an
Soforthilfe zur Verfügung gestellt werden konnten.
Außerdem hat vor wenigen Tagen eine Auktion 3,4 Milli-
onen Euro für die Gemäldesammlung in Dresden er-
bracht.
Erlauben Sie mir noch ein Wort zum Investitionspro-
gramm „Kultur in den Neuen Ländern“. Zukünftig werden
914
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 915
wir uns nicht nur darum bemühen, die vielen kleinen und
großen kulturellen Leuchttürme in den neuen Ländern
baulich zu erhalten; vielmehr wollen wir dazu übergehen,
ihre Strahlkraft zu erhöhen, und wir wollen sie in eine Kul-
turlandschaft einbetten, die Ost und West verbindet.
Ganz kurz zur Medienpolitik. Zu diesem Bereich
werde ich Ihnen in dieser Legislaturperiode zwei Gesetz-
entwürfe zur Beratung vorlegen. Uns werden hier die Re-
organisation der Deutschen Welle und die Novellierung
der Filmförderung beschäftigen.
Ich gehe davon aus, dass wir in diesem Hause eine gute
Kooperation haben werden. Ich würde mich freuen, wenn
der Ausschuss für Kultur und Medien dieses Hauses ein
ähnlich gestärktes Mitspracherecht erhielte, wie ich es
durch das Kulturverträglichkeitsvorhaben der Bundesre-
gierung erhalten habe.
In diesem Sinne: Wagen Sie, meine sehr verehrten Da-
men und Herren, gemeinsam mit mir und mit dieser Re-
gierung mehr Kultur, eine Kultur jenseits elitärer Hinter-
zimmer, eine Kultur für unser Land: parteiübergreifend,
länderübergreifend und nicht zuletzt – das richtet sich be-
sonders an den Kollegen Gauweiler – stämmeübergrei-
fend.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktions-
los.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Trotz der Erfolgsmeldungen und Ankündigungen meiner
Vorrednerinnen und Vorredner muss ich festhalten: Es
steht nicht gut um Rot-Grün. Herr Clement spricht von
Start- und Kommunikationsschwierigkeiten. Heide
Simonis erwartete heute gar eine Blut- und Tränenrede
des Kanzlers.
Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Rot-Grün: Ihr Problem ist weniger mangelnde Kommuni-
kation; Ihr Problem ist die Inkonsequenz, die Wider-
sprüchlichkeit und die Gegenläufigkeit Ihrer Politik. Ich
will Ihnen das an drei Beispielen illustrieren, die sich übri-
gens klar von denen der Opposition zu meiner Rechten
unterscheiden werden.
Mein erstes Beispiel betrifft den Sozialstaat. Ihre erste
Prämisse dazu heißt, der Sozialstaat sei gerade in Zeiten
der Globalisierung unverzichtbar. Ihre zweite Prämisse
dazu lautet, die Wirtschaft müsse gerade in Zeiten der
Globalisierung von Kosten für den Sozialstaat entlastet
werden. Das Problem ist: Beides passt nicht zusammen.
Wer die Wirtschaft von Kosten für den Sozialstaat entlas-
tet, treibt den Sozialstaat in die Krise. Wer das zulässt,
kann sich nicht als Anwalt des Sozialstaates aufspielen.
Nun wurde Franz Müntefering ob seines Zitats, die Bür-
ger sollten weniger konsumieren und mehr dem Staat ge-
ben, gescholten. Politisch ist das, was Franz Müntefering
geäußert hat, Harakiri; es hat aber sehr wohl seine Logik.
Der Sozialstaat wird immer mehr von denjenigen finan-
ziert, die bedürftig sind, und immer weniger von denjeni-
gen, die dazu in der Lage sind. Eine Putzfrau oder ein sich
selbst ausbeutender Computerexperte müssen kräftig für
den Sozialstaat zahlen. Große Konzerne mit Gewinnen
brauchen das nicht. Im Gegenteil: Sie werden sogar noch
alimentiert. Das ist hierzulande Usus, auch unter Rot-Grün.
Weil das so ist und weil die Kassen klamm sind, hat
Müntefering logischerweise nicht an die Vermögenden,
an die eigentlich Zahlungspflichtigen appelliert; es sind
dummerweise die Bedürftigen, die er zur Kasse bitten
will. Eigentlich hätte er dafür heftigen Beifall von der
CDU/CSU und allemal von der FDP verdient. Denn das
entspricht genau Ihrer Politik, die Sie auch heute wieder
hier vorgestellt haben.
Ich will nur anmerken: Mit Solidarität hat das alles nichts
zu tun. Und das ist der eigentliche Bruch mit einst sozial-
demokratischen Grundsätzen.
Zweites Beispiel: Krieg oder Frieden? Rot-Grün lehnt
eine Beteiligung an einem Krieg gegen den Irak ab. Ich
nehme Ihnen sogar ab, dass Sie dafür gute Gründe haben
und dass dies nicht nur kurzfristige Wahlkampfmotive
sind. Aber wieder sind Sie inkonsequent. Ein Krieg gegen
den Irak wäre ein Angriffskrieg. Er wäre nicht durch die
UN-Charta gedeckt. Kein NATO-Vertrag nimmt Sie in die
Pflicht. Das Grundgesetz verbietet sogar eine deutsche
Beteiligung.
Und doch steckt Rot-Grün mittendrin und damit natür-
lich auch wir alle. Sie bewilligen Überflugrechte, falls die
USA auch von deutschem Boden aus einen Angriffskrieg
gegen den Irak führen wollen. Sie halten Spürpanzer und
Marineeinheiten im Aufmarschgebiet vor. Sie wollen Mi-
litärmaterial in erweiterte Krisengebiete liefern. Das Pro-
blem: Auch das ist eine typische Jein-Politik. Aber es gibt
kein Jein zum Krieg. Es gibt nur ja, ja oder nein, nein. Die
PDS bleibt beim Nein, Nein zum Krieg.
Ich komme zum dritten versprochenen Beispiel: Steu-
erpolitik. Wir werden keine Steuern erhöhen, hieß es
bei Rot-Grün vor der Wahl. Wir schließen lediglich
Schlupflöcher, hieß es danach. Die Opposition zur Rech-
ten schreit Zeter und Mordio. Das Problem: Rot-Grün geht
in der gesamten Steuerdebatte in die neoliberale Falle.
CDU/CSU und FDP predigen landauf, landab, Steuern
seien Teufelswerk. Die Frage ist aber nicht, ob Steuern ge-
nehm sind. Die eigentliche Frage ist, ob Steuern gerecht
sind. Bei der Antwort auf diese Frage kneift Rot-Grün.
Sie gehen nicht wirklich an das spekulierende und un-
produktive Kapital heran. Anderenfalls müssten Sie sich
Staatsministerin Dr. Christina Weiss
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Petra Pau
endlich der Tobinsteuer nähern. Sie nehmen den vorhan-
denen Reichtum nicht in die grundgesetzliche Pflicht.
Anderenfalls würden Sie aktiv für eine wirkliche Vermö-
gensteuer streiten. Sie machen nichts, um die überschul-
deten Länder und Kommunen zu entlasten. Anderenfalls
würden Sie zu wirklichen Reformen schreiten. Sie kleben
weiter an den Modellen des vergangenen Jahrhunderts.
Anderenfalls würden Sie sich wirklichen Neuerungen,
etwa einer Wertschöpfungsabgabe, öffnen. So aber bleibt
Rot-Grün ein Muster ohne Wert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte meine
grundsätzliche Kritik an zwei aktuellen Beispielen illus-
trieren. Sie brüsten sich damit, dass der Bund 4 Milliar-
den Euro für eine bessere Bildungspolitik in den Ländern
bereitstellt. Das klingt allemal angesichts der viel zitier-
ten PISA-Studie unglaublich gut. Bundesministerin
Bulmahn sprach gestern sogar von einer „rot-grünen
Initialzündung“. Was Sie dabei aber verschweigen, ist,
dass Ihre letzte Steuerreform die Länder das Dreifache,
nämlich 12 Milliarden Euro, an Mindereinnahmen gekos-
tet hat, die somit auch für die Bildungspolitik fehlen. Jede
Klofrau, der Sie 10 Cent auf den Teller legen und zugleich
30 Cent klauen, würde sich zu Recht betrogen fühlen.
Das zweite aktuelle Beispiel: Bundeskanzler Schröder
hat verkündet, keinem Opfer der jüngsten Hochwasser-
katastrophe solle es hernach schlechter gehen als
vordem. Wir, die Vertreterinnen der PDS im Bundestag,
waren erst jüngst vor Ort. Unsere Eindrücke sind ernüch-
ternd und bedrückend. Das Hochwasser ist weg, die Ka-
meras sind weg und die Bundesregierung ebenso.
Zurück bleiben vielfach Zweifel und Verzweiflung. Es
geht also nicht um Reförmchen. Gefragt ist nach wie vor
ein Politikwechsel: hin zu sozialer Gerechtigkeit, zu mehr
Demokratie und natürlich zu einer konsequenteren Frie-
dens- und Entwicklungspolitik.
Ich komme zum Schluss. Da in vermeintlich großen
Debatten gern große Geister angerufen werden,
will ich dem nicht nachstehen. CDU/CSU und FDP for-
dern einen Lügenausschuss des Bundestages.
Würde der legendäre Baron von Münchhausen das noch
erleben, würde er sich ob dieser Aufführung endgültig tot-
lachen.
Danke schön.
Der nächste Redner ist der Kollege Günter Nooke,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Nach einer Debatte über das Grundsätzliche und über die
Lage der Nation ist es immer etwas schwierig, zum kultu-
rellen Teil überzugehen und versöhnliche Töne anzustim-
men. Das könnte aber auch unseren nicht ganz so kost-
spieligen Beitrag zur Kultur in diesem Hause darstellen.
Insofern kann ich es, Frau Staatsministerin, nur begrüßen,
dass Sie sich heute Ihren Redeplatz erkämpft haben und
noch zu Wort gekommen sind. Das ist ein gutes Zeichen.
Wir reden heute im Plenum nicht zum ersten Mal über
Kultur. Da wir schon zum zweiten Mal darüber reden,
habe ich den Eindruck, dass hier öfter darüber diskutiert
wird als im Bundeskabinett. Aber dass sich der Bundestag
öfter damit beschäftigt, als es die Bundesregierung viel-
leicht tut, muss – auch im Sinne des Kulturföderalis-
mus – ebenfalls kein schlechtes Zeichen sein.
Sie haben gerade im Gegensatz zu Ihrer ersten Rede
zumindest den Versuch gemacht, auch einige Schwer-
punkte der Kulturpolitik zu nennen, statt nur relativ un-
konkret und philosophisch zu sprechen. Solche Äußerun-
gen gab es auch. Ich will nicht verhehlen, dass auch uns
das, was Sie angesprochen haben, wichtig ist. Aber wir
wollen auch deutlich machen, dass es noch andere The-
men gibt, die mindestens genauso wichtig sind und die
wir ebenfalls zur Sprache bringen wollen.
Da wir uns in einer Haushaltsdebatte befinden, gehört
es auch zur Realität, festzustellen, dass die Haushalts-
ansätze den Eindruck erwecken, als ob bei den Haus-
haltsberatungen im Kabinett nicht über den Kulturetat ge-
redet wurde. Das lag vielleicht daran, dass der vorherige
Staatsminister nicht mehr im Amt war und die neue
Staatsministerin noch nicht anwesend war. Der Kulturetat
ist jedenfalls gemessen am Gesamtetat nicht nur prozen-
tual stärker zurückgefahren worden, sondern auch real
gegenüber dem Etatentwurf vom Juni 2002.
Die reale Kürzung beträgt insgesamt 4 Prozent bei un-
verändert laufendem Betrieb. Das ist neu und das kann
nicht gut gehen. Denn es stehen im Haushalt 2003 weni-
ger Mittel für Kultur zur Verfügung, und zwar trotz eines
angekündigten größeren Engagements nicht nur bei den
Stätten des Weltkulturerbes und in Berlin.
Neben alldem hat die allgemeine Verunsicherung durch
die irrlichternden Sparvorschläge aus dem Hause des Fi-
nanzministers auch zu einer „Ersten Allgemeinen Verunsi-
cherung“ bei den Kulturschaffenden geführt. Ich erinnere
daran: Erst stand die Spendenabzugsfähigkeit zur Dispo-
sition und dann der ermäßigte Mehrwertsteuersatz.
Ich bin – wie es auch Herr Otto ausgeführt hat – der
Staatsministerin für ihre beharrlichen Interventionen und
ihr wiederholtes Veto bei ihren Ministerkollegen dankbar.
Mit diesem Einsatz für die Kulturschaffenden und gegen
die Pläne der Bundesregierung und insbesondere des
Bundesfinanzministers haben Sie sich für die Opposi-
tionsarbeit qualifiziert, Frau Staatsministerin. Wir können
in der Oppositionsarbeit auch die Gemeinsamkeiten pfle-
gen. Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen zum
Haushalt zum ersten Mal gemeinsame Anträge werden
formulieren können.
916
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 917
Parteiübergreifend, regierungs- und koalitionsübergrei-
fend – das reicht sicherlich vorerst an Gemeinsamkeiten.
Lassen Sie mich jetzt noch auf die Frage eingehen, was zu
tun ist.
Im Zusammenhang mit der Museumsinsel zum Bei-
spiel haben Sie Zahlen genannt; aber im Grunde hat sich
Verunsicherung dadurch ergeben, dass Sie angekündigt
haben, dass die Investitionen dort gestreckt werden müs-
sen und dass die Fertigstellung nicht so schnell erfolgt,
wie gewünscht. Sie haben inzwischen Zahlen vorgelegt.
Von außen betrachtet stellt sich das manchmal so dar, als
würden die Baumaßnahmen zügiger umgesetzt. Aber lei-
der ist das Gegenteil der Fall.
Auch eine andere Äußerung, nämlich die fröhliche
Feststellung, für den Palast der Republik könne man gut
ein paar Kulturveranstaltungen für die nächsten Jahre er-
finden, weil das Schloss ja sowieso nicht so bald gebaut
werde, stößt bei uns auf Kritik. Ich habe es oft gesagt und
wiederhole es heute noch einmal: Der Deutsche Bundes-
tag hat vor nicht einmal einem halben Jahr beschlossen,
und zwar mit überwältigender, parteiübergreifender
Mehrheit, das Schloss wieder zu errichten. Die Bundesre-
gierung hat diesen Beschluss zügig umzusetzen und sich
nicht Gedanken über Probleme zu machen, die sie gar
nicht hat. Sehr verehrte Frau Staatsministerin, Verläss-
lichkeit bedeutet, sich wenigstens an die Spielregeln bzw.
an die demokratische Kultur in diesem Hause zu halten.
Ein weiteres Thema, das konzeptionell und finanziell
auf unsicheren Füßen steht, ist die Gedenkstätten- und Er-
innerungskultur bezogen auf die NS- und die SED-Dik-
tatur. Der Bund muss sich nicht nur der NS-Zeit anneh-
men, sondern auch der SED-Diktatur. Es darf nicht der
Eindruck entstehen, Frau Staatsministerin, die NS-Zeit sei
„geschichtspolitisch“ für die Koalition wichtig und inso-
fern Bundesangelegenheit, während die SED-Zeit nicht
zur gesamtdeutschen Geschichte gehöre und deshalb in
den neuen Bundesländern abgehandelt werden könne.
Eine konkrete Frage im Zusammenhang mit der Debatte
über den Haushalt 2003 lautet folglich: Wo ist eigentlich
der Mittelansatz für das besondere Gedenken an den
50. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953?
Der Ruf nach mehr „kultureller Bildung“, um Zivil-
courage und Toleranz zu fördern, die Betonung der Kul-
tur als „konfliktpräventive Kraft“ im „Dialog der Kultu-
ren“ – das alles haben Sie schriftlich niedergelegt –, die
wiederholte Mahnung, dass das Sparen an der Kultur
schon in naher Zukunft den Verlust unwiederbringlicher
Güter bedeutet, und die Einsicht, dass die Kultur für den
Zusammenhalt der Gesellschaft notwendig ist, sind rich-
tig und unstreitig. Aber das alles ist angesichts des Kultur-
etats leider nur ein Wunschbild. Ich kann Sie vor diesem
Hintergrund nur auffordern, gemeinsam mit der Opposi-
tion Ihre Situation im Bundeskabinett zu verbessern.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Barthel,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Frau Staatsministerin, Sie sind zweimal gelobt worden.
Ich schließe mich dem Lob an. Ich freue mich, dass auch
Sie, Herr Otto, ein Lob ausgesprochen haben. Sie haben
allerdings dem Lob gleich eine Drohung hinterherge-
schickt, nämlich dass Sie sich mit kreativen Ideen ein-
bringen wollen. Nach den Erfahrungen der letzten vier
Jahre mache ich mir ein paar Sorgen. Deshalb möchte ich
diesem Lob eine Warnung vor dem, was da kommen wird,
anschließen, Frau Staatsministerin.
Ich freue mich darüber – ich teile das, was Herr Nooke
gesagt hat –, dass die Kultur auch ein Thema in der lau-
fenden Haushaltsdebatte ist. Dass Sie nur zwei Minuten
Redezeit bekommen haben, Herr Otto, tut mir Leid. Aber
das ist ein Problem Ihrer Fraktion. Wichtig ist doch nur,
dass wir auch bei der Haushaltsberatung kulturelle The-
men ansprechen können. Ich freue mich auch deshalb
über die Debatte, weil die Regierungskoalition dadurch
die Möglichkeit hat, eine kurze Bewertung der letzten vier
Jahre rot-grüner Kulturpolitik vorzunehmen.
– Darauf komme ich gleich zu sprechen. – Wenn ich vor
allen Dingen daran denke, wie die Kulturszene selbst un-
sere Politik bewertet, dann sage ich für meine Fraktion
ganz selbstbewusst: Die letzten vier Jahre rot-grüner Kul-
turpolitik waren
eine Erfolgsgeschichte, die wir fortschreiben werden.
Weil in der laufenden Debatte, aber auch bei der Dis-
kussion über andere Themen viel von Versprechen die
Rede war, möchte ich Folgendes sagen: Wir hatten damals
versprochen, dass wir der Kulturpolitik einen höheren
Stellenwert beimessen werden. Ich glaube, auch dieses
Versprechen ist eingelöst worden. Das wird uns auch be-
stätigt, wobei wir die Bestätigung nicht als Ruhekissen,
sondern als Auftrag verstehen, in dieser Richtung weiter-
zumachen. Das werden wir auch tun.
Es wäre ein enormer Lustgewinn für mich, wenn ich al-
les durchdeklinieren dürfte, was wir in den letzten vier
Jahren im Bereich der Kultur- und Medienpolitik gemacht
haben. Ich nenne nur die Stichwörter Stiftungsrecht,
Urheberrecht, Hauptstadtkulturförderung und Künstler-
sozialkasse. Ich muss zwar leider auf eine vollständige
Aufzählung verzichten. Aber ich möchte auf einen Punkt
näher eingehen.
Günter Nooke
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Eckhardt Barthel
Sie haben die Kulturministerin zu Recht dafür gelobt – ich
meine, dass das auch an der guten Kollektivarbeit gelegen
hat; aber das lasse ich jetzt einmal weg –, dass der halbe
Mehrwertsteuersatz für Kulturgüter bestehen bleibt.
Trotzdem behaupten Sie immer, dass wir die Steuern er-
höhten. Ich möchte Ihnen vor dem Hintergrund dessen,
was wir alles erreicht haben, ein Beispiel nennen, das
zeigt, wie Sie früher die Steuern erhöht haben. Es geht um
die Besteuerung der Einnahmen ausländischer Künstler.
Sie haben im Jahre 1996 die Steuern für diese Gruppe auf
25 Prozent erhöht. Wie sah das Ergebnis dieser Steuerer-
höhung aus? – Ergebnis war, dass ein Drittel weniger aus-
ländische Künstler nach Deutschland gekommen ist.
Das mussten wir korrigieren und das haben wir korrigiert.
Ich sage denjenigen, die uns immer Steuererhöhungen vor-
werfen: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht bei Tage baden.
– Herr Lammert, das gilt für Ihre Unterstützung. Ich freue
mich, dass ich Sie wieder einmal vor mir als Abgeordne-
ter sitzen sehe. Ansonsten sitzen Sie ja als Präsident hin-
ter mir. In der Tat – das war positiv – hatten wir ein gutes
Klima. Ich hoffe – ich bin diesbezüglich nicht allzu pessi-
mistisch –, dass das auch so bleibt und dass einige nicht
ihr fundamentalistisches Potenzial – das hat sich leider
schon angedeutet – nutzen werden. Das wäre schlimm,
denn wir haben trotz Unterschieden vieles erreicht.
Lassen Sie mich einmal einen generellen Unterschied
zwischen einer konservativen Kulturpolitik und einer sozi-
aldemokratischen Kulturpolitik aufzeigen. Die Unter-
schiede sind auch bei den Beispielen, die Herr Nooke ge-
bracht hat und die im übrigen alle richtig sind, deutlich
geworden. Ihre Position liegt vorwiegend im Bereich des zu
Bewahrenden. Auch wir sind dafür, dass wir das zu Bewah-
rende bewahren. Aber wir legen gleichzeitig eine starke Be-
tonung auf das Innovative, Kreative und Neue. Darin un-
terscheidet sich unser Gesamtansatz in der Kulturpolitik.
Das soll uns aber nicht davon abhalten, in Zukunft wei-
terhin gemeinsam im Sinne von Fortschritten in der Kul-
turpolitik in diesem unserem Lande zusammenzuarbeiten.
Ich danke Ihnen.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist Bernhard
Kaster von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn der Abschlussrede in der Haushaltsdebatte
zum Kanzleretat möchte ich eine kleine Vorbemerkung
machen. Es ist erst wenige Wochen her, da oblag es mir
als Bürgermeister, selber einen Haushaltsplanentwurf ein-
zubringen und zu beraten. Nach Sichtung des heute vor-
liegenden Zahlenwerkes des Haushaltsplanentwurfes
2003 des Bundes – ich beziehe das aber auch auf den
Nachtragshaushalt 2002 – und nachdem ich die finanz-
und wirtschaftspolitischen Debatten der letzten Wochen
erlebt habe, stelle ich ernüchtert fest, dass ein solch unse-
riöser, geschönter und im Hinblick auf die Investitions-
quote und die Nettoneuverschuldung gesetzwidriger
Haushalt auf einer kommunalen Ebene unmöglich wäre.
Meine Damen und Herren, ein solches Zahlenwerk und
vor allem die Vorgehensweise würde man keinem Bür-
germeister, auch keinem sozialdemokratischen Bürger-
meister, im Lande durchgehen lassen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein paar sti-
listische Dinge verweisen, die ich in den letzten Wochen
hier erlebt habe. Am 13. November trat der Bundesfinanz-
minister vor die Presse und leistete dort mit der Erklärung
über das gestörte gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht
im Prinzip den finanzpolitischen Offenbarungseid für un-
ser Land.
Und womit mussten wir uns zur gleichen Zeit im Haus-
haltsausschuss auseinander setzen? – Mit zusätzlichen
Staatssekretärsstellen. Auch das sollte einmal gesagt wer-
den. Es steht ja auch schon im Internet.
Angesichts der gesamten Haushaltsdiskussion fand ich
das unglaublich. Lassen Sie mich Folgendes noch bemer-
ken: Eine Staatssekretärsstelle wurde mit der Begründung
„Ganztagsschule“ eingebracht. Die Ganztagsschule muss
in der Diskussion inzwischen wirklich für alles herhalten.
Meine Damen und Herren, ich möchte auch auf ein paar
Formulierungskünste im Finanzbericht eingehen, die sich
auf den Nachtragshaushalt 2002 und den Haushaltsplan
2003 beziehen. Dass wir am Rande einer Rezession stehen,
formulieren Sie mit den Worten „konjunkturelle Schwäche-
phase“. Meine Damen und Herren, ich kenne aus meinem
Wahlkreisbüro viele Arbeitnehmer, die von den 40000 Plei-
ten, die wir in diesem Jahr haben, betroffen sind. Die For-
mulierung „konjunkturelle Schwächephase“ müssen diese
Menschen als eine Verhöhnung verstehen.
Eine weitere Formulierung betrifft die Ausgangslage
des Bundeshaushaltes 2003, und zwar die Aussage, dass
erwartet wird, dass die Binnennachfrage an Dynamik ge-
winnt. So gut, so schön. Das wünschen wir uns ja. An-
schließend folgt der begründende Satz:
918
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 919
Vor allem dürfte sich der Privatverbrauch auf Grund
der im Vergleich zu den Vorjahren etwas höheren
Lohnsteigerungen wieder verstärken.
Meine Damen und Herren, wo bleibt hier die Serio-
sität? Wie viele Tarifrunden sind eigentlich notwendig,
um die zusätzlichen Belastungen der Arbeitnehmer durch
erhöhte Steuern und Abgaben zu kompensieren, damit sie
mehr Mittel in ihren Händen haben, um auch mehr zu
konsumieren?
Meine Damen und Herren, es geht hier nicht um
Schwarzmalerei oder, wie Sie uns immer vorwerfen, um
Miesmacherei, nein, es geht darum, dass wir wieder über
die Lebenswirklichkeit in unserem Land sprechen müssen.
In den vergangenen Wochen waren die meisten von uns
in ihren Wahlkreisen. Mancher Debattenbeitrag heute
und auch gestern aus den Reihen der Regierungskoalition
lässt mich allerdings daran zweifeln. Sprechen Sie bitte
nicht nur mit Konzernmanagern und Gewerkschaftsvor-
sitzenden, sprechen Sie bitte auch mit den Einzelhändlern
in Ihrer Stadt, mit den Bauhandwerkern in Ihrer Ge-
meinde, sprechen Sie mit den Arbeitnehmern und den Be-
triebsräten vor Ort, sprechen Sie mit den Familien, spre-
chen Sie mit Landwirten und Winzern. Fragen muss man
dann, wie zum Beispiel die Konsumbereitschaft bei über
40 Steuererhöhungen noch gefördert werden soll. Spre-
chen Sie mit dem Einzelhändler, der jetzt zwingend auf
ein gutes Weihnachtsgeschäft angewiesen ist, um über-
haupt noch zu überleben. Fragen Sie in Handwerksbetrie-
ben oder auch Ingenieurbüros und Architekten, was sie
von der Kürzung der Eigenheimzulage halten.
Ich habe einen mittelständischen Unternehmer mit
etwa 500 Beschäftigten gefragt, was er sich am meisten
von der Politik wünscht. Seine Antwort war schlicht:
„Lasst mich bitte in Ruhe. Lasst mich Unternehmer sein.
Lasst nicht zu, dass immer weitere bürokratische Stran-
gulierungen und steuerliche Erschwernisse hinzukom-
men.“
Die Antwort der Regierungskoalition kennen wir. Die
neueste besteht in dem so genannten Steuervergünsti-
gungsabbaugesetz, ein Sammelsurium steuerlicher Mehr-
belastungen, von den anderen Regelungen, die bereits in
den vergangenen Wochen beschlossen worden sind, ganz
zu schweigen.
Lebenswirklichkeit vor Ort – darüber muss gerade in
der Generaldebatte über den Etat des Bundeskanzlers ge-
sprochen werden –, das ist das Leben der Menschen in un-
seren Städten und Gemeinden. Wir können den Bundes-
haushalt nicht isoliert als eine eigene Ebene betrachten.
Wir müssen die Auswirkungen auf allen Ebenen in Be-
tracht ziehen.
Die rot-grüne Finanz- und Haushaltspolitik hat unsere
Städte und Gemeinden in die schlimmste Finanzkrise
seit Bestehen der Bundesrepublik geführt. Das ist so nach
den Aussagen aller kommunalen Spitzenverbände. Das ist
nicht nur eine Aussage der Opposition.
Der Arbeitskreis „Steuerschätzung“ musste für das ver-
gangene Jahr bereits ein Minus von 5,4 Milliarden Euro
bei den kommunalen Steuereinnahmen verzeichnen. In
diesem Jahr kamen weitere 4,1 Milliarden Euro Steuer-
mindereinnahmen hinzu. Das heißt, die wahren Verlierer
der Steuereinbrüche sind unsere Gemeinden.
Damit trifft es auch die Bürger unmittelbar. Wir spre-
chen sehr oft über die Betroffenheit der Bürger durch man-
ches Gesetz und manche Abgabe aufgrund der Beschlüsse
in den letzten Wochen. Auch diese Seiten muss man bei
den Auswirkungen vor Ort sehen. Besonders dramatisch
ist dabei die Situation in unseren Städten. Das ist von Mün-
chen bis Flensburg und von Trier bis Chemnitz so.
Das spüren die Menschen unmittelbar. Berührt sind
unsere Schulen, unsere Kindergärten, Kultur- und Bil-
dungseinrichtungen, Sport-, Vereins- und Ehrenamtsför-
derung, die Feuerwehren, freiwillige Jugendpolitik und
Seniorenarbeit. Das werden Ihnen alle, die in der kom-
munalen Politik vor Ort tätig sind, bestätigen können.
Diese Auswirkungen haben sehr wohl etwas mit Bundes-
politik zu tun.
Sie haben sich, um ein Beispiel zu nennen, durch die
Erhöhung der Gewerbesteuerumlage um 10 Prozent auf
jetzt fast 30 Prozent zugunsten von Bund und Ländern zu
Unrecht bei den Kommunen bedient. Sie haben uns heute
und gestern oft nach den Alternativen gefragt. Wir haben
eine Alternative angeboten. Bitte folgen Sie unserer Ge-
setzesinitiative und machen Sie diesen unsinnigen Schritt
rückgängig. Dann würden den Kommunen wieder
2,3 Milliarden Euro für Investitionstätigkeit, die dringend
notwendig ist, zur Verfügung stehen.
Wir brauchen eine Gemeindefinanzreform, die diesen
Namen wirklich verdient. Dass die mehrfach angekün-
digte Gemeindefinanzreform im Bundesfinanzministe-
rium gestrickt werden soll, muss von den Kommunen
wirklich als Bedrohung empfunden werden. Dass Bun-
desminister Eichel gestern in diesem Haus gesagt hat, es
dürfe in keinem Fall zu Verschiebungen bei den Lasten
kommen, bestätigt diese Befürchtung.
Lassen Sie mich als Haushälter noch ganz kurz einen
Blick auf den Etat des Bundeskanzlers werfen.
Herr Kollege, Sie dürfen nicht mehr ganz kurz einen
Blick werfen; denn Ihre Redezeit ist bereits weit über-
schritten.
Dann will ich das gerne abschließen. – Mir ist aufgefal-
len, dass die Ansätze für Staatsbesuche und Auslandsreisen
Bernhard Kaster
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bernhard Kaster
im Etat des Bundeskanzleramtes um 10 Prozent erhöht
worden sind.
Das kritisieren wir nicht. Wir wünschen uns aber mit
Blick auf die zusätzlich bereitgestellten Mittel, dass die
dringend notwendigen Staatsbesuche in den Vereinigten
Staaten endlich nachgeholt werden.
Damit schließe ich. Das, was sich hier abzeichnet, kann
von der CDU/CSU-Fraktion nicht mitgetragen werden.
Vielen Dank.
Herr Kollege Kaster, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede in diesem Parlament recht herzlich. Ich wünsche
Ihnen für Ihre politische Zukunft hier alles Gute.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für ein glaubwür-
diges Angebot der EU an die Türkei“. Wer stimmt für den
Antrag auf Drucksache 15/126? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP abgelehnt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a
und 3 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechte als Leitlinie der deutschen
Politik
– Drucksache 15/136 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Werner Hoyer, Daniel Bahr ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien
nicht vergessen
– Drucksache 15/64 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte diejenigen,
die an der Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal zu
verlassen und ihre Gespräche draußen weiterzuführen.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,
Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war
gerade eine wichtige Abstimmung. Sie stand im Zusam-
menhang mit einem zentralen Thema, das wir in Kopen-
hagen, wo der Gipfel der Europäischen Union sehr bald
stattfinden wird, weiter erörtern werden. Ich hoffe, dass
wir in Kopenhagen zu einer sehr vernünftigen Abschluss-
erklärung kommen werden. Ich komme darauf noch zu
sprechen.
In der Debatte über den Einzelplan des Auswärtigen
Amtes sprechen wir über Deutschlands internationale
Rolle, also über einen Teil unserer Außenpolitik. Diese
Politik gründet auf den langen Linien der bundesrepubli-
kanischen Außenpolitik. Es ist unsere Verpflichtung, für
Gewaltfreiheit und für Menschenrechte einzutreten. Dies
ist unsere Verpflichtung gegenüber der europäischen Inte-
gration und gegenüber dem transatlantischen Verhältnis.
Dieses Eintreten liegt auch in unserem Interesse. Unser
Sonderverhältnis zu Israel bestimmt diese langen Linien.
Auf dieser Grundlage hat auch diese Bundesregierung
ihre Politik entwickelt.
Herr Glos hat bereits heute Morgen in einem wirklich
zukunftsweisenden Beitrag darauf hingewiesen, dass er
die Außenpolitik der Bundesregierung im Wesentlichen
von außenpolitischem Dilettantismus bestimmt sieht.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Unsere Partner sehen das
völlig anders.
– Doch. Selbst der Abgeordnete Pflüger sieht das insge-
heim völlig anders, auch wenn er das hier nicht so dar-
stellt.
Wir nehmen unsere Verpflichtungen in einem umfas-
senden Sinne wahr. Dies gilt umso mehr seit dem 11. Sep-
tember letzten Jahres. Der internationale Terrorismus
ist eine Bedrohung für uns alle. Der internationale Terro-
rismus ist eine Bedrohung, der wir auf zwei Ebenen
entgegentreten müssen. Wir haben zuletzt in Mombasa
wieder erlebt, mit welcher Menschenverachtung dieser
Terrorismus zuschlägt. Er gibt vor, gegen Israel zu kämp-
fen, und er mordet unschuldige Menschen israelischer
Staatsbürgerschaft, aber genauso unschuldige Menschen
kenianischer Staatsbürgerschaft. Das zeigt das ganze Maß
an Verachtung gegenüber den Grundsätzen von Mensch-
lichkeit. Mit einer Politik – es fällt mir schwer, hier den
Begriff „Politik“ zu verwenden –, die sich dieser Instru-
mente bedient, wird man nicht verhandeln können. Eine
solche Politik wird man in internationaler Solidarität nie-
derkämpfen müssen; man wird dem Terrorismus ent-
920
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 921
schlossen entgegentreten und die Strukturen zerstören
müssen.
Die Bundesrepublik Deutschland leistet dazu ihren
Beitrag. Wir – Kollege Pflüger, Kollege Nachtwei und an-
dere waren dabei – konnten uns in Kabul davon überzeu-
gen, dass wir unseren Beitrag leisten. Das geschieht nicht
nur auf der Ebene des direkten Kampfes gegen den Terro-
rismus, gegen die al-Qaida- und die Taliban-Strukturen,
sondern auch – da komme ich zum zweiten Punkt –, indem
den Menschen im Rahmen der UN-Friedensmission wie-
der eine Perspektive gegeben wird. Die Terrorismus-
bekämpfung spielt auch in dieser Hinsicht eine entschei-
dende Rolle. Überall, wo terroristischer Nährboden
existiert, muss dieser trockengelegt werden.
Das setzt ein langfristiges Engagement beim Wieder-
aufbau zerbrochener Strukturen, bei der Hilfe für Staaten
wie etwa Afghanistan voraus, wo sich eine Gefahr für in-
ternationalen Frieden und internationale Sicherheit ent-
wickeln konnte. Darüber haben wir lange hinwegge-
schaut. Ich sage das auch mit einer gewissen Selbstkritik.
Wir haben in diesem Hause über Jahre hinweg – ich meine
das nicht auf diese Bundesregierung bezogen, sondern
mehr auf die Zeit, als wir in der Opposition waren und Sie
in der Regierung – schlicht und einfach unterschätzt, wel-
che Gefahren darin liegen, dass relevante Gruppen, rele-
vante Teile der Bevölkerung keine Zukunft mehr sehen.
Bei der Frage der Zukunftsperspektive geht es nicht nur
um eine Armutsperspektive – damit ich hier nicht miss-
verstanden werde –, sondern es geht dabei oft auch um
Modernisierungsblockaden, um ideologische Verblen-
dung. Wir alle kennen das auch von dem einen oder an-
deren Punkt aus der europäischen Geschichte.
Deswegen gilt: Wer den Kampf gegen den Terrorismus
ernst meint, der darf nicht dazu beitragen, dass mehr
Gründe entstehen, auf die terroristische Propaganda he-
reinzufallen, sondern muss dafür sorgen, dass es weniger
solcher Gründe gibt und dass Strukturen geschaffen wer-
den, die möglichst vielen Völkern und Staaten wieder eine
Perspektive geben.
Ich sehe mit einer gewissen Sorge das Übergreifen des
Terrorismus auf andere Regionen, vor allen Dingen in
Ost- und Westafrika.Man kann nicht selbstverständlich
davon ausgehen, dass die afrikanische Krise, die hier
schon oft besprochen wurde, nicht von völlig unverant-
wortlichen terroristischen Kräften und Strukturen genutzt
wird.
Das macht klar, dass Globalisierung nicht nur und vor
allen Dingen eine Frage der Wirtschaft ist – das ist sie
auch –, sondern ebenso eine Frage der Gerechtigkeit, eine
Frage des Zugangs zu Bildung und Ausbildung, eine
Frage der sozialen Sicherheit, der Berufsperspektive für
die jungen Menschen. Das sind ganz entscheidende Fra-
gen. Auch die Frage der Menschenrechte ist seit dem
11. September vergangenen Jahres anders zu sehen. Es
handelt sich dabei zwar nach wie vor um eine zutiefst mo-
ralische und rechtliche Frage; aber die Durchsetzung der
Menschenrechte ist einer der ganz entscheidenden Punkte
im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, weil
das essenziell zur Zukunftsgestaltung gehört.
Herr Schäuble, ich schätze die Kontroverse mit Ihnen
sehr, aber dass Sie uns Antiamerikanismus vorwerfen, ist
mir unverständlich. Der nächste Schritt wird sein, dass Sie
„Freiheit oder Sozialismus“ wieder aus der Mottenkiste
holen. Ich möchte ja gar nicht zitieren, was Ihr Herr
Stoiber im Wahlkampf alles verkündet hat.
– Das will ich gerne tun. Es war Herr Stoiber, der sich ge-
gen die Überflugrechte der USA ausgesprochen hat, noch
in der letzten Woche.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Glos?
Ja.
Herr Bundesminister, nachdem Sie Stoiber zitiert ha-
ben, wissen Sie doch sicher auch – denn es war öffent-
lich –, dass er das, was in n-tv gesagt worden ist, an-
schließend dementiert hat; er hat gesagt, das sei ein Ver-
sehen gewesen.
– Entschuldigung! Man wird etwas Gesagtes doch sofort
zurücknehmen können! Dann darf die falsche Position
auch nicht weiterhin ständig zitiert werden. Darf ich Sie
fragen, ob Sie bereit sind, Stoiber in Zukunft nicht mehr
falsch zu zitieren?
Ich bin gern bereit, in Zukunft hinzuzufügen: Es war ei-
nes der Stoiber-üblichen Versehen. Wenn Sie das wollen,
mache ich das gern. Ich nehme aber an, er wusste wieder
einmal nicht, wovon er gesprochen hat. Das wird es wahr-
scheinlich gewesen sein.
Sie lachen.
Sie sehen das ja genauso. Das ist ja noch viel schlimmer.
Er wusste nicht, wovon er redet, und deswegen hat Herr
Spreng, der für den Wahlkampf zuständig war, das wieder
Bundesminister Joseph Fischer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundesminister Joseph Fischer
eingesammelt. Und dieser Herr Stoiber wollte Bundes-
kanzler werden. Wie gut, dass er bayrischer Ministerprä-
sident geblieben ist. Es ist doch einfach abwegig.
Wir haben in der Irak-Frage eine andere Auffassung
– bis heute konnten Sie mir nicht erklären, was wirklich
Ihre Position ist – als Teile der amerikanischen Regierung
und des amerikanischen Kongresses. Ich habe Ihnen die
Begründung dafür schon oft genannt. Entscheidend ist die
Frage: Sind die USA wirklich zu Militäraktionen gegen
Saddam Hussein bereit? Unsere Position ist eindeutig. Wir
haben vor den Wahlen gesagt: Wir werden uns an einer
Militäraktion nicht beteiligen, wir werden uns nicht mit
Soldaten beteiligen. – Wir sagen das auch nach den Wah-
len. Die Gründe haben sich für mich nicht geändert – das
habe ich sowohl in Washington als auch amerikanischen
Besuchern hier in Berlin immer wieder gesagt –, weil für
mich das regionale Risiko das entscheidende Problem ist
und bleibt. Die entscheidende Frage ist, ob eine solche Ak-
tion uns tatsächlich im Kampf gegen den internationalen
Terrorismus – den sehe ich als die Hauptherausforderung
und als die Hauptgefahr an – stärken oder schwächen wird.
Unsere große Sorge ist, dass sie uns schwächt, und das
macht unsere Ablehnung aus. Mir muss einmal einer sa-
gen, was daran antiamerikanisch ist.
Das ist auch vor dem Hintergrund unserer Entscheidun-
gen zum Kampf gegen den Terrorismus nach dem 11. Sep-
tember zu sehen, wo wir nichts, aber auch wirklich nichts
zurückzunehmen haben, wo wir aufgrund unserer Leis-
tungen auf dem Balkan voll in der Solidarität und zu un-
serer Verpflichtung stehen.
Nein, wir haben offensichtlich eine andere Vorstellung
von Bündnis, so wie das gestern auch schon Jean-Claude
Juncker in einer Diskussion in Brüssel gesagt hat. Ein
Bündnis bedeutet nicht, dass man immer Ja und Amen
sagt, sondern wenn man unterschiedlicher Meinung ist,
muss man diese unterschiedliche Meinung unter Demo-
kraten und Demokratien offen austragen,
auch wenn das bisweilen unbequemer ist, als immer Ja
und Amen zu sagen. Aber ich unterstelle Ihnen nicht ein-
mal, dass Sie das wirklich meinen, sondern Sie versuchen,
wider besseres Wissen mit „Antiamerikanismus“ einen
innenpolitischen Kampfbegriff zu setzen. Das ist doch die
eigentliche Intention.
Dazu sage ich Ihnen, meine Damen und Herren: bedauer-
licherweise.
Nehmen Sie das Beispiel Türkei.Es ist doch nicht wahr,
dass wir hier Entscheidungen treffen, um irgendjemandem
einen Gefallen zu tun. Herr Glos hat sich heute Morgen
aufgeregt, als ich angeblich wieder arrogant gelacht habe,
weil er sagte, die Amerikaner würden mit uns nicht spre-
chen. Gestern Nacht habe ich noch mit Colin Powell über
diese Frage gesprochen. Ich habe ihm noch einmal gesagt:
Zur Türkei wird es keine Entscheidung geben, die nicht
unserer Interessenlage und der Interessenlage der europä-
ischen Integration entspricht. Ich habe das in den USAge-
nauso gesagt. Es wird keine Entscheidung geben unter
dem Gesichtspunkt: Beim Irak sind wir euch auf die Füße
getreten, deswegen wollen wir wieder schönes Wetter
machen. Nein, das wird es mit uns nicht geben. Ich kann
Ihnen als überzeugter Europäer auch sagen, warum: Weil
das nicht tragen würde. Eine Entscheidung über ein Zu-
sammengehen in der Union lässt sich nicht mit einem Ge-
fallen gegenüber einem Dritten begründen, sondern eine
solche Entscheidung muss aus sich selbst heraus begrün-
det werden.
Allerdings sage ich Ihnen: Seit dem 11. September ist
die Frage der Ostgrenze der Europäischen Union anders zu
betrachten als vorher – das müssen wir doch realisieren –
und die strategische Bedrohung unserer Sicherheit wird im
Wesentlichen aus diesem Raum kommen. Das heißt aber
auch: Wir Europäer werden uns dort in einem ganz anderen
Maße zu engagieren haben, und zwar nicht vor allen Din-
gen militärisch, denn diese Gefahren sind nicht vornehm-
lich mit militärischen Mitteln zu bekämpfen. Die entschei-
dende Frage wird sein, Kollege Schäuble: Gibt es ein
großes islamisches Land, das den Weg zu einer erfolgrei-
chen Modernisierung unter rechtsstaatlichen und markt-
wirtschaftlichen Bedingungen gehen kann, ja oder nein?
Wenn das der Türkei gelingt, wird das der wichtigste Er-
folg im Kampf gegen den internationalen Terrorismus
sein, wichtiger als das, was wir im Zusammenhang mit
dem Militäretat und mit anderen Dingen diskutieren.
Ich kann Ihnen heute nicht sagen, ob die Türkei jemals
diesen Weg erfolgreich zu Ende geht. Ich kann Ihnen aber
sagen: Wenn wir Ihren Antrag heute beschließen würden,
wäre dies ein Beitrag zu einer weiteren Stärkung der Un-
sicherheit, weil das hieße, der Türkei die Tür, die Sie auf-
gemacht haben – ich meine nicht Sie persönlich, sondern
den politischen Hintergrund –, vor der Nase zuzuschlagen.
In internen Gesprächen fragen türkische Gesprächspart-
ner immer eines: Wenn wir nicht zu Europa gehören, wo-
hin gehören wir denn dann? Sie wissen doch so gut wie
ich, dass die Nationalisten und die radikalen Islamisten
mit einer ablehnenden Haltung rechnen. Damit ich nicht
missverstanden werde, weise ich darauf hin, dass all das
keine zureichenden Gründe für eine Vollmitgliedschaft
sind. Deswegen müssen wir auf der Grundlage der Konti-
nuität eine vernünftige Politik machen.
Als Sie noch in der Regierung waren, waren auch Sie für
Kontinuität. Damit komme ich auf den Untersuchungs-
ausschuss zu sprechen. Er wird ein weites Feld zu bear-
beiten haben und jahrelang tagen müssen. Mit der Wahrheit
in der Politik und der Union ist es wie mit dem Hund und
der Wurst; das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
Herr Koch ist doch die Fleisch gewordene Glaubwürdig-
keit dieser Politik.
922
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 923
Es gibt das Beispiel von Pinocchio, dessen Nase
wächst, wenn er lügt. Manch einem von uns, insbesondere
Ihnen, Herr Glos, wäre die Nase da schon sehr lang ge-
worden. Herr Koch würde aber aussehen wie Laokoon; so
lang wäre seine Nase mittlerweile.
Das wissen auch Sie. Ich bedaure, dass ich als Außen-
minister nicht in diesen Ausschuss kann. Er verspricht
nämlich sehr viel Heiterkeit, ist dem Ernst der Lage aller-
dings nicht angemessen.
Als Sie die Regierung gestellt haben, waren Ihre Äuße-
rungen überaus vernünftig: Wir müssen die Tür für die
Türkei offen halten. Wenn die Türkei die Kopenhagener
Kriterien erfüllt – das wollen wir erreichen, weil das Mo-
dernisierung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschen-
rechte und Europäisierung hieße –, haben wir einen
großen Schritt nach vorne gemacht. Der Prozess kann
jetzt nicht abgebrochen werden. Ich hoffe, dass wir hier
eine richtige und weise Entscheidung treffen werden.
Auf dem Gipfel von Kopenhagen stehen wir vor einer
historischen Entscheidung, nämlich der Entscheidung, dass
sich die Europäische Union von einer westeuropäischen
Union zu einer gesamteuropäischen Union entwickelt. Das
werden wir nur leisten können, wenn wir die Verfassung zu
einer wirklichen Grundlage für ein politisches Europa wei-
terentwickeln. Diesem Ziel fühlt sich die Bundesregierung
verpflichtet. Wir arbeiten aufs Engste mit unseren französi-
schen und anderen Partnern in der Europäischen Union und
im transatlantischen Verhältnis zusammen.
Herr Schäuble, ich kann Ihnen nur sagen: Ein Besuch
in Kabul kann zu neuen Erkenntnissen führen, obwohl
wir noch gar nicht die Lead Nation sind. Aber zu meinen,
wir wären isoliert und würden unseren Beitrag nicht leis-
ten – unsere Soldaten leisten dort eine hervorragende, ri-
sikoreiche und gefahrvolle Arbeit –, ist falsch.
Ich hoffe, dass wir alle den Soldaten bei der Verlänge-
rung des ISAF-Mandats den Rücken stärken. Ich kann nur
darauf hinweisen, dass die Bundesrepublik Deutschland
zum Gelingen ganz entscheidend beiträgt. Vieles ruht be-
reits auf unseren Schultern. Hier von Isolierung oder Anti-
amerikanismus zu sprechen ist Wahlkampf in Hessen und
Niedersachsen, hat mit der Sache aber nichts zu tun.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang
Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde,
es ist traurig, dass der Außenminister in der ersten Lesung
des Bundeshaushaltes zur Einführung der Beratungen
über die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland
nicht mehr, nichts anderes und nichts Konkreteres zu sa-
gen hat als das, was wir von Herrn Fischer gehört haben.
Jeder in Deutschland weiß, dass der Bundeskanzler
antiamerikanische Gefühle und Ressentiments in diesem
Wahlkampf geschürt und ausgebeutet hat. Deshalb will
ich die Debatte darüber gar nicht aufmachen. Mit Äuße-
rungen, dass das jetzt alles nur ein Missverständnis der
dummen Opposition gewesen sei, machen Sie sich noch
nicht einmal mehr lächerlich. Diese Debatte können Sie
sein lassen.
Das Problem ist ein völlig anderes. Ich will Ihnen ein
Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22. November,
nach dem NATO-Gipfel in Prag, vorlesen:
Es geht vielmehr darum, dass die Bundesregierung
in einer Falle sitzt, die sie selbst konstruiert hat:
Denn nach der Abstimmung von Prag muss sie sich
entscheiden zwischen ihrem im Wahlkampf abgege-
benen Versprechen, sich an keinen „Abenteuern“ im
Morgenland zu beteiligen, und ihren Bündnisver-
pflichtungen gegenüber der Nato. Kurz ausgedrückt:
Sie wird ihr Wort brechen müssen, aber sie kann es
sich aussuchen, wen sie betrügen will – die Wähler
oder die Partner.
Das ist die Wahrheit.
Jetzt wollen wir uns einmal einen Moment lang an-
schauen, wie Sie das gegenüber den eigenen Anhängern
– das erklärt ja manche tollen Redereien der letzten Wo-
chen – im Einzelnen tun. Der Bundeskanzler hat tagelang
davon gesprochen, dass wir schon deswegen Überflug-
rechte gewähren müssten, weil dies im NATO-Vertrag
stehe.
Ein Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland muss,
bitte schön, wissen, dass der NATO-Vertrag greift, wenn
der NATO-Fall gegeben ist. Davon ist im Zusammenhang
mit dem Irak wirklich keine Rede.
Der Verteidigungsminister hat am 24. November im
ZDF die Frage „Hat die USA Abwehrraketen erbeten?“
mit Nein beantwortet.
– Das ist aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27. No-
vember; ich habe diesen Bericht hier. Das können wir prü-
fen. Darin wird der Dialog zwischen Ihnen und dem In-
terviewer des ZDF wörtlich dargestellt. Herr Kollege
Struck, Sie können es nachher richtig stellen.
Im Übrigen, selbst wenn er nach Patriots gefragt hätte,
war dies eine ziemlich plumpe Täuschung. Denn dass die
Bundesminister Joseph Fischer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Wolfgang Schäuble
Amerikaner nicht unsere relativ alten Hawk-Systeme an-
fragen, sondern – wenn überhaupt – unsere Patriots, weiß
jedes Kind, selbst der deutsche Verteidigungsminister.
Machen Sie keine Ausflüchte!
Ich nenne noch ein Beispiel dafür, wie Sie versuchen,
Ihre Anhänger von Ihren Wahlversprechen langsam zur
Wirklichkeit zurückzuführen. Die Fuchs-Spürpanzer – ich
meine die ABC-Spürpanzer; um hier keine Verwechslung
entstehen zu lassen – werden inzwischen in fahrbare La-
boratorien umdefiniert. Das sind immer noch gepanzerte
Fahrzeuge mit bestimmten Einrichtungen. Laboratorien
sind etwas anderes.
Viel schlimmer ist die Frage – um auch dies zu erwäh-
nen –: Was machen eigentlich die Soldaten der Bundes-
wehr einschließlich der Fuchspanzer in Kuwait, wenn es
– was wir alle nicht hoffen und wünschen – zu einer mi-
litärischen Verwicklung mit dem Irak kommen sollte? Die
Antwort, die Sie uns – auch in der fabelhaften Unterrich-
tung der Fraktionsvorsitzenden – gegeben haben, nämlich
dass sie nur im Rahmen des Mandats Enduring Freedom
tätig seien, ist sehr verantwortungslos. Denn wenn es zu ei-
ner solchen Entwicklung kommen sollte, können Sie die
einzelnen Geschehnisse nicht mehr abgrenzen.
Im Übrigen hätten Sie gleich dazusagen sollen: Um sie
einzusetzen, müssen erst einmal 250 weitere Soldaten aus
der Reserve von Deutschland nach Kuwait transportiert
werden. Sie weichen der Verantwortung aus und lasten sie
im Ernstfall den Soldaten auf. Das ist unverantwortlich
und die Folge Ihrer Politik.
Herr Außenminister, wenn Sie hier schon eine Rede
halten, hätte ich von Ihnen gerne ein Wort dazu gehört,
welche Haltung die Bundesregierung hat, wenn am kom-
menden Sonntag, am 8. Dezember, die Frist abläuft, bis zu
der der Irak seinen vollständigen Bericht über Massen-
vernichtungswaffen an die Vereinten Nationen liefern
muss. Was wird in der nächsten Woche geschehen, wenn
dieser Bericht so oder so ausfällt, wenn er möglicherweise
mit den Geheimdiensterkenntnissen anderer nicht über-
einstimmt? Dazu haben Sie kein Wort gesagt.
Überhaupt ist bemerkenswert, Herr Bundesaußenmi-
nister: Sie haben am Montag dieser Woche eine publizis-
tisch sehr aufwendig begleitete Konferenz zu Afghanis-
tan, Petersberg II, abgehalten. Dazu haben Sie kein Wort
gesagt. Diese Konferenz haben Sie viel gefeiert.
– Das ärgert mich überhaupt nicht. Es ärgert mich, dass
Sie nichts dazu gesagt haben, was in Afghanistan das Pro-
blem ist. Im Zusammenhang mit dem ISAF-Mandat wer-
den wir darüber zu sprechen haben.
Sie sagen, es solle in diesem Zusammenhang keine
Ausweitung des Bundeswehreinsatzes über Kabul hinaus
geben. Vor kurzem hat diese Regierung übrigens noch ge-
sagt: Die Bundeswehr kann die Führung des ISAF-Man-
dats in Afghanistan nicht übernehmen. – Jetzt können wir
dies auf einmal. Über die Frage, warum, kann man disku-
tieren.
Ich hätte gerne von Ihnen gehört, wie Sie zu den Ver-
abredungen stehen. Wir haben lesen können, dass
die Amerikaner und andere auch in den Provinzen außer-
halb Kabuls Sicherheitspräsenz zeigen wollen. Was ist die
Haltung der Bundesregierung zu dieser Frage? – Die
Petersberg-Konferenz ohne die Territorialfürsten aus
Afghanistan nützt uns gar nichts, wenn zu der Frage der
Sicherheitsentwicklung in Afghanistan vom Außenminis-
ter kein Wort gesagt wird. Das zeigt, Sie nehmen Ihre Ver-
antwortung nicht wahr. Das ist der eigentliche Punkt.
Sie schüren und nutzen antiamerikanische Ressenti-
ments aus. Es geht weiter: Herr Struck hat dieser Tage im
Zuammenhang mit dem NATO-Gipfel in Prag davon ge-
sprochen, dass die NATO-Response-Force nicht eine
Fremdenlegion werden dürfe. Wer solche Begriffe als
amtierender Minister einer Bundesregierung benutzt,
weiß doch, welche Ressentiments er damit schürt. Darin
kommt die ganze Verantwortungslosigkeit zum Aus-
druck.
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Peter Struck?
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege Schäuble, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass ich gesagt habe, der Vorwurf, die NATO-
Response-Force sei eine Fremdenlegion der Amerikaner,
ist ein falscher Vorwurf, und das ich ihn zurückweise?
Verfälschen Sie bitte solche Zitate nicht, Herr Schäuble!
Es ist eine Unverschämtheit, was Sie hier machen! Sie
verfälschen das Zitat.
Herr Kollege Struck, ich habe das Zitat vor mir liegen.
Ich kann es Ihnen nachher geben.
924
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 925
Sie haben das Wort Fremdenlegion im Zusammenhang
mit der NATO-Response-Force gebraucht.
– Wen haben Sie denn zitiert?
Herr Kollege Struck, zur Beantwortung der Zwi-
schenfrage müssen Sie bitte an Ihrem Platz bleiben.
Gehen Sie noch einmal zurück, Herr Kollege Struck.
Der Kollege Schäuble möchte noch weiter antworten.
Herr Kollege Struck, bitte gehen Sie noch einmal zurück
an Ihren Platz.
Herr Kollege Struck, um Ihre Frage zu beantworten:
Mir liegt ein Zitat vor, in dem Sie das Wort Fremdenle-
gion verwendet haben. Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie
sagen, Sie hätten damit Kritik anderer, die ich nicht kenne,
zurückgewiesen. Das nehme ich gern zur Kenntnis,
möchte aber gleich die Vermutung hinzufügen: Dieser Be-
griff ist sicher eher aus den Reihen der Koalition als aus
den Reihen der CDU/CSU gekommen.
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Peter Struck?
Bitte, gern.
Zunächst einmal, Frau Präsidentin, bitte ich um Ent-
schuldigung. Ich dachte, Herr Schäuble hätte meine Frage
schon beantwortet. Es ist nicht meine Art, einfach wegzu-
gehen.
Jetzt zur Sache, Herr Schäuble, damit das ganz klar ist:
Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass mich ein Jour-
nalist am Rande des Prager Gipfels dazu befragt hat, dass
es Stimmen in Europa gibt, die gesagt haben, die NATO-
Response-Force sei eine Fremdenlegion der Amerikaner.
Ich habe erklärt: Dieser Vorwurf ist falsch. Sie ist keine
Fremdenlegion der Amerikaner, es ist eine von uns mit-
getragene schnelle Eingreiftruppe.
Können wir das jetzt endlich klarstellen? Es geht nicht
um Stimmen aus der Koalition, sondern es geht um einige
Stimmen aus dem europäischen Umfeld. Können Sie das
bitte zur Kenntnis nehmen?
Ich nehme es zur Kenntnis und füge gleich hinzu:
Wenn es auf diese Weise klargestellt ist, bin ich froh.
– Das ist doch der Sinn. Ich habe ein Zitat vorliegen, das
ich aber nicht mit ans Rednerpult genommen habe.
Herr Kollege Struck, ich nehme das zur Kenntnis und
bin froh, wenn Sie klarstellen, dass Sie wie ich der Mei-
nung sind, dass die Verwendung dieses Begriffs im Zu-
sammenhang mit der NATO-Response-Force falsch ist.
Wenn Sie sagen, Sie haben ihn nicht verwendet, sondern
zurückgewiesen, ist das in Ordnung.
– Er hat mich aber gefragt, ob ich es zur Kenntnis nehme.
Ob ich es begrüße, ist nicht der entscheidende Punkt.
Der entscheidende Punkt ist, dass die Art, in der Sie in
der Diskussion über die Irak-Politik die Vereinigten Staa-
ten von Amerika zum eigentlichen Risiko für eine friedli-
che Entwicklung machen, in Wahrheit dazu führen wird
– das kann ich Ihnen lange und ausführlich erläutern –,
dass wir eine echte Bedrohungsanalyse in Deutschland
nicht vornehmen. Als Folge davon treffen wir nicht hin-
reichend Vorsorge.
Ich sage Ihnen voraus: Wenn eines Tages in unserem
Land wirklich eine Katastrophe ausbrechen würde, wäre
unsere Bevölkerung weniger vorbereitet als die Bevölke-
rung in anderen Ländern. Die panikartige Reaktion wäre
dadurch größer. Wer rechtzeitig eine realistische Bedro-
hungsanalyse vornimmt und Vorsorge leistet – hundert-
prozentige Sicherheit kann nie gewährleistet werden –,
wirkt der Panik eher entgegen und wird seiner Verant-
wortung gerecht. Darum geht es. Das ist der entschei-
dende Punkt. Davon lenken Sie ab.
Sie machen ein Zweites. Der britische Außenminister
Straw hat dieser Tage von einer Zwillingsbedrohung ge-
sprochen. Wir haben eben nicht nur den internationalen
Terrorismus, von dem der Außenminister immer gerne re-
det, sondern wir haben genauso die Gefahr, die aus der
Dr. Wolfgang Schäuble
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Wolfgang Schäuble
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen resultiert.
Die Verbindung beider Risiken, internationaler Terroris-
mus und Massenvernichtungswaffen, ist die eigentliche
Bedrohung im Jahre 2002 und vermutlich in absehbarer
Zukunft. Sie erfordert unseren Einsatz und unsere Betei-
ligung. Um diesen Punkt geht es.
Dazu müssen wir die entsprechenden Fähigkeiten
entwickeln. Die Bundeswehr bzw. die Bundesrepublik
Deutschland muss auch in der Lage sein, sich an Maßnah-
men zu beteiligen. Darum geht es. Das ist der entschei-
dende Punkt. Von dem lenken Sie ab; dem weichen Sie aus.
Hinzu kommt das andere. Natürlich versuchen Sie in-
zwischen nahezu verzweifelt, gegenüber Ihren Partnern in
Europa, bei den Vereinten Nationen und bei der NATO
aus der Isolierung, in die Sie nach Auffassung aller gera-
ten sind und in die Sie Deutschland selbst hineingeführt
haben, herauszukommen. Dieser Weg wird für uns teuer.
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele.
Dolmetscher hin oder her: Der schnelle deutsch-fran-
zösische Agrarkompromiss war in Wahrheit kein Kom-
promiss, sondern die Übernahme der französischen Posi-
tion in dieser Frage. Als das bekannt geworden ist, war der
Dolmetscher schuld, obwohl es der Bundeskanzler war,
der es nicht begriffen hat. Der Grund, aus dem Sie es ge-
macht haben, ist völlig einsichtig: Sie wollten wenigstens
in einer anderen Frage aus der Isolierung herauskommen.
Zu der Panzerpanne im Zusammenhang mit der israe-
lischen Anfrage haben Sie in Ihrer Rede eben auch kein
Wort gesagt. Es ist doch kein Zufall, dass man – weil man
nun gar nicht genug Anfragen positiv bescheinigen kann,
um zu zeigen, dass man gar nicht so unzuverlässig ist, wie
man den Eindruck erweckt hat – aufgrund eines Fax, von
dem es hinterher hieß, es sei nicht einmal leserlich gewe-
sen, in der Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden und
in der Pressekonferenz gesagt hat, die Anfrage sei positiv
beschieden und den ABC-Spürpanzer „Fuchs“ liefere
man auch nach Israel. Hinterher hat man festgestellt, dass
die Israelis gar keine ABC-Spürpanzer, sondern Trans-
portpanzer haben wollen. Die Entscheidungen über Waf-
fen- und Rüstungsgüterexporte werden von der Bundes-
regierung normalerweise etwas sorgfältiger vorbereitet,
und man verkündet nicht aufgrund von Faxen, von denen
man hinterher sagt, sie seien nicht einmal leserlich gewe-
sen, eine positive Entscheidung .
Jetzt wird die Sache aber noch schlimmer.
– Wir überhaupt nicht. Ich sage Ihnen gleich unsere Posi-
tion dazu. Sie haben kein Wort dazu gesagt, obwohl Sie
als Außenminister eine Grundsatzerklärung zur Außenpo-
litik hätten abgeben sollen.
Unsere Position ist völlig klar. Wir haben eine beson-
dere Verantwortung für Israel. Darin haben wir die Politik
der Bundesregierung immer unterstützt. Wir haben ein be-
sonderes Interesse daran, Frieden und Stabilität im Nahen
Osten wie und wo immer möglich zu fördern. Wir haben
die Politik der Bundesregierung unterstützt, in der Quar-
tettlösung – Europäische Union, Vereinte Nationen, Ame-
rika und Russland – gemeinsam dafür zu wirken, dass Frie-
den und Stabilität zwischen den Konfliktparteien Israel
und Palästina eintreten.
Ich sage Ihnen: Die Frage des Exports von Transport-
panzern nach Israel kann man nicht losgelöst von den po-
litischen Bemühungen um die Stabilität im Raum Israel
und Palästina beantworten. Deswegen ist es verantwor-
tungslos, dass Sie uns in Deutschland durch eine wirklich
abenteuerlich oberflächliche Politik eine solche Debatte
eingebracht haben, anstatt als Außenminister zu sagen,
die Politik der Europäischen Union und die Politik der
Bundesregierung in Bezug auf Israel und Palästina ist so
und so und in diesen Rahmen fügt sich die Entscheidung
für die Lieferung von Transportpanzern „Fuchs“ an Israel
ein. Das wäre eine verantwortliche Politik. Das andere ist
Larifari und wird dem Ernst der Lage nicht gerecht. Das
ist der Unterschied.
Wie ich schon sagte, haben Sie zu Afghanistan kein
Wort gesagt.
– Entschuldigung, die eigentlich anstehende Frage ist:
Was ist mit der Ausdehnung der Sicherheitspräsenz in Re-
gionen außerhalb Kabuls?
– Gut. Über das andere haben Sie nicht gesprochen.
Herr Kollege Fischer, es ist ja ein bemerkenswertes
Eingeständnis, dass man dem Außenminister vorher die
Fragen sagen muss, auf die er, wenn er eine Grundsatzer-
klärung zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutsch-
land abgibt, antworten will. Ich finde es sehr bemerkens-
wert, dass Sie dazu nichts gesagt haben; denn das sind die
Fragen, die anstehen. Ich frage noch einmal: Welches
wird die Haltung der Bundesregierung nach dem 8. De-
zember sein, wenn der Bericht des Irak an die Vereinten
Nationen über die Massenvernichtungswaffen, die er hat
aber nicht haben darf – wie vollständig und wahrheits-
gemäß er auch immer sein mag – vorliegt?
Sie haben – daran besteht doch überhaupt kein Zwei-
fel – Ihre Position in der Türkeifrage, was den europä-
ischen Gipfel betrifft, auf amerikanisches Drängen als
Folge dieser unseligen Entwicklung in den letzten Mona-
ten verändert bzw. weiterentwickelt. Sie haben unseren
Antrag offensichtlich gar nicht gelesen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 927
Sie haben ihn abgelehnt, ohne ihn gelesen zu haben.
Unsere Meinung ist völlig klar. Ich glaube, sie ist auch die
richtige. Ich hatte die Hoffnung, auch die Bundesregie-
rung könnte diesen Weg gehen.
Es geht um die Frage, ob die Türkei bei dem, was wir
uns als Ziel unter der EU vorstellen, Vollmitglied der Eu-
ropäischen Union werden soll. Gelegentlich haben Sie
Reden über die Finalität der Europäischen Union gehal-
ten. Das alles ist gerade in Fluss. Es nützt gar nichts, da-
rauf hinzuweisen – das habe ich selber schon gesagt –,
dass seit den 60er-Jahren die Europäer der Türkei die Per-
spektive einer Vollmitgliedschaft angeboten haben.
Dieser Prozess darf auch nicht einseitig sein. Das alles
ist wahr. Die Frage ist: Welche politische Identität soll die
Europäische Union – daran arbeitet gerade der Europä-
ische Konvent – haben? Passt das überhaupt zu einer
vollen Mitgliedschaft der Türkei? Passt dazu überhaupt
die Mitgliedschaft von Ländern, die teilweise zu Europa
gehören, teilweise aber auch nicht, zum Beispiel Länder
wie Russland? Wäre es nicht klüger, für solche Länder
eine eigene Form institutioneller Zugehörigkeit zu
Europa zu entwickeln? Das sind doch nicht Fragen, die
man zu Wahlkampfzwecken entwickelt. Es geht um die
Grundfrage, ob die Europäische Union überhaupt eine po-
litische Union mit einer eigenen politischen Identität wer-
den kann oder ob dieser Prozess scheitert. Diese Frage
stellen viele – bis hin zum Präsidenten der Europäischen
Kommission.
Im Übrigen habe ich hier ein Zitat über Herrn Verheugen,
dem für die Erweiterungsverhandlungen zuständigen Kom-
missar, der sich auf einer Konferenz übereinstimmendmit
dem von Ihnen so geschätzten Herrn Koch geäußert hat:
Herr Verheugen schlug die Begründung eines beson-
deren Nachbarschaftsverhältnisses zu den Türken
vor, einen Vertrag, der auch für andere Nachbarn der
EU bedeutsam werden könnte, beispielsweise die
Ukraine und Russland.
Das genau ist unsere Position, wobei wir in unserem
Antrag, den sie gerade abgelehnt haben, sagen: Lasst uns
dies doch mit der Türkei offen und freundschaftlich bere-
den. Wir haben jedes Interesse an einer positiven Ent-
wicklung der Türkei. Das ist überhaupt keine Frage, wir
unterstützen das. Lasst uns gemeinsam darüber reden!
Lasst uns deswegen beim Europäischen Rat – jetzt in
Kopenhagen, später oder wann immer ein neuer Schritt ge-
genüber der Türkei getan wird – diesen Schritt nicht auf die
Perspektive der vollen Mitgliedschaft in der EU beschrän-
ken! Man könnte alternativ auch eine privilegierte Part-
nerschaft oder einen Nachbarschaftsvertrag mit der Türkei
einvernehmlich verhandeln, damit wir jetzt nicht Ent-
scheidungen treffen, die wir in der Europäischen Union
wie in der Türkei besser erst dann treffen, wenn wir wis-
sen, wohin die Reise auch im Europäischen Konvent geht.
Es ist übrigens in Europa hoch spannend: In der euro-
päischen Debatte sind alle diejenigen für eine uneinge-
schränkte Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen
Union, die gegen ein politisch integriertes Europa sind.
Diejenigen, die für ein starkes, politisch integriertes
Europa sind, haben in fast allen Ländern Bedenken gegen
eine grenzenlose Europäische Union. Das eine und das
andere vertragen sich nicht miteinander. Eine verantwort-
liche Politik würde uns nicht weiter auf dem Weg in die
Isolierung, in eine Falle führen und Erwartungen schüren,
die man hinterher nicht erfüllen kann. Das ist keine ehr-
liche Politik. Darum geht es.
Deswegen noch die eine Bemerkung zu den institutio-
nellen Debatten. Das ist nicht das Thema von Kopenha-
gen. Wir haben gestern im Europaausschuss kurz darüber
gesprochen. Herr Bundesaußenminister, ich rate Ihnen
sehr, auch in den Gesprächen heute Abend mit dem fran-
zösischen Staatspräsidenten und dem Außenminister ne-
ben all den anderen Punkten, um die es am Rande von Ko-
penhagen und im Europäischen Konvent geht, in der
institutionellen Frage den Vorschlag, den wir in der Euro-
päischen Volkspartei entwickelt haben, sehr intensiv zu
beraten. Es geht darum, dass wir für den Kommissions-
präsidenten und den Ratspräsidenten – wenn es denn einen
Ratspräsidenten mit einer längerfristigen Amtszeit geben
soll – eine gemeinsame Lösung entwickeln. Dieser ge-
meinsame Präsident – in der Sprache der Diplomaten wird
der Begriff „Doppelhut“ verwandt – wird von Parlament
und Rat gemeinsam gewählt. Genauer: Der Rat schlägt vor
und das Parlament muss ihn wählen. Jedenfalls müssen
beide bei der Wahl des Präsidenten mitwirken.
Wir hätten so – bei Schaffung des Amtes eines ständi-
gen Präsidenten – nicht nur eine Schwächung der Kom-
mission vermieden, sondern wir hätten auch institutionell
eine stärkere Verknüpfung der beiden Bereiche geschaf-
fen, aus denen europäische Politik noch lange besteht,
nämlich der Zusammenarbeit von Regierungen, der so ge-
nannten intergouvernementalen Zusammenarbeit, und der
kommunitären Zusammenarbeit in den institutionellen
Bereichen von Parlament, Kommission und Rat.
Deswegen werbe ich dafür, dass man diesen Vorschlag
macht und dass man sich dafür einsetzt. Man darf es nicht
auf diesen Showdown hinauslaufen lassen, der dann fol-
gendermaßen aussieht: Im Konvent gibt es eine Mehrheit
für einen Kommissionspräsidenten. Im Rat gibt es am
Ende eine Mehrheit für einen Ratspräsidenten. Am
Schluss schließt man den Kompromiss, dass man das eine
und das andere macht, und wir bekommen wieder keine
klare institutionelle Entscheidung. Das eine hängt mit
dem anderen – auch mit der Türkei-Debatte – entschei-
dend zusammen.
Letzten Endes geht es darum: Wenn wir in diesem Jahr-
hundert voller Chancen, aber auch voller Veränderungen
und Gefahren, unserer außen- und sicherheitspolitischen
Verantwortung gerecht werden wollen, brauchen wir ein
starkes, handlungsfähiges, politisch einiges Europa, ein
von den Menschen getragenes Europa. Deswegen ist es
so entscheidend, dass sich die Menschen diesem Europa
zugehörig fühlen und dass sie eine europäische Identität
haben.
Wenn wir ein starkes und politisch handlungsfähiges
Europa wollen, brauchen wir ein verlässliches Deutsch-
land. Ohne ein verlässliches und berechenbares Deutsch-
land geht es nicht. Wir brauchen kein Deutschland, das eine
Politik betreibt wie in den letzten Monaten, wodurch
Europa gelähmt wird. Sie haben mit diesem Wahlkampf
nicht nur das deutsch-amerikanische Verhältnis geschädigt,
Dr. Wolfgang Schäuble
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Wolfgang Schäuble
sondern Sie haben Europa in zentralen Fragen der Welt-
politik handlungsunfähig gemacht.
Ein verlässliches Deutschland braucht eine Regierung,
die einen klaren Kurs fährt
und die wieder zu Wahrheit und Klarheit zurückfindet.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Gernot Erler, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
15 Monate nach dem 11. September 2001 wird immer
deutlicher: Noch nie war internationale Kooperation zwi-
schen Ländern mit unterschiedlichen gesellschaftlichen
Systemen, mit unterschiedlicher ethnischer Zusammen-
setzung und unterschiedlicher kultureller Prägung so
wichtig wie heute. Noch nie war diese Kooperation die
einzige Möglichkeit, um auf die global agierenden Terro-
risten erfolgreich zu reagieren.
Kooperationsfähigkeit und Kooperationsbereit-
schaft bis hin zum Dialog der Kulturen sind die wichtigs-
te Antwort auf den 11. September 2001.
Dieser zielte auf die Spaltung der Welt, auf einen Kampf
der Kulturen. Insoweit haben die Attentäter des 11. Sep-
tember 2001 bisher keinen Erfolg gehabt.
Bisher ist es aber auch nicht gelungen, die terroristi-
sche Herausforderung unter Kontrolle zu bringen. Wir se-
hen diese schreckliche Blutspur von Djerba über Bali,
über den Anschlag auf den Tanker „Limburg“ bis zu den
Attentaten in Kenia. Dies bedeutet, dass die Notwendig-
keit der Zusammenarbeit, ja der Zwang dazu, unverändert
bestehen bleibt.
Zusammenarbeit und Diskussion schließen sich nicht
aus. Im Gegenteil: Es ist sogar notwendig, über die rich-
tigen Antworten und die richtigen Prioritätensetzungen zu
streiten und zu ringen. Natürlich gibt es unterschiedliche
Auffassungen – auch in diesem Hause – darüber, welches
die Prioritäten sind, wie wichtig die politische Allianz ge-
gen den Terrorismus ist, wie wichtig es ist, regionale Kon-
flikte anders als früher zu behandeln, wie wichtig es ist, in
diesem Testfall Afghanistan tatsächlich einen Erfolg zu
erringen, und schließlich auch, wie wichtig das Engage-
ment für eine gerechtere und fairere Weltordnung ist, um
die Rekrutierungsströme des Terrorismus durch eine glo-
bale strukturelle Prävention zu unterbinden.
Die Frage ist auch, welche Funktion militärische Maß-
nahmen haben, ob sie im Kampf gegen den Terrorismus
helfen oder ob sie da kontraproduktiv sind. Das ist, kurz
gesprochen, die entscheidende internationale Agenda.
Über diese Fragen müssen wir in unserem Land, in Eu-
ropa und im transatlantischen Dialog ringen, aber dann
auch Entscheidungen treffen. Dazu sind wir von dieser
Regierungskoalition bereit. Aber die Frage ist, ob auch
Sie von der CDU/CSU dazu bereit sind.
In dem Zusammenhang muss ich einmal feststellen, Herr
Kollege Schäuble, dass das, was Sie jetzt eben wiederholt
haben, was Sie zum Beispiel auch gestern in einem Grund-
satzartikel in der „Frankfurter Rundschau“ unter dem Titel
„Bewusst geschürter Antiamerikanismus“ vorgetragen ha-
ben, eine Art von verbaler Aufrüstung ist, die schon fast
nicht mehr zu überbieten ist. Das kann nur als eine Totalab-
sage an jede Zusammenarbeit mit uns verstanden werden.
Sie wollen offenbar, dass diese Wirkung entsteht.
Sie wissen natürlich in Wirklichkeit ganz genau, dass
dieser Vorwurf eines organisierten Antiamerikanismus
völlig unhaltbar ist. Entsprechend erbärmlich sind auch
die Belege, die Sie dafür anführen. Sie konzentrieren sich
auf zwei Punkte. Sie beziehen sich auf einen Artikel von
Herrn Naumann in der „Zeit“, den Sie offenbar nicht ge-
lesen haben – der Artikel ist nämlich in Wirklichkeit dif-
ferenziert und nicht amerikakritischer als die amerikani-
schen Belege, die er heranzieht –, und Sie ziehen zum
wiederholten Mal den Begriff des Abenteuers heran. Da-
bei wissen Sie, Herr Schäuble, ganz genau, dass dieser
Begriff nie personalisiert angewandt worden ist, schon
gar nicht vom Bundeskanzler, und dass dieser Begriff wie
ein Zwilling zu einem anderen gehörte, den der Bundes-
kanzler schon am 12. September 2001 geprägt hat, näm-
lich dem der uneingeschränkten Solidarität mit dem
angegriffenen Amerika. Das war das proamerikanischste
Bekenntnis, das je ein deutscher Regierungschef zum
Ausdruck gebracht hat.
Im Übrigen war die Abgrenzung von Abenteuern lange
Zeit gemeinsames politisches Gedankengut in Deutsch-
land, weit über Rot-Grün hinaus.
Ein heute hier schon einmal zitierter bedeutender deut-
scher Politiker hat am 16. August dieses Jahres in der
ARD wörtlich gesagt – ich zitiere –:
Es besteht bei uns keinerlei Absicht, das kann ich
auch für den Kanzlerkandidaten sagen, sich an einem
militärischen Abenteuer irgendwo in der Welt zu be-
teiligen – schon gerade nicht in Irak.
Das war der Kollege Michael Glos, seines Zeichens CSU-
Fraktionsvorsitzender.
Herr Kollege Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Polenz? – Bitte.
Herr Kollege, ich habe jetzt nicht alle Zitate zur Hand,
auf die man sich beziehen könnte. Aber würden Sie mir
928
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 929
darin zustimmen, dass der Vergleich, den der damalige
stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Stiegler gezo-
gen hat – er hat den amerikanischen Botschafter Coats mit
Herrn Abrassimow, der sowjetischer Botschafter in der
DDR war, verglichen –, kein Zeichen von Proamerikanis-
mus gewesen ist?
Herr Kollege, ich bleibe dabei, dass der Begriff des
Abenteuers von Vertretern der Bundesregierung nie per-
sonalisiert benutzt worden ist.
Herr Kollege Erler, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage, und zwar des Kollegen Glos? – Bitte.
Herr Kollege Erler, da Sie mich zitiert haben, gehe ich
davon aus, dass Sie entweder die Sendung in Gänze an-
geschaut haben oder dass Ihnen ein entsprechendes Pro-
tokoll vorliegt. Würden Sie mir bestätigen, dass ich im
nächsten Satz gesagt habe, eine Demokratie wie die Ver-
einigten Staaten, in der demokratisch darüber entschieden
werde, ob man irgendwo in einen Krieg zieht, gehe keine
Abenteuer ein, sondern werde erst dann Maßnahmen er-
greifen, wenn auch klar sei, was nachher im Irak ge-
schehe? Der Ausgangspunkt war nämlich der Vorwurf,
dass eine Intervention im Irak ein Abenteuer ist.
Herr Kollege Glos, mir ist Ihre Neigung zu komplexen
Aussagen durchaus bewusst.
Ich nehme sie zur Kenntnis. Aber es ist doch eine Tatsa-
che, dass es lange Zeit einen Konsens darüber gegeben
hat – diesen Konsens habe ich angesprochen; auch Sie ha-
ben ihn genutzt –, dass es durchaus eine Abgrenzung zwi-
schen der uneingeschränkten Solidarität auf der einen
Seite und dem Abenteuer, das Sie ausdrücklich mit dem
Irak in Verbindung gebracht haben, auf der anderen Seite
gibt. Dafür haben Sie einen Beleg geliefert.
Herr Kollege Schäuble, Sie rechnen mit dem kurzen
Gedächtnis der Menschen in diesem Lande. Dabei ver-
rechnen Sie sich. Die Menschen haben noch nicht verges-
sen, wie Ihr Kanzlerkandidat, Herr Stoiber, in der Schluss-
phase des Wahlkampfes versucht hat, sich immer mehr an
die Neinposition des Bundeskanzlers zum Irak-Krieg he-
ranzurobben und sie in populistischer Weise zu wieder-
holen; wir haben vorhin hier darüber gesprochen. Die
Menschen haben auch nicht vergessen, dass dabei anti-
amerikanische Töne zu hören waren. Ich erinnere an seine
Aussage zu den Überflugrechten. Und Sie wollen uns or-
ganisierten Antiamerikanismus unterstellen?
Herr Schäuble, erklären Sie der Öffentlichkeit, wie
Ihre Wahlversprechen hinsichtlich Irak und Außenpolitik
gelautet haben. Die Stimmen waren noch nicht ausge-
zählt, da haben Sie sich schon von dem, was Ihr Kanzler-
kandidat bis dahin gesagt hat, distanziert
und haben mit der Treibjagd auf das Nein der Bundesre-
gierung zu einem militärischen Vorgehen im Irak begon-
nen.
Sie, Herr Schäuble, benutzen selbst einen geradezu
verräterischen Begriff: Schon einige Male haben Sie, al-
lerdings vergeblich, über das Umfallen des Bundeskanz-
lers „in die richtige Richtung“ frohlockt. Das wird nicht
passieren. Jeder weiß: Die „richtige Richtung“ ist für Sie
– das haben Sie immer vertreten – die Beteiligung an ei-
nem solchen Krieg. Sie werden bei uns ein solches Um-
fallen nicht erleben. Aber wir wissen jetzt, was Sie unter
der „richtigen Richtung“ verstehen.
Auch das ist ein interessantes Thema für den Untersu-
chungsausschuss über nicht gehaltene Wahlversprechen,
den Sie herbeizwingen wollen.
Herr Schäuble, es reicht Ihnen offensichtlich nicht, den
falschen Vorwurf des organisierten Antiamerikanismus zu
verbreiten. Sie setzen noch eins drauf und versteigen sich
weiter in Ihrer verbalen Aufrüstungsspirale gegen die
Bundesregierung. Bisheriger Höhepunkt ist aus meiner
Sicht ein Satz aus dem schon erwähnten Artikel in der
„Frankfurter Rundschau“ von gestern, den ich Ihnen
gerne vorlesen möchte. Er lautet:
Mit populistischen Attacken und der Unterstützung
mehr oder weniger aggressiver und krimineller Ak-
tionen gegen angeblich US-geführte weltwirtschaft-
liche Verschwörungen verspielt Rot-Grün allerdings
auch in dieser Frage jede Glaubwürdigkeit.
Sie erheben hier den Vorwurf, Herr Schäuble, Rot-
Grün unterstütze kriminelle Aktionen. Das ist ungeheuer-
lich, umso mehr, als Sie nicht den Hauch eines Beleges
hierfür anführen.
Herr Kollege Schäuble, ich fordere Sie in aller Ruhe, aber
auch in aller Entschiedenheit auf: Belegen Sie diesen
unerhörten und ungeheuerlichen Vorwurf der Unterstüt-
zung krimineller Akte oder schaffen Sie ihn aus der Welt!
So kann man nicht miteinander umgehen.
Ich sage noch einmal: Wir sind zur Diskussion, zur
Zusammenarbeit wie auch zum Streit über die richtigen
politischen Strategien in dieser außerordentlich gefährli-
chen Nachseptemberwelt bereit. Diese zwingt uns zur
Ruprecht Polenz
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Gernot Erler
Vernunft und zur Kooperation, verbietet uns aber, unsere
Ressourcen und unsere Kräfte am falschen Platz zu vergeu-
den. Genau das tun Sie aber, wenn Sie mit Ihrer faktenleeren
Aggression und Ihrer verantwortungsvergessenen Destruk-
tivität gegenüber allem, was diese Bundesregierung auch in
der Außen- und Sicherheitspolitik macht, fortfahren.
Wir sind – das kann ich Ihnen versichern – bei diesem
Thema sehr selbstbewusst. Deutschland hat weltweit
noch nie so viele internationale Verpflichtungen über-
nommen wie heute. Darunter sind mehrere militärische
Verpflichtungen, aber noch mehr zivile. Wir werden an ei-
nem europäischen Modell für die globale Politik in der
Nachseptemberwelt weiterarbeiten – mit Ihnen, wenn Sie
wollen, aber auch ohne Sie, wenn Sie sich weiter so ver-
weigern wie bisher.
Wir sind stolz auf einen Bundeskanzler und auf einen
Außenminister, die es geschafft haben, für diesen Kurs,
für den es in diesem Land in vielen Punkten in den ver-
gangenen Jahren keine Mehrheit gegeben hätte, eine Zu-
stimmung um mehr als 80 Prozent der Bevölkerung zu er-
halten. Das ist eine solide Grundlage für die Arbeit, die
wir in den nächsten vier Jahren vorhaben. Auf dieser
Grundlage werden wir weiterarbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Dr.Wolfgang Gerhardt,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ge-
schichte unseres Landes zeigt uns, dass es nach den großen
außenpolitischen Debatten, die hinter uns liegen, in der
Außenpolitik unseres Landes bei den großen Grundlinien
viele Gemeinsamkeiten gibt. Aber es gibt doch ein paar
Punkte, die der Präzisierung bedürfen und die nicht in Ver-
gessenheit geraten dürfen.
Wenn der Bundeskanzler heute vorgetragen hat, dass die
Osterweiterung der Europäischen Union, die auf dem Gip-
fel in Kopenhagen ansteht, ein Stück Wiedervereinigung
Europas ist und dass sie viel mehr Chancen als Risiken bie-
tet, dann will ich für die FDP nicht unerwähnt lassen, dass
wir diese Position schon immer vertreten haben und der
Bundeskanzler erst in jüngster Zeit zu dieser Erkenntnis ge-
kommen ist. Das muss hier einmal ausgesprochen werden.
Als er noch niedersächsischer Ministerpräsident war,
klang das noch ganz anders. Deshalb können wir es nicht
zulassen, dass sich jetzt diejenigen als Befürworter hin-
stellen, die früher eher Gegner waren.
Erster Punkt. Der Bundeskanzler hat bei der Wieder-
vereinigung Europas eine Diskussion über Übergangs-
fristen begonnen, die bei den Deutschen den Eindruck
hinterlassen hat, wir müssten uns vor diesen friedlichen
Menschen fürchten, mit denen wir schon länger Handel
treiben. Wir stimmen in manchen Teilen der Europapoli-
tik überein, aber beim Tempo und bei den Ambitionen gibt
es Unterschiede. Unser Engagement bei der Europapoli-
tik war größer, als es beim Bundeskanzler je gewesen ist.
Zweiter Punkt. Herr Bundesaußenminister, Sie haben
wieder die Menschenrechtspolitik angesprochen, in der
ich mit Ihnen übereinstimme. Ich sage Ihnen: Ohne Men-
schenrechte, ohne die Öffnung von Grenzen und die Frei-
heit für alle Menschen kann die Marktwirtschaft kein Er-
folg werden. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn
diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, wird der
Kampf gegen den Terrorismus nicht erfolgreich sein kön-
nen. Warum haben Sie nicht die Courage, zu erklären,
dass Putins Tschetschenienpolitik keinen Anlass für Lob
bietet?
Viele internationale Organisationen weisen auf Folter,
Vergewaltigung und Säuberungsaktionen in tschetscheni-
schen Dörfern hin. Wieso gibt dann der Bundeskanzler
eine Erklärung ab – das ist im Pressetext nachzulesen –,
in der er Putins Tschetschenienpolitik lobt? Ich weiß noch
genau, wie der frühere Bundeskanzler Kohl China be-
sucht hat und von Soldaten der chinesischen Armee emp-
fangen wurde. Sie haben ihm damals Missachtung der
Menschenrechtspolitik vorgehalten. Sie haben als Oppo-
sitionspolitiker früher anders als heute als Außenminister
geredet. Wenn sich Außenpolitik in Grundlinien bewegen
und glaubwürdig sein soll, dann gehört auch ein klares
Wort an den russischen Präsidenten zur Tschetschenien-
politik dazu. Mit Säuberungen kann man den Terrorismus
nicht bekämpfen.
Dritter Punkt. Herr Bundesaußenminister, Herr Struck
und Herr Kollege Erler, bei der Irak-Politik lege ich Wert
auf Klarheit. Ich sage Ihnen auch gleich, worin sich un-
sere Haltung unterscheidet. Niemand will einen Krieg.
Niemand würde ihn gutheißen. Aber es gibt einen Unter-
schied. Wir glauben nicht, dass Sie dem deutschen Volk
die volle Wahrheit sagen. Wenn die Inspektoren Kofi
Annan und den Mitgliedern des Sicherheitsrates raten,
einzuschreiten, weil Saddam Hussein bestimmte Waffen-
systeme entwickelt hat, können Sie im Fall einer Manda-
tierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
nicht mehr an der Linie des Bundeskanzlers festhalten,
sich nicht zu beteiligen.
Sie haben schon jetzt ein Hintertürchen geöffnet.
Deshalb können Sie offen erklären, was Sie wollen. Ich
sage Ihnen, was dann passieren wird. Sie werden logisti-
sche Hilfe für die Völkergemeinschaft anbieten, die Sie
im Übrigen schon jetzt andeuten. Falls sich etwas ereig-
net, werden Sie öffentlich erklären, dass Sie die Fuchs-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 931
Panzer, die in Kuwait stationiert sind, allein aus huma-
nitären Erwägungen einsetzen müssen, um die Menschen
und die Soldaten zu schützen. Das ist die Wahrheit. Vor
diesem Hintergrund frage ich Sie, ob sich dann die ganze
Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten von
Nordamerika und ihrem Präsidenten in der Art, wie sie ge-
führt worden ist, überhaupt gelohnt hat.
Dass wir keine Soldaten entsenden können, war jedem
klar, weil sonst die Bundeswehr überfordert wäre. Aber
dass wir das tun, was in strikter Anlehnung an das Völ-
kerrecht vernünftig ist, ist doch ebenso klar. Was sollte
also diese Begleitmusik im Wahlkampf? Sie hat auch mit
dem Wahlkampf nicht aufgehört.
Ich erinnere noch einmal kurz an die Vasallendiskus-
sion und den Vergleich mit Abrassimow. Dann kam die
unsägliche Debatte um die frühere Bundesjustizministe-
rin und ihren Ausrutscher, wie ich es einmal nennen
möchte, weil ich noch gut mit ihr umgehe; er ist aber
kaum zu entschuldigen.
Jetzt lese ich, das alles sei nicht antiamerikanisch. Aber
angesichts der Situation im Irak und der Möglichkeit, dass
die Völkergemeinschaft letztlich ein Eingreifen be-
schließen könnte – was wir nicht hoffen und wünschen –,
frage ich Sie, warum über Frau Wieczorek-Zeul in der
„Bild“-Zeitung zu lesen ist
– dann soll sie es richtig stellen –, sie habe die Politik des
US-Präsidenten Bush als „blanken Zynismus“ bezeich-
net.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü-
nen, es gibt eine bestimmte Form der Auseinanderset-
zung, in der der Ton die Musik macht.
Auch in Kontroversen, wie es sie schon früher mit den Ver-
einigten Staaten von Amerika gab, gehört es dazu, eine
Wortwahl zu treffen, die der außen- und sicherheitspoli-
tischen Lage gerecht wird. Was soll denn diese Veranstal-
tung vor der deutschen Öffentlichkeit, wenn die Bundesre-
gierung weiß, dass sie im Falle eines Falles logischerweise
bestimmte Beteiligungsformen anbieten muss, wenn sie
glaubwürdig sein will? Im Grunde genommen geht es
nicht nur in dem Fall, dass der Sicherheitsrat einen ent-
sprechenden Beschluss fasst, um das Bild von Gefolgs-
leuten oder Vasallen der Vereinigten Staaten, das ein
großer Teil der deutschen Öffentlichkeit von uns hat.
Wir sollten auch einmal die Kernfrage erörtern, dass
wir es mit dem Irak mit einem Regime zu tun haben, das
zweifellos eher danach trachtet, das Leben derjenigen zu
bedrohen, die nicht seiner Meinung sind, als sich mit ih-
nen auf eine Aussprache einzulassen.
Der Charakter dieses Mannes ist doch weltweit bekannt.
Ich möchte betonen, dass es in dieser Frage eine abwei-
chende Haltung gibt. Es wäre besser, wenn Sie Ihre Hal-
tung öffentlich darstellen würden, Herr Bundesaußenmi-
nister und Herr Erler. Denn wenn es zu einer schwierigen
Situation kommt, werden auch Sie letztlich diese Haltung
einnehmen müssen. Dann werden Sie um den Einsatz der
Fuchs-Spürpanzer nicht umhinkommen, die nach Anga-
ben von Herrn Struck gegenwärtig noch nicht einmal ein-
setzbar wären. Ich frage mich übrigens, wofür sie bei dem
Mandat Enduring Freedom gut sein sollen, für das sie be-
reits zur Verfügung gestellt worden sind. Wenn sie nicht
einsatzfähig sind, ist das doch sinnlos. Wenn sie im Falle
eines Falles mit Ihren humanitären Begründungen, die Sie
dann sicherlich vorbringen werden – das sage ich Ihnen
voraus –, benötigt würden, müssten sich auch deutsche
Soldaten im Einsatzgebiet aufhalten und mit ihnen umge-
hen können. Das ist aber nicht der Fall.
Das alles widerspricht sich. Dabei handelt es sich auch
nicht um eine konsistente Irak-Politik. Diese Begründung
führen Sie nur an, um den Koalitionspartner zu be-
schwichtigen, sodass die Mehrheit gesichert ist. Aber ein
klares Mandat wollen Sie nicht offen diskutieren, weil Sie
dann einräumen müssten, dass Sie im Wahlkampf einen
Fehler gemacht haben und dass Sie nun doch so handeln
müssen, wie es möglicherweise von Ihnen erwartet wird.
Sie haben in der Öffentlichkeit einen falschen Eindruck
erweckt. Das ist Ihr Glaubwürdigkeitsfehler. Dieser Feh-
ler wiegt schwer, weil es nicht darum geht, wie Sie mit
Hunde- und Katzenfutter und mit Blumengebinden ver-
fahren, sondern weil er eine wichtige außenpolitische
Frage betrifft. Zu diesem Thema ist eine Aussprache un-
verzichtbar.
Ich komme zu einem vierten Punkt, Herr Bundes-
außenminister, zur Türkeipolitik. Richtig ist, dass wir
zusammen mit den anderen europäischen Freunden auch
eine große nationale Verantwortung tragen und mit an ei-
ner Brücke bauen, über die Stabilität exportiert werden
soll. Das ergibt sich im Übrigen aus der engen geschicht-
lichen Bindung Deutschlands nicht nur an die Türkei, son-
dern auch an andere Länder. So kann die Stabilitätspolitik
in Zukunft auch mittel- und osteuropäische Staaten und
Länder umfassen, die bisher im Barcelona-Prozess einge-
bunden sind. Das ist unbestritten. Es gibt wahrscheinlich
keinen Königsweg, Herr Bundesaußenminister. Deshalb
lege ich namens meiner Fraktion auch auf Zwischentöne
Wert.
Wer behauptet, wir würden einen großen außen- und
europapolitischen Fehler machen, wenn wir der Türkei
nicht die Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit
einem Verhandlungstermin in Kopenhagen anbieten wür-
den, weil das auch den Verzicht auf eine Stabilitätspolitik
bedeuten würde – obwohl wir ein massives Interesse da-
ran haben, dort Stabilität zu schaffen – , hat nur grundsätz-
lich Recht. Aber ich weise Sie auf eine Gefahr hin. Das ist
kein Königsweg; denn ein einziges negatives Referendum
– ich betone: ein einziges – in einem Mitgliedsland der
Europäischen Union zerstört diesen Weg. Dann müssen
Sie der Türkei erklären, dass es nun doch nichts mit der
Mitgliedschaft wird. Deshalb bitte ich Sie, unter Berück-
sichtigung der bisherigen strategischen Grundsatzerwä-
gungen darüber nachzudenken – man kann ja beides
Dr. Wolfgang Gerhardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Wolfgang Gerhardt
parallel verfolgen –, ob ein privilegiertes Partner-
schaftsverhältnis – die G-10-Staaten und die EU nennen
das so; ich habe schon einmal in einer Debatte über eine
besondere Form eines Partnerschaftsvertrages gespro-
chen, der durchaus zu einem Verhältnis führen kann, wie
es Russland jetzt zur NATO hat; das könnte ein Angebot
auch an andere Länder sein – nicht auch ein Weg sein
kann. Mit einem solchen Weg lässt sich möglicherweise
das vermeiden, was ich eben geschildert habe. Streiten wir
bitte nicht darüber, wer der weitsichtigere, geostrategisch
klügere Kopf ist! Debattieren wir stattdessen darüber, ob
nicht auch eine Alternative, die man parallel verfolgen
kann, etwas bringen kann!
Ich möchte noch auf eines aufmerksam machen. Die
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die 1963 einen As-
soziierungsvertrag mit der Türkei abgeschlossen hatte,
entspricht ja nicht einmal der Europäischen Union von
heute,
geschweige denn der Europäischen Union von morgen,
und zwar weder in Größe und Umfang noch dann, wenn
der Konvent zu einem Ergebnis kommt, das die von uns
gewünschte Vertiefung Europas bedeutet.
– Ich komme gleich auf das Zollabkommen zu sprechen. –
Auch die EU des Jahres 2004 wird nach der Europawahl
ganz anders sein als die heutige Europäische Union, die
sich noch im Entwicklungsstadium befindet. Deshalb
sage ich: Vorsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen und lieber Außenminis-
ter, wer wie Sie in der innenpolitischen Auseinanderset-
zung behauptet, dass er die größere Weitsicht habe, der
wird möglicherweise eines Tages unseren türkischen
Freunden erklären müssen, dass von einer Mitgliedschaft
doch nicht die Rede sein könne,
weil die Referenden in den europäischen Ländern negativ
ausgefallen seien. Wer hat dann den größeren Fehler in
der Türkeipolitik gemacht?
Durch Zwischentöne etwas anzudeuten, strategisch
parallel zu denken und Partnerschaftsverträge zu entwer-
fen kann letztendlich ein stabilerer Weg sein als der jet-
zige. Meine Fraktion hat heute darüber bewusst nicht ab-
schließend entschieden. Wir sind der Meinung, dass eine
strategische Entscheidung erst auf einem europäischen
Gipfel gefällt werden sollte, nachdem der Konvent und
die Mitgliedstaaten über den Verfassungsentwurf beraten
haben. Erst dann wissen wir selbst, wie die neue Gestalt
Europas aussehen soll, und erst dann sollten wir erneut
Gespräche mit anderen Ländern beginnen. Das ist alles,
was ich dazu bemerken wollte.
Abschließend möchte ich noch sagen: Zu einer klugen
Außenpolitik hat immer gehört, dass man zwar die Tradi-
tionslinien einhält, dass man sich aber auch strategische
Alternativen und Optionen offen hält.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Zöpel,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! In diesem Hause, aber auch außerhalb
streiten die demokratischen Parteien über das Verhältnis
der Demokratie zum Krieg. Ich glaube, dass dieser Dis-
kurs dem deutschen Parlament gut ansteht, gerade auch in
Berlin, einer ehemals preußischen Stadt. Selbstbewusste
Außenpolitik muss auf das Gute in der Geschichte eines
Landes stolz sein. Wenn ich über das Gute in der Ge-
schichte Deutschlands spreche, dann spreche ich über
Immanuel Kant. Er hat – bis heute unübertroffen – den
Erhalt des Friedens in der Welt davon abhängig gemacht,
dass sich demokratische Republiken im Diskurs über den
Frieden befinden. Das ist die bleibende Voraussetzung für
die Vermeidung von Krieg.
Es gibt weitere Gründe, warum es dem deutschen Par-
lament gut ansteht, über das Verhältnis der Demokratie
zum Krieg zu sprechen. In Europa hat kein anderes Land
so viel Verantwortung für Kriegsverbrechen. Bis heute
gehen wir damit um, das Leid und die Folgen von Krieg
weiter bewältigen zu müssen. Der deutsch-tschechische
Dialog ist – nicht einseitig – immer noch bestimmt von
den Folgen des Zweiten Weltkrieges. Wenn in diesen Ta-
gen ein deutscher Historiker die Frage aufwirft, mit wie
viel Berechtigung es Flächenbombardements im Zweiten
Weltkrieg gab, so halte ich das für einen guten Beitrag zur
Aufarbeitung von Kriegsfolgen. Wenn das alles so ist, ist
es ein Gebot für Demokratien, aus den Gründen, die ich
dargelegt habe, in diesem Fall von Deutschland ausge-
hend, über Krieg zu sprechen.
Mein Verständnis von Wahlen – auch wenn man
manchmal Zweifel haben kann, ob wir damit richtig um-
gehen – ist Folgendes: Welch bessere Zeit gibt es in der
Demokratie, über die Kernfragen zu sprechen, als die Zeit
vor Wahlen? Vor dem 22. September gab es diese Not-
wendigkeit.
Es war eine konsequente Linie der deutschen Außen-
politik, nachdem die Frage der Massenvernichtungswaf-
fen im Irak nach dem 11. September wieder aufgeworfen
worden ist, einen Kurs zu fahren, der mit friedlichen und
diplomatischen Mitteln, mit Mitteln der Vereinten Natio-
nen auf eine Vermeidung der weiteren Rüstung im Irak
setzt. Bis weit in dieses Jahr hinein erfolgten in dieser
Richtung Gespräche mit Vertretern der amerikanischen
Regierung. Vor allem mit den arabischen Staaten und der
Arabischen Liga gab es vielfältige Bemühungen – diese
waren notwendig –, alles zu tun, um dem Diktator im Irak
diplomatisch ein Verhalten aufzunötigen, das eine mi-
litärische Lösung vermeidet.
Im Spätsommer dieses Jahres war der Eindruck ent-
standen, als gäbe es in den Vereinigten Staaten innerhalb
der Regierung und in der wissenschaftlichen Diskussion
Positionen, die so etwas wie die Unvermeidbarkeit mi-
litärischer Aktionen gegenüber dem Irak aufschallen
ließen. In dieser Situation war es meiner Meinung nach
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 933
ein demokratisches Erfordernis, und zwar auch zwischen
Regierungen, den Diskurs über die Notwendigkeit und
vor allem über die Vermeidbarkeit von Krieg zu führen.
Das, was die deutsche Regierung und der deutsche
Bundeskanzler getan haben, war für mich nie etwas ande-
res als ein Diskurs im Sinne von Kant über den Krieg und
die problematischen Folgen von Krieg, die niemand bes-
ser kennt als wir Deutschen, und damit über unsere Posi-
tion, dass, wenn es irgend geht, Krieg vermieden werden
muss, auch im Irak.
Ich glaube, diese Position war erfolgreich. Denn zu dem,
was seitdem geschieht, was in den Vereinten Nationen,
im Sicherheitsrat, in Debatten und schließlich in Ent-
schließungen erreicht wurde, hat diese Regierung beige-
tragen.
Davon bin ich überzeugt.
Wer das Verhältnis und das diplomatische Spiel zwi-
schen Frankreich und Deutschland betrachtet, muss wis-
sen, dass die französische Position ohne die deutsche
kaum möglich geworden wäre.
Es ist doch schön, wenn ein konservativer französischer
Präsident in der Frage von Krieg und Frieden eine euro-
päische Position durchsetzt, die logischerweise etwas
weniger radikal-pazifistisch im guten Sinne ist als die so-
zialdemokratische deutsche Position. Das ist meine Vor-
stellung von Europa.
Ich komme nun zu dem Verhältnis zu den Vereinigten
Staaten. Zu einem Verständnis des Verhältnisses der Völ-
ker zueinander, wie es Kant als eine Gemeinschaft von
Republiken formuliert hat, gehört auch, dass Regierungen
miteinander in einen diplomatischen und öffentlichen
Diskurs treten können. Ich verstehe eine öffentliche De-
batte zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten
und dem deutschen Bundeskanzler als Teil eines demo-
kratisch notwendigen Diskurses. Es ist mit dem Grund-
verständnis von Demokratie für mich nicht vereinbar,
dass über Schicksalsfragen im Verhältnis der Länder nur
in geheimer Diplomatie gesprochen werden kann.
Wenn ein solcher Diskurs zwischen Regierungen geführt
wird, dann ist er, selbst wenn es unterschiedliche Auffas-
sungen zwischen diesen Regierungen gibt, in keiner
Weise gegen das andere Land gerichtet.
Ich spreche Sie jetzt als Opposition an: Ich fand es
sehr gut, dass der frühere amerikanische Präsident Bill
Clinton direkt nach den deutschen Wahlen hierher kam
und ein hohes Maß an Einverständnis mit der deutschen
Regierung gezeigt hat. Darüber sollten Sie sich freuen,
wenn Sie als deutsche Opposition, die in dieser Frage eine
etwas andere Meinung hat als die derzeitige Regierung,
international ernst genommen werden wollen.
Der Dialog zwischen Demokratien kann beinhalten,
dass Regierungen unterschiedlicher Meinung sind und
quer dazu wieder die Opposition. Das ist mein Verständ-
nis von internationaler Politik zwischen Demokratien.
Deshalb halte ich den Vorwurf des Antiamerikanismus,
selbst wenn der deutsche Bundeskanzler und der ameri-
kanische Präsident in einer wichtigen Frage unterschied-
licher Meinung sind, für abwegig.
– Ich kann nicht feststellen, dass der deutsche Bundes-
kanzler den amerikanischen Präsidenten in irgendeiner
Weise beschimpft hat.
Die Zahl von verunglückten Formulierungen im demo-
kratischen Diskurs innerhalb der Länder und zwischen
den Ländern ist unzählig.
Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, dass Sozial-
demokraten so gute Menschen sein könnten, dass sie
keine Fehler machten. Die Fähigkeit, Fehler einzugeste-
hen, ist geradezu die Voraussetzung für Demokratie. Las-
sen Sie uns darum wetteifern, Fehler einzugestehen, Herr
Pflüger!
– Ja, Herr Glos, das fällt Ihnen schwer. Das müssen wir
nicht fortsetzen.
Ich glaube, das demokratische Verhältnis zwischen den
Vereinigten Staaten und Deutschland ist gut. Es ist die Ba-
sis, für friedliche Lösungen auf dieser Welt zu ringen. Das
halte ich für die außenpolitische Hauptverpflichtung
Deutschlands.
Ich schließe mit einer Bemerkung zum weiteren
Kampf gegen den Terrorismus: Unstreitig werden Men-
schen bedroht durch die Anschläge von Verbrechern, die
ihr Tun politisch motivieren. Die Anschläge geschehen an
vielen Orten dieser Welt. Betroffen sind Amerikaner, Eu-
ropäer und Israeli. Vom Terrorismus sind aber auch viele
andere Menschen betroffen.
Ich finde es gut, dass eine Debatte darüber begonnen
hat, warum bei dem Anschlag in Kenia so unverhältnis-
mäßig viel über die tragischen Opfer der Israeli und so
unverhältnismäßig wenig über die tragischen Opfer der
Kenianer geschrieben wird.
Dr. Christoph Zöpel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Christoph Zöpel
Wir sprechen auch mit der arabischen Welt darüber,
was wir gemeinsam gegenüber Saddam Hussein tun müs-
sen. Dann gehört in unsere Debatte, dass wir die Opfer
des Terrorismus in den Vereinigten Staaten, in Europa, in
Israel und in arabischen Staaten gleich behandeln.
Lassen Sie mich mit dem lapidaren Satz schließen:
Dem islamischen Terrorismus sind bisher mehr Algerier
als Amerikaner zum Opfer gefallen. Nur wenn wir das be-
denken, in den Vereinigten Staaten und in Europa, werden
wir zusammen mit den arabischen Staaten den Terroris-
mus bekämpfen können.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller von
der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die internationale Ordnung hat sich in der ver-
gangenen Dekade dramatisch verändert. Wir befinden uns
hier in einer Grundsatzdebatte; es schauen auch viele
junge Menschen zu. In den letzten zwölf Jahren hat sich
viel Positives bewegt: die deutsche Wiedervereinigung,
der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Osterweite-
rung, die Freundschaft zu Russland. Das ist die eine Seite,
die nicht zuletzt durch die Politik von Helmut Kohl, der
Union in Deutschland und in Europa ein Stück weit be-
fördert wurde.
Die andere Seite, das sind natürlich der Krieg im ehe-
maligen Jugoslawien, neue Atommächte sowie die Be-
drohung durch Saddam Hussein und internationale Terro-
risten.
In der Vergangenheit gab es Grundpfeiler deutscher
Außenpolitik, die zwischen den Parteien unstrittig waren.
Ich erinnere mich daran, dass ich als junger Mensch gern
Debatten über dieses Thema im Fernsehen angeschaut
habe. Da kam ein Stück Konsens zum Tragen, der in
außenpolitischen Fragen dringend notwendig ist. Die In-
tegration Europas, die Freundschaft zu den Amerikanern,
die besondere Beziehung zu Frankreich, unsere verläss-
liche Rolle in der NATO und die besondere Verantwor-
tung gegenüber Israel, das sind Grundpfeiler. Es gilt, im-
mer wieder herauszustellen, dass auf diesem Gebiet ein
Konsens über die Parteigrenzen hinaus notwendig ist.
Es gibt kaum einen europäischen Staat, in dem es einen
Dissens über grundlegende außenpolitische Positionen
gibt. Wir haben es an dieser Stelle mit einen wirklichen
Knackpunkt in der Geschichte des Parlamentarismus in
Deutschland zu tun. Der Bundeskanzler und der Bundes-
außenminister haben diesen Grundkonsens aus niederen
innenpolitischen Motiven – sie wollten eine Wahl gewin-
nen – verlassen.
Der eingeschlagene deutsche Sonderweg – Deutsch-
land bewegt sich außerhalb der Vereinten Nationen, es
agiert ohne die EU-Partner und ohne den Konsens mit den
Franzosen – bedeutet in der Irak-Debatte einen Weg der
Unberechenbarkeit. Mit diesem Weg wurde die Verläss-
lichkeit Deutschlands in Europa und in der UN infrage ge-
stellt.
Es ist schon etwas anmutend, wenn ich zum Thema
Irak nur kurz reflektiere. Sie sagen jetzt, es sei ein Riesen-
erfolg, dass Saddam Hussein, der Massenvernichtungs-
waffen besitzt, bereit ist, die Inspektoren ins Land zu
lassen. Sie behaupten, man habe sehr viel bewegt. Wer hat
dies letztendlich bewegt? – Die Weltvölkergemeinschaft,
gestützt von der unnachgiebigen Haltung der UN, und
alle, die diese Drohkulisse aufgebaut haben! Wir alle hof-
fen, dass dies zum Frieden beiträgt. Sie haben sich außer-
halb der Weltvölkergemeinschaft gestellt. Herr Fischer, es
war schon ein Stück weit peinlich, dass im irakischen
Fernsehen auf die Freundschaft zwischen Schröder und
Saddam Hussein reflektiert wurde.
Saddam Hussein nahm auf die deutsche Rolle, auf den
deutschen Sonderweg Bezug.
– Die Argumente treffen offensichtlich.
Ich frage an dieser Stelle den deutschen Bundesaußen-
minister: Was ist aus Ihrer Initiative im Europäischen Rat,
die Entwicklung einer gemeinsamen Position zur UN-Re-
solution voranzutreiben, geworden? Herr Bundesaußen-
minister, wo sind Sie geblieben, als es darum ging, vor der
Abstimmung über diese lebenswichtige Frage den Kon-
sens mit Frankreich zu suchen?
Ab dem kommenden Jahr, wenn Deutschland Mitglied
des Sicherheitsrates ist, stellt sich die Frage, welche Rolle
Deutschland dort zukünftig spielen wird. Ich knüpfe an
das an, was Herr Gerhardt gesagt hat: Herr Bundesaußen-
minister, was passiert nach dem 8. Dezember? Welchen
Beitrag wird Deutschland zur Durchsetzung der UN-Re-
solutionen leisten? Darauf sind Sie uns eine Antwort
schuldig.
Sie bieten, was Afghanistan angeht, die Führungsrolle
Deutschlands an. Wir werden darüber noch gesondert dis-
kutieren. Man hat den Eindruck, dass es wegen der feh-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 935
lenden Bündnissolidarität in der Irak-Frage zu einem
Kompensationsgeschäft kommen soll. Sie bieten diese
Führungsrolle in einer schwierigen Sicherheitslage an.
Wir haben dazu eine Vielzahl von Fragen gestellt, gerade
was den Verteidigungsbereich angeht, die Sie nicht beant-
wortet haben: Gibt es eine Exit-Strategie? Wie sollen im
Ernstfall 2 000 bis 5 000 Mann herausgeholt werden? Wo
ist das Gesamtkonzept für Afghanistan?
Herr Bundesaußenminister, Sie lassen sich feiern. Ih-
re Devise lautet: Wir gehen überall rein: Mazedonien,
Bosnien, Afghanistan.
Sagen Sie der deutschen Öffentlichkeit doch einmal,
wann wir wieder herausgehen. Welche politischen Initia-
tiven planen Sie, um politische Befriedung in diesen Re-
gionen herbeizuführen?
Jetzt komme ich auf die Türkei zu sprechen. Die Türkei
ist unser Freund und Partner in der NATO und in Europa.
Dennoch lehnen wir einen Beitritt der Türkei zur EU ab.
Michael Glos wurde heute früh vom Bundeskanzler zi-
tiert. Ich zitiere ihn aus demselben Artikel. Die Linie, die
Kontinuität unserer Argumentation ist klar:
Die Türkei hat noch einen langen Weg nach Europa. Ich zi-
tiere Michael Glos aus der „Welt“ vom 23. Oktober 1997:
Mit fast 70Millionen Einwohnern in der Türkei kann
angesichts des Entwicklungsabstands niemand heute
daran denken, zwischen Europa und Ankara Freizü-
gigkeit zu verwirklichen. Dies darf aber nicht bedeu-
ten, der Türkei ... die Tür ... zuzuschlagen.
Die Türkei muss als privilegierter Partner der Euro-
päischen Union behandelt werden. Die Zollunion
zwischen der EU und der Türkei seit dem 1. Januar
1996 weist hier den Weg.
Da hatte er 1997 Recht: Natürlich ist das der Weg. Wir
stellen uns in die Kontinuität, meine sehr verehrten Da-
men und Herren. Wir wollen den weiteren Ausbau privi-
legierter Sonderbeziehungen zur Türkei.
Wir müssen uns auch – lassen Sie mich das mit Blick auf
die Innenpolitik einflechten – um einen neuen Zugang, um
andere Wege der Integration und der Ansprache der türki-
schen Bevölkerung hier in Deutschland bemühen. Wir dür-
fen nicht das Signal senden, die türkischen Bürger in
Deutschland stünden abseits. Nein, wir wollen Sonderbe-
ziehungen zur Türkei und wir wollen den weiteren Ausbau.
Die Wirtschaftsleistung der Türkei liegt bei 22 Prozent
des EU-Durchschnitts, die Inflation beträgt 40 Prozent.
Es gibt dort 12 Millionen Bauern. Die EU-Kommission
hat gerade die Berechnung vorgelegt: Die Einbeziehung
der Türkei in die Strukturfonds und den Kohäsionsfonds
des jetzigen Systems würde 30 Milliarden Euro im Jahr
kosten.
Sehr geehrter Herr Außenminister, Sie haben in Nizza
und in Berlin ja nicht einmal die Voraussetzungen dafür
geschaffen, die zehn mittel- und osteuropäischen Staaten
zu integrieren.
Wie wollen wir unter diesen Voraussetzungen die Inte-
gration der Türkei schaffen? Das ist im Augenblick nicht
möglich.
Neue Strukturen der Zusammenarbeit sind notwendig;
ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort EWR
Osteuropa. Ich frage an dieser Stelle den Außenminister:
Könnte das nicht auch auf dem Balkan der zukünftige
Weg sein? Auch dort müssen wir doch entsprechende
Überlegungen anstellen. Wo ist Ihr Balkankonzept? Sol-
daten und Geld ja, aber wo bleibt die politische Perspek-
tive? Auch in Serbien, Bosnien, Mazedonien und Alba-
nien bieten Sie als Perspektive nur die EU-Mitgliedschaft,
wohl wissend, dass der Weg dorthin so nicht möglich ist.
Auch hier brauchen wir neben der Perspektive einer Voll-
mitgliedschaft neue Denkansätze und neue Strukturen.
Fragen über Fragen, Herr Bundesaußenminister. In Ih-
rer bekannten Überheblichkeit interessiert Sie das nicht.
Keine Antworten, keine Strategien, ein angeknackstes
deutsch-französisches Verhältnis, die Infragestellung der
Vereinten Nationen, die Verunsicherung in Israel – eine
verheerende Bilanz, ein hoher Preis für vier Jahre rot-
grüne Außenpolitik.
Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludger Volmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! In der Tat, es geht nicht nur um Einzelfragen, etwa
um den Irak oder um Afghanistan, es geht um die Frage
einer neuen Weltordnung. Diese Frage stellt sich seit
Dr. Gerd Müller
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Ludger Volmer
mindestens zwölf Jahren, seit dem Zusammenbruch der
bipolaren Weltordnung. Bei der Suche nach der neuen
Weltordnung gibt es Dispute, auch zwischen demokrati-
schen Staaten. Wir haben in Europa einen intensiven Dia-
log darüber, wie die europäische Integration aussehen
soll. Also ist es folgerichtig, wenn zwischen anderen Staa-
ten ein Disput über die globale Integration stattfindet. Es
ist völlig normal, dass die Europäer an diesem Punkt
manchmal andere Auffassungen haben als die amerikani-
schen Freunde. Die Frage ist: Wie geht man damit um?
Ich möchte Ihnen eine kleine Episode erzählen. Ich
denke sehr gerne zurück an den Kollegen Karl Lamers
von der CDU, der hier oft vermisst wird. Karl Lamers
sprach mich vor zwei oder drei Jahren einmal an und
sagte: Ihr als rot-grüne Regierung müsstet doch das For-
mat haben, einen begrenzten Disput mit den Vereinigten
Staaten auch offen auszutragen, und zwar mutiger, als das
unsere Kohl/Kinkel-Regierung getan hat. Richtig, Herr
Lamers, sagte ich, aber ich prophezeie Ihnen eines: Sie
und die Union werden die Ersten sein, die uns dann öf-
fentlich in den Rücken fallen.
Genau das haben wir durch die Rede von Herrn Schäuble
jetzt erlebt.
Wenn es nicht einmal mehr möglich sein darf, in einer
präzise beschreibbaren sicherheitspolitischen Frage ande-
rer Meinung zu sein als bestimmte Sicherheitskreise in
den Vereinigten Staaten, dann frage ich Sie: Wo ist denn
die europäische Freiheit gegenüber den amerikanischen
Partnern? Können wir uns dann überhaupt noch als Part-
ner empfinden oder müssten wir uns nicht selbstkritisch
als Vasallen bezeichnen?
Einen solchen Status gegenüber den Vereinigten Staa-
ten wollen wir nicht. Wir wollen Freundschaft, wir wol-
len Partnerschaft als Konstante der deutschen und der eu-
ropäischen Außenpolitik. Aber diese Partnerschaft muss
auch dazu dienen, sich solidarisch darüber zu verständi-
gen, wie denn die neue Weltordnung aussehen soll, ob
sie – das ist der europäische Vorschlag und das entspricht
auch den Grundlinien rot-grüner Außenpolitik – auf Mul-
tilateralismus setzen soll, hauptsächlich organisiert
durch die Vereinten Nationen und die anderen Regional-
organisationen, ob sie bestehen soll aus einer internatio-
nalen Strukturpolitik, aus einer globalen Ordnungspolitik,
aus Global Governnance oder ob sie bestehen soll aus der
Hegemonie der verbleibenden Supermacht.
Dass diese Supermacht Interessen hat, die man sogar
nachvollziehen kann, wenn man sich in ihre Position be-
gibt, räumen wir ein. Deshalb ist das auch kein gegneri-
scher Diskurs, sondern ein freundschaftlicher. Wir werden
nicht Weisungsempfänger sein, von wo auch immer die
Weisungen kommen sollten. In diesem Sinne werden wir
weiterhin eine selbstbewusste Politik mit Augenmaß be-
treiben. Das betrifft den Irak, das betrifft Afghanistan, das
betrifft die Türkei.
Sorry, Herr Pflüger, ich habe heute nur vier Minuten
Redezeit. Deshalb gern ein anderes Mal.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Michael Roth,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Las-
sen Sie mich zu einem Thema kommen, das auch die
Außenpolitik, obgleich es gar nicht mehr dazu gehört, maß-
geblich mitbestimmt hat, nämlich zu Europa. Europa ist auf
einem guten Weg. Wir haben große Fortschritte erzielt. Wir
kommen voran mit einer europäischen Verfassung,
voran mit der Erweiterung, voran auch mit der deutsch-
französischen Partnerschaft. Daran haben Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten, die Grünen, und die
Bundesregierung maßgeblich mitgewirkt.
CDU/CSU sind hier jedoch, wie auch in der Innenpolitik,
auf dem Holzweg. Ihnen geht es in diesen Tagen nicht um
Tatsachen; sie betreiben billige Polemik, sie polarisieren.
Sie gefallen sich in Populismus. Das Schlimmste daran
ist, dass Sie Ihre eigene Reputation und Ihre eigene Se-
riosität in der Europapolitik auf dem Altar des Opportu-
nismus opfern.
Sie sind in dieser Frage in die Regionalliga abgestiegen.
Sie schaden damit nicht nur sich selbst – das könnte mir
ja noch egal sein –, Sie schaden vor allem dem Ansehen
unseres Landes.
Ich will mich auf Ihren Umgang mit einem möglichen
EU-Beitritt der Türkei konzentrieren. Sie betreiben hier
primitive Stimmungsmache. Es ist schon von der Konti-
nuität gesprochen worden. Seit 1963 ist der Türkei eine
Perspektive aufgezeigt worden. Natürlich steht ein Inte-
resse dahinter, das Interesse, der Demokratie, der Rechts-
staatlichkeit, der Durchsetzung von Menschenrechten,
dem Laizismus in diesem Land zum Durchbruch zu ver-
helfen und die demokratischen Strukturen zu stabilisie-
ren. In dieser Kontinuität stehen wir, dieser Kontinuität
fühlen wir uns auch verpflichtet.
Sie sollten uns alle auch einmal hinter die Fassade
blicken lassen, die Sie mit Ihrem Antrag, dem schäuble-
schen Antrag, aufgebaut haben und hinter der Sie sich ver-
stecken. Dann wird klar, dass Sie nicht Frieden geschlos-
sen haben mit dem Verständnis Europas und der Euro-
päischen Union, wie es sich jetzt darstellt. Die Europä-
936
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 937
ische Union ist eben keine Konfessionsgemeinschaft,
sondern eine Wertegemeinschaft, die auf Pluralität und
auf kultureller Vielfalt beruht: Sie hat christliche Wurzeln,
sie hat jüdische Wurzeln, sie hat aber eben auch islami-
sche Wurzeln. Sie betreiben im Hinblick auf die Wahlen
in Hessen und Niedersachsen billigen Wahlkampf. Das
muss auch in dieser Debatte einmal deutlich angespro-
chen werden.
Natürlich ist uns bewusst, dass Beitrittsverhandlungen
erst dann geführt werden können, wenn klar ist, dass die
Kopenhagener Kriterien und die wirtschaftlichen Krite-
rien erfüllt werden. Dann kann der Weg in die Europä-
ische Union vollendet werden. Wenn wir diesen Weg aber
jetzt abschneiden würden, würden wir damit zur Destabi-
lisierung in dieser Region maßgeblich beitragen.
Ich komme jetzt auf die deutsch-französischen Bezie-
hungen, auf die der Herr Kollege Müller – wenn er von
Konsens spricht, dann kann irgendetwas nicht stimmen –
vorhin bereits hingewiesen hat, zu sprechen. Ich kann mich
noch an die wohlfeilen Worte des ansonsten geschätzten
Kollegen Pflüger sowie der Kollegen Altmaier und Hintze
erinnern. Alle haben in der vergangenen Legislaturperiode
immer wieder gesagt, wir würden die deutsch-französi-
schen Beziehungen sturmreif schießen. Ich erinnere daran,
dass der deutsch-französische Motor läuft: Es gibt eine
Vielzahl von Initiativen in der Außen- und Sicherheitspoli-
tik, der Verteidigungspolitik, der Justiz- und Innenpolitik.
Demnächst stehen gemeinsame Vorschläge zur institutio-
nellen Reform an. All das sind massive Fortschritte.
Ich will Sie an etwas erinnern, an das Sie wahrscheinlich
gar nicht mehr erinnert werden wollen, nämlich an die
unsägliche Debatte über die Festivitäten anlässlich des
40. Jahrestages des Élysée-Vertrages, die einzigartige ge-
meinsame Versammlung des Deutschen Bundestages und
der Assemblée Nationale am 22. Januar nächsten Jahres.
Was ist nicht alles an Geschichtsklitterung durch Herrn Glos
und andere betrieben worden! Wenn das nur der Herr Glos
gemacht hätte, müsste man es ja nicht ernst nehmen; aber in
dieser sensiblen Angelegenheit mithilfe der „Bild“-Zeitung
Stimmungsmache zu betreiben ist unverantwortlich.
Glücklicherweise gibt es in allen Fraktionen Men-
schen, die von der französischen Sensibilität in dieser
Frage ein wenig Ahnung haben. Wer die Franzosen ein
wenig kennt und weiß, welche Bedeutung Repräsentation
und Symbolik in diesen Fragen für sie haben, der weiß
oder kann erahnen, welcher Schaden in der deutsch-fran-
zösischen Partnerschaft angerichtet worden ist, weil Sie,
Frau Merkel, und alle anderen Verantwortungsträger ge-
schwiegen haben und nicht deutlich und klar Stellung zu
den Vereinbarungen, die zwischen den Europapolitikern
getroffen wurden, bezogen haben. In der vergangenen Le-
gislaturperiode haben wir dieses Thema in der Bespre-
chung der Obleute intensiv beraten. All das hat für Sie auf
einmal überhaupt keine Rolle mehr gespielt.
Ich will auf den Konvent zu sprechen kommen, der
durch die noch engere Zusammenarbeit zwischen Deutsch-
land und Frankreich neuen Schwung erhalten hat. Nicht nur
der Außenminister der Bundesrepublik, sondern auch der
Kollege und Staatsminister für Europa Martin Bury und der
französische Außenminister de Villepin gehören dem Kon-
vent an. Ich denke, dass uns auch in Zukunft weitere zu-
kunftsweisende Empfehlungen unterbreitet werden.
Ich möchte aber auf die Frage hinweisen, wo das Par-
lament bleibt und wie wir mit dem Konvent umgehen.
Wenn wir den Konvent als eine kreative europäische Zu-
kunftswerkstatt begreifen, dann sollten wir – bei aller
Wertschätzung für den Außenminister – nicht nur alles an
die Regierung delegieren, sondern als Bundestag eigen-
ständig Vorschläge entwickeln, die wir an unsere Dele-
gierten, sowohl der Regierung als auch des Deutschen
Bundestages, weiterleiten.
Deswegen schlage ich vor, dass wir nicht nur Debatten
über den Verfassungskonvent und die europäischen Verfas-
sung führen, sondern uns möglichst auch interfraktionell
auf einige wesentliche Punkte festlegen, entsprechende An-
träge beschließen und sie dann in das Handgepäck von
Joschka Fischer, Martin Bury, Professor Meyer, Peter
Altmaier und all den anderen, die für und mit uns Verant-
wortung bei diesem wichtigen Prozess tragen, legen.
Meine Fraktion lädt alle Kolleginnen und Kollegen
herzlich zur Mitarbeit ein. Es würde mich sehr freuen,
wenn die Opposition, vor allem die Union, ihre Strategie
des „Oppositionismus“ um jeden Preis in europapoliti-
schen Angelegenheiten beenden würde.
Sie sind damit gescheitert. Wir laden Sie herzlich dazu
ein, den europäischen Weg der Vernunft wieder einzu-
schlagen.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Hintze, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Zöpel hat uns eben mit kräftigen Worten aufge-
fordert, zu akzeptieren, dass im Wahlkampf alle wichtigen
Fragen zur Sprache kommen müssen. Ich kann dazu
nur sagen: Darüber gibt es im Parlament eine breite Übe-
reinkunft. Die Differenz besteht darin, dass wir der Auf-
fassung sind, dass im Wahlkampf alle wichtigen Fragen
wahrheitsgemäß
und sachgemäß beantwortet werden sollten. Dagegen hat
Rot-Grün in schändlicher Weise verstoßen.
Lieber Herr Fischer, wir erleben jetzt, dass die Regie-
rung kleinlaut versucht, den Preis für den Anti-USA-
Wahlkampf zu zahlen, in den sie sich selber hineinbug-
siert hat. Das ist sehr kritisch zu sehen. Deswegen muss
heute über einige Fragen vom Grundsatz her diskutiert
werden. Denn unsere Politik muss sich am Interesse und
am Wohle Deutschlands ausrichten und nicht an den Feh-
lern, die Rot-Grün im Wahlkampf gemacht hat.
Was mich betroffen macht – das will ich vorab sagen –,
ist, dass uns die Regierung heute, vor einem der vielleicht
wichtigsten Gipfel der letzten Jahrzehnte, in zentralen
Fragen der europäischen und internationalen Politik eine
Auskunft schuldig bleibt.
Natürlich finden wir es gut, dass Sie endlich wieder zur
deutsch-französischen Zusammenarbeit finden. Aber der
Verweis auf ein Gespräch mit dem französischen Staats-
präsidenten ist doch keine Rechtfertigung dafür, dem
Souverän, dem Deutschen Bundestag, vor einem der
wichtigsten europäischen Gipfel dieses Jahrzehnts, mög-
licherweise dieses Jahrhunderts, in zentralen Fragen die
Auskunft zu verweigern.
Nun möchte ich zu einem zentralen Thema kommen,
zur Debatte über die Türkei. Eine der wesentlichen Fra-
gen der europäischen Politik lautet: Wie können wir den
Wunsch der Türkei, zu Europa zu gehören, konstruktiv
aufgreifen, ohne dabei heute Vorfestlegungen zu tref-
fen, die morgen vielleicht mit unserem Selbstverständ-
nis in der Europäischen Union kollidieren? Es wäre
schön, wenn man über diese Frage sachlich sprechen
könnte.
Ich finde es schon merkwürdig, dass heute Redner der-
jenigen Parteien stolz auf die Zollunion als einen der
wichtigen Schritte im Verhältnis Europas zur Türkei ver-
weisen, die seinerzeit diejenigen politischen Gruppierun-
gen darstellten, die im Europäischen Parlament just gegen
diese Zollunion gestimmt haben. Das lassen wir Ihnen
nicht durchgehen.
Wir haben immer gesagt: Wir müssen darauf achten,
dass es eine gute Partnerschaft und ein privilegiertes Ver-
hältnis zwischen der Türkei und der EU gibt. Hier war die
Zollunion in der Tat ein wichtiger Schritt. Das hat Michael
Glos in der Erklärung deutlich gemacht, die heute wieder
– wie das oft auch in anderen Zusammenhängen ge-
schieht – verkürzt zitiert worden ist.
Damals waren es die Sozialdemokraten und die Grünen,
die sich dieser Zollunion unter dem Aspekt der Men-
schenrechte – dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt – ver-
weigert haben.
Wenn wir uns heute mit Blick auf die Stellung des Mili-
tärs im Verfassungsgefüge der Türkei, mit Blick auf die
Rechte bzw. das Nichtvorhandensein von Rechten der
Frauen, die Pressefreiheit und die kurdischen Bevöl-
kerungsgruppen in der Türkei sowie mit Blick auf den
Umgang mit christlichen Kirchen in der Türkei unmög-
lich festlegen können und deswegen einen Automatismus,
der zu einer Vollmitgliedschaft führt, ablehnen, dann
sollte das Ihre Unterstützung finden und nicht Ihren Wi-
derstand herausfordern.
Wenn man derart mit Zitaten umgeht, ist auch zu fra-
gen: Wie ist die jeweilige Situation? Herr Fischer, es gibt
im Vergleich zu damals zwei wesentliche Unterschiede.
Erstens gab es den Verfassungskonvent, der jetzt erstma-
lig die Chance eröffnet, dass aus der Europäischen Union
tatsächlich eine politische Gemeinschaft, eine echte Wer-
tegemeinschaft entsteht, noch nicht. Zweitens gab es in
der Türkei keine islamistische Regierung. Wir können
nur hoffen, dass die türkische Regierung den radikalen
Worten ihrer politischen Führer in der Vergangenheit
nicht entsprechende Taten folgen lässt, sondern dass sie
tatsächlich den Weg zu Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit findet. Das wollen wir mit all unseren Kräften un-
terstützen. Keiner hier im Hause kann heute allerdings sa-
gen, ob das tatsächlich gelingt. Es wäre doch fatal, wenn
wir einen Automatismus in Gang setzten, der die Europä-
ische Union später in ihrem Kern träfe und das, was wir
mit unserer Verfassung vornehmen, konterkarierte.
Deswegen haben wir einen Antrag eingebracht – er
wurde leider von der unverständigen Mehrheit des Hauses
abgelehnt –, mit dem wir fordern, bei den Gesprächen mit
der Türkei den Gedanken mit zu erwägen, ob nicht eine
Form der privilegierten Partnerschaft eine Alternative sein
könnte, die weder die Türkei noch die Europäische Union
überfordert. Wer das von vornherein ausschließt, schadet
den Interessen des europäischen Integrationsprozesses,
dem wir uns alle verpflichtet fühlen. Diese Unterschei-
dung halte ich für bedeutsam.
Ich möchte noch einmal die Bundesregierung auffor-
dern, zu diesem Weg zurückzukehren. Wochen- und mo-
natelang hat der Außenminister intern und öffentlich er-
klärt, es gebe keinen Kuhhandel mit der Türkei, der
besagt, dass sie ihr Veto bei der ESVP, also bei der Nut-
zung der NATO-Fazilitäten für die europäische Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik, zurücknimmt und es
938
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 939
dafür ein Zugeständnis in Form der Absenkung der Krite-
rien bei der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gibt.
Das war immer ihre Position. Seit kurzem klingt es zu-
mindest aus dem Munde des Bundeskanzlers ganz anders:
Wenn sich bei der ESVP und der Zypern-Frage etwas tut,
ist das mit den Kriterien nicht mehr so wichtig.
Meine Damen und Herren, die Demokratiekriterien,
aber auch die Wirtschaftskriterien sind deshalb so wich-
tig, weil die Europäische Union eine Schicksalsgemein-
schaft ist, die nur dann eine gute Zukunft hat, wenn sie auf
gemeinsamen Werten beruht und feste Regeln gelten.
Wenn diese verletzt werden, verletzen wir uns damit ein
Stück weit selbst.
Weil alle konkreten Fragen von der Regierung syste-
matisch ausgelassen wurden, will ich zum Gipfel von
Kopenhagen noch einen Punkt, ein „ceterum censeo“,
ansprechen, den wir hier im Plenum schon des öfteren
erörtert haben. Ich finde es sehr bedenklich, dass über die
große historische Wirkung der Erweiterung der Europä-
ischen Union um die jungen Reformdemokratien in Mit-
tel- und Osteuropa gar nicht mehr gesprochen wird.
Wie muss sich eigentlich ein polnischer, ein ungari-
scher, ein slowakischer oder ein slowenischer Kollege
fühlen, wenn er den Eindruck gewinnt, dass sich unsere
Regierung, der Partner, auf den sie Hoffnungen setzen,
nicht mehr für sie interessiert? Wir aber interessieren uns
noch für sie. Deswegen möchte ich Sie, Herr Bundes-
außenminister, von dieser Stelle aus noch einmal auffor-
dern, die Ungerechtigkeit des Vertrages von Nizza, näm-
lich den Ungarn und Tschechen weniger EP-Sitze
einzuräumen, als ihnen nach ihrer Bevölkerungszahl zu-
steht, in den Beitrittsverträgen zu korrigieren. Das ist eine
Frage der Fairness und der Partnerschaft mit den Staaten,
die Demokratie und Freiheit erstritten haben und sich auf
unser Wort verlassen müssen.
Wir müssen ferner in Kopenhagen sicherstellen, dass
die Staaten, die zu uns stoßen und wirtschaftliche Hilfe
für ihren Entwicklungsprozess brauchen, durch die Fi-
nanzregeln, die wir in der Europäischen Union haben,
nicht von Anfang an in die Nettozahlerposition geraten.
Wir erwarten, dass die Staats- und Regierungschefs in fai-
rer Weise einen Ausgleichsmechanismus vereinbaren, da-
mit dieser Start auch wirklich klappt und die Sache gut
wird.
Wir lassen uns auf eine jahrzehntelange Partnerschaft,
auf eine Schicksalsgemeinschaft ein. Dazu gehört, dass
wir fair miteinander umgehen und gemeinsam die Chan-
cen nutzen, aus der Erweiterung der Europäischen Union
ein wirklich großes, historisches und gutes Projekt zu ma-
chen. Das ist die Aufgabe, der wir uns politisch stellen
müssen.
Es hätte mich sehr gefreut, wenn ich dazu heute etwas
von der Regierung gehört hätte. Es ist nicht die Aufgabe
der Regierung, die Opposition zu beschimpfen, sondern
eine ordentliche Politik zu betreiben und sich für die ei-
genen Fehler zu rechtfertigen. Dahin sollten Sie langsam
zurückkehren, verehrte Mitglieder der Regierung, ob Sie
nun auf den Abgeordnetenbänken oder vorne sitzen.
Ich will diese Debatte aber auch nutzen, um ein Wort
zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Auswärtigen
Amt zu sagen. Wir haben Jahre höchster politischer Bri-
sanz erlebt. Die Europapolitik, die Außenpolitik und die
internationale Politik haben höchste Anforderungen ge-
stellt. Ich kann auf jeden Fall sagen – ich glaube, das gilt
auch für viele Kollegen –, dass wir sowohl in der Ständi-
gen Vertretung in Brüssel, in Berlin, aber auch in den an-
deren Botschaften erlebt haben, dass die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes über die Maßen
hinaus eine sehr gute Arbeit leisten. Ich möchte ihnen im
Namen der Kollegen, die in der internationalen Politik ar-
beiten, dafür an dieser Stelle, beim Einzelplan 05, einmal
ausdrücklich danken.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Christa Nickels,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschenrechte zur Leitlinie deutscher Politik zu ma-
chen ist ein riesengroßer Anspruch und auch eine riesen-
große Herausforderung. Das macht sich nicht an schönen
Festreden oder an aufgeregt geführten Fernsehdebatten
und auch nicht an Debatten fest, die ein Stück weit
Stammtisch- oder Karnevalsniveau haben; vielmehr zeigt
sich die Ernsthaftigkeit dieses Anspruchs im Alltag dieses
Parlaments, in der ganz konkreten Alltagsarbeit.
Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass wir mitten in
der gedrängten Haushaltswoche Gelegenheit bekommen,
und zwar zum ersten Mal überhaupt – ich bin zum fünf-
ten Mal in diesem Parlament,
ich bin gern zum fünften Mal in diesem Parlament –, die
Tradition der Debatte zum Tag der Menschenrechte fort-
zuführen und dass wir das endlich einmal nicht zur Geis-
terstunde nachts um zwölf tun müssen, sondern es jetzt
mitten in der Debatte über Außenpolitik tun können, wo-
hin die Menschenrechte gehören.
Ich bin auch sehr froh darüber, dass wir außerhalb des
üblichen Prozedere einen umfangreichen Menschenrechts-
antrag, der die gesamte Bandbreite der innen- und außen-
politischen Rahmensetzungen behandelt, in erster Lesung
Peter Hintze
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Christa Nickels
mitberaten. Ich hoffe, dass er nach gründlicher Beratung
in den Fachausschüssen für uns alle ein Stück weit ver-
bindliches Arbeitsprogramm für die Menschenrechte in
dieser Legislaturperiode sein kann.
Es ist schon viel von der Notwendigkeit des Anti-
terrorkampfes die Rede gewesen. Ich stimme den Rednern
ausdrücklich zu, die quer durch alle Fraktionen darauf hin-
gewiesen haben, dass der Kampf gegen den Terrorismus
sehr ungewöhnliche, neue und auch sehr zukunftsträchtige
Allianzen ermöglicht hat. Aber ich muss auch ein Stück
weit beklagen, dass im Rahmen der Allianz gegen den Ter-
rorismus der berechtigte Kampf gegen den Terrorismus
auch dazu missbraucht oder instrumentalisiert worden ist,
den Menschenrechten weltweit großen Schaden zuzufü-
gen. Auch wenn die Bundesregierung peinlich genau da-
rauf achtet, den Schutz der Menschenrechte im Antiterror-
kampf zu wahren, gibt es doch ganz aktuelle Nagelproben,
die wir zu bestehen haben. Ich will drei nennen.
Zum einen ist es die Menschenrechtssituation in
Tschetschenien, die sich seit dem 11. September immer
mehr verschärft hat.
Seit dem schrecklichen Anschlag im Musical-Theater in
Moskau kommt es nicht nur zu dem berechtigten Kampf
gegen die Terroristen, sondern auch zu einem unter-
schiedslosen Kampf gegen die Zivilbevölkerung in
Tschetschenien.
Die Binnenflüchtlinge und die Flüchtlinge in der Russi-
schen Föderation haben mittlerweile den Status von fast
Vogelfreien. Das ist nicht zu ertragen. Es ist schrecklich.
Darum bin ich froh, dass der Innenminister seine Länder-
kollegen vor Wochen aufgefordert hat, den tschetscheni-
schen Flüchtlingen jetzt den notwendigen Schutz zu
gewähren. Allerdings muss es in einem nächsten Schritt auf
der morgen beginnenden Innenministerkonferenz, bei der
Innenminister aller Länderkoalitionen, Herr Gerhardt, da-
bei sind, dazu kommen, den längst überfälligen Abschie-
bestopp für die Tschetschenen zu beschließen. Auch die
EU darf ihre Außengrenzen gerade jetzt nicht für Flücht-
linge aus der ehemaligen Sowjetunion dicht machen. Wir
brauchen ganz im Gegenteil eine konzertierte Aktion der
europäischen Regierungschefs, um Präsident Putin im
Tschetschenienkonflikt endlich zu einer politischen Lö-
sung zu drängen.
Der Kampf gegen den Terrorismus wird in vielen Staa-
ten der Erde dazu benutzt und missbraucht, unliebsame
Minderheiten zu bekämpfen
und Kritiker mundtot zu machen. Die Einforderung von
Minderheits- und Beteiligungsrechten, kritische Presse-
arbeit oder das Engagement von Demokratie- und Men-
schenrechtsbewegungen werden allzu oft als Förderung
des Terrorismus denunziert.
Gerade gestern habe ich mit der Vorsitzenden einer al-
gerischen Menschenrechtsorganisation gesprochen, die
sich um die Verschwundenenproblematik kümmert. Sie
gehört zu einer Gruppe von Müttern, die die Belange von
7000 Betroffenen vertritt und jeden Mittwoch für ihre ver-
schwundenen Angehörigen demonstriert. Erst vor wenigen
Wochen, am 4. November, musste sich diese Frau zusam-
men mit den anderen Müttern wegen angeblicher terroristi-
scher Gesinnung zusammenschlagen lassen. Das ist ein
sehr schlimmes Beispiel dafür, wie der berechtigte Kampf
gegen den internationalen Terrorismus benutzt wird, die
Opfer zu Tätern zu denunzieren und mundtot zu machen.
Ich warne dringend davor und stimme Irene Khan, der Ge-
neralsekretärin von Amnesty International, zu, die for-
derte, es dürfe keine Instrumentalisierung der Menschen-
rechte zu fragwürdigen Zwecken und keine selektive
Umgehensweise mit Menschenrechten geben. Frau Khan
verlangt zu Recht, es dürfe keine kalkulierte Manipulation
der Arbeit von Menschenrechtsaktivisten geben.
Zum Schluss, da ich nur noch sehr wenig Redezeit
habe, möchte ich auf das hinweisen, was wir auch bei
Petersberg II angesprochen haben: Der Kampf gegen
den Terrorismus hat gerade in Afghanistan für viele
Frauen, die jahrzehntelang in unwürdigsten Zuständen le-
ben mussten, neue Chancen eröffnet. Aber wenn man
weiß, dass die Lage dieser Frauen jahrzehntelang kaum
jemanden außerhalb der so genannten Gutmenschfrak-
tion, der Menschenrechtsaktivisten, interessiert hat, und
wenn man jetzt wieder hört, dass Mitglieder der afghani-
schen Verfassungskommission unwidersprochen die Ein-
führung der islamischen Scharia in das neue Rechtssys-
tem fordern dürfen, ist einem klar, dass die internationale
Staatengemeinschaft aufgefordert ist, die Vergabe der
Mittel für den Wiederaufbau in Afghanistan jetzt an die
Garantie der grundlegenden Freiheits- und Menschen-
rechte zu knüpfen, damit nicht Chancen vertan werden
und damit die berechtigte Hoffnung der afghanischen Be-
völkerung, vor allen Dingen der Frauen dort, nicht erneut
enttäuscht wird.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Bindig, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die bisherige außenpolitische Debatte hat gezeigt, wie
komplex sich internationale Beziehungen entwickeln,
wenn Konflikte virulent geworden sind, und lässt erken-
940
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 941
nen, welchen politischen und diplomatischen Aufwand
und welche finanziellen Mittel sie erfordern.
Aus menschenrechtlicher Sicht stehen Fragen der
menschlichen und humanitären „Kosten“ solcher Konflikte
im Vordergrund. Das heißt im Klartext: Wie sieht die Si-
tuation der betroffenen Menschen aus? Mit welchen Mit-
teln kann ihnen geholfen werden? Wie sind die Konflikte
oder auch ihre Lösungsansätze aus menschenrechtlicher
Sicht zu bewerten? Mit welchen Risiken ist zu rechnen?
Politische Spannungen und Konflikte sowie militärische
Operationen bergen die Gefahr in sich, dass menschen-
rechtliche und humanitäre Standards sowie völkerrecht-
liche Grundsätze verletzt werden. Gerade wenn es darauf
ankommt, dass humanitäres Völkerrecht und elementare
Menschenrechte respektiert werden müssen und ihre Be-
währungsprobe bestehen sollen, sind sie am häufigsten ge-
fährdet. Diese Gefahr ist nicht nur in vielen innenpoliti-
schen Auseinandersetzungen von Ländern erkennbar – sei
es in Kolumbien, Algerien oder Vietnam –, sie zeigt sich
auch international im Antiterrorkampf. Hier müssen wir
wachsam sein. Sosehr sich pragmatische Politik durch
Kompromissbereitschaft auszeichnet, so wenig nachgiebig
dürfen wir sein, wenn es um die Einhaltung menschen-
rechtlicher Standards in schwierigen Situationen geht.
Um zu verhindern, dass in konfliktiven und besonders
in gewaltsamen Situationen der Zweck die Mittel heiligt,
braucht die Politik Grundprinzipien und Leitlinien. Dies
müssen die Menschenrechte sein. Daran dürfen wir uns
nicht nur am Internationalen Tag der Menschenrechte, am
10. Dezember, erinnern; dies muss übers Jahr unser poli-
tisches Handeln bestimmen.
Deshalb ist es nur konsequent, wenn im Koalitionsver-
trag als Richtschnur der Außenpolitik die Beachtung des
Völkerrechts, Dialogbereitschaft, Krisenprävention, Ge-
waltverzicht, Vertrauensbildung sowie das konsequente
Eintreten für die Menschenrechte genannt sind. Menschen-
rechte müssen gerade in Konfliktsituationen eine Leitlinie
unserer Politik sein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Vaatz? – Bitte.
Herr Kollege Bindig, können Sie mir ein Beispiel aus
dem letzten halben Jahr nennen, an dem sich die Unnach-
giebigkeit des Herrn Bundeskanzlers gegenüber Men-
schenrechtsverletzungen von Staaten gezeigt hat, mit denen
gleichzeitig eine politische Zusammenarbeit angestrebt
war?
Diese Unnachgiebigkeit ist die Grundlage der Politik,
wie sie von der Bundesregierung durch den Außenminis-
ter und den Bundeskanzler vertreten wird. Ich wüsste kein
umgekehrtes Beispiel zu nennen.
– Was zu Tschetschenien zu sagen ist, habe ich für die so-
zialdemokratische Fraktion in der letzten außenpoliti-
schen Debatte am 29. Oktober hinreichend differenziert
formuliert.
Wir verbinden heute gerne die menschenrechtliche mit
der außenpolitischen Debatte. Viele Menschenrechtsver-
letzungen, die uns beschäftigen, finden im Ausland statt
und erfordern außenpolitische Reaktionen: bilateral, auf
EU-Ebene sowie multilateral. Tschetschenien ist hierfür
ein gutes Beispiel. Hier kann unser außenpolitisches Inte-
resse nicht losgelöst von menschenrechtlichen und huma-
nitären Überlegungen definiert werden.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi
Annan, hat in seinem Bericht zur Verhütung bewaffneter
Konflikte auf die Notwendigkeit hingewiesen, von einer
Kultur des Reagierens zu einer Kultur der Prävention
überzugehen. Um bewaffnete Konflikte auf Dauer zu ver-
hüten – so heißt es in seinem Bericht –, muss gezielt die
Achtung der Menschenrechte gefördert werden, nicht nur
die Achtung der bürgerlichen und politischen Rechte, son-
dern auch der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechte einschließlich des Rechts auf Entwicklung.
Kofi Annan betont auch die wichtige Rolle des Inter-
nationalen Strafgerichtshofes bei der Durchsetzung des
Grundsatzes der internationalen strafrechtlichen Verant-
wortlichkeit. Er empfiehlt außerdem, das Amt des Hoch-
kommissars der Vereinten Nationen für die Menschen-
rechte zu stärken. An dieser Stelle möchte ich zu Beginn
der neuen Legislaturperiode – und sicher nicht nur im Na-
men meiner Fraktion – dem neuen Hochkommissar Sergio
Mello viel Kraft für seine schwierige Aufgabe wünschen.
Die Forderungen des UN-Generalsekretärs korrespon-
dieren voll mit den Planungen der Bundesregierung und
den Forderungen der Koalitionsfraktionen, die internatio-
nalen Beziehungen weiter zu verrechtlichen und den Pro-
zess der Einrichtung und Konsolidierung des Internatio-
nalen Strafgerichtshofes zu fördern.
Kofi Annan hat den Mitgliedstaaten eindringlich nahe
gelegt, die Menschenrechtsverträge und das Statut des In-
ternationalen Strafgerichtshofes zu ratifizieren. Deutsch-
land ist mit seiner völkerrechtsfreundlichen Politik für
viele Länder beispielhaft vorangegangen. Wir sind zahl-
reichen internationalen Abkommen und Zusatzprotokol-
len beigetreten und haben in der letzen Legislaturperiode
einige Vorbehalte zurückgenommen.
Wir sollten diese Politik der Abrundung unserer inter-
nationalen Verpflichtungen fortsetzen und die im Antrag
aufgelisteten Konventionen und Zusatzprotokolle zeich-
nen bzw. ratifizieren. Ganz besonders am Herzen liegen
Rudolf Bindig
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Rudolf Bindig
mir die Zusatzprotokolle zur Kinderrechtskonvention, die
Kindersoldaten und Menschenhandel betreffen, sowie die
Rücknahme des Vorbehaltes zu Art. 22 dieser Konvention.
Die wachsende Vernetzung der Welt in einem interna-
tionalen Normensystem ist eine Chance, für die es sich
einzusetzen lohnt. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten.
In keinem Fall dürfen wir zulassen, dass Völkerrechtsver-
träge reines Papierwerk bleiben. Es kommt auf die Um-
setzung an.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen weist in
seinem Bericht zur Verhütung bewaffneter Konflikte im-
mer wieder darauf hin, dass neben den Vereinten Nationen
vor allem die nationalen Regierungen selbst die Hauptver-
antwortung für die Konfliktprävention tragen müssen,
und zwar sowohl im Inneren ihrer Staaten als auch in an-
deren Staaten. Hierfür müssten sie Kapazitäten aufbauen.
Es ist deshalb richtig und wichtig, dass die Bundesre-
gierung beschlossen hat, das Zentrum für Internationale
Friedenseinsätze zu einer vollwertigen Entsendeorganisa-
tion auszubauen. Auch der weitere Ausbau des erfolgreich
gestarteten Zivilen Friedensdienstes und des im Jahre 2000
gegründeten Förderungsprogramms zur Krisenprävention
in Konfliktregionen ist ein wichtiger Baustein präventiver
Menschenrechtspolitik.
Unser Antrag „Menschenrechte als Leitlinie der deut-
schen Politik“ enthält neben menschenrechtlichen Aspekten
der internationalen Politik auch viele Bezüge zu anderen Po-
litikfeldern – zur Wirtschaftspolitik, zur Entwicklungszu-
sammenarbeit, zur Innen- und Justizpolitik sowie zu einer
zielgruppenorientierten Menschenrechtspolitik. Auch wenn
es im politischen Betrieb manchmal unbequem ist: Men-
schenrechtspolitik ist eben eine Querschnittsaufgabe und
mischt sich in unterschiedlichen Bereichen ein.
Bei allem Sinn für das politisch Machbare wollen wir
uns in dieser Legislaturperiode einem breiten Spektrum
von Aufgaben widmen, um die Menschenrechte in ande-
ren Ländern, aber auch bei uns im Innern voranzubringen.
Eine aktive Menschenrechtspolitik nach Innen bleibt
nämlich ein gutes Fundament für glaubwürdige auslands-
bezogene Initiativen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Rainer Eppelmann, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Geschätzter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Auch wir finden es – gerade angesichts der zeit-
lichen Nähe zum Tag der Menschenrechte – gut, dass im
Rahmen der Haushaltsberatungen erstmals eine Men-
schenrechtsdebatte möglich ist. Das zeigt, dass die Men-
schenrechtspolitik bei uns eigentlich mitten in der Politik
steht. Dafür ein Dankeschön uns allen.
Dennoch besteht kein Anlass zur Selbstzufriedenheit.
Gerade in der Menschenrechtspolitik ist Glaubwürdig-
keit entscheidend. Ich gebe ehrlich zu: Mich beschleicht
immer wieder der Verdacht, dass das Thema Menschen-
rechte bei uns immer dann in die zweite Reihe gestellt
wird, sobald sich lukrative oder attraktive wirtschaftliche
Projekte abzeichnen oder sobald es übergeordnete politi-
sche Interessen gibt. Um an dieser Stelle nicht falsch ver-
standen zu werden, ist es mir wichtig, ausdrücklich zu sa-
gen: Das geht nicht in Richtung einer Partei, sondern aller
Parteien.
Nur ein Beispiel – es gäbe so manche Beispiele –: Kri-
tik an der katastrophalen Situation der Menschenrechte in
der Volksrepublik China wird nur in wohlfeilen Worten
geäußert. Der viel beschworene Rechtsstaatsdialog als
solcher hat nach meiner Kenntnis noch keine richtigen
Früchte getragen. Hier ist endlich Klartext geboten. Im-
merhin hat Amnesty International für das Jahr 2001 min-
destens 4 015 Todesurteile und 2 468 Hinrichtungen fest-
gestellt. Die Administrativhaft, das heißt Inhaftierung bis
zu drei Jahren ohne Gerichtsverfahren, wird beispiels-
weise im 6. Menschenrechtsbericht der Bundesrepublik
nicht einmal erwähnt.
An politischer Glaubwürdigkeit mangelt es auch im
Fall des Bürgerkriegs in Tschetschenien. An demselben
Tag, an dem der Ausschuss für Menschenrechte und hu-
manitäre Hilfe festgestellt hat, dass Abschiebungen von
Tschetschenen nach Russland aufgrund der dortigen Si-
tuation nicht möglich und verantwortbar sind, machte der
Bundeskanzler dem russischen Präsidenten Komplimente
für dessen Tschetschenienpolitik.
Die nach den Worten des Kanzlers guten Ansätze in der
russischen Tschetschenienpolitik kommentierte Oleg
Orlow von der russischen Menschenrechtsorganisation
Memorial mit den Worten – ich zitiere –:
Entweder ist Schröder ein Zyniker oder er zeichnet
sich durch Inkompetenz aus.
Selbstverständlich hat die Russische Föderation das
Recht, Terrorismus mit rechtsstaatlichen Mitteln zu
bekämpfen, und auch einen Anspruch auf unsere Solida-
rität nach der verbrecherischen Geiselnahme Ende Okto-
ber. Dennoch muss meiner Meinung nach alles vermieden
werden, was von Russland nur allzu gern als Blan-
koscheck für das militärische Vorgehen in der Kaukasus-
republik verstanden wird.
Noch immer gehören zum russischen Vorgehen in
Tschetschenien – es ist vorhin schon erwähnt worden –
942
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 943
Morde, Folter, Erpressung, Vergewaltigung und eine
plündernde Soldateska. Dies ist völlig unakzeptabel und
verlangt unser aller klaren Widerspruch;
denn der Weg von der Leisetreterei zur Komplizenschaft
ist nicht weit.
Erst am vergangenen Wochenende wurde die Leiterin ei-
ner örtlichen Verwaltung, die Menschenrechtsverletzun-
gen durch russische Streitkräfte kritisiert hatte, in ihrem
Haus überfallen und erschossen. Schon lange ist bekannt,
dass maskierte Sondereinsatztruppen nachts in Häuser
eindringen und Männer, Frauen und Kinder verprügeln.
Junge Männer werden verschleppt und kurze Zeit später
mit Foltermalen tot aufgefunden.
Damit mich keiner falsch versteht: Auch die tschet-
schenischen Rebellen sind für schwere Menschen-
rechtsverletzungen verantwortlich. Eine Talibanisierung
Tschetscheniens, für die es bereits nach dem ersten Tschet-
schenienkrieg zahlreiche Anzeichen gab, dient aber nicht
der Freiheit und der Selbstbestimmung des tschetscheni-
schen Volkes. Islamische Terroristen können keine poli-
tischen Partner sein. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob
angesichts der derzeitigen Zuspitzung des Konfliktes eine
politische Lösung ohne internationale Hilfe überhaupt
möglich ist. Auch Deutschland, Herr Außenminister,
sollte Russland sehr dazu drängen, Hilfe vonseiten des
Europarates, der OSZE und der Vereinten Nationen zu ak-
zeptieren.
Der Antrag der FDP beschreibt die Lage in dem Bür-
gerkriegsgebiet sehr anschaulich. Der Antrag, der heute
an die Ausschüsse überwiesen wird, findet daher unsere
volle Unterstützung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, seit Jahren verfol-
gen wir die Situation bei den Menschenrechten in Kuba
mit großer Besorgnis. Grundlegende Bürger- und Men-
schenrechte wie Versammlungs-, Meinungs- und Presse-
freiheit werden durch das Regime Fidel Castros massiv
unterdrückt. In den kubanischen Gefängnissen herrschen
katastrophale Zustände. Vor allem politische Gefangene
haben unter diesen Verhältnissen sehr zu leiden. Dem
blinden Bürgerrechtler Juan Carlos Gonzalez Leyva, Prä-
sident der kubanischen Menschenrechtsstiftung, droht
eine mehrjährige Haftstrafe. Anderen Berichten zufolge
soll er über das beantragte Strafmaß der Staatsanwalt-
schaft hinaus bereits zu neun Jahren Haft verurteilt wor-
den sein. Im Gefängnis wurde er von einem Beamten der
Staatssicherheit mit dem Tode bedroht.
Einem anderen politischen Gefangenen, Leonardo
Bruzon Avila, Vorsitzender der Bewegung 24. Februar,
geht es nach einem inzwischen zweimonatigen Hunger-
streik im Gefängnis äußerst schlecht. Es kursierten sogar
Gerüchte, er sei an den Folgen inzwischen gestorben. Er
beteiligte sich an dem Hungerstreik, um gegen seine an-
dauernde Verhaftung ohne Gerichtsverfahren zu protes-
tieren.
Doch vor den Unterdrückungsmaßnahmen des Re-
gimes werden im Ausland, leider auch immer wieder bei
uns, die Augen vielfach verschlossen. Ich verstehe das
nicht. Das intellektuelle Verhätscheln des Maximo Lider
hat offensichtlich Vorrang.
Heute hat meine Fraktion auch einen Antrag zur Tür-
kei eingebracht. Einiges ist dazu bereits gesagt worden.
Ich möchte jedoch vor allem noch anfügen, dass die Ein-
haltung der Menschen- und Minderheitenrechte in der
Türkei auch weiterhin eingefordert werden muss. Der
neue türkische Ministerpräsident Gül hat Mitte November
angekündigt, Ankara werde die Europäer in nächster Zeit
mit mutigen Reformschritten schocken. Einen solchen
Schock, vermute ich, erleiden wir gerne, wenn darunter
zum Beispiel folgende Sachverhalte fallen: dass die Tür-
kei das Zusatzprotokoll Nr. 6 der Europäischen Konven-
tion zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
über die Abschaffung der Todesstrafe unterschreibt; dass
die türkische Regierung dafür sorgt, dass christliche und
andere religiöse Minderheiten nicht länger diskriminiert
und schikaniert werden, was einschließt, dass ihnen ihr
Eigentum zurückgegeben wird; dass Ankara der Verleum-
dungskampagne gegen die deutschen politischen Stiftun-
gen, die seit August 2001 anhält, Einhalt gebietet und das
Verfahren des Staatssicherheitsgerichtes eingestellt wird.
Die Vorwürfe der Spionage und Geheimbündelei sowie
der Untergrabung des türkischen Nationalstaates gegen
die Vertreter der Stiftungen sind absurd und entbehren
jeglicher Grundlage.
Aus Veranstaltungen zu kurdischen Minderheitenrechten
den Vorwurf separatistischer Umtriebe zu konstruieren ist
grotesk. Die Anklage enthält keine Beweise. Die türkische
Regierung ist aufgerufen, die Ankündigung Erdogans von
der Nulltoleranz gegenüber Folter tatsächlich auch umzu-
setzen und das Problem der Straflosigkeit zu beseitigen.
Wir hätten uns sehr viel eindeutigere Bekenntnisse zur
Menschenrechtspolitik der neuen Bundesregierung ge-
wünscht. Die Aussagen des Koalitionsvertrages geben je-
denfalls in dieser Hinsicht außer einigen Allgemeinplät-
zen wenig her.
Wer sein politisches Programm so defensiv beschreibt,
von dem ist eigentlich kein prägnantes Handeln zu erwar-
ten. Die Forderung, den Europäischen Gerichtshof zu
Rainer Eppelmann
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Rainer Eppelmann
stärken und hierfür laut dem heute eingebrachten Antrag
der Koalitionsfraktionen „Menschenrechte als Leitlinie
der deutschen Politik“ die Finanzmittel zu erhöhen, deckt
sich keineswegs mit dem Haushaltsplan,
in dem der freiwillige Beitrag im Rahmen des Pflichtbei-
trages eben nicht erhöht, sondern auf dem Stand der
Jahre 2001 und 2002 belassen wird.
Als Zielsetzung zu formulieren – ich zitiere –, ein „be-
sonderes Augenmerk auf die Durchsetzung von Frauen-
rechten“ zu legen, ist ebenso vage wie die Ankündigung,
auf die „ausstehende Ratifizierung von menschenrecht-
lich relevanten Konventionen und Zusatzprotokollen so-
wie die Rücknahme von Vorbehalten in diesem Bereich
hinzuwirken“.
Herr Kollege – –
Einen Augenblick! Diese allgemeinen Aussagen be-
dürfen einer Präzisierung. Aus dem heute eingebrachten
Antrag der Koalitionsfraktionen ist dies meiner Meinung
nach noch nicht hinreichend ersichtlich.
Herr Kollege Eppelmann, würden Sie nach Ihrer abge-
laufenen Redezeit eine Zwischenfrage des Kollegen
Bindig zulassen wollen?
Er ist so nett, dass ich gar nicht Nein sagen kann.
Herr Kollege Eppelmann, ist Ihnen bekannt, dass zur
Finanzierung des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte auf Initiative von Deutschland mit allen Län-
dern gerade vereinbart worden ist, die Mittel in den nächs-
ten drei Jahren in einem gestuften Verfahren zu erhöhen,
und dass das, was Sie eben kritisiert haben, im Gegenteil
schon umgesetzt ist?
Sollte dies Wirklichkeit werden, dann bin ich richtig
erfreut. Sie haben meine Zweifel aber hoffentlich gehört.
Dass die Redner nach Überschreitung ihrer Redezeit
freiwillig das Mikrofon räumen, nimmt das Präsidium mit
besonderer Dankbarkeit zur Kenntnis.
Nun hat als letzte Rednerin in der Aussprache zum Ein-
zelplan des Auswärtigen Amtes die Kollegin Angelika
Graf, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Kollege Rudolf Bindig hat, wie ich meine, die In-
tentionen des Antrags „Menschenrechte als Leitlinie der
deutschen Politik“ sehr gut vorgestellt. Ich möchte mich
mit einem Teilaspekt dieses Antrags befassen und von den
Opfern von Menschenrechtsverletzungen sprechen.
Wir finden sie insbesondere bei den gesellschaftlich
Schwachen, die überall auf dieser Welt oft durch die Ma-
schen der sozialen Netze fallen. Es sind Behinderte, alte
Menschen, Kinder, Jugendliche und meistens auch
Frauen. In den letzten drei Tagen hat im Haus der Gesell-
schaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, in Berlin
eine sehr interessante internationale Konferenz mit dem
Titel stattgefunden: „Gewalt gegen Frauen und Mädchen
beenden – Menschenrechte stärken“. An ihr nahmen
178 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus einer Unzahl
von Ländern – genauer gesagt: 38 – teil. Sie kamen auch
aus den Niederlanden, dem Jemen, Jordanien und Kirgi-
sien. Diese Reihe ließe sich noch lange fortsetzen.
Was verdeutlicht uns das? Die Menschenrechtsver-
letzungen an Frauen sind ein weltweites Problem. Man
findet sie in vielfältigen Formen in jedem Land, in jeder
kulturellen Umgebung, bei Arm und Reich, bei Analpha-
beten und bei Hochgebildeten. Sie sind leider ein Quer-
schnittsthema, welches in viele politische Themenberei-
che hineinreicht. Die Misshandlung von Frauen und ihre
systematische Vergewaltigung wird oft als Kriegsmittel
eingesetzt. Man geht davon aus, dass 80 Prozent aller
Flüchtlinge weltweit Frauen sind. Zwischen 20 und
50 Prozent aller Frauen sind Opfer häuslicher Gewalt.
Millionen von ihnen tragen ernste psychische und phy-
sische Schäden davon.
Darüber gibt es eine sehr interessante Untersuchung
der Inter-American Development Bank, die den daraus
entstehenden weltweiten sozioökonomischen Schaden zu
beziffern versucht. Ich meine, dass dies ein ganz be-
sonders interessanter Aspekt ist.
Besonders augenfällig wurden die schlimmen Men-
schenrechtsverletzungen an Frauen in der Diskussion
über Afghanistan im vergangenen Jahr. Ich freue mich,
dass die Bundesregierung auch weiterhin der wichtigen
Frage der Teilhabe der afghanischen Frauen in allen Be-
reichen des Lebens dadurch gerecht wird, dass seit einem
Jahr eine weibliche Diplomatin speziell für die Umset-
zung frauenpolitischer Belange nach Kabul entsandt wird.
Das ist auch dringend notwendig.
Ich habe am vergangenen Sonntag an der NGO-Be-
gleitkonferenz auf dem Petersberg teilgenommen. Dort
wurde allzu deutlich, dass die Afghaninnen eine starke
Lobby brauchen, um die Verankerung ihrer Rechte in der
neuen Verfassung zu gewährleisten. Frau Nickels hat das
944
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 945
auch schon angesprochen. Ich bin sicher, dass die Bun-
desregierung hierauf entsprechend Einfluss nehmen wird.
Afghanistan ist aber nur ein Punkt. Der Ausschuss für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe hat in den vergan-
genen vier Jahren viele Menschenrechtsverletzungen an
Frauen in den Blickwinkel der Öffentlichkeit gerückt.
Einige Schwerpunkte der Arbeit sind in dem Antrag bereits
angesprochen worden. Er ist insofern nicht so unkonkret,
wie Sie es dargestellt haben, Herr Kollege Eppelmann.
Dennoch möchte ich zwei dieser Schwerpunkte vertiefen.
Ich erinnere zum Beispiel an die Debatten, die wir in
den beiden vorigen Legislaturperioden zum Thema Geni-
talverstümmelung geführt haben. 130 Millionen Frauen
– interessanterweise aus nahezu allen Religionsgemein-
schaften – sind, vorwiegend in Afrika, davon betroffen.
Jährlich sind 2 Millionen Mädchen zwischen dem Klein-
kindalter und einem Alter von 20 bis 30 Jahren von der Ge-
nitalverstümmelung bedroht. Zum einen muss – das ge-
schieht auch relativ konkret – über den Haushalt des
Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit Hilfe
und Aufklärung geleistet werden. Zum anderen muss ge-
währleistet sein, dass eine Migrantin, die sich dagegen
wehrt oder ihre Tochter vor diesem Schicksal bewahren
und deshalb nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren will
und kann, bei uns Schutz findet.
Ebenfalls unseres Schutzes und unserer Hilfe bedürfen
Frauen, die von skrupellosen Menschenhändlern vorwie-
gend zum Zweck der sexuellen Ausbeutung verschleppt
werden. Schätzungen sprechen von circa 500 000 Frauen
jährlich, die aus diesem Grund vorwiegend aus den ver-
armten und politisch instabilen Ländern des ehemaligen
Ostblocks nach Westeuropa verbracht werden. Mit dem
Grenzübertritt nehmen ihnen die Schlepper die Pässe ab
und machen sie damit rechtlos. In diesem Geschäft wird
in Europa mehr Geld verdient als im Drogenhandel.
La Strada, eine unter anderem in Polen tätige Hilfsor-
ganisation, berichtet, dass die jungen Frauen in Auktionen
regelrecht verkauft werden. Deutschland ist Ziel und
Transitland dieses Handels. Insbesondere vor dem Hin-
tergrund der Osterweiterung der EU ist es sehr be-
grüßenswert, dass die EU ein einheitliches Vorgehen der
EU-Länder gegenüber den Opfern und Tätern anstrebt.
Ich begrüße es – auch das sage ich an Herrn Eppelmann
gerichtet –, dass es mit finanzieller Unterstützung des Mi-
nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in
Deutschland seit einigen Jahren den bundesweiten Koor-
dinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an
Frauen im Migrationsprozess gibt, der die Legislative aus
Bund und Ländern, die Exekutive und die NGOs an einen
Tisch bringt, um wirksame Strategien gegen diese mo-
derne Form der Sklaverei zu entwickeln.
Der 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte.
Es ist schon mehrfach betont worden, dass wir uns sehr
darüber freuen, dass diese Debatte nicht wie früher ir-
gendwann in der Nacht stattfindet und dass wir die Mög-
lichkeit haben, im Verlauf der Diskussion über den Ein-
zelplan des Auswärtigen Amtes diese wichtigen Punkte
vorzutragen. Ich halte dies für sehr wichtig und richtig.
Denn wir machen damit deutlich, dass die Bundesregie-
rung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen den Men-
schenrechten einen politischen Schwerpunkt widmen.
Herr Außenminister Fischer hat dies bei der Vorstellung
des Einzelplans meiner Meinung nach sehr eindrucksvoll
unterstrichen.
Denn die beste Politik gegen Menschenrechtsverletzun-
gen ist die, die sozusagen präventiv darauf drängt, dass
wir in den Ländern, die unsere Partner sind oder es wer-
den wollen, in Bildung und Ausbildung, in freie Mei-
nungsäußerung und Teilhabe an politischen Entschei-
dungsfindungen investieren.
Wir müssen außerdem daran arbeiten – auch dies ist
nach meiner Meinung ein wichtiger Punkt –, dass nie-
mand, der Menschenrechtsverletzungen begeht, straffrei
ausgeht.
Bei all diesen Punkten erwarten wir Ihre Unterstüt-
zung, sehr verehrte Damen und Herren von der Opposi-
tion. Ich hoffe, dass wir uns darauf verlassen können.
Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Geschäfts-
bereich nicht vor.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/136 und 15/64 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Darf ich
Einverständnis dazu feststellen? – Das ist offensichtlich
der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Verteidigung. Ich erteile als Erstem
das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Peter
Struck.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Auf dem NATO-Gipfel in Prag sind folgende Linien
deutlich geworden: Deutschland stellt sich zusammen mit
seinen Verbündeten den neuen Herausforderungen für die
gemeinsame Sicherheit. Es handelt in Solidarität mit sei-
nen Partnern und wird seiner gewachsenen Verantwor-
tung gerecht. Deutschland ist gegenwärtig der zweit-
größte Truppensteller in internationalen Einsätzen. Es
liegt in unserem ureigenen nationalen Interesse – das hat
Angelika Graf
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundesminister Dr. Peter Struck
der Kanzler in Prag noch einmal unterstrichen –, dass sich
Deutschland an internationalen Einsätzen beteiligt; denn
nur im internationalen Zusammenwirken kann heutzutage
erfolgreich Risikovorsorge betrieben werden. Die NATO
muss sich anpassen und das hat sie auf dem Gipfel in Prag
auch getan. Das Gleiche gilt auch für die Bundeswehr.
Vorweg möchte ich noch ein Wort zu der Verwechs-
lung von Fuchs-Spürpanzern und Fuchs-Transport-
panzern in meinem Ministerium sagen. Ich kann die
Häme darüber teilweise nachvollziehen. Vielleicht würde
ich auch so handeln, wenn ich in der Opposition wäre. Ich
glaube es aber nicht; denn ich wäre zu anständig. Aber ich
möchte auch hier noch einmal deutlich erklären: Wenn
eine solche Panne in meinem Haus geschieht – sie hatte ja
entsprechende internationale Auswirkungen bzw. Diskus-
sionen zur Folge –, dann übernehme ich als zuständiger
Minister die Verantwortung dafür.
– Natürlich ist das meine Aufgabe. – Ich entscheide in ei-
nem solchen Fall, ob Konsequenzen zu ziehen sind. Ich
habe im jetzigen Fall entschieden, dass keine Konsequen-
zen zu ziehen sind. Ich kann nur sagen, dass mir dieser
Vorfall Leid tut. Damit ist die Sache für mich erledigt.
Man braucht nicht weiter auf den betroffenen Mitarbei-
tern herumzuhacken.
Die NATO hat sich, wie gesagt, angepasst und auch die
Bundeswehr muss sich anpassen. Dazu möchte ich Ihnen
ein paar Worte sagen. Nach Art. 87 a des Grundgesetzes
stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf. Eine Ge-
fährdung deutschen Staatsgebiets durch konventionelle
Streitkräfte gibt es derzeit nicht und wird es auch auf ab-
sehbare Zeit nicht geben. Die Verteidigung an den Gren-
zen unseres Landes ist daher zu einer unwahrscheinlichen
Option geworden. Wir müssen unsere Streitkräfte nicht
länger an der Annahme ausrichten, der Feind könne mor-
gen mit seinen Panzerarmeen an den Grenzen unseres
Landes stehen.
Der 11. September 2001 hat schlaglichtartig die verän-
derte Sicherheitslage deutlich gemacht. Die gewandelten
sicherheitspolitischen Realitäten erfordern Diskussion
und Antwort auf folgende Fragen: Wie sind angesichts ei-
ner grundlegend veränderten Sicherheitslage in Deutsch-
land und auf dem europäischen Kontinent die künftigen
Aufgaben der Bundeswehr zu gewichten? In welchem
Umfang muss sich die Bundeswehr noch strukturell und
materiell auf die Verteidigung gegen einen konventionel-
len Angriff auf deutsches Territorium vorbereiten? Wel-
ches sind also ihre künftigen und welches ihre wichtigsten
Aufgaben? Das sind Fragen, deren Beantwortung mögli-
cherweise weit reichende Konsequenzen hat. Wir sollten
sie nach einer seriösen und eingehenden sicherheitspoliti-
schen Diskussion sowohl im Parlament als auch in der Öf-
fentlichkeit beantworten.
Schon jetzt scheint aber klar zu sein: Das wahrschein-
lichste Einsatzspektrum muss angesichts begrenzter Res-
sourcen konsequenter als bisher Rolle und Ausstattung
der Bundeswehr bestimmen.
Die Realität der Einsätze der Bundeswehr muss sich in
Strukturen, Umfängen, Fähigkeiten und Ausrüstung der
Streitkräfte niederschlagen. Deshalb ist in der Koalitions-
vereinbarung festgehalten worden: Die Modernisierung
der Bundeswehr erfordert eine fortlaufende Anpassung
von Beschaffungsplanung, Ausstattung und Personalum-
fang an die sicherheitspolitische Entwicklung. In den ver-
teidigungspolitischen Richtlinien, die ich im Frühjahr
2003 erlassen werde, wird dies seinen Niederschlag fin-
den. Dies bedeutet – um dies gleich klarzustellen, meine
Damen und Herren – keine Aufgabe der Wehrpflicht.Die
Wehrpflicht ist und bleibt nach meiner Einschätzung für
Einsatzbereitschaft, Leistungsfähigkeit und Wirtschaft-
lichkeit der Bundeswehr ohne Alternative.
– Herr Koppelin, es gibt den einen oder anderen Sozial-
demokraten in dem einen oder anderen Landesverband,
der eine andere Auffassung zu dem, was ich hier vorge-
tragen habe, hat.
– Der hat aber genauso wie ich für die Beibehaltung der
Wehrpflicht plädiert.
In Parteien gibt es immer abweichende Meinungen. Es
sind ja demokratische Organisationen.
– Die Wehrpflicht bleibt. Die Frage der Ausgestaltung der
Wehrpflicht wird in die noch ausstehende Überprüfung
der Wehrverfassung eingehen.
Änderungen in den Strukturen und in der Beschaf-
fungs- und Ausrüstungsplanung sind jedoch bereits ab-
sehbar. Sie müssen noch stringenter an einem fähigkeits-
orientierten und alle Teilstreitkräfte übergreifenden
Gesamtansatz ausgerichtet werden. Ferner müssen sie
noch klarer die Erfordernisse multinationaler Einsätze
in einem breiten Spektrum von Operationen außerhalb
Deutschlands berücksichtigen. Die Bundeswehr braucht
die Fähigkeiten, die das sicherheitspolitische Umfeld zu
Beginn dieses Jahrhunderts erfordert. Nur wenn sie diese
Fähigkeiten – nämlich Führungsfähigkeit, Aufklärungs-
fähigkeit, Mobilität, Fähigkeit zum Durchhalten auch
über große Entfernungen, um nur einige zu nennen – wei-
ter verbessert, wird sie künftig schnell und wirksam zu-
sammen mit den Streitkräften anderer Nationen für die ge-
meinsame Sicherheit eingesetzt werden können.
Dabei sind wir auf einem guten Wege, meine Damen
und Herren. Vieles ist schon erreicht worden. Die Struk-
turen der Bundeswehr sind gestrafft. Die Führungsorga-
nisation ist für den Einsatz optimiert. An erster Stelle steht
hier die Erhöhung der Einsatzkräfte, und zwar zunächst
von 50 000 auf 65 000 Soldaten. Nur sie hat es möglich ge-
macht, dass heute rund 10 000 deutsche Soldaten den Frie-
den an vielen Stellen in der Welt sicherer machen können.
In den kommenden Jahren wird die Zahl der Einsatzkräfte
kontinuierlich auf circa 150000 Soldaten steigen.
Die Aufstellung der Streitkräftebasis, des Einsatzfüh-
rungskommandos, der Division Spezielle Operationen, der
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 947
Division Luftbewegliche Operationen, des Kommandos
Operative Führung Luftstreitkräfte und des Kommandos
Strategische Aufklärung sind Beispiele für die neue
Führungsstruktur der Bundeswehr. Die Umgliederung
der Truppe als Kernelement der Reform hat begonnen und
wird bis zum Jahre 2005/2006 weitgehend abgeschlossen
sein.
Der Haushaltsentwurf für das Jahr 2003, den wir heute
in erster Lesung beraten, geht für den Einzelplan 14 vor
diesem Hintergrund von vier Voraussetzungen aus.
Erstens. Das Primat der Konsolidierung der öffentli-
chen Haushalte gilt weiterhin uneingeschränkt. Jedes
Ressort leistet dazu seinen Beitrag, auch das Bundesmi-
nisterium der Verteidigung.
Zweitens. Die Reform der Bundeswehr wird konse-
quent fortgesetzt. Es gibt keine Reform der Reform. Wir
werden sie allerdings – dies ist wegen des gewandelten si-
cherheitspolitischen Umfelds erforderlich – weiterent-
wickeln. An dem Ziel, Aufgaben, Struktur, Ausrüstung und
Mittel in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, wird
natürlich weiter gearbeitet. Deshalb haben wir eine Über-
prüfung und Neupriorisierung der gesamten Beschaf-
fungs- und Ausrüstungplanung beschlossen, die unter
Berücksichtigung der neuen verteidigungspolitischen
Richtlinien erfolgen wird. Der bis zum Frühjahr 2003 zu
erarbeitende Bundeswehrplan 2004 wird diese Weichen-
stellungen bereits widerspiegeln.
Drittens. Die Anforderungen an die Bundeswehr durch
die internationalen Einsätze werden weiterhin hoch
sein. Die Realität der Bundeswehr sieht für jedermann er-
sichtlich so aus, dass wir durch die enorme Zunahme der
im Ausland eingesetzten Soldaten an materielle Grenzen
stoßen. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus
hat zusätzliche Aufgaben mit sich gebracht. Die Grenzen
der Belastbarkeit der Bundeswehr sind keine leere For-
mel, sondern Realität. Künftige Ausrichtung und materi-
elle Ausstattung der Bundeswehr müssen dies berück-
sichtigen.
Viertens. Wir werden wie bisher unseren Beitrag leis-
ten, damit sich NATO und Europäische Union in ihren
Fähigkeiten an die neuen Herausforderungen für unsere
Sicherheit anpassen können.
Allerdings gilt, was ich bereits vor dem Gipfel in Prag ge-
sagt habe.
– Immer mit der Ruhe, Herr Kollege.
Angesichts der eingeschränkten Finanzlage sollte nie-
mand unverantwortliche Luftschlösser versprechen. Es
geht um Bündelung, Konzentration, um intelligente Zu-
sammenarbeit und um vernünftige Arbeitsteilung. Meine
Damen und Herren, nicht jedes Land der NATO muss al-
les können.
Im Einzelnen heißt dies für den Einzelplan 14: Grund-
lage für die Planungen der Bundeswehr ist und bleibt die
mittelfristige Finanzplanung.Das Volumen beträgt 2003
wie für die folgenden Finanzjahre 2004 bis 2006 rund
24,4 Milliarden Euro. Dies schafft Planungssicherheit.
Für Operationen zur Terrorbekämpfung sowie für
sonstige Auslandseinsätze sind in dem gleichen Zeitraum
pro Jahr insgesamt 1,153 Milliarden Euro veranschlagt.
Der Bundesminister der Verteidigung trägt über den
Einzelplan 14 zur Konsolidierung des Bundeshaushal-
tes dadurch bei, dass wir im Haushaltsvollzug 2003 rund
100 Millionen Euro erwirtschaften werden.
Im Zusammenhang mit der geplanten Übernahme der
Führungsrolle bei ISAFwird die zur Finanzierung der in-
ternationalen Einsätze vorgesehene Verstärkungsmög-
lichkeit aus dem gesamten Bundeshaushalt in Höhe von
51 Millionen Euro in Anspruch genommen.
Wir setzen mit diesem Haushalt den Modernisierungs-
kurs fort. Ich habe hierzu in einem ersten Schritt einen Fi-
nanzstatus erarbeiten lassen. Durch den Generalinspek-
teur wurden mir erste Vorschläge für die Priorisierung von
militärischen Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben
vorgelegt.
Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln ist es mög-
lich, die laufenden Rüstungsvorhaben fortzusetzen und
alle eingegangenen vertraglichen Bindungen zu erfüllen.
Der Haushalt 2003 und die mittelfristige Finanzplanung
sichern den Einstieg in wichtige Vorhaben und deren Fi-
nanzierbarkeit.
Der Eurofighter 2000 wird grundsätzlich wie geplant
weiter verfolgt. Er wird selbstverständlich auch die erfor-
derliche Bewaffnung erhalten.
Die parlamentarische Beschaffungsentscheidung für
den Luft-Luft-Flugkörper kurzer Reichweite für das
System Eurofighter – „Iris-T“ genannt – ist für Frühjahr
2003 vorgesehen. Wir haben den Bedarf allerdings bereits
von 1 812 auf 1 250 Flugkörper reduziert.
Bei Meteor beabsichtigen wir gemeinsam mit fünf
weiteren Nationen möglichst noch 2002 eine endgültige
Entscheidung für einen deutschen Einstieg in die Ent-
wicklung. Wir streben aber angesichts einer veränderten
Bedrohungslage in Europa eine deutliche Reduzierung
der Stückzahl von ursprünglich 1 488 auf 600 Flugkörper
an. Dies reicht für die wahrscheinlichste Einsatzoption im
Rahmen von Krisenoperationen aus.
Für die dringend benötigte Fähigkeit zum strategischen
Lufttransport – auch für Evakuierungsoperationen – steht
der Kauf des Airbus A400M völlig außer Frage. In Ab-
stimmung mit unseren Partnern werden wir allerdings die
ursprüngliche deutsche Bestellmenge auf 60 Flugzeuge
absenken. Diese Absenkung ist verantwortbar, da es nach
meiner Auffassung nicht erforderlich ist, Flugzeuge für
mehrere zeitlich parallel laufende Operationen und den
gleichzeitigen Friedensflugbetrieb in bisher geplantem
Umfang bereitzuhalten.
Sie wissen, meine Damen und Herren, dass wir gegen-
wärtig in der NATO eine Interimslösung für strategische
Lufttransportkapazitäten bis zum Zulauf des A400M
– voraussichtlich im Jahre 2008 – prüfen.
Wir sind auf demWegeinerNationenübergreifenden Ini-
tiative bis zur ausreichenden Verfügbarkeit des A400M ei-
nen großen Schritt vorangekommen. Elf Länder haben sich
unserer, meiner Initiative angeschlossen. Wir verbessern die
Selbstschutzausrüstung der Transall, „Eloka“ genannt.
Bundesminister Dr. Peter Struck
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundesminister Dr. Peter Struck
Wir sichern den Einstieg in die Serienvorbereitung des Tor-
pedoDM2A4, eines Schwergewichtstorpedos für den Ein-
satz auf dem U-Boot Klasse 212A. Er erfüllt als einziger
Torpedo die militärischen Forderungen. Wir entwickeln
eine „Combat Search and Rescue“-Fähigkeit für den NH90.
Wir sichern die Beschaffung des neuen Schützenpanzers.
Die notwendigen Vorkehrungen dafür sind noch vor der
Bundestagswahl im Haushaltsausschuss getroffen worden.
Die Reduzierungen beim A400M und bei Meteor wer-
den nicht einfach umzusetzen sein. Sie sind aber, wie ich
ausgeführt habe, militärpolitisch zu verantworten und sie
sind finanzpolitisch notwendig.
Der Haushaltsentwurf 2003 ist eine wichtige Voraus-
setzung für die erfolgreiche Umsetzung und für die Fort-
entwicklung der Reform der Bundeswehr. Wir sollten in
diesem Zusammenhang nicht vergessen: Der Schlüssel
für eine zukunftsfähige Bundeswehr sind nicht Stückzah-
len und ist nicht in erster Linie mehr Geld; der Schlüssel
ist vielmehr mehr Zusammenarbeit mit unseren europä-
ischen und amerikanischen Partnern.
Was wir zum Beispiel mit unseren französischen Freun-
den anstreben, zeigt, wie es gehen muss und wie es gehen
kann: Wir unterstützen ein europäisches Lufttransport-
kommando auf der Grundlage der bestehenden Euro-
päischen Lufttransport-Koordinierungszelle. Wir erörtern
Möglichkeiten gemeinsamer Aus- und Fortbildung der
fliegenden Besatzungen, des technischen und des sonsti-
gen Personals für den A400M. Wir wollen die Deutsch-
Französische Brigade für Anfangsoperationen im Rah-
men europäischer Kriseneinsätze nutzen. Das sind nur
drei Beispiele, wie wir Kräfte und Mittel konzentrieren.
Zusammengefasst heißt das im Klartext: Wenn wir die
eingeleitete Reform weiterhin konsequent umsetzen und
weiterentwickeln und unsere Ressourcen in enger Zu-
sammenarbeit mit unseren Partnern intelligent investie-
ren, dann erreichen wir die beiden wesentlichen Ziele:
Erstens. Wir halten die Transformation der Bundes-
wehr weiterhin im Einklang mit der Transformation der
NATO und der sicherheits- und verteidigungspolitischen
Ausrichtung der Europäischen Union.
Zweitens. Wir halten die Bundeswehr leistungsfähig
und Deutschland damit außenpolitisch handlungsfähig.
Ich setze dabei auf die Unterstützung aller demokrati-
schen Parteien in diesem Parlament; denn die Bundes-
wehr ist und bleibt ein Parlamentsheer. Das heißt für mich
auch: Unsere Soldatinnen und Soldaten haben einen An-
spruch darauf, dass sie von diesem Hause die größtmög-
liche Unterstützung für die Erfüllung ihrer schwieriger
gewordenen Aufgaben erhalten.
Nun hat das Wort der Kollege Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nehme
die letzte Äußerung des Verteidigungsministers gern auf.
Er appellierte an die größtmögliche Unterstützung der
Bundeswehr. Ich möchte an die Situation vor der Bundes-
tagswahl erinnern. Herr Minister, ich gehe davon aus,
dass die Sozialdemokratisierung der Führung der Bun-
deswehr aufhört. Ich gehe davon aus, dass Appelle nach
dem Motto „Sozialdemokraten für Schröder“, das Aussu-
chen des Personals nach Parteizugehörigkeit und ande-
res ein Ende haben.
Wir sollten uns miteinander bemühen, gemeinsam Politik
zu machen.
Sie haben gesagt, die Bundeswehr müsse ihren Beitrag
zur Konsolidierung des Haushalts leisten. Sie haben dann
aufgezählt, was aus Ihrer Sicht zurzeit verteidigungspoli-
tisch zu finanzieren ist. Sie wollen morgen eine Presse-
konferenz geben, auf der Sie das vorstellen, wovon Sie
glauben, dass es sich die Bundeswehr leisten kann. Ich
hoffe, dass da nichts anderes, nicht mehr als hier gesagt
wird; sonst müsste ich das als Affront gegen das Parla-
ment betrachten, das dann wieder einmal nicht vollstän-
dig unterrichtet worden wäre.
Wenn man sich die finanzielle Situation der Bundes-
wehr anschaut, dann kann es eigentlich nicht überra-
schend sein, was Sie morgen sagen. Ich will das Chaos an
der Spitze der Bundeswehr in den letzten vier Jahren – es
war insbesondere mit einem Namen verbunden – gar nicht
ins Gedächtnis rufen. Ich möchte vielmehr einfach nur an
die Tatsache erinnern, dass man seit Jahren sagt: Der Ver-
teidigungsetat ist ein Not- oder Übergangsetat. Es fehlt an
allen Ecken und Enden, um das zu tun, was erforderlich
ist.
Herr Minister, in Ihrer heutigen Rede hat mir ein Hin-
weis darauf gefehlt, dass wir nach dem 11. September
– man kann es gar nicht oft genug zitieren – eine andere
Bedrohungslage haben. Wir nennen das asymmetrische
Bedrohung. Das bedingt eine asymmetrische Kampf-
führung. Das bedeutet natürlich, dass es in bestimmten
Fähigkeitsbereichen – personelle Struktur, Führungs-
fähigkeit, Transport und Logistik, Reaktionszeit, aber
auch Schutz der Heimat – Veränderungen in der Bundes-
wehr gibt. Das heißt, wir brauchen eine Reform der Re-
form aus dem Jahre 2001, die noch von Scharping in Gang
gesetzt worden ist, eine Reform, die die neuen Bedingun-
gen berücksichtigt.
Dass Sie schon im Jahr 2001 nicht in der Lage waren,
im Haushalt befindliche Rüstungsprojekte zeitgerecht zu
realisieren, macht deutlich, dass es noch schwerer wird,
neue Aufgaben zu übernehmen, wenn man nicht bereit ist,
bei den alten Aufgaben eindeutig zu sagen, welche weg-
fallen sollen.
Ein Trauerspiel ist in diesem Zusammenhang das
Thema A400M.Wenn über Verteidigungspolitik gespro-
chen wird, wird weniger über den mutigen, tapferen Ein-
948
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 949
satz der Soldaten, über ihre Motivation und Ähnliches ge-
sprochen, sondern über dieses oder jenes herausragende
Rüstungsprojekt. Wie war das beim A400M? Seit andert-
halb Jahren wird darüber diskutiert. Bevor der Etat nicht
rechtskräftig ist – das wird im Mai nächsten Jahres der
Fall sein –, können keine vertraglichen Bedingungen ge-
schaffen werden, die aber ausschlaggebend dafür sind, ob
1 Flugzeug, 40, 60 oder 73 Flugzeuge gekauft werden.
Das heißt, die ganze Hängepartie allein bei diesem Pro-
jekt hat sich dann über zwei Jahre hingezogen.
Auch bei anderen Projekten ist noch keine Entscheidung
gefallen. Wir bekommen heute von Ihnen einen Finanzsta-
tus vorgelegt, der im Grunde genommen Folgendes aussagt:
Wir haben bis einschließlich 2006 keinen Spielraum für ir-
gendein neues Projekt. Mittel dafür müssten an anderer
Stelle gestrichen werden, das heißt, wir müssten strecken,
kürzen oder bereits abgeschlossene Verträge ändern. Das
mag in manchen Fällen sinnvoll sein, insbesondere bei dem
einen oder anderen Projekt, das immer noch nicht abge-
schlossen wird. Was macht es eigentlich für einen Sinn, für
die Entwicklung von TornadosGeld auszugeben, wenn der
Eurofighter offensichtlich nicht in Gang kommt? Es wird
mehr Geld für die Entwicklung von Tornados als für die Fer-
tigstellung des Eurofighters ausgegeben.
Auch bei anderen Projekten muss man sich fragen, ob
eigentlich eine Kontrolle hinsichtlich der Realisierung der
Projekte stattfindet. Ich könnte als Beispiele die Drohne
Taifun und die Drohne KZO nennen, ich habe das
Thema A400M angesprochen, der Eurofighter flattert;
auch bei dem Unterstützungshubschrauber Tiger gibt
es offensichtlich Probleme bei der Fertigstellung. Aber es
sollen ständig neue Aufgaben angegangen werden.
Die Frage nach der neuen Struktur angesichts der ver-
änderten Sicherheitslage ist in Ihrer Rede meines Erach-
tens nur unzureichend beantwortet; das Gleiche gilt für die
Finanzierung der Reform.Der Gesamtetat, der heute auf
dem Papier 24,4 Milliarden Euro ausmacht, wird im Ver-
lauf der nächsten Jahre durch Gehaltssteigerungen, durch
die Inflationsrate, durch andere Anforderungen und vor al-
len Dingen durch eine neue globale Minderausgabe des Fi-
nanzministers reduziert werden. Im Haushalt steht eine
globale Minderausgabe von 1,5 Milliarden Euro. Davon
sind 200Millionen Euro – der Finanzminister mag das be-
streiten, aber in internen Papieren heißt das so – Kürzung
des Weihnachtsgelds – das betrifft auch die Berufssolda-
ten – und 1,3 Milliarden Euro weitere Kürzungen.
Das Finanzministerium hat vor, Ihnen eine weitere
Kürzung von 360 Millionen Euro aufzuerlegen. Diese
weitere Kürzung soll dadurch erbracht werden, dass die
Zahl der Wehrpflichtigen im nächsten Jahr um 30 000 re-
duziert wird. Da aber für das erste halbe Jahr inzwischen
alle einberufen sind, heißt das, sie müsste um 60 000
reduziert werden, um den Beitrag von 360Millionen Euro
zu erbringen. Das ist ganz eindeutig nicht zu schaffen.
Der Verteidigungsetat schrumpft dann unter 24 Milliar-
den Euro, und das offensichtlich auf nicht absehbare Zeit.
Nein, mit dem vorgelegten Regierungsentwurf und
dem, was zwischen den Zeilen steht, werden Sie Ihre Auf-
gaben nicht erledigen können.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der heute
immer wieder eine Rolle gespielt hat. Die Auftragslage,
die für die Bundeswehr von Bedeutung ist, spiegelt sich
bei den wehrtechnischen Betrieben wider. Wenn keine
Aufträge erteilt werden, haben sie keine Arbeit. Nun kom-
men viele von den Betrieben zu uns und sagen: Wenn ihr
wenigstens die Exportrichtlinien so harmonisieren wür-
det, dass wir den Franzosen, Engländern und anderen
Staaten innerhalb Europas gleichgestellt wären!
Das erinnert mich an das Thema Türkei, das wir heute
Morgen hier angesprochen haben. Die Grünen haben sich
ja wegen der Menschenrechte dagegen gewendet, dass
man den Leo II in die Türkei liefert.
Wenn Sie jetzt die Türkei in die EU aufnehmen, wird es
keine Gründe mehr geben, so etwas zu sagen. Sie verwei-
gern ja heute bereits die Lieferung von Nachtsichtgeräten
und Ersatzteilen für alles Mögliche, was bisher geliefert
worden ist. Überlegen Sie sich also, ob Ihre Position in
Bezug auf die Türkei wirklich in Ordnung ist.
Ich will als weiteren Punkt das Thema Privatisie-
rungserlöse ansprechen. Unter Scharping wurde unter
der Überschrift GEBB ein gewaltiger Popanz aufgebaut.
Das waren Luftblasen, Täuschungsmanöver.
Die Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und
Betrieb hat bisher nur Geld gekostet – 65 Milliarden DM
oder rund 35 Milliarden Euro –, ohne dass etwas daraus
geworden ist.
– Bisher ist daraus nichts geworden. Die GEBB hat bisher
nur Geld gekostet.
Was macht denn die Informationstechnologie
„Herkules“?Die liegt doch neben der Spur. Da haben Sie
Geld verbrannt. Bis heute ist nichts passiert. Für die In-
formationstechnik der Bundeswehr sind Notansätze er-
forderlich.
Was ist denn aus dem Bekleidungsmanagement ge-
worden? Was ist denn aus dem Liegenschaftsmanage-
ment geworden? Was ist denn aus den anderen Geschich-
ten geworden? Wenn man sich überlegt, dass diese
Instrumente nur eingesetzt worden sind, um zusätzliches
Geld für die Beschaffung hereinzuspielen, das heute fehlt,
dann muss man sich die Frage stellen: Wie soll die Bun-
deswehr mit dem Etat überhaupt zurechtkommen?
Herr Kollege.
Ich glaube, eine Kollegin hat eine dringende Frage.
Ja, die Frage ist wirklich dringend. – Herr Austermann,
Sie sagten, die GEBB habe bisher 35 Milliarden gekostet.
Würden Sie die Zahl bitte wiederholen?
Dietrich Austermann
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Ich habe mich versprochen – vielen Dank für den Hin-
weis –: 35 Millionen.
Bitte sehr. Nicht, dass Sie in Zukunft auch unseren
Haushalt so betrachten. Das würde wirklich fatale Folgen
haben. Herzlichen Dank.
Ich will Ihnen gern helfen, wenn Sie beim Haushalt
oder bei einzelnen Zahlen Probleme haben. Ich glaube,
Versprecher passieren jedem einmal.
Ich habe das Thema „Herkules“ erwähnt. Ich habe da-
rauf hingewiesen, dass das Vorhaben seit Jahren nicht vo-
rankommt und dass es deswegen auch an Einsparungen
fehlt.
Offensichtlich streben Sie an, sich im Bereich dieser
GmbHs außerhalb der Bundeswehr von tariflichen Rege-
lungen und von der Verpflichtung, Umsatzsteuer zu zah-
len, zu verabschieden. Würde man das auf andere Berei-
che übertragen oder würden andere das machen, würden
Sie es mit Recht als Skandal bezeichnen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass der fortgeschriebene
Haushalt natürlich künftig unter den Preissteigerungen
und unter den Tarifabschlüssen leiden wird, real also sinkt.
Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Die
Schließung von Fähigkeitslücken ist für eine Armee im
Einsatz eine elementare Bedingung. Mit realen Kürzun-
gen der Rüstungsinvestitionen nimmt man ihr aber die
hierfür notwendigen Mittel. Mit ständigen Übergangs-
haushalten nimmt man ihr schließlich die Luft zum Atmen.
Die Bundeswehr braucht einen Modernisierungsschub.
Aber dafür ist nach dem von uns erzwungenen Finanzsta-
tus kein Geld da. Bis 2006 kann kein neues Projekt ange-
schoben werden. Abgeschlossene Projekte müssen ge-
streckt und gekürzt werden.
Wir sehen mit großer Sorge, wie viele Projekte zurzeit
stottern.
Ich habe auf die globale Minderausgabe hingewiesen.
Dieser Verteidigungsetat widerspricht dem Grundsatz von
Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit. Heute bereits
bekannte Deckungslücken im kommenden Jahr sind ein
Risiko für die Zukunft. Wir stellen fest, dass der Sparkne-
bel hier genauso schädlich wirkt wie in anderen Berei-
chen, weil die Verteidigungsaufgabe sicher eine unserer
wichtigsten Aufgaben ist. Der Bundesminister der Finan-
zen manifestiert im Haushaltsentwurf ein Defizit, von
dem er weiß, dass er es derzeit nicht decken kann.
Meine Damen und Herren, der Haushalt in dieser Form
hat unsere Unterstützung nicht, wenn es nicht gelingt,
Ausnahmen und Einnahmen miteinander in Einklang zu
bringen.
Ich greife ein Zitat auf und hoffe, Herr Struck, Sie distan-
zieren sich nachher nicht auch wieder davon. Sie haben
gesagt: Der Verteidigungsminister, die Verteidigungsar-
mee braucht Geld, um ihren Auftrag zu erfüllen. Wenn
nicht, muss sie ihren Auftrag ändern. Ich sehe eine völlig
andere Notwendigkeit: Der Auftrag hat sich geändert und
dafür sind die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Wir
sind bereit, das dafür Erforderliche zu tun.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Alexander Bonde,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Austermann, ich
hatte – vermutlich aufgrund meines jugendlichen Idealis-
mus – von Ihnen einen konstruktiven Vorschlag zur Mo-
dernisierung der Bundeswehr erwartet. Stattdessen haben
Sie wieder die gleiche Leier von der Unterfinanzierung
präsentiert. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren ha-
ben Sie sich dieses Mal zwar nicht auf Milliarden festle-
gen lassen, aber unter dem Strich steht doch die Milli-
ardenforderung. Insofern kann man von Glück sagen,
dass Roland Koch heute nicht da ist; denn sonst wäre ratz-
fatz der nächste Untersuchungsausschuss fällig gewesen.
Bündnis 90/Die Grünen haben die gute Tradition, den
Einsatz militärischer Mittel sehr genau abzuwägen und kri-
tisch zu begleiten. Wir unterstützen den gemeinsamen Kurs
der Koalition und Minister Struck in der Verteidigungspo-
litik. Wenn die Opposition eine chronische Unterfinanzie-
rung und – das wurde in einzelnen Beiträgen geäußert – ei-
nen angehäuften Investitionsstau beklagt, dann stellen sich
einige Fragen: Welche dieser Investitionen sind wirklich
notwendig? Wer hat mit dem Anhäufen angefangen?
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, daran zu erinnern,
dass gerade im Laufe Ihrer Regierungszeit das Volumen
des Verteidigungshaushaltes kräftig gesenkt wurde.
Man muss das zwar nicht unbedingt schlimm finden, aber
Sie haben das ohne eine Änderung der Zielbeschreibung
und ohne ein tragfähiges Konzept gemacht.
An vielen Punkten reden wir nicht von einem Investi-
tionsstau, sondern von Fehlinvestitionen: Aus einer fal-
schen Orientierung an alten Bedrohungsbildern wurden
Investitionen abgeleitet, die haushaltspolitisch in die
falsche Richtung gingen.
Kommen wir zu etwas Erfreulicherem. Die Bundes-
wehr leistet bei ihren Einsätzen in unserem Auftrag her-
vorragende und wichtige Arbeit. Ich möchte den Solda-
tinnen und Soldaten an dieser Stelle ausdrücklich danken.
950
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 951
Die im Einzelplan 14 vorgesehene Finanzierung bietet
eine ausreichende Grundlage für die weitere Reform und
Modernisierung der Streitkräfte. Auch bei der Finanzierung
der Bundeswehr darf man die derzeitig schwierige wirt-
schaftliche Situation und die Haushaltslage nicht außer
Acht lassen. Wer vorhat, der Bundeswehr mehr Geld zu ge-
ben – Herr Austermann, de facto haben Sie das gefordert –,
muss auch sagen, woher er es nimmt und mit welchem Ziel
diese Mittel eingesetzt werden sollen. Mit Spannung war-
ten wir auch an dieser Stelle auf einen Finanzierungsvor-
schlag der Opposition. Während der letzten Tage wurden
zwar viele Forderungen gestellt, aber sehr wenige Vor-
schläge gemacht, wo das Geld herkommen soll.
Wenn man sich anschaut, wie wackelig die Opposition
an bestimmten Stellen steht, dann ist das schon sehr inte-
ressant. Ich nenne ein Beispiel: Die „FAZ“ berichtet in ei-
nem Artikel vom 26. November 2002 von der Überprü-
fung der Rüstungsprojekte im Verteidigungsministerium.
Der verteidigungspolitische Sprecher, Kollege Schmidt,
CSU, erklärt, durch diese Überlegungen sei „das sicher-
heits- und verteidigungspolitische Ansehen beschädigt“.
Der Kollege Austermann, haushaltspolitischer Sprecher,
CDU, fordert im gleichen Artikel zwei Zeilen später das
Gegenteil und hält die Überprüfung für „überfällig“. Ich
frage mich: Wo ist Roland Koch, wenn man ihn braucht?
Herr Koch, übernehmen Sie! Das ist wieder ein klas-
sischer Fall für einen Untersuchungsausschuss.
– Da bin ich aber gespannt.
Im Gegensatz zur Opposition haben Minister Struck
und Generalinspekteur Schneiderhan Vorschläge erarbei-
tet, wie man die Bundeswehr mit den bestehenden Mitteln
an die modernen Herausforderungen anpassen kann. Für
diese Vorschläge sind wir sehr dankbar. Im Gegensatz zu
Ihnen haben die Streitkräfte erkannt, dass die Struktur
nicht an einem Wunschzettel, sondern an der realen Si-
cherheitslage und den realen Möglichkeiten ausgerichtet
werden muss.
Eine weitere Anpassung an die gegebene Situation
wird es auch geben, wenn im Frühjahr des nächsten Jah-
res die verteidigungspolitischen Richtlinien neu fest-
gelegt werden. Die Bundeswehr hat ihre Strukturen und
Anschaffungen aufgrund alter verteidigungspolitischer
Richtlinien überprüft. Jetzt ist die Politik an der Reihe.
Die rot-grüne Koalition wird sich dieser Aufgabe verant-
wortungsbewusst und konstruktiv stellen.
Die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien müs-
sen den Spielraum schaffen, um die Anforderungen an
eine moderne Bundeswehr kritisch überprüfen zu können.
So gewinnen wir Spielraum für eine sinnvolle Moderni-
sierung. Mit den freigesetzten Mitteln kann, bei gleich
bleibendem Etat, der Investitionsanteil erhöht und die
Modernisierung beschleunigt werden.
Als dringendste Herausforderung besteht heute nicht
mehr das Szenario der Bündnisverteidigung. Wir sind uns
doch alle einig, dass ein klassischer Angriff auf NATO-
Gebiet im nächsten Jahrzehnt nicht zu befürchten ist. Von
der reinen Landesverteidigung will ich hier gar nicht mehr
reden. Es stellt sich doch vielmehr die Frage, wie wir ef-
fizient gemeinsam mit unseren europäischen und trans-
atlantischen Verbündeten, allen voran den Amerikanern,
den Bedrohungen unserer Sicherheit begegnen können.
Die Antwort darauf kann nicht einfach heißen: mehr Geld
rein und die moderne Armee auf unsere Struktur oben-
drauf. Aber genau das ist es, was viele Diskussionen der
Opposition prägt. Für so ein Modell hätte aber auch
Stoiber Kanzler werden können und hätte es nicht hinbe-
kommen – da hätten Sie den Weihnachtsmann persönlich
zum Regierungschef machen müssen.
Die Antwort auf diese Frage lautet: internationale Auf-
gabenteilung und Kooperation. Wir benötigen eine klei-
nere, spezialisierte und technisch überlegene Armee. Die
strukturellen Reste des Kalten Krieges mit Panzerarmeen
und starken Reserveverbänden entsprechen nicht mehr
der heutigen Bedrohungslage. Übergroße Aufwuchsfä-
higkeiten sind nicht mehr zeitgemäß, sie blockieren Per-
sonal und Geld.
Die Bundeswehr muss nicht mehr und soll nicht mehr
alles alleine bewältigen können. Einsätze der Bundeswehr
ohne unsere europäischen Partner und ohne unsere trans-
atlantischen Partner sind heute undenkbar. Diese Idee
konsequent zu denken heißt, die europäischen integrierten
Fähigkeiten in der NATO und in der EU zu stärken. Wir
halten eine Spezialisierung der deutschen Verteidigungs-
kapazitäten für sinnvoll. Gerade die von der Regierung
gewählten Bereiche Lufttransport, Führungskapazität und
Aufklärung sind eine sinnvolle Gewichtung.
Die Bundeswehr wurde in den letzten Jahren oft re-
formiert. Entscheidend ist aber nicht die Anzahl der Re-
formen, sondern ob die Struktur den Bedürfnissen ent-
spricht. Wir Grünen sind gegen die Wehrpflicht und für
eine Freiwilligenarmee.
Auch bei unserem Koalitionspartner mehren sich die
Stimmen, die diese Auffassung teilen.
– SPD-Politiker aus dem Saarland und auch aus anderen
Bundesländern. – Deswegen haben wir im Koalitionsver-
trag auch vereinbart, die Frage der Wehrpflicht auf Grund-
lage der Ergebnisse der Weizsäcker-Kommission zu über-
prüfen. Eine moderne Armee gewinnt ihre Schlagkraft
durch gut ausgebildete militärische Spezialisten und tech-
nische Stärke, nicht durch zahlenmäßige Überlegenheit.
Wir Grünen sehen dabei für Wehrpflichtige keine Auf-
gabe mehr in einer zukünftigen Bundeswehr, schon gar
nicht im bisherigen Umfang.
Alexander Bonde
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Alexander Bonde
Die neuen Anforderungen zeigen sich zurzeit bei unse-
ren internationalen Einsätzen. Die Bundeswehr leistet ei-
nen wichtigen Auftrag bei der Terrorbekämpfung und
beim Nation Building. Das erfordert eine andere Armee
und eine andere Ausbildung als die klassische Landesver-
teidigung.
Selbstverständlich sind den Soldaten Grenzen gesetzt.
Sie können keine Polizei, keine Justiz und keine Diplo-
matie ersetzen. Deswegen orientiert sich die rot-grüne
Außenpolitik auch an dem Prinzip der Gewaltvermeidung
und dem Krisenmanagement mit zivilen Mitteln.
Wir sind auf einem guten Weg und wir stellen uns den
beschriebenen Herausforderungen. Unser Verteidigungs-
minister und wir unterstützen die Bundeswehr auch in
Zukunft. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten ihre Ar-
beit professionell, deeskalierend, konstruktiv und mit ho-
hem Verantwortungsbewusstsein. Verehrte Kolleginnen
und Kollegen von der Opposition: professionell, deeska-
lierend, konstruktiv und mit hohem Verantwortungs-
bewusstsein – daran können Sie sich nach der heutigen
Debatte ruhig ein Beispiel nehmen!
Vielen Dank.
Herr Kollege Bonde, ich darf Ihnen herzlich zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren, insbe-
sondere auch zu der Treffergenauigkeit, was die Einhal-
tung der Redezeit betrifft.
Nun hat das Wort der Kollege Jürgen Koppelin, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
vorgelegte Verteidigungsetat ist – ich kann es nicht anders
beschreiben – ein einziges Armutszeugnis,
weil die Bundeswehr – davon ist schon gesprochen wor-
den –, die unsere Anerkennung für ihren schweren Einsatz
und Dienst verdient, nicht das bekommt, was sie für ihre
Aufgaben braucht.
Die Bundeswehr leidet unter der rot-grünen Bundesre-
gierung. Diese Bundesregierung will auf der einen Seite
außenpolitisch in der ersten Reihe sitzen, ist aber nicht be-
reit, der Bundeswehr die Mittel zu geben, die ihr zur Ver-
fügung gestellt werden müssten.
Herr Bundesverteidigungsminister, so einsam, wie Sie
jetzt auf der Regierungsbank sitzen, so einsam sitzen Sie
anscheinend auch im Kabinett; das ist jedenfalls mein
Eindruck.
Die Bundeswehr und ihre Angehörigen leiden darun-
ter, dass die rot-grüne Bundesregierung das politische
Verhältnis zum größten NATO-Partner, den USA, in einer
Weise belastet hat, wie es noch nie in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland vorgekommen ist.
Noch vor vier Jahren schrieb die Koalition in ihre Ko-
alitionsvereinbarung wörtlich:
Die USA sind der wichtigste außereuropäische Part-
ner Deutschlands. Die enge und freundschaftliche
Beziehung zu den USA beruht auf gemeinsamen
Werten und gemeinsamen Interessen.
Das ist richtig und so in Ordnung. Nur, dann frage ich
mich: Warum handeln Sie nicht danach?
Mein Fraktionsvorsitzender Wolfgang Gerhardt hat in
der heutigen Debatte schon einmal die Ministerin
Wieczorek-Zeul zitiert. Ich will noch etwas hinzufügen:
Was, glauben Sie, halten deutsche Soldaten, die mit Ame-
rikanern zusammen im Ausland sind, davon, dass Frau
Wieczorek-Zeul in einem Fernsehinterview erklärt, die
USA-Regierung öffne die Büchse der Pandora. – Falls Sie
nicht wissen, was es mit der Büchse der Pandora auf sich
hat, will ich es Ihnen erklären. Pandora ist eine Frau in der
griechischen Mythologie, die alles Unheil dieser Welt in
einem Gefäß trägt, um es auf Anweisung von Zeus aufzu-
machen.
Ich sehe, dass nun gar kein Minister mehr auf der Re-
gierungsbank sitzt.
– Sie sind als Abgeordneter da, Kollege Struck.
Ich kann nur sagen: Wer solche Äußerungen gegenüber
unseren amerikanischen Partnern macht, muss aus dem
Kabinett rausgeschmissen werden.
Das ist ein Niveau, das nicht dazu beiträgt, das deutsch-
amerikanische Verhältnis zu verbessern. Das ist ein Ni-
veau, das vielleicht gerade noch für den Vorsitzenden ei-
nes Ortsvereins irgendwo in Hessen-Süd reicht.
In der neuen Koalitionsvereinbarung heißt es nun, dass
sich die Bundeswehr im Wandel zu einer Armee im Ein-
satz befinde. – Das habe ich mit großem Interesse gelesen,
weil dem auch die Grünen zugestimmt haben. Es heißt wei-
ter – das ist natürlich auch richtig –: „Dafür sind moderne,
gut ausgerüstete und schnell verfügbare Einsatzkräfte er-
forderlich.“ Ich frage mich, warum Sie das nicht im Haus-
halt umsetzen, wenn Sie es in die Koalitionsvereinbarung
hineinschreiben. Warum machen Sie das nicht? Das haben
Sie uns, Herr Minister, bisher noch nicht vorgetragen.
Der Bundeswehr fehlt es an allen Ecken und Enden.
Die Liegenschaften sind in einem katastrophalen Zustand
952
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 953
und die Besoldung unserer Soldaten, vor allem in den un-
teren Dienstgraden, ist kaum noch zu verantworten. In
vielen Bereichen ist das Material älter als die Wehrpflich-
tigen. Wohin man in der Bundeswehr auch schaut, überall
herrscht Planwirtschaft über Planwirtschaft.
Das Heer soll nun weniger Kampfhubschrauber be-
kommen. Die Luftwaffe soll bei der Beschaffung des
Transporthelikopters NH 90 strecken und bei der Marine
sollen starke Abstriche gemacht werden usw.
Herr Minister, der Haushalt, den Sie uns heute vorle-
gen, ist zum ersten Mal Ihr Haushalt. Wir als FDP können
weder in der Koalitionsvereinbarung noch im Etat die
Handschrift des Verteidigungsministers Struck erkennen.
Wir erkennen einzig und allein die Handschrift des
Bundesfinanzministers Eichel. Sie, Herr Bundesverteidi-
gungsminister, sind nicht Gestalter, sondern im Auftrag
von Herrn Eichel Konkursverwalter des Etats.
Das Motto dieser Regierung lautet: mehr Einsätze der
Bundeswehr für weniger Geld. Der Kollege Austermann
hat das Transportflugzeug A400M bereits angespro-
chen. Ihr Vorgänger, Herr Minister Struck, hat in der De-
batte über das Transportflugzeug A400M am 24. Januar
dieses Jahres für die Koalitionsfraktionen erklärt, die Be-
schaffung von 73 Transportflugzeugen bewege sich eher
an der unteren Grenze des Erforderlichen.
Da Sie jetzt reduzieren, frage ich Sie: War die Aussage
von damals falsch oder richtig? Ist Ihre Aussage richtig?
Sie, Herr Bundesverteidigungsminister, erklären uns jetzt,
wahrscheinlich werden nur 60 Transportflugzeuge be-
schafft, Sie müssen reduzieren. Herr Minister, ich will Sie
nur der Ordnung halber darauf aufmerksam machen, dass
die Koalition – es waren nicht die Oppositionsparteien,
die waren schon rausgegangen – einen Antrag über die
Beschaffung von 73 Transportflugzeugen eingebracht
hat. Diesen Antrag – das ist die Drucksache 14/8024 vom
22. Januar 2002 – hat der Deutsche Bundestag mit den
Stimmen der Koalition beschlossen. Heben Sie diesen
Beschluss erst einmal auf!
Übrigens ist eines ganz interessant: Der Antrag trägt
die Unterschrift des Fraktionsvorsitzenden Dr. Peter
Struck.
Vielleicht lernt er noch dazu. Dass er noch etwas dazu-
lernen muss, ist nichts Schlimmes. Einen Lernerfolg hat
er ja schon gehabt. Inzwischen kann er einen Spürpanzer
Fuchs von einem Transportpanzer Fuchs unterscheiden.
Nur, Herr Minister – deswegen spreche ich das an; an-
sonsten finde ich es sympathisch, dass Sie sich vor Ihre
Leute stellen –, wir wüssten gern, wie Sie und die Bun-
desregierung zu den israelischen Anforderungen nach
Ausstattung mit einem Transportpanzer Fuchs stehen.
Ich weiß natürlich, dass das eine geheime Entscheidung
des Bundessicherheitsrates ist. Wenn aber der Vorsitzende
des Verteidigungsausschusses, der von mir sehr ge-
schätzte Kollege Robbe, sagt, das müsse man machen,
und die Grünen einstimmig im Chor sagen, das kommt
überhaupt nicht in Frage, dann haben wir eine öffentliche
Diskussion. Dann können Sie das nicht mehr in einem ge-
heimen Zirkel lassen. Dann müssen Sie uns einmal sagen,
wie die Bundesregierung dazu steht, wenn der eine hü und
der andere hott sagt.
Herr Bundesverteidigungsminister, Sie persönlich ha-
ben vor der Bundestagswahl wörtlich versprochen: Auf-
trag und Mittel der Bundeswehr werden in Einklang ge-
bracht.
Bitte denken Sie an die Redezeit, Herr Kollege.
Ja. – Wir von der FDP fordern Sie auf, dass Sie das un-
verzüglich in die Tat umsetzen. Wir wollen – das muss das
politische Ziel sein – eine Bundeswehr, die gut ausgerüs-
tet, gut ausgebildet und motiviert ist. In diesem Sinne wer-
den wir den Einzelplan 14 beraten.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Arnold,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Koppelin, gestatten Sie mir zu Beginn ein Wort zu dem
von Ihnen immer wieder neu aufgerollten Thema „Fuchs
für Israel“.
– Lassen Sie mich erst einmal einen Gedanken zu Ende
führen, bevor Sie dazwischengehen! – Wenn Sie es wirk-
lich gut meinen mit dem Sicherheitsbedürfnis unserer is-
raelischen Freunde, dann kritisieren Sie den Minister ein-
mal für ein Versäumnis, das es gegeben hat – das ist okay –,
aber hören Sie auf, die Frage von Rüstungskooperation
mit dem Staat Israel tage-, möglicherweise wochenlang
immer weiter in die Öffentlichkeit zu ziehen, am Köcheln
zu halten.
Dies wird die Möglichkeiten, die das zuständige Gre-
mium hat – nur dies ist zuständig und es tagt geheim –,
auch bei anderen Fragen nicht erweitern, sondern eher er-
schweren. Nehmen Sie einfach einmal zur Kenntnis, dass
in den letzten Jahren unter rot-grüner Verantwortung mit
den mehr als 70 Anfragen der israelischen Freunde sehr
verantwortungsbewusst umgegangen wurde. Sie kennen
die Zahlen im Rüstungsexportbericht. Lassen Sie uns bei
dieser Frage wenigstens zum notwendigen Fingerspitzen-
gefühl zurückkehren.
Jürgen Koppelin
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Nolting zu?
Ja, gern.
Herr Kollege Arnold, wie stehen Sie denn zu den
Äußerungen der Grünen, die eine Lieferung der „Füchse“
nach Israel grundsätzlich abgelehnt haben?
Es gab viele Äußerungen, nicht nur vom grünen Ko-
alitionspartner, sondern aus den unterschiedlichsten La-
gern mit den unterschiedlichsten Forderungen.
– Ich sage Ihnen, was ich generell zu diesen Äußerungen
zu sagen habe. – Sie alle sind – von wem auch immer sie
stammen, auch von den grünen Freunden und möglicher-
weise auch von unserer Bank; ich sage das ausdrücklich –
nicht unbedingt hilfreich. Ich nehme das Ziel, den Men-
schen in Israel in großer Not beizustehen, immer sehr
ernst. Deswegen möchte ich es einfach dabei bewenden
lassen. Tun Sie es bitte auch! Dann kommen wir da wie-
der voran.
Nun aber zu unserem heutigen Thema. Ich denke, der
vorgelegte Verteidigungsetat ist ein grundsolider – –
Ich entnehme den bilateralen spontanen Vereinbarun-
gen, dass die Zwischenfrage offenkundig zugelassen
wird. Damit, Herr Kollege Schäuble, haben Sie das Wort.
Herr Kollege Arnold, da Sie damit argumentieren, dass
es sich bei diesen Fragen generell um Entscheidungen
handelt, die von einem geheim tagenden Gremium, dem
Bundessicherheitsrat, getroffen werden, möchte ich Sie
gerne fragen, ob Sie diese Interpretation auch auf die
Äußerung des Bundeskanzlers beziehen, der ja sowohl in
der Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden als auch in
der anschließenden Pressekonferenz öffentlich gesagt hat,
er beabsichtige, dem Ersuchen Israels, was diese Fuchs-
panzer anbetrifft, zu entsprechen. Zwar hat er damals eine
andere Version der Fuchspanzer zugrunde gelegt. Aber
bei der prinzipiellen Frage, ob das nun geheimhaltungs-
bedürftig ist und nicht öffentlich diskutiert werden kann,
kann ja der Irrtum des Bundeskanzlers keine ausschlag-
gebende Rolle haben.
Wir beide wissen, dass diese Anfrage des israelischen
Heeres nicht unbedingt auf dem üblichen, korrekten di-
plomatischen Weg auf den richtigen Schreibtischen gelan-
det ist. Das ist nicht nur unsere Verantwortung, sondern
möglicherweise auch die Verantwortung derer, die Fragen
an die falsche Adresse schicken. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist: Der Bundeskanzler hätte es in der
Situation, in der er Ihnen zugesagt hat, Sie insgesamt über
vorliegende Anfragen zu informieren, aus Ihrer Sicht im-
mer nur falsch machen können. Hat er Sie und die Öf-
fentlichkeit informiert – das hat er getan –, kritisieren Sie
es jetzt. Hätte er nicht darüber informiert, würden Sie
heute sagen: Der Bundeskanzler hat uns wieder einmal
nur halb informiert. Er konnte also tun, was er wollte, bei
Ihrer Absicht, dies parteipolitisch zu instrumentalisieren,
finden Sie immer einen Ansatz, Kritik zu üben.
Ich bleibe dabei: Lassen Sie das bitte bei diesem Thema!
Um alles andere lassen Sie uns miteinander hart ringen und
streiten.
– seien Sie mir nicht böse, aber ich möchte etwas Rück-
sicht auf die Kollegen nehmen, die nach uns noch reden
möchten, und würde jetzt gern zu meinem eigentlichen
Thema, zum Bundeshaushalt, kommen. Ich nehme das
Thema nämlich ernst. Ich möchte das Thema „Lieferun-
gen an Israel“ nicht unnötigerweise weitere vier Wochen
in der öffentlichen Debatte halten und höre deshalb mit
dem heutigen Tag damit auf.
Der vorgelegte Verteidigungsetat ist ein grundsolider
Entwurf. Er zeigt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen
nachhaltig angelegter Haushaltskonsolidierung und ge-
staltender Politik auch im Einzelplan 14. Die Bundeswehr
bekommt das, was sie braucht. Die Menschen, die bei der
Bundeswehr arbeiten, können sich darauf verlassen: Sie
haben einen sicheren, einen attraktiven Arbeitsplatz. Es
ist nicht in Ordnung, wenn der Kollege Austermann heute
wieder versucht, ihnen einzureden, sie hätten mit großen
Risiken, Gefährdungen usw. zu rechnen. Nein, die Men-
schen können sich auf die Zusage der Arbeitsplatzsicher-
heit verlassen. Das ist etwas ganz Wichtiges.
Wir setzen mit dem Einzelplan 14 unseren finanzpoli-
tischen Weg konsequent fort. Das Gesamtziel bleibt die
Sanierung unserer Staatsfinanzen. Ich will gar nicht jam-
mern über die Erblast, über das, was Sie uns hinterlassen ha-
ben. Wir stehen dazu: Wir wollten Verantwortung in diesem
Land tragen; wir haben sie übertragen bekommen. Deshalb
sind es heute unsere Probleme und unsere Schulden.
Aber eines lassen wir trotzdem nicht zu: dass Sie auf
beiden Oppositionsbänken, die Sie uns die Kassen leer
geräumt und den Investitionsstau im Verteidigungsetat
954
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 955
verursacht haben, sich heute hier hinstellen und „Haltet
den Dieb!“ rufen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen;
das ist alles andere als seriös.
Der Verteidigungsetat wird seinen Beitrag zur Konsoli-
dierung leisten müssen. Denn wir wissen, ein Staat wird nur
handlungsfähig bleiben, wenn wir jetzt die notwendigen
Freiräume für Investitionen in der Zukunft schaffen. Eines
muss uns doch auch klar sein: Wir würden der Bundeswehr
keinen Gefallen tun, wenn wir jetzt diese Spielräume völlig
vervespern würden. Die Zuläufe an teurem, aufwändigem
Gerät wird es Ende des Jahrzehnts geben. Das, was wir jetzt
notwendigerweise an nicht immer einfachen Operationen
vornehmen, hat das Ziel, diese notwendigen Beschaffungen
in den nächsten zehn bis 15 Jahren überhaupt erst zu er-
möglichen. Das steckt hinter den strikten Sparkonzepten.
Unter Berücksichtigung des Antiterrorpakets beträgt
der Verteidigungsetat unverändert, also nicht gekürzt,
24,4 Milliarden Euro. Durch die Verstetigung bis zum
Jahr 2006 ist es möglich, die Bundeswehr an die neuen si-
cherheitspolitischen Herausforderungen anzupassen und
gleichzeitig – das ist das Schwierige an diesem Prozess –
die Streitkräfte zu modernisieren und zu reformieren.
Wir sind uns schon bewusst, dass der Plafond durchaus
knapp bemessen ist. Deshalb ist es ganz wichtig, dass zu-
sätzliche Flexibilisierungsinstrumente eingebaut wurden,
die es ermöglichen, auf unvorhergesehene Risiken und Er-
eignisse angemessen zu reagieren und gleichzeitig die Bun-
deswehr mit dem auszustatten, was sie braucht. So wurde
zum Beispiel für die internationalen Einsätze mit insge-
samt 1,3 Milliarden Euro Vorsorge getroffen. Mit diesem
Betrag ist es doch möglich – und das ist es schon in den letz-
ten Jahren gewesen –, das Schutzkonzept, das uns sehr am
Herzen liegt, für die Soldaten, zum Beispiel im Bereich des
Minenschutzes, zu verbessern. Die Soldaten haben moder-
nes Gerät erhalten. Der „Dingo“ steht als Beispiel für ein
mobiles, gut geschütztes Fahrzeug. Sie haben doch auf die-
sem Gebiet jahrelang gar nichts auf die Reihe bekommen.
Mit diesen 1,3 Milliarden Euro ist es möglich, die er-
schwerten Einsatzbedingungen unserer Einsatzkräfte in
Afghanistan zu mildern und sie zu schützen, indem wir ih-
nen bessere, feste Unterkünfte bauen. Ich denke, unsere
Soldatinnen und Soldaten wissen dies in Wirklichkeit
auch. Sie sind in allen Einsatzgebieten gut ausgerüstet.
Daran wird sich nichts ändern, auch wenn Sie – wie übri-
gens auch in anderen Politikfeldern – die materielle Aus-
stattung der Bundeswehr ständig schlecht reden.
Ich frage Sie: Nehmen Sie eigentlich nicht wahr, dass
die Soldaten selbst sagen, sie seien gut ausgestattet,
dass aber vor allen Dingen unsere internationalen Partner
allergrößten Respekt vor den Leistungen der deutschen
Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen haben?
Wie passt denn dies zusammen? Wenn das Gerät und die
Motivation so schlecht wären, wie Sie dauernd behaup-
ten, könnten sie doch nicht diese gute Leistung erbringen.
Dies passt alles nicht zusammen. Die Soldaten sind davon
überzeugt, dass ihre Aufgabe wichtig und sinnhaft ist.
Sie wissen auch, dass sie sich auf die Bereitstellung der
notwendigen Ausstattung und die gute Ausbildung ver-
lassen können.
Ich bin der Meinung, es ist ein wichtiges Steuerungs-
instrument, dass die Einsparungen, die in Zukunft auch
bei diesen internationalen Einsätzen ein Stück weit mög-
lich sein werden, dem Einzelplan 14 an anderer Stelle zu-
gute kommen. Eines ist doch klar: Die anfänglich hohen
Kosten für den Transport nach Afghanistan werden gerin-
ger. In Mazedonien – wir haben den Antrag vorliegen und
werden ihn beschließen – wird das Personal reduziert.
Auch dort werden Mittel frei. Die Marineeinheiten am
Horn von Afrika werden reduziert. Dies alles führt unter
dem Strich natürlich zu einer nachhaltigen finanziellen
Entlastung anderer Etatposten im Einzelplan 14.
Die Personalausgaben sind auf 12,4 Milliarden Euro
plafondiert. Dadurch sind aber weiterhin alle zugesagten
und bereits eingeleiteten Maßnahmen möglich. Diese wa-
ren überfällig. Die Ungleichgewichte bei der Personal-
und Besoldungsstruktur sind bereits weitgehend abge-
baut. Die gestartete Ausbildungs- und Qualifizierungsof-
fensive macht den Dienst wirklich attraktiver. Es ist auch
ein Märchen – das Sie die ganze Zeit erzählen –, dass wir
keinen Nachwuchs mehr finden. Das stimmt nicht. Die
Bewerber- und Nachwuchslage ist gut, weil die Menschen
sehen, dass die Bundeswehr ihnen eine solide Chance gibt
und es vor allen Dingen hervorragende berufliche Ausbil-
dungslehrgänge gibt.
Wir haben den Beförderungsstau – Herr Austermann,
Sie haben viele Jahre nur darüber geredet – drastisch ab-
gebaut. Wir haben die Besoldung gerade für die unteren
Besoldungsgruppen endlich angehoben. In den letzten
Monaten ist vieles bewegt worden.
Diese Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität kos-
ten viel Geld. Deshalb ist es kein Wunder, wenn der Anteil
des Personaletats am Gesamtetat weiterhin bei 51 Prozent
liegt. Aber Ihre Krokodilstränen sind wirklich nicht glaub-
würdig. Sie sind noch nicht einmal in der Lage, sich von
Ihrem alten Konzept, dass wir angeblich eine Bundeswehr
mit 300000 Mann – die CSU will noch mehr – bräuchten,
zu lösen. Ihr Modell ist sicherheitspolitisch falsch und
überhaupt nicht finanzierbar. Würden wir Ihrer Politik in
diesem Bereich folgen und ein solches Modell verwirkli-
chen, würde den Soldaten die materielle Grundlage, aber
auch die Chance auf eine bessere Ausrüstung genommen.
RainerArnold
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
RainerArnold
Es bleibt ein Grundproblem: Die Investitionsmittel
müssten steigen. Sie sind noch zu gering. Aber auch hier
haben wir etwas erreicht. Im Vorjahr befand sich der An-
teil der investiven Mittel im Verteidigungsetat mit
24,5 Prozent auf dem höchsten Stand seit 1991. In diesem
Jahr wird er zur Verbesserung der materiellen Ausstattung
noch um 900 Millionen Euro auf insgesamt 6,1 Milliar-
den Euro erhöht. Damit steigt der prozentuale Anteil auf
über 25 Prozent. Wir bewegen uns wenigstens auf das
30-Prozent-Ziel zu. Sie haben sich viele Jahre davon
wegbewegt. Dies ist ein wesentlicher Unterschied.
Außerdem – der Minister hat es heute schon angekün-
digt und wir als Parlamentarier sind begleitend dabei – wer-
den die Bundeswehrplanung und die Finanzplanung
wieder in Einklang gebracht. Deshalb ist es richtig, heute
alte Rüstungsvorhaben, die zum Teil Sie vor 15 Jahren aufs
Gleis gesetzt haben – aufgrund anderer sicherheitspoliti-
scher Notwendigkeiten; das akzeptieren wir durchaus – zu
korrigieren und anzupassen. Die Stückzahlen müssen lo-
gischerweise auf das operativ notwendige Mindestmaß re-
duziert werden, auch wenn dies für die Rüstungswirtschaft
manchmal schmerzhaft ist.
Eines ist klar: Wir können es uns doch nicht mehr leis-
ten, Überbestände jahrelang in teuren Depots unterzustel-
len, zu warten und die Kosten dafür zu tragen. Das ist auch
nicht mehr notwendig. Heute wurde schon gesagt: Wir se-
hen viele gute Chancen bei einer besseren Kooperation
der europäischen Rüstungsindustrie.
Herr Austermann, Sie reden hier die GEBB so schlecht.
Es war nie das ausschließliche Ziel der GEBB, einfach
Geld zu sparen.
– Lassen Sie mich doch einmal ausreden.
– Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. Ich muss auch nicht
alles loben; da haben Sie durchaus Recht.
Wenn es darum geht, eine öffentliche Verwaltung mit
135000 Zivilbeschäftigten zu modernisieren – das ist ein
schwieriger Prozess –, kann man nicht einfach top-down
sagen: Dort geht es lang. Vielmehr – das sehe ich schon
so – muss man tastend vorgehen. Eines sollten Sie also zur
Kenntnis nehmen: Die GEBB ist nicht nur dazu da gewe-
sen, Geld zu sparen. Die GEBB soll diesen Modernisie-
rungsprozess anstoßen.
Es ist doch auch gelungen. Ich nenne zum Beispiel das
Flottenmanagement, das in seiner Einführungsphase ist.
Es geht darum, in den nächsten Jahren die alten Fahr-
zeuge, die wir von Ihnen geerbt haben, vom Hof zu krie-
gen und durch neue, moderne Fahrzeuge zu ersetzen.
Es ist ein Bekleidungsmanagement gelungen.
Ob Sie es sich vorstellen können oder nicht: Über das
ganz schwierige zentrale Thema „Verbesserung der Kom-
munikationstechnik bei der Bundeswehr“
gibt es – Sie wissen das genau –
sehr tief greifende Verhandlungen mit großen und guten
industriellen Partnern. Dieses Projekt gelingt umso
schneller, Herr Austermann – das ist die Erfahrung, die
wir in den letzten Monaten gemacht haben –, je weniger
Sie in Ihrer Funktion im Haushaltsausschuss aus partei-
taktischen Gründen immer wieder Sand in solche Projekte
streuen.
Sie haben das übrigens auch beim Transportflugzeug
A400M getan.
Das Hickhack, das dabei entstanden ist, hat doch nicht nur
etwas mit der Schwierigkeit der Entscheidung zu tun,
sondern auch damit, dass Sie in diesem Bereich ein Jahr
lang Nebelkerzen gezündet haben.
Kollege Arnold, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Die jetzige Situation straft Sie Lügen.
„Herkules“ wird kommen. „Meteor“ wird in den nächsten
Monaten kommen.
Der A400M ist organisatorisch und finanzierungsmäßig
auf einem grundsoliden Gleis.
– Sie werden das sehen.
Wenn ich zum Schluss jenseits dieser kleinkarierten
Debatten, die wir manchmal führen und die wir auch im
Augenblick wieder mit Ihnen führen – solche Debatten
sind nicht hilfreich – einen Strich unter die Umgestaltung
der Bundeswehr ziehe, bleibt das eine entscheidend: Die
Modernisierung der Streitkräfte wird nur dann gelingen,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 957
wenn wir die Soldaten und Zivilbeschäftigten mitnehmen,
wenn ihre Motivation bestehen bleibt.
Kollege Arnold, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin mir sicher, dass es die Union nicht schaffen
wird, das großartige Engagement der Soldatinnen und
Soldaten zu beschädigen. Wir werden das alles hinkrie-
gen; wenn es sein muss, auch gegen Sie.
Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Christian Schmidt, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Dem Kollegen Bonde möchte ich noch einen for-
malen Glückwunsch zu seiner Jungfernrede sagen. Zum
Inhaltlichen diesen Beitrags – „verhinderte Regierungs-
erklärung der Grünen“ will ich nicht sagen –
will ich mich jetzt nicht weiter äußern. Nur so viel: Allen
Respekt vor Ihrer Rede! Sie haben die Linien aufgezeigt.
Kollege Arnold, wir sind ja jetzt im Verteidigungsaus-
schuss in der Verantwortung. Verteidigungspolitischer
Sprecher Ihrer Fraktion zu sein, Herr Arnold, heißt aber
nicht, dass Sie die Vergangenheit verteidigen müssen. Sie
müssen nicht die Verteidigungspolitik von Herrn
Scharping vertreten.
Die Zeiten sind vorbei. Ich habe fast den Eindruck: Sie
schlagen die Schlachten von gestern.
Weil Sie sich so sehr an die GEBB hängen, rate ich Ih-
nen: Fragen Sie einmal vertrauensvoll Herrn Struck da-
nach, was er von der GEBB und von den Ergebnissen der
GEBB hält. Vielleicht können wir uns ja dann später ein
paar Minuten Diskussion sparen.
Es hat doch auch keinen Sinn, hier einen Investitions-
anteil von 24,5 Prozent zu nennen, wenn der Verteidi-
gungsminister ein paar Minuten vorher gesagt hat: Ich
stelle eine große Sparliste auf. – Zwischen „schön reden“
und „schönreden“ – ich weiß nicht, wie das jetzt nach der
neuen Rechtschreibung geschrieben wird – ist dem Sinne
nach sicherlich immer noch ein Unterschied. Man kann
zwar schön reden, soll aber nicht schönreden. Darum bitte
ich doch recht herzlich.
Sie haben gesagt, dass die Soldaten eine gute Leistung
erbringen. Da treffen wir uns. Da sind wir uns einig. Kom-
pliment an unsere Soldaten für das, was sie vor allem im
Einsatz, aber auch in der Heimat unter erheblichen Belas-
tungen leisten!
Mir fallen aber sofort Diskussionen zum Beispiel über
den Aufenthalt mit einer Dauer von sechs Monaten, über
Stehzeiten und die Flexibilisierung ein. Dabei geht es im-
mer auch um Kosten, über die geredet werden muss.
Aber die Aussage, das Gerät könne so schlecht nicht sein,
da unsere Soldaten gute Leistungen erbringen, erinnertmich
ein klein wenig an den Satz von Christian Morgenstern:
„Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was
nicht sein darf.“ Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Trotz
teilweise mangelhaften Geräts oder mangelhafter Ausstat-
tung werden gute Leistungen erbracht. Wenn Wirtschafts-
gebäude aus hygienischen Gründen geschlossen werden
müssen, weil sie den Bestimmungen nicht mehr entspre-
chen, dann können sie vorher nicht den besten Glanz und
die beste Sauberkeit aufgewiesen haben.
Auf das Thema der Nachwuchskräfte, das Sie, Herr
Verteidigungsminister, bereits angesprochen haben, wird
sicherlich der Kollege Kossendey später noch eingehen.
Ich will hierzu nur positiv anmerken, dass wir Ihre Aus-
sage zur Wehrpflicht mittragen und unterstützen. Jeder
weiß, dass es notwendig ist, qualifizierten Nachwuchs zu
gewinnen. Jenseits der Fragen, die die Landesverteidi-
gung betreffen, müssen wir deswegen eine breit angelegte
Werbung für die Bundeswehr machen – Wehrpflicht ist
Werbung für die Bundeswehr –, um qualifiziertes Perso-
nal zu bekommen.
Ich will auf die von Ihnen so beschwörend vorgetra-
genen Formeln hinsichtlich der Fuchs-Spürpanzer, der
Transportpanzer und anderer Panzer eingehen. Ich habe
heute bereits bei anderer Gelegenheit gesagt: Ich bin
durchaus bereit – das sage ich auch für meine Fraktion –,
bei anständiger Information in aller Ernsthaftigkeit und in
vollem Verantwortungsbewusstsein die Verpflichtungen
und Möglichkeiten gegenüber Israel mitzutragen.
Die Informationen, die einen bestimmten Status hatten,
waren – das wurde bereits angesprochen – überraschen-
derweise öffentlich. Das hat dazu geführt, dass sich der
Verteidigungsminister wegen einer Panne entschuldigen
musste. Man habe nicht gewusst, dass das Fax auf dem
falschen Schreibtisch gelandet ist; außerdem sei die
falsche Form gewählt worden. Ich stelle mir vor, dass auf
einem Fax der Adressat und zum Beispiel folgender Satz
stehen: „Sehr geehrter Herr X, Bezug nehmend auf unser
Gespräch von vor einigen Wochen möchte ich noch ein-
mal festhalten, dass ...“ Ich habe das Fax nicht gelesen,
kann mir aber vorstellen, dass es so ausgesehen hat.
Wenn es so war – das ist rein hypothetisch gedacht –
und man den Gedanken weiterspinnt, dann kommt man
RainerArnold
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Christian Schmidt
von der Annahme einer lokalen Panne ab und es stellt sich
eine wesentlich problematischere Frage: Was will man
damit erreichen, wenn man dies in einer solchen Situation
öffentlich macht? Man kommt zu den vermeintlichen
Spürpanzern bzw. Transportpanzern und auf die Patriot-
Raketen, bei denen die Regierung durchaus einen Erfolg
erzielt hat. Ein Journalist hat mich gefragt, ob auch die
Amerikaner Patriot-Raketen angefordert hätten oder nur
die Israelis. Ich konnte Aufklärung verschaffen. Auch der
Verteidigungsminister hat seine ursprünglich rabulistisch-
falsche Aussage in dieser Frage korrigiert.
– Sie haben das korrigiert.
Es entsteht also der Eindruck, dass etwas ganz anderes
dahinter steckt, wenn eine zwei Jahre alte Anfrage der
Israelis nach einer zusätzlichen Ausrüstung mit Patriot-Sys-
temen – sie haben selbst zwischenzeitlich ein Luftverteidi-
gungssystem in Form des Arrow-Systems entwickelt –, von
denen wir wissen, dass sie in der Ausführung, in der sie in
Deutschland vorhanden sind, nur beschränkt zur Raketen-
verteidigung fähig sind, hervorgeholt wird. Mit der schnel-
len Bekanntgabe des Themas der Fuchs-Spürpanzer in der
Öffentlichkeit und der bekannten Panne – oder was auch
immer dahinter steckt – wollte man doch etwas ganz an-
deres erreichen: Man wollte den Eindruck einer sicher-
heitspolitischen Geschäftigkeit erwecken. Man wollte da-
mit vertuschen, dass man die amerikanischen Anfragen
nicht zu beantworten gedenkt.
Das ist der wahre Hintergrund, wieso sich der Herr Bun-
deskanzler mit einer ungeahnten Auskunftsfreudigkeit
geäußert hat. Das will ich unterstreichen.
Heute wurde schon eine ganze Reihe von Zitaten und
Stellungnahmen vorgetragen. Ich will mich dem gerne
anschließen und komme danach noch auf die Türkei zu
sprechen.
– Ich empfehle Ihnen zuzuhören. – Im Frühjahr dieses
Jahres gab es eine Unterrichtung der Fraktionsvorsitzen-
den. Unser damaliger Fraktionsvorsitzender und der der
FDP haben sich damals öffentlich darüber geärgert, dass
sie sehr wenig Informationen bekommen haben. Dann
wurde – von wem auch immer – ein Protokoll dieser Ver-
anstaltung in der „FAZ“ abgedruckt. Es gab Vermutun-
gen, diese Informationen kämen aus dem Kanzleramt. Ich
zitiere – mit Genehmigung des Präsidenten – aus der
„Welt“ vom 20. März dieses Jahres:
Wie die „FAZ“ ferner berichtete, sagte Schröder sei-
nen Gesprächspartnern, er sei entschlossen, die
deutschen Spürpanzer vom Typ Fuchs auch dann in
Kuwait zu lassen, wenn die Amerikaner „unilateral“
– das heißt ohne Mandat der Vereinten Nationen –
gegen den Irak vorgingen.
– Auf Nachfragen beim Kanzleramt wurde diese Wieder-
gabe als korrekt dargestellt.
In dem Protokoll laute die Äußerung Schröders:
„Niemand könne die Konsequenzen für das deutsch-
amerikanische Verhältnis der nächsten 30 bis 50 Jahre
verantworten, falls die Spürpanzer abgezogen wür-
den und es dann tatsächlich zum Einsatz von ABC-
Waffen käme.“
– Ich zitiere den Bundeskanzler.
Vor der Wahl gab es eine Schriftstellersoiree.
– Hören Sie einmal zu. – Er erklärte vor Schriftstellern, es
gebe keine deutsche Beteiligung an einem Irak-Feldzug der
USA. Nur die in Kuwait stationierten ABC-Spürpanzer
würden mitmachen. Ich zitiere aus der „Welt am Sonntag“:
Die Zuhörer – von Haus aus weder Logiker noch Lo-
gistiker – nickten den Kanzler-Roman ab.
– Das hat sehr wohl mit dem Thema zu tun. Es geht da-
rum, wie man die Bundeswehr sieht. Ist sie Werkzeug der
Vertuschung verfehlter Außenpolitik oder ist sie ein ver-
antwortungsbewusstes und dem Parlament gegenüber of-
fen eingesetztes Instrument, das dort zum Tragen kommt,
wo man es politisch für notwendig und geboten hält?
Ich will Ihnen dazu sagen, dass wir über diese Frage
deutlich reden werden. Wenn der Herr Bundeskanzler
nicht den Mumm aufbringt, diese Dinge vor dem Grünen-
Parteitag zu sagen, sondern sich hinter der vermeintlich
rettenden Anfrage seitens Israels nach Fuchs-Spürpanzern
zu verstecken versucht, dann zeigt das nur, wie weit wir
bei der Parlamentsbeteiligung im Rahmen der Entschei-
dung über Einsätze gekommen sind.
Wenn der Bundeskanzler dieser Ansicht ist, dann soll
er, mit einem entsprechenden Mandat vorbereitet, dies
dem Parlament darlegen. Er soll es nicht so machen, wie
es Herr Ströbele bereits ausgeplaudert hat. Der Rettungs-
anker wäre dann: Wenn Not am Mann ist, dann bleiben
wir doch vor Ort, obwohl wir dafür kein Mandat haben.
Die Grünen werden dann in eine Situation kommen, in der
sie von ihrer eigenen Bundesregierung nicht einmal ge-
fragt werden, ob sie bereit sind, das zu akzeptieren. Das
ist der Skandal, den ich bereits jetzt ankündige. Ich warne
die Bundesregierung dringend davor, so vorzugehen.
Das Parlamentsrechtmuss gewährleistet sein. Darüber
hinaus muss das Parlament in solchen Fällen wie bei
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 959
ISAF – darüber werden wir in zwei Wochen zu diskutie-
ren haben – ausführlich über die Umstände des Mandats
informiert werden. Ich sage ganz deutlich: Wir sind nicht
die Feldherren, wir sind der Aufsichtsrat. Die Details ha-
ben uns nicht in dem Sinne zu interessieren, dass wir über
sie beschließen. Wir haben sie anzuhören und Erwartun-
gen auszudrücken. Wenn die Sache einigermaßen in Ord-
nung ist, dann kann man sie akzeptieren.
Herr Verteidigungsminister, die Entsendung von
2 500 Soldaten nach Afghanistan wird – das ist ein Stück
Holz – hohe Kosten und großen Aufwand verursachen so-
wie ein hohes Maß an Sicherheit voraussetzen. Wir haben
von verschiedener Seite gehört, dass im Verteidigungs-
haushalt kaum noch Bewegung möglich ist. Sie haben
dargelegt, wie Sie das finanzieren. Sie haben von 51 Mil-
liarden DM gesprochen. Sie meinten sicherlich: Euro,
also 100 Milliarden DM.
–Wir sind uns also einig, dass es 100 Millionen DM sind.
Bei diesen Zahlen stellt sich die Frage, ob das bei dem
Umfang dieses Mandats ausreichen wird. Es wird nur
dann ausreichen, wenn Sie jemanden finden, der nach
sechs Monaten die Führung übernimmt. Ich wünsche es
uns ebenso wie Ihnen und der Bundeswehr. Allerdings
wird allein der Wunsch das Problem nicht lösen. Ich bitte
Sie, viel Energie auf die Klärung dieser Frage zu verwen-
den. Sie können sicher sein, dass die Opposition Sie dabei
konstruktiv unterstützen wird.
Die Frage der Exit-Strategie – der Kollege Müller hat
es in der außenpolitischen Debatte bereits angesprochen –
steht zur Diskussion. Eine weitere Frage ist, welche Aus-
wirkungen die sich in Afghanistan offensichtlich verstär-
kende Reorganisation von Taliban und al-Qaida-Kämp-
fern mit sich bringt. Erst kürzlich ist es im Zusammenhang
mit amerikanischen Soldaten zu Zwischenfällen gekom-
men, die uns zu denken geben. Dies ist aber nicht der rich-
tige Zeitpunkt, um vertieft darüber zu sprechen.
Sie haben uns gegenüber eine Liste von Veränderungen
bei Rüstungsprojekten angedeutet. Wenn ich Sie richtig
verstehe, war das nicht die Liste, über die insgesamt zu
diskutieren ist, und es wird die Presse nicht anders infor-
miert werden. Ich wiederhole an dieser Stelle, dass wir In-
formationen angemahnt haben. Wir haben die gewünsch-
ten Informationen jetzt andeutungsweise hier im Plenum
bekommen. Wir werden es aber nicht akzeptieren, dass
die Öffentlichkeit durch die Medien informiert wird und
wir das dann aus der Zeitung erfahren. In diesem Fall dür-
fen Sie keinerlei Unterstützung von uns erwarten.
Hinsichtlich der verteidigungspolitischen Richtlinien
müssen wir über Inhalte diskutieren. Dass Sie verteidi-
gungspolitische Richtlinien vorlegen, ist notwendig und
richtig. Fast möchte ich sagen: Sie haben eine Chance,
den von Herrn Scharping begangenen Fehler wenigstens
im Verfahren zu korrigieren. Ich unterstütze nicht alle Er-
gebnisse der Weizsäcker-Kommission. Aber diese Kom-
mission hat im analytischen Teil ihres Berichts eine
Chance für eine breite sicherheitspolitische Debatte in der
Gesellschaft unseres Landes über die Frage, welche Re-
formmaßnahmen notwendig sind, geboten.
Auch wenn der Verteidigungsminister hin und wieder
relativ allein dasteht, muss er versuchen, gerade in der
Frage der inneren und äußeren Sicherheit eine breite Zu-
stimmung zu finden. Ich spreche ausdrücklich von der in-
neren und äußeren Sicherheit, weil diese eigentlich getrenn-
ten Bereiche durch den Terrorismus und die asymmetrische
Kriegsführung der Taliban, der al-Qaida und der anderen
potenziellen Beteiligten verschwimmen und wir mit ei-
nem Strukturkonzept für Sicherheit und Verteidigung rea-
gieren müssen. Das beinhaltet mehr Implikationen als die
wenigen Einblicke in die verteidigungspolitischen Richt-
linien erkennen lassen, die Sie uns bisher gewährt haben.
Ich schlage vor: Legen Sie die Richtlinien auf den
Tisch! Lassen Sie eine Diskussion darüber zu und wenden
Sie sich dann der Frage zu, wie Sie das strukturell und ma-
teriell umsetzen wollen! Machen Sie es nicht umgekehrt,
sonst zäumen Sie das Pferd vom Schwanz her auf!
Bei dieser VPR-Diskussion werden Sie einen zwar kriti-
schen, aber konstruktiven Dialog mit uns erwarten kön-
nen. Uns liegt an der Sicherheit unseres Landes.
Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-
rade in der Sicherheitspolitik sind nüchterne Lagebilder
ohne Verharmlosung und Verdrängung auf der einen Seite
und ohne Dramatisierung auf der anderen Seite von zen-
traler Bedeutung. Die bürgerliche Opposition bekommt
das Kunststück hin, beide Extreme gleichzeitig darzustel-
len. Einerseits verdrängen Sie im Hinblick auf einen et-
waigen und hoffentlich noch zu verhindernden Irak-Krieg
die möglichen Folgen und diffamieren geradezu die Dis-
kussion darüber. Andererseits, wenn es um den Zustand
der Bundeswehr geht, malen Sie schwarz – schwärzer
geht es nicht mehr – und behaupten schriftlich und münd-
lich in der Öffentlichkeit, die Bundeswehr habe ihre Ein-
satz- und Bündnisfähigkeit verloren. Das behaupten Sie
wider besseres Wissen.
Bei Friedenseinsätzen auf dem Balkan und in Kabul
sowie bei der Unterstützung der Terrorismusbekämpfung
zeigt sich eine Einsatz- und Bündnisfähigkeit der Bun-
deswehr, die allseits anerkannt wird. Vergleichen Sie die
Bundeswehr im Einsatz mit anderen Partnerarmeen und
überprüfen Sie, wie verlässlich diese einen Beitrag zur
Bewältigung der verschiedenen Herausforderungen leis-
ten, dann stellen Sie fest, dass sich die Bundesrepublik in
keiner Weise verstecken muss. Ich finde es sehr bemer-
kenswert, dass Sie zur gleichen Zeit, in der Sie über die
Christian Schmidt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Winfried Nachtwei
fehlende Einsatzbereitschaft der Bundeswehr klagen, zum
Beispiel in Gestalt des Bremer Innensenators Böse for-
dern, dass die Bundeswehr auch im Innern, zum Beispiel
beim Objektschutz, eingesetzt werden soll. Darüber, wie
das alles zusammenpassen soll, müssen Sie selbst nach-
denken.
Unbestreitbar ist aber, dass die Bundeswehr die Grenze
ihrer Belastbarkeit erreicht hat und dass deshalb schon
seit geraumer Zeit eine grundlegende Bundeswehrreform
notwendig ist, die sie in die Lage versetzt, neue Aufgaben
zu bewältigen. Mit einer solch grundlegenden Bundes-
wehrreform hat Rot-Grün im Jahr 2000 begonnen. Wir
setzen sie nicht nur fort, sondern versuchen, sie weiterzu-
entwickeln.
Die Eckdaten des Entwurfs des Einzelplans 14 belegen
den Reformwillen der Koalition. Der Gesamtansatz wird
verstetigt und bleibt damit verlässlich. Des Weiteren steigt
die Investitionsquote – das ist für die Modernisierung der
Bundeswehr von elementarer Bedeutung – von 22,2 Pro-
zent auf 24,7 Prozent. Wir begrüßen ausdrücklich, dass es
die politische und militärische Leitung der Bundeswehr
schafft, mit begrenzten Mitteln mehr Output zu erzielen.
Vor sechs Wochen haben SPD und Bündnis 90/Die
Grünen in ihrer Koalitionsvereinbarung versprochen: Die
Aufgabenstruktur, die Ausrüstung und die Mittel für die
Bundeswehr werden wieder in ein ausgewogenes Verhält-
nis gebracht. Dieses Verhältnis war in den gesamten 90er-
Jahren aus nachvollziehbaren Gründen aus dem Lot gera-
ten. Wir haben des Weiteren versprochen, unter Einhaltung
der mittelfristigen Finanzplanung die Bundeswehr effizi-
ent zu modernisieren sowie die Beschaffungsplanung,
die materielle Ausstattung und den Personalumfang der
Bundeswehr fortlaufend den künftigen Herausforderun-
gen anzupassen. Der erste Schritt zur Anpassung der Be-
schaffungsplanung steht nun unmittelbar bevor. Mit ihm
nehmen wir von einer Planung Abschied, die teilweise
mehr an Wünschen als an der Realität orientiert war. Wir
kommen also jetzt bei der Beschaffungsplanung auf den
Boden der Tatsachen zurück. Um dies durchzusetzen und
durchzuhalten, bedarf es wohl erheblicher politischer
Kraftanstrengungen. Ich möchte schon zum jetzigen Zeit-
punkt der politischen und militärischen Spitze der Bun-
deswehr ausdrücklich gratulieren; denn nach aller Erfah-
rung muss man sich hier gegen einige Einzelinteressen
durchsetzen.
Des Weiteren sind Aufgabenstruktur und Perso-
nalumfang anzupassen. Dabei werden Vorschläge der
Weizsäcker-Kommission die Richtschnur bilden. Diese
Kommission hatte bekanntlich einen militärischen Perso-
nalumfang von 240 000 Soldaten empfohlen. Bei der Sen-
kung des Personalumfangs wird es nicht nur um militäri-
sche Zweckmäßigkeit, sondern auch darum gehen, die
Zahl der Eingriffe in die Lebensplanung und die Grund-
rechte junger Männer so weit wie möglich zu verringern.
Wenn wir im Laufe der Legislaturperiode die Wehrver-
fassung überprüfen, dann steht selbstverständlich auch
die Wehrform zur Diskussion. Aufgrund meiner bisheri-
gen Erfahrungen mit der Koalition in der laufenden Le-
gislaturperiode kann ich sagen, dass wir diese Diskussion
sehr sachbezogen und ohne Beachtung früherer Dogmen
führen werden.
Herr Minister Struck, Sie haben zu Recht die Erar-
beitung neuer verteidigungspolitischer Richtlinien
angekündigt. Wir brauchen eine differenzierte und nüch-
terne Analyse der Risiken, der Bedrohungen und der
Chancen. Wir brauchen in Zeiten entgrenzter und un-
sichtbarer Bedrohungen, des transnationalen Terroris-
mus, privatisierter Gewalt und der Verbreitung von Mas-
senvernichtungswaffen eine Verständigung über die
Bedeutung der Selbstverteidigung. Wir brauchen eine
Verständigung über die Gewichtung von Verteidigung,
Krisenbewältigung und Terrorismusbekämpfung. Darauf
müssen wir im Rahmen unserer Grundwerte, wie sie im
Völkerrecht fixiert sind, und im Rahmen unseres Ver-
ständnisses von umfassender gemeinsamer und vorbeu-
gender Sicherheit sorgfältigere und genauere Antworten
finden.
Hier wirkt es für mich allerdings sehr irritierend, dass
Kollege Schäuble zwar die richtigen Fragen stellt – eini-
ges von ihm habe ich ja zitiert –, dass er aber bei diesen
richtigen Fragen den Werte- und Normenrahmen der Ant-
worten beschweigt. Damit setzen Sie sich einem Verdacht
aus, den ich so äußern muss
und der hoffentlich von Ihnen widerlegt wird, nämlich ei-
ner Art offensiver Selbstverteidigung das Wort zu reden,
die mit dem internationalen Gewaltverbot nicht mehr ver-
einbar wäre.
Wir befinden uns in einem tief greifenden sicherheits-
politischen Umbruch. Diesen werden wir politisch nur be-
wältigen, wenn wir darüber nicht nur hier und in sicher-
heitspolitischen Zirkeln, sondern auch in der Gesellschaft
möglichst breit diskutieren. Die Chance einer solchen
breiten gesellschaftlichen Debatte und Verständigung be-
stand vor zwei Jahren im Kontext der Weizsäcker-Kom-
mission, aber sie wurde damals leider nicht genutzt. Jetzt
besteht erneut die Chance. Wir müssen sie deshalb nutzen,
weil eine solche breite gesellschaftliche Debatte für den
neuen sicherheitspolitischen Konsens, den wir brauchen,
unverzichtbar ist.
Danke schön.
Ich erteile das Wort der Kollegin Helga Daub, FDP-
Fraktion.
960
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 961
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Dass es
die rot-grüne Regierung mit der Umsetzung ihrer Ver-
sprechen nicht so genau nimmt, wird uns Tag für Tag ein-
drucksvoll bewiesen. Das lässt auch die Belange der Bun-
deswehr nicht außen vor. Mein Kollege Jürgen Koppelin
hat bereits die Diskrepanz zwischen den Anforderungen
der Bundeswehr und ihrer Ausstattung geschildert. Das
ist eine Diskrepanz, die weit über die Diskussion betref-
fend die Anschaffung neuen Geräts für die Truppe hi-
nausgeht. Natürlich kennen wir die schwierige finan-
zielle Lage in unserem Land. Aber wir schulden es unseren
Soldaten – Bürgern in Uniform –, dass sie gerade in dieser
unbefriedigenden Situation auf klare Strukturen und auf
das Wort des Verteidigungsministers bauen können.
Das muss – mit Verlaub – im Moment bezweifelt werden.
Einige Minuten reichen bei weitem nicht aus, um die
Missstände aufzuzählen, die es zu beheben gilt. Ichmöchte
daher nur einige Beispiele nennen. Unsere Soldaten leis-
ten hervorragende Arbeit in Auslandseinsätzen. Sie gehen
physisch und psychisch bis an ihre Grenzen.
Das wird gewürdigt, aber nicht honoriert. Wie erklärt es
sich zum Beispiel die Bundesregierung, dass die in Ku-
wait stationierten deutschen Soldaten nur den zweitnied-
rigsten Auslandsverwendungszuschlag erhalten? Sie sind
im Camp Doha stationiert, demselben Stützpunkt wie un-
ter anderem die Amerikaner. Es sind aber Letztere, die für
die Festlegung der Sicherheitsstufe zuständig sind. Für
Camp Doha wurde vor vier Wochen die höchste Sicher-
heitsstufe festgelegt. Das bedeutet: Das Risiko für die dort
stationierten Soldaten wird so hoch eingeschätzt, dass
zum Beispiel eine Ausgangssperre verhängt wird oder
dass das Camp nur in Begleitung von Militärpolizei ver-
lassen werden darf. Bei der deutschen Regierung herrscht
offensichtlich eine völlig andere Einschätzung der Gefah-
ren vor. Denn sonst würden die Soldaten für die Risiken,
die sie eingehen müssen, angemessener entschädigt.
Es geht aber in dieser Debatte nicht nur um Geld. Was
die Soldaten zu Recht vermissen, ist Planungssicherheit.
Die Belastung bei Auslandseinsätzen ist sehr hoch und
dazu gehört auch der sechsmonatige Einsatz in immer
kürzeren Abständen.
Das ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch zu ver-
stehen. Familie findet bei den Soldaten nicht mehr statt.
Die Zahl der Ehescheidungen wird immer höher. Sie ken-
nen das sicherlich auch aus den Berichten der Presse.
Die FDP fordert deshalb 160 000 für Auslandseinsätze
verwendbare Soldaten, das heißt natürlich, auch für Aus-
landseinsätze ausgebildete Soldaten. So würden die Bun-
deswehrsoldaten nur etwa alle vier Jahre zu einem vier-
monatigen Einsatz herangezogen werden müssen. Nun
wissen die Soldaten natürlich, dass sie in der Bundeswehr
und im Auslandseinsatz sind und nicht in der Heilsarmee.
Dafür wurden sie ausgebildet. Ausbildung ist auch ein
Thema, über das man sich demnächst noch wird unter-
halten müssen. Die Soldaten brauchen Sicherheit
– ich habe das schon angesprochen –, und zwar Pla-
nungssicherheit. Diese dürfen sie von ihrer Regierung und
ihrem Minister erwarten.
Andernfalls muss sich die Regierung demnächst mit
dem Frust der Truppe auseinander setzen. Niedrige Be-
zahlung und willkürliche Versetzungspolitik tragen zu
diesem Frust bei. Ein Beispiel: Die Sozialversicherungs-
beiträge und Fürsorgemaßnahmen für Soldaten sollen im
Jahr 2003 um fast 70Millionen Euro gekürzt werden. Ihre
Regierung ist doch angetreten, um angebliche Gerechtig-
keitslücken zu schließen; Sie reißen neue auf.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen dabei sehr weit ausei-
nander. Das haben Menschen, die für uns alle ihr Leben
riskieren, nicht verdient.
Sie betonen zu Recht, dass wir eine Fürsorgepflicht ge-
genüber unseren Soldatinnen und Soldaten und deren Fa-
milien haben. Mit den Familienbetreuungszentren wird
die Betreuung der zurückbleibenden Familien während
des Auslandseinsatzes wahrgenommen. Ihre Absicht,
diese Zentren mit hauptamtlichem Personal auszustatten,
ist lobenswert und richtig. Leider ist die Absicht bislang
nicht verwirklicht worden. Der Wehrbeauftragte bemän-
gelt zu Recht, dass zunächst für die Dauer von zwei Jah-
ren in einigen Zentren ein Probelauf durchgeführt werden
soll und anschließend aufgrund der Erfahrungswerte nach
dem Motto: „Na, schauen wir mal!“ entschieden werden
soll, wie es weitergeht. Das sollte angesichts der schwie-
rigen Situation der Familien etwas konkreter sein.
Werte Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja. – Wir haben keine Zeit mehr für Probeläufe. Die
Soldaten sind jetzt im Einsatz und fast jede Woche be-
schließen wir hier die Verlängerung eines Mandats. Die
Familien brauchen professionelle, vertrauensvolle und
kontinuierliche Betreuung. Sie brauchen auch die kon-
struktive Zusammenarbeit von Regierung und Opposi-
tion. Die FDP ist dazu bereit, Herr Minister.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Liebe Kollegin Daub, ich darf auch Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede herzlich gratulieren.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Hans-Peter
Bartels, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kollegen von der Opposition, es ist immer wie-
der ein kostbares Gefühl, in älteren Protokollen zu blät-
tern und zu sehen, wie sich Ihre Argumentation seit
damals verändert hat. Da lesen wir im Stenografischen
Bericht über die Haushaltsberatungen 1997 in der Rede
von Herrn Kollegen Austermann:
Die notwendige Modernisierung der Bundeswehr
muss wegen der veränderten Finanzsituation ge-
streckt werden.
Kollege Rühe sagte:
Das, was eingespart werden muss, muss bei den Be-
schaffungen eingespart werden. Einige Sachen müs-
sen gestrichen werden und andere Sachen müssen
gestreckt werden.
So war das mit den Sachen 1997. Streichen, Strecken und
Deckeln, das war Ihre Politik nach 1990. Ohne Struktur-
konzept! Bundeswehrpolitik nach Kassenlage! Damit ha-
ben wir Schluss gemacht.
Noch einmal ein Zitat von Volker Rühe, diesmal zur
Rechtfertigung des Haushalts 1998:
Welche Größenordnung eine Armee auch immer hat,
sie wird immer knapp bei Kasse sein, und – das wird
Sie vielleicht wundern – in einem gewissen Umfang
ist es auch notwendig. Ich kenne keine Armee auf der
ganzen Welt, die finanziell üppig versorgt wäre.
Wo er Recht hat, hat er Recht.
Üppig war es nicht, üppig ist es nicht und üppig wird
es auch in Zukunft nicht sein. Diese Realität sollten auch
Sie heute anerkennen. Wenn Sie für die Bundeswehr mehr
verlangen, dann sollten Sie sagen, wo Sie das heute bei
veränderter Kassenlage – sie verändert sich immer; das
war so in Ihrer Zeit und ist zu unserer natürlich auch so –
hernehmen wollen. Sagen Sie, wie Sie Mehrausgaben für
die Bundeswehr finanzieren wollen! Es nur zu fordern ist
einfach und billig.
– Für Kiel immer.
Wir haben für die Jahre 2003 bis 2006, also für die
nächsten Jahre, eine verlässliche, stabile Haushaltslinie:
24,4Milliarden Euro. Stabil viermal dieselbe Summe! Da-
mit steigt der Anteil des Verteidigungsetats am Gesamt-
haushalt wieder; denn die Gesamtausgaben des Bundes
werden sinken. Sie müssen sinken, weil wir die Einkom-
mensteuersätze und die Nettoneuverschuldung weiter sen-
ken. Gegenüber 2002 gehen die Gesamtausgaben des
Bundes 2003 um 1,5 Prozent zurück. Wenn man den
Nachtragshaushalt berücksichtigt, den wir in dieser Wo-
che beschließen, dann wird der Rückgang von 2002 auf
2003 sogar bei 1,8 Prozent liegen.
Der Bundeswehretat bleibt dagegen stabil. Die Bun-
deswehr bleibt ganz solide finanziert, wenn wir jetzt die
Strukturreform und insbesondere die Beschaffungen
langfristig nachjustieren. Die Bundeswehr braucht an ih-
rer finanziellen Basis Verlässlichkeit und Planbarkeit. Ge-
nau das garantiert die Politik, die wir jetzt machen.
Uns allen miteinander muss klar sein, dass die Bun-
deswehr keine Universalarmeewerden kann. Sie war nie
eine Universalarmee, sie ist keine und sie muss es auch in
Zukunft nicht sein. Natürlich gibt es hier und da – in der
Politik und auch in den Streitkräften – noch das absolute
Souveränitätsdenken, wonach deutsches Militär alles
selbst können muss. Nach diesem Ideal streben wir nicht.
Wir müssen uns nicht entschuldigen, wenn wir es nicht er-
reichen; denn es ist nicht die regulative Idee unserer
Sicherheitspolitik.
Wir Deutsche waren, als es vor allem um unsere eigene
Sicherheit ging, auf starke Bündnispartner angewiesen,
auf Bündnispartner, die über die Mittel verfügten, die See-
wege über den Atlantik und den Himmel über Deutsch-
land offen zu halten. Wir konnten, wollten und mussten
uns im Kalten Krieg nicht allein auf uns selbst verlassen.
Warum sollten wir dann jetzt, da wir vor allem ein Partner
für andere sind, den Anspruch erheben, ganz allein han-
deln zu können? Die Bundeswehr muss nicht alles können.
Klar ist aber auch: Sie muss heute anderes können. Sie
muss verlegefähiger, durchhaltefähiger und zusammenar-
beitsfähiger sein. Deshalb war die Bundeswehrreform
2000 ein Aufbruch zu neuen Ufern. Ich glaube, im Grund-
satz bestreitet niemand in diesem Hause, dass die Rich-
tung stimmt. Über die Frage der Mittel, der finanziellen
und der militärischen, lohnt es sich immer wieder nach-
zudenken. Als Konsequenz des Denkens lohnt es sich
außerdem, nachzusteuern.
Wenn wir eine gewisse Arbeitsteilung in Europa und
in der NATO – beide werden in absehbarer Zeit größer
sein – wollen, dann müssen wir etwas tun, was Soldaten
gewiss ungern tun: erklären, was wirklich unsere Stärken
sind, was wir in Bündnisse und Koalitionen besonders
einbringen wollen und wo wir uns stärker auf die Fähig-
keiten anderer verlassen wollen.
Ich glaube, dass es uns dabei gut ansteht, bei der Be-
wältigung der besonders komplexen, der besonders an-
spruchsvollen Aufgaben voranzugehen, gemeinsam mit
Frankreich, Großbritannien oder Italien. Marinefliegerei,
Sanitätsversorgung, Aufklärung oder auch moderne, mo-
bile bodengebundene Luftabwehr werden für andere eu-
ropäische Bündnispartner noch schwerer bereitzustellen
sein als für uns. Deshalb sind das vor allem unsere Auf-
gaben.
962
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 963
Also: Der Mut zur Erweiterung der NATO wird nur
dann praktisch, wenn wir uns auch zutrauen, zu differen-
zieren, das heißt, die Fähigkeiten der einzelnen Partner in-
nerhalb des neuen Ganzen zu spezialisieren. Das hat
Grenzen; das ist völlig klar. Es muss Redundanzen geben.
Aber dies ist die Richtung: Integration und Differenzie-
rung. Das – nicht die einsame deutsche Universalarmee –
soll die regulative Idee unserer Sicherheitspolitik auf
lange Sicht sein.
Einige Worte zu unseren amerikanischen Freunden.
Manchmal, wenn man die Verlautbarungen der europä-
ischen wehrtechnischen Industrie zur Kenntnis nimmt
oder manche politische Stimme diesseits des Atlantiks
hört, könnte man meinen, wir stünden kurz vor dem Be-
ginn eines neuen Wettrüstens mit unserem größten Ver-
bündeten, wir Europäer müssten alles, was die Amerika-
ner haben, auch haben – um ernst genommen zu werden,
heißt es dann. Dieses transatlantische Konkurrenzdenken
geht meines Erachtens in die Irre. Wir brauchen gewiss
manch neue, andere und zusätzliche Fähigkeit in den
europäischen Streitkräften, aber nicht immer mehr von
genau dem, was der amerikanischen Politik zur Verfü-
gung steht.
Niemand sollte sich teuren Illusionen hingeben: Die
wirklich großen Konflikte dieser Welt sind ohne oder ge-
gen die USA nicht lösbar. Sie sind aus unserer Sicht auch
kaum in erster Linie militärisch lösbar. Wenn aber doch,
dann werden es kaum die Europäer sein, die ohne ameri-
kanische Beteiligung oder gar gegen den Rat der USA
selbst militärisch intervenieren. Deshalb gilt im Verhält-
nis zu den USA: mehr Selbstständigkeit ja, gerechtere
Lastenverteilung – Burden Sharing – ja, aber keine Ver-
dopplung oder Verdreifachung von Kapazitäten aus Prin-
zip, keine ehrpusselige Konkurrenz.
Der Historiker Heinrich August Winkler schreibt in ei-
nem Zeitschriftenbeitrag über die neue NATO:
Amerika militärisch einzuholen und selbst Super-
macht zu werden: Niemand käme auf den Gedanken,
der EU ein derart unrealistisches Ziel anzusinnen.
Aber nötig sei
ein Mindestmaß gemeinsamer militärischer Kapa-
zitäten, um in Fragen der eigenen Sicherheit nicht
nur auf die USA angewiesen zu sein.
Zu diesem Minimum gehören ohne Zweifel das neue
europäische Transportflugzeug A400M, der NH90, der
Tiger, wenn auch vielleicht – der Panzerbedrohung hier
und anderswo entsprechend – in verringerter Stückzahl,
der Eurofighter mit der entsprechenden Bewaffnung Me-
teor und Iris-T, der Schützenpanzer 3, die neuen U-Boote
und Korvetten, Seefernaufklärer und Aufklärungssatelli-
ten – immer der Maßgabe des Vorvorgängers Rühe fol-
gend: Es ist nie genug, aber nicht alles ist finanzierbar. Ich
bin dankbar dafür, dass dies auch innerhalb der Bundes-
wehr so gesehen wird. Unsere Soldaten sind Realisten.
Vor einigen Wochen habe ich das deutsche Marine-
kontingent in Dschibuti besucht. Das ist keine schöne
Gegend, der Dienst dort ist nicht leicht, aber die Einstel-
lung vieler Soldaten ist erstaunlich. Sie sind auch an die-
sem Ende der Welt neben ihrem eigentlichen Auftrag,
dem Antiterrorkampf, gute Botschafter unseres Landes.
Sie helfen bei der medizinischen Versorgung, sammeln
Geld für das örtliche Waisenhaus, lassen sich, auch wenn
das nicht ganz ungefährlich ist, in der Stadt sehen und ar-
beiten mit vielen lokalen Institutionen zusammen. Sie
sind auch in der Fremde Staatsbürger in Uniform, dank in-
nerer Führung frei zum Kontakt mit der Außenwelt.
Ich will damit sagen, dass bei allen Fähigkeiten, die
von der Ausrüstung und der Struktur der Bundeswehr ab-
hängen, eine Fähigkeit ganz kostengünstig ist bzw. gar
nicht zu bezahlen wäre: Das ist das Selbstbewusstsein un-
serer Soldaten. Darauf baut alles andere auf. Dafür sollten
wir hier gemeinsam sorgen.
Schönen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Thomas Kossendey,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies
ist der erste Haushalt, den Minister Struck als verantwort-
licher Verteidigungsminister dem Parlament vorlegt. Lie-
ber Herr Minister, jetzt beginnt auch für Sie der Weg
durch die Höhen und Tiefen, weil es darum geht, in Euro
und Cent auszuweisen, was uns die Sicherheit unseres
Landes wirklich wert ist. Wir wünschen Ihnen von
ganzem Herzen, auch im Interesse unseres Landes, unse-
rer Bündnispartner, aber ebenso der Soldaten und der zi-
vilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr,
dass Sie dieser wichtigen Aufgabe wirklich gerecht wer-
den können, vor allem, dass Sie das Hauptproblem der
nächsten Jahre in den Griff bekommen: Bewältigen Sie
bitte die Erblast aus den letzten vier Jahren, die Ihnen von
Ihrem Vorgänger hinterlassen worden ist.
Werden Sie wieder ein verlässlicher Partner nach innen
und außen und machen Sie vor allen Dingen Deutschland
wieder zu einem verlässlichen Partner im Bündnis. Nach
innen sollen Sie verlässlich werden, weil viele Soldaten
und die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den
letzten Jahren ihre Motivation verloren haben und weil sie
dringend wieder eine Perspektive brauchen, nach außen,
weil das Ansehen Deutschlands als Bündnispartner min-
destens ebenso dringend einer Verbesserung bedarf.
Allerdings wird Ihnen dieser Haushaltsentwurf, den
Sie uns heute vorlegen, dabei keine Hilfe sein. Er weist
keine Perspektive auf, sondern er ist letztendlich der
untaugliche Versuch, mit einem Wust von Zahlen zu ver-
decken, was die Hauptaussage ist: Es gibt weniger Geld
für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, als wirklich
notwendig ist. Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit
lässt dieser Entwurf vermissen.
Als wir vor noch gar nicht so langer Zeit die Finanzie-
rung einiger Großprogramme angezweifelt haben, wur-
den wir von Ihnen und Ihrem Vorgänger als Schwarzmaler
Dr. Hans-Peter Bartels
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Thomas Kossendey
angeprangert. Heute ist Streichen, Schieben und Strecken
zur Leitlinie Ihres Haushaltsgebarens geworden. Der Kol-
lege Bartels hat auf die Vergangenheit verwiesen und
Minister Rühe zitiert. Lieber Herr Bartels, Sie sind ange-
treten mit der Perspektive: Wir wollen nicht alles anders,
aber vieles besser machen.
Wie sehr haben Sie sich davon verabschiedet, wenn jetzt
der Rückgriff auf Rühe als Maßstab für Ihre Leistungen
herhalten muss.
Lassen Sich mich eines deutlich sagen. Als Rühe das
von Ihnen Zitierte 1997 gesagt hat, hatten wir 48 Milliar-
den DM im Verteidigungshaushalt und zusätzlich das
Geld, das wir für internationale Einsätze brauchten. Sie
bezeichnen schon viermal 24,4 Milliarden Euro als Fort-
schritt. Viermal 24,4 Milliarden Euro in den nächsten vier
Jahren heißt: weniger Geld. Sie müssen die Inflation
berücksichtigen, Sie müssen die jährlichen Gehalts-
steigerungen der Soldaten und der zivilen Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter davon abziehen. Wir werden in
den nächsten vier Jahren mit weniger Geld auskommen
müssen, als eigentlich notwendig ist.
Herr Minister, Sie haben sich in diesen Tagen – es ist
hier erwähnt worden – noblerweise für einen Faxfehler
beim Kanzler entschuldigt. Wann wollen Sie sich eigent-
lich für die Täuschungsversuche in Haushaltsfragen Ihrer
Regierung, Ihrer Koalition gegenüber den Soldaten und
dem Parlament einmal entschuldigen? Ich glaube, dafür
wäre es an der Zeit.
Was waren das für optimistische Sätze, die Sie noch am
27. August, vor gerade drei Monaten, in Hamburg bei der
Führungsakademie gepredigt haben? Sie haben für das
Transportflugzeug eine Stückzahl von 73 Flugzeugen
noch einmal ausdrücklich bestätigt und versichert, im
Haushaltsentwurf 2003 sei die Finanzierung dafür geklärt.
Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie beim Haushalts-
entwurf 2003 Anpassungsbedarf nach oben nicht aus-
schließen wollten. Sie haben wörtlich gesagt: Ich habe
hervorragende Beziehungen zu den Haushältern der Ko-
alitionsfraktionen. Da können auch noch kleine Verbesse-
rungen für den Verteidigungsminister herausspringen.
Was ist daraus geworden? Wo sind Ihre guten Be-
ziehungen zu den Haushältern? Funktionieren diese alten
Seilschaften überhaupt noch? Der Kollege Wagner ist auf-
gestiegen, der Kollege Kröning ist umgestiegen, der Kol-
lege Metzger ist ausgestiegen. Nichts von dem, was Sie
damals erwartet haben, hat sich wirklich in die Tat umset-
zen lassen.
Ganz nebenbei, lieber Herr Kollege Nachtwei: Was ist
das eigentlich für eine Bundesregierung, die für die Um-
setzung ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik im
Haushaltsausschuss auf persönliche Beziehungen des Mi-
nisters zu den Abgeordneten angewiesen ist? Wo ist denn
eigentlich in diesem Zusammenhang der Bundeskanzler?
Er ist es doch in erster Linie, der auf den internationalen Ta-
gungen auf europäischer Ebene deutsche Beiträge zur Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik verspricht und der sei-
nem Finanzminister eben nicht in den Arm fällt, wenn dieser
ihm wieder das Geld aus der Kasse nimmt. Was ist aus der
Defense Capabilities Initiative geworden? Was ist aus den
European Headline Goals geworden? Alles mit deutscher
Unterschrift, die Umsetzung lässt auf sich warten.
Das Ergebnis ist: Sie passen den Umfang und die Aus-
rüstung nicht der Auftragslage an, sondern Sie formen
eine Bundeswehr nach den Vorgaben des Finanzministers.
Deswegen werden wir den Haushalt in dieser Form ab-
lehnen.
Auch die für morgen angekündigte Streichorgie wird
Ihnen nicht helfen, die Probleme in den Griff zu bekom-
men. Damit mögen Sie vielleicht die nicht ganz infor-
mierten Kollegen Ihrer Koalition vorübergehend mit et-
was Sand in den Augen beruhigen können, vielleicht
werden Sie sogar bei einigen Altpazifisten Freudentränen
erzeugen, eine seriöse Planung für die mittlere Zukunft ist
das auf jeden Fall nicht.
Vor allen Dingen: Wo bleibt eigentlich das Parla-
ment? Vor zwei Wochen haben wir hier noch die Parla-
mentsarmee Bundeswehr beschworen und heute sind wir
froh, wenn wir übermorgen aus der Zeitung erfahren dür-
fen, was Sie mit der Ausrüstung dieser Parlamentsarmee
vorhaben. Wenn wir wirklich erst übermorgen in der Zei-
tung lesen, was Sie uns heute im Parlament, heute Mor-
gen im Ausschuss und morgen früh in der Obleuterunde
eben nicht sagen wollen, dann wird das Konsequenzen ha-
ben. Das werden wir als Parlamentarier nicht hinnehmen.
Es mag sein, dass Sie im Jahre 2003 noch die Restpos-
ten aus der so genannten 25-Millionen-Liste von 2001 ab-
arbeiten können. Ab 2004 sieht es aber rabenschwarz aus.
Neubeginner werden nicht mehr möglich sein, weil die
Spielräume dafür längst ausgenutzt und mit beschlos-
senen Vorhaben belegt sind.
Auch die Streichliste, die Sie morgen vorlegen wer-
den, wird Ihnen nicht helfen, da sie, was die nächsten
Jahre angeht, im Wesentlichen aus Luftbuchungen be-
steht. Wenn Sie zum Beispiel die Stückzahl der A400M
reduzieren wollen, wird das frühestens im Jahre 2008
haushaltswirksam, weil vorher sowieso kein Geld dafür
eingeplant ist. Wenn Sie die Stückzahl des Systems
Meteor reduzieren wollen, wird das frühestens ab 2010
haushaltswirksam, weil für die Beschaffung vorher kein
Geld im Haushalt vorgesehen ist.
Natürlich kann man über die Stückzahlen diskutieren
– das biete ich Ihnen ausdrücklich an –; aber man sollte
zwei Denkfehler dabei vermeiden, Herr Minister. Ich
halte es für wichtig, dass man sich, bevor über Stückzah-
len entschieden wird, zunächst auf eine Struktur festlegt.
Nur dann macht eine Anpassung der Stückzahlen über-
haupt Sinn. Zweitens darf man nicht vergessen, dass eine
Reduzierung der Stückzahl sehr viel später haushalts-
mäßig wirksam wird und darum bei den aktuellen Proble-
men nicht helfen kann. Diese Umstände haben Sie – ich
möchte sagen: fahrlässig – außer Acht gelassen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 965
Wenn Sie die nächsten vier Jahre mit gesunden Haus-
halten überleben wollen, bleiben Ihnen eigentlich nur
noch andere Entlastungsmöglichkeiten. Wenn man da-
rüber nachdenkt, stellt man fest, dass es nur noch
zwei Stellschrauben gibt, an denen Sie drehen können: die
sonstigen Investitionen und der Bereich des Betriebs.
Bei den sonstigen Investitionen werden Sie kaum An-
satzmöglichkeiten finden. Bei Eingriffen in den Betrieb
muss man wissen, dass die Bundeswehr schon heute an
der Untergrenze des Möglichen arbeitet.
Hier gilt, was Richard von Weizsäcker uns so vortreff-
lich aufgeschrieben hat: Wer sparen will, muss investie-
ren. – Wer zum Beispiel die maroden Heizungsanlagen in
den Kasernen sanieren und auf einen ökologisch sinnvol-
len Stand bringen will, der muss neue beschaffen. Dafür
ist aber kein Geld da. Das alte Material ist mit steigenden
Kosten verbunden; man müsste in neues Gerät investie-
ren. Aber auch dafür werden Sie kaum das Geld finden.
Ich glaube, dass Sie auch das im Haushalt 2003 gar nicht
eingeplant haben.
Es gibt eine weitere Stellschraube, an der gedreht
werden soll: der Soldat als Kostenfaktor. Man hört, Sie
wollen Schnellboote früher außer Dienst stellen und ein
Marine-Tornado-Geschwader stilllegen. Neben dem Um-
stand, dass die dabei eingesparten Mittel erst sehr viel spä-
ter kassenwirksam werden, sollten Sie bitte auch an die
Menschen denken, die Sie mit diesen Vorhaben überzie-
hen: Die Menschen können Sie nicht stilllegen. Für die
Motivation der Soldatinnen und Soldaten, aber auch der
zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist nichts
schlimmer, als wenn sie ohne Material und konkreten
Auftrag, gewissermaßen arbeitslos im Dienst der Bun-
deswehr, an der Pier stehen und keine Perspektive haben.
Für die Nachwuchslage ist es geradezu verheerend, wenn
junge Menschen feststellen müssen, dass ihre berufliche
Karrierechance nur aus der Perspektive des Finanzmi-
nisters betrachtet wird.
Um Menschen geht es auch bei der letzten möglichen
Stellschraube: die Grundwehrdienstleistenden. Ein klu-
ger Mann hat ausgerechnet, dass, wenn Sie 1 000 Wehr-
pflichtige einsparen, 12 Millionen Euro weniger Kosten
im Haushalt haben. Manch ein Planer wird verleitet sein,
zu sagen: Dann ziehen wir doch einfach genauso viel
weniger Wehrpflichtige ein, wie uns Geld im Investiv-
anteil fehlt. Das ist eine einfache Rechnung, aber ein
absolut falscher Ansatz, weil Sie den Bestand der Wehr-
pflicht damit letztendlich vom Wohlwollen des Finanz-
ministers abhängig machen. Wenn Ihnen am Bestand der
Wehrpflicht wirklich so viel liegt, wie Sie es uns heute
wieder vorgetragen haben, sollten Sie die Finger von die-
ser Stellschraube lassen.
Wie immer man es drehen und wenden mag: Im Ein-
zelplan 14 fehlt es nicht nur an Geld, sondern vor allen
Dingen an Perspektive. Es wäre gut, wenn das Weißbuch,
das Ihr Vorgänger angekündigt hat, und die verteidi-
gungspolitischen Richtlinien irgendwann einmal zu Pa-
pier gebracht würden. Das Papier soll Herr Scharping ja
schon gekauft haben; Sie müssten es eigentlich nur noch
bedrucken.
Wenn Sie die Zeit bis zur endgültigen Verabschiedung
des Haushalts im März nächsten Jahres nutzen, uns bis da-
hin eine Struktur vorlegen und eine Perspektive für die
Bundeswehr aufzeigen, dann können wir auch über Um-
fang und Ausrüstung reden und die dafür erforderlichen
Mittel bereitstellen. Nur, bitte gehen Sie den Weg in diese
Richtung und nicht andersherum. Wer sich, ausgehend von
den immer geringer werdenden Mitteln, eine immer klei-
nere Bundeswehr zurechtschnippelt, wird den sicherheits-
politischen Interessen unseres Landes nicht gerecht, der hat
das Vertrauen der Bündnispartner, der Soldaten, der zivilen
Mitarbeiter und vor allem dieses Parlaments nicht verdient.
Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung. Das Wort hat die Bundesministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der
neuen Koalitionsvereinbarung haben wir mit dem Leitbild
der globalen Gerechtigkeit den Gedanken einer umfassen-
den Verantwortung für nachhaltige weltweite Entwicklung
vertieft und bekräftigt. Dem tragen wir in diesem Bundes-
haushalt Rechnung. Entwicklungspolitik ist heute weit
mehr als die Maßnahmen, die über den Einzelplan 23 fi-
nanziert werden, so wichtig dieser Einzelplan 23 ist.
Wenn wir in der Entwicklungspolitik mehr Verantwor-
tung für die Gestaltung globaler Strukturen übernehmen,
dann müssen wir auch die Auswirkungen der Entschul-
dung der ärmsten Entwicklungsländer, die im Gesamt-
haushalt zu Buche schlagen, sowie Initiativen und
Beiträge anderer Ressorts einbeziehen. Das ist globale
Verantwortung. Bei manchen ist das aber vielleicht noch
nicht so deutlich angekommen.
Das bedeutet – das sage ich gleich zu Beginn dieser De-
batte –: Der weltweit festgelegte Maßstab für erfolgte ent-
wicklungspolitische Leistungen ist – so hat es die OECD
festgelegt – die Official Development Assistance. Sie ist
seit dem Regierungswechsel vor vier Jahren um rund eine
halbe Milliarde Euro gestiegen, von 5,02 Milliarden Euro
im Jahre 1998 auf 5,57 Milliarden Euro im Jahre 2001.
Das bedeutet – trotz Haushaltskonsolidierung – eine Stei-
gerung um 11 Prozent.
Thomas Kossendey
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
Das ist eine Leistung, die sehr deutlich anerkannt werden
muss. In den letzten vier Jahren der konservativen Regie-
rung Kohl sind die Leistungen der ODA um 11 Prozent
gesunken und im Übrigen von 1982, zu Beginn der Re-
gierung Kohl, bis 1998 von 0,48 Prozent auf 0,26 Prozent
reduziert worden. Das wollte ich zu Beginn noch einmal
sagen.
Ich möchte aber auch mit Stolz sagen, dass selbst der
Einzelplan 23 um 2,3 Prozent gestiegen ist, und das vor
dem Hintergrund eines um 1,8 Prozent gesunkenen Haus-
haltsplanes. Damit setzen wir ein deutliches Signal zu-
gunsten der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist bei
diesen Haushaltsberatungen ein ganz wichtiges Signal.
Vor allen Dingen haben wir unseren zukünftigen Hand-
lungsspielraum durch Ausweitung der Verpflichtungs-
ermächtigungen um 8 Prozent ausgeweitet. Es wird zu un-
seren Zielen gehören, die Entwicklungspolitik in dieser
Legislaturperiode noch wirkungsvoller zu machen, indem
wir die Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit
noch mehr koordinieren und verzahnen, als wir das bisher
getan haben, um auch mehr Effizienz zu erreichen.
Lassen Sie mich anhand der Leitlinien unserer Ent-
wicklungspolitik, nämlich „Frieden sichern, Armut be-
kämpfen, Globalisierung gestalten“, wichtige Schwer-
punkte im Folgenden nennen.
In der kommenden Woche, am 10. Dezember, erhält
Jimmy Carter in Oslo den Friedensnobelpreis. Ich möchte
ihm an dieser Stelle – ich denke, in Ihrer aller Namen –
herzlich gratulieren zu diesem Preis, den er wahrlich ver-
dient hat.
Er hat formuliert:
Als Mitmenschen ist es unsere Pflicht, zu handeln
und dabei zu helfen, die Konflikte beizulegen, die
das Leben der Betroffenen zerstören.
Mit Jimmy Carter möchte ich hier betonen, dass es das
vorrangige Ziel sein muss – das sage ich aus dieser ent-
wicklungspolitischen Verantwortung –, kriegerische Aus-
einandersetzungen zu verhindern und zivile Konflikt-
lösungen zu suchen. Krieg darf nie wieder zur Fortsetzung
der Politik oder der Ökonomie mit anderen Mitteln werden.
Das ist eine wichtige entwicklungspolitische Entschei-
dung.
Ich möchte, dass diejenigen, die eine andere Position
haben, diese hier auch vertreten. Im Übrigen will ich
meine aus entwicklungspolitischen Gründen fundierte
Kritik an der so genannten Preemptive-Strike-Strategie
anmelden. Diese Strategie ignoriert die Notwendigkeit ei-
ner zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Be-
ziehungen unter Einbindung aller Mächte in verbindlich
handelnde multilaterale Institutionen. Beides sind aber
unerlässliche Voraussetzungen, die global notwendig
sind, um der privatisierten Gewalt entgegenwirken und
ihr das Handwerk legen zu können. Das ist doch der tie-
fere Grund, warum es hier anzusprechen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen in
diesem Haushalt unsere Verpflichtung zur Hilfe zum
Wiederaufbau in Afghanistan deutlich. Neben all dem,
was wir schon in anderen Debatten ausgeführt haben, will
ich an dieser Stelle noch einmal sagen: Wir werden
7,1 Millionen Euro zusätzlich für ein Notprogramm zur
Verfügung stellen, das dazu beitragen soll, den Menschen
in Afghanistan bei der Bewältigung der Belastungen, die
der Winter bringen wird, zu helfen. Das gehört zu unserer
Verpflichtung, die ich aus Anlass dieser Haushaltsdebatte
noch einmal ansprechen wollte.
Zur Erinnerung: Wir werden über die Friedenseinsätze
der Bundeswehr in Afghanistan und in Mazedonien ent-
scheiden. Das sind essenzielle Beiträge zur Stabilisierung
in diesen Regionen. Aber es muss uns auch klar sein:
Ohne den entwicklungspolitischen Wiederaufbau, ohne
das Handeln der Geber nach dem Konflikt wird eine lang-
fristige Friedenssicherung nicht möglich sein. Deshalb
gehören dieser militärische Einsatz und das entwick-
lungspolitische Stabilisieren untrennbar zusammen. Das
ist das Konzept der Bundesregierung.
Ich möchte den besonderen Schwerpunkt, den wir bei
der Armutsbekämpfung in Afrika setzen, deutlich ma-
chen. Wir werden 800 Millionen Euro bei der bilateralen
Entwicklungszusammenarbeit für Afrika aufbringen, da-
bei aber besonders die neue Partnerschaft für Afrika – die
NeEPAD, die Initiative der Länder, die sich von Korrup-
tion abwenden und einer verantwortlichen Regierung zu-
wenden wollen – entsprechend unterstützen. Wir beharren
darauf, dass diese Länder korruptive Strukturen bekämp-
fen und beseitigen; denn Korruption heißt, von den Armen
stehlen. Wenn wir wollen, dass Armut bekämpft wird,
müssen wir auch der Korruption in diesen Ländern entge-
genwirken.
Zu den Initiativen für Afrika gehört der Kampf gegen
HIV/Aids.Allein in Subsahara-Afrika leben 30Millionen
infizierte Menschen. Wir finanzieren nicht nur den globa-
len Anti-Aids-Fonds und das Aidsbekämpfungspro-
gramm der Weltbank, sondern wir engagieren uns auch in
der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Weltweit
geben wir jährlich rund 300 Millionen Euro für die Aids-
bekämpfung aus. Ein Großteil dieser Mittel geht nach
Afrika, weil dort die Probleme der Bevölkerung so dra-
matisch sind.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ansprechen, dass
unser Augenmerk auch der Bekämpfung der aktuellen
Hunger- und Ernährungskrise in Afrika gilt. Wir haben für
Nothilfemaßnahmen und Nahrungsmittelhilfen in diesem
966
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 967
Jahr 10,7 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt. Bis-
lang haben wir für die Region 55 Millionen Euro neben
den Ausgaben für die reguläre Entwicklungszusam-
menarbeit aufgebracht.
Unterschiedliche Länder sind davon betroffen. Ich will
in Übereinstimmung mit Karl-Heinz Böhm, mit dem ich
in diesem Bereich in engem Kontakt stehe, sagen, dass die
äthiopische Regierung versucht hat, durch Landreformen
Konsequenzen aus den Hungerkatastrophen früherer
Jahre zu ziehen. Trotzdem ist Äthiopien von einer drama-
tischen Dürrekatastrophe betroffen. Die Regierung in
Simbabwe hingegen lässt die Menschen verhungern und
trägt dazu bei, dass die Katastrophe im Land noch wächst.
Da gibt es also Unterschiede.
Wir unterstützen die Regierungen, die sich besonders
bemühen. Aber wir leisten über das Welternährungspro-
gramm natürlich auch Hilfe für die hungernde Bevölke-
rung in Ländern, in denen die Regierung schrecklich ist,
wo wir die Menschen aber nicht dafür bestrafen dürfen,
dass sie – wie in Simbabwe – eine grauenhafte Regierung
haben. Auch das ist für uns eine klare Orientierung.
Ich habe die heutige Debatte sehr genau verfolgt; wir
haben schon über den Terroranschlag in Kenia gespro-
chen. Wenn wir Armut, Hunger und Ausgrenzung in
Afrika bekämpfen – das ist ein langfristiger Prozess –,
dann können wir hoffentlich dazu beitragen, zu verhin-
dern, dass der afrikanische Kontinent von terroristischen
Gruppen als Basis für ihre widerwärtigen Anschläge be-
nutzt wird. Das langfristige Denken – auch dies betone
ich – ist hierbei wichtig.
Wir setzen den Konsens der Konferenz von Monter-
rey um, bei der es um die finanziellen Steigerungen der
offiziellen Entwicklungszusammenarbeit geht. Mit dem
Einzelplan 23 und diesem Haushaltsplan insgesamt leis-
ten wir unseren Beitrag, der ein Einstieg in diese Finan-
zierung ist. Zugleich haben wir aber auch in der mittel-
fristigen Finanzplanung bis 2006 Vorsorge dafür
getroffen, dass wir das Zwischenziel zu 0,7 Prozent, näm-
lich 0,33 Prozent, erreichen. Wir sind die erste Bundesre-
gierung, die sich auf ein solches Zwischenziel verpflich-
tet hat. Alle anderen haben zwar das hehre Ziel vertreten,
aber ohne ein Datum zu nennen. Wir werden das Ziel er-
reichen. Das sind wir den Entwicklungsländern und den
Menschen, die ihre Hoffnung auf uns setzen, schuldig.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Christian Ruck,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Politik für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im
Schatten von Wirtschaftsflauten und internationalem Ter-
rorismus ist schwieriger, weil internationale Wachstums-
spielräume eingeengt und politische Fronten verhärtet
sind, aber auch notwendiger denn je. Wir alle wissen, dass
wir vor einer neuen Dimension von Globalisierung ste-
hen. Konflikte und Gewalt, Flüchtlingsströme, Hunger,
Armut und Umweltkatastrophen finden vor unserer Haus-
tür statt. Auch wir reichen Industrieländer können uns
dem nicht entziehen und müssen entschlossen die Ursa-
chen der negativen Erscheinungen dieser Globalisierung
bekämpfen.
Dazu gehört die Änderung von wirtschaftlichen Struk-
turen, von politischen Rahmenbedingungen sowohl bei
uns als auch in den Ländern des Südens. Wenn Deutsch-
land dazu einen spürbaren Beitrag leisten soll, muss un-
sere Entwicklungszusammenarbeit drei Voraussetzungen
erfüllen: Sie braucht eine überzeugende Konzeption und
eine effiziente Umsetzung. Sie braucht ferner politische
Glaubwürdigkeit, vor allem was die Mittelausstattung an-
geht. In allen drei Bereichen gibt es für uns Anlass zu mas-
siver Kritik an der rot-grünen Politik der letzten vier
Jahre,
aber auch an dem, was Sie an Perspektiven zum Beispiel
im vorliegenden Haushaltsentwurf präsentiert haben.
Stichwort: Konzeption. Es ist schade, Frau Ministe-
rin, dass Sie konzeptionell kaum etwas gesagt haben. Die
von Ihnen vorgenommene Schwerpunktsetzung hat
schwere Mängel. Sie hat große Personalressourcen ver-
schlungen und diplomatisches Porzellan zerschlagen.
Auch wenn höfliche Partner es nicht offen auf dem poli-
tischen Marktplatz verkünden: Unsere typische Neigung
zur Kategorisierung von Qualität der Zusammenarbeit in
Schwerpunkt- oder eben nur in Partnerländer ist für un-
sere Partner schwer verständlich. Die Schwerpunktset-
zung hat zu wesentlich weniger Flexibilität geführt, vor
allem durch die rigide bürokratische Umsetzung. Eine in-
nere Logik ist auch nicht erkennbar. Sollen die Mittel
dorthin gehen, wo sie am dringendsten gebraucht werden
oder wo sie den größten Erfolg versprechen? Soll man
Good Governance unterstützen oder Bad Governance
korrigieren?
Unverständlich ist für mich auch ein Rückzug aus der
für uns strategisch so wichtigen Region Osteuropa. Oder
welche Begründung sollte es sonst für eine Kürzung der
dafür vorgesehenen Sondermittel in Höhe von 53 Milli-
onen Euro geben? Und schließlich: Eine regionale
Schwerpunktsetzung, die die Zahl der Empfängerländer
wieder auf über 100 erhöht, ist eben keine Schwerpunkt-
setzung.
Sektoral sind unter rot-grüner Regierung nach wie vor
wichtige Themen im Hintertreffen. Der Schlüsselsektor
für Entwicklung ist der Bereich Bildung und Ausbil-
dung. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe in Reinkultur. Ausge-
rechnet dieser Bereich hat die meisten Regierungsver-
handlungen in den letzten Jahren nicht überlebt. Von 2001
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Christian Ruck
auf 2002 sind die Ausgaben aus dem Haushalt Ihres Hau-
ses für die bilaterale finanzielle und technische Zusam-
menarbeit in diesem Bereich um glatte 42 Prozent gefal-
len. Dies wurde auch erst kürzlich von Welthungerhilfe
und terre des hommes in ihrer Bestandsaufnahme heftig
kritisiert. Beide Organisationen monierten völlig zu
Recht, dass die meisten Entwicklungsziele eben nicht er-
reicht werden könnten, wenn die Mittel insbesondere für
die Grundbildung nicht aufgestockt würden.
Denn Kinder ohne Bildung werden besonders häufig Op-
fer von Ausbeutung und Armut. Wir werden uns als Union
nicht nur gegen weitere Kürzungen in diesem wichtigen
Bereich wehren, sondern für deren künftig bessere finan-
zielle Ausstattung kämpfen.
Ein anderes Markenzeichen der deutschen Entwick-
lungszusammenarbeit ist der Umwelt- und Ressourcen-
schutz. Obwohl die Probleme ständig zunehmen, rudert
ausgerechnet Rot-Grün zurück, von 2000 auf 2002 um
immerhin 12 Prozent. Das sind annähernd 50 Millionen
Euro.
Frau Ministerin, auch das Konzept der HIPC-Initiative,
die wir im Grundsatz immer unterstützt haben, hat offen-
sichtliche Schwächen. Nach mehreren Jahren konnten
bisher nur sechs Entwicklungsländer konkret entschuldet
werden. Auch dies muss man hinterfragen: Kann man bei
Uganda zum Beispiel wirklich von guter Regierungs-
führung reden angesichts der nicht erledigten Entwick-
lungsaufgaben zu Hause, der tiefen Verwicklung Ugandas
in die Kriegseinsätze und der Ausplünderung im Nach-
barstaat Kongo?
Aber es gibt weitere eigentlich richtige Ansätze, die
von Ihnen nur mangelhaft angepackt wurden. So ist zum
Beispiel Ihr Krisenpräventionskonzept von seiner
Grundidee her richtig – ohne die Bekämpfung von Krisen
und Kriegen sind Entwicklungshilfe und Aufbauhilfe
sinnlos –; aber Ihre Werkzeuge sind völlig unzureichend.
Der von Ihnen so hoch gelobte Zivile Friedensdienst mit
100 engagierten Leuten ist nicht in der Lage, der Kon-
flikte in den Entwicklungsländern Herr zu werden. Viel
wichtiger wäre es hier, den regionalen und internationalen
Mandaten mehr Biss zu verleihen oder auch eine viel en-
gere Verknüpfung zwischen Außen-, Entwicklungs- und
Verteidigungspolitik herzustellen. Das ist genau das, was
wir auch auf dem Balkan oder in Afghanistan bisher ver-
missen.
Dass sich die Bundesregierung einen zweiten, beim Aus-
wärtigen Amt angesiedelten Friedensdienst leistet, ist eine
wirklich unnötige Doppelstruktur und ein Symbol in die
falsche Richtung.
Für wichtige neue Themenstellungen, zum Beispiel
eine effiziente Entwicklungszusammenarbeit mit islami-
schen Ländern, haben Sie überhaupt kein erkennbares
Konzept.
Wir begrüßen zwar Ihren Versuch, alle Sondertöpfe
und Sonderaufgaben wieder in die eigentlichen Titel ein-
zugliedern, aber wir kritisieren nach wie vor, dass Sie im-
mer noch auf zu viele Überschriften aufspringen, sich und
unsere entwicklungspolitischen Institutionen damit ver-
zetteln und damit auch unserer Entwicklungspolitik die
Schlagkraft nehmen.
Damit bin ich beim zweiten Stichwort: Schlagkraft
und effiziente Umsetzung. Natürlich ist es schwierig,
mangelhafte Konzepte überhaupt umzusetzen. Aber die
entwicklungspolitische Effizienz Ihrer Regierung hat
auch mit anderen hausgemachten Schwierigkeiten zu
kämpfen: In die notwendige Reform der deutschen Ent-
wicklungsstrukturen ist mit der Zusammenführung von
DSE und Carl-Duisberg-Gesellschaft zwar Bewegung ge-
kommen; wir hoffen auf einen positiven Ausgang. Aber
wie soll es weitergehen? Wo soll der Weg hinführen? Ist
etwa die Halbierung der Zahl der Institutionen schon ein
Selbstzweck? Oder muss nicht vielmehr die Frage im Vor-
dergrund stehen, wie sich das BMZ selbst in einem inter-
national veränderten Umfeld strukturieren soll?
Dazu gehört zum Beispiel auch das Stichwort Außen-
struktur, ein seit Jahren wiederholter Kritikpunkt der
OECD-Prüfberichte. Wir alle wissen: Deutsche Entwick-
lungspolitik muss heute stärker als früher vor Ort gestal-
tet und auch entschieden werden. Aber es gibt bisher kein
einziges deutsches Haus in der Entwicklungszusammen-
arbeit, das vom BMZ geleitet wird und die Vertretungen
der Durchführungsorganisationen unter einem Dach zu-
sammenführt. Stattdessen belastet sich das viel zu geringe
und überlastete Personal des BMZ mit Detailfragen.
Wen wundert es, wenn dann dem BMZ bei der äußerst
angespannten Personalsituation die Kapazität für die
wirklich notwendigen Koordinierungs- und Führungsauf-
gaben fehlt? Wen wundert es, dass Sie, Frau Ministerin,
bei den ungelösten Strukturfragen in Ihrem eigenen Haus
das Heil im Multilateralismus suchen und dabei das deut-
sche Markenzeichen der weltweit anerkannten bilateralen
Zusammenarbeit verkümmern lassen?
Wir jedenfalls tragen Ihre Tendenz nicht mit, das Ent-
wicklungsbudget immer mehr weg von den bilateralen
deutschen hin zu den multilateralen Entwicklungsinstitu-
tionen zu verschieben, ohne dass damit die entsprechende
politische Einflussnahme erfolgt. Unsere Devise lautet:
Geld für die multilateralen Entwicklungsinstitutionen nur
bei entsprechender Qualität und garantierter deutscher
Einflussnahme auf Mittelverwendung und Zielsetzung.
Dies gilt vor allem und insbesondere für die EU. Wir
begrüßen es, dass dem europäischen Entwicklungsfonds
erst einmal für 35 Millionen Euro der Hahn abgedreht
wurde. Dies ist aber natürlich keine Dauerlösung. Wir
brauchen gerade auch im Verhältnis zur Europäischen
Entwicklungszusammenarbeit, wo fast jede dritte Mark
aus Deutschland kommt, effizientes Management, schlüs-
sige Konzeptionen, die unsere Handschrift tragen, und
eine übersichtliche und klare Aufgabenabgrenzung vom
bilateralen und internationalen Bereich. Hier, Frau Minis-
terin, haben Sie bisher keine Fortschritte erzielt.
Was auf gar keinen Fall passieren darf, ist der Aufbau
einer neuen europäischen Durchführungsbürokratie, wenn
968
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 969
wir im eigenen Land auch für die Erfüllung europäischer
Aufgaben ausgezeichnete Organisationen haben. Auch
hier sind Sie gefordert, Frau Ministerin.
Besonders stark leidet die Effizienz der rot-grünen Ent-
wicklungspolitik jedoch an der fehlenden Kohärenz der
Regierungspolitik, namentlich bei der Unterstützung
durch den Außenminister. Kohärenz ist schon immer ein
schwieriges Thema gewesen, gegenüber der Landwirt-
schaft und der Außenwirtschaft. Das Auswärtige Amt ver-
weigert dem BMZ in wichtigen entwicklungspolitischen
Vorhaben die Unterstützung, ja sogar das Interesse. Wenn
das Entwicklungsministerium zum Beispiel in Fragen von
Good Governance oder der Zielabstimmung mit wichti-
gen anderen Ländern allein dasteht, ist es mit der politi-
schen Effizienz der deutschen Entwicklungspolitik vor-
bei. Dies sieht man gerade auch in Afrika.
Dabei bin ich bei meinem dritten Stichwort, der
Glaubwürdigkeit der Entwicklungspolitik. Diese
Glaubwürdigkeit leidet, wenn man sich in Aktionismus
verzettelt und wenn man ambitiöse Ankündigungen für
die Zukunft macht, ohne sie mit konkreten Zahlen im
Haushalt zu unterfüttern. Sie leidet auch, wenn man die
Unwahrheit sagt. Vor wenigen Tagen wurde aus Ihrem
Ministerium, Frau Ministerin, verlautbart – ich zitiere –:
Der dramatische Abwärtstrend ... bei den Entwick-
lungsmitteln ... ist von der SPD-geführten Bundesre-
gierung inzwischen gestoppt und umgekehrt worden.
Auch Sie haben eben an dieser Stelle von einer Erhö-
hung der Mittel gesprochen. Das aber ist reine Täuschung.
Man kann dies schnell erkennen, wenn man die Zahlen des
BMZ-Haushalts – also Ihre eigenen Zahlen – von 1998 und
2003 miteinander vergleicht: 1998 waren es 4,05 Milliar-
den Euro, 2003 sind es 3,784 Milliarden Euro. Davon ge-
hen laut Kabinettsbeschluss auch noch 30MillionenEuro an
das Auswärtige Amt. Dies bedeutet ein Minus von 97 Mil-
lionen Euro gegenüber dem Haushalt 2002 und von sage
und schreibe 300 Millionen Euro gegenüber dem letzten
Entwicklungshaushalt unter Unionsverantwortung.
– Schütteln Sie ruhig den Kopf. – Entsprechend fällt das
Fazit von Welthungerhilfe und terre des hommes aus, die
von „einem enttäuschenden Stand der deutschen Beiträge
zur Entwicklungsfinanzierung“ sprechen.
Ich fordere Sie auf, Frau Ministerin, zu Ihren eigenen
Zahlen zu stehen und nicht Äpfel mit Birnen zu verglei-
chen. Sie können auch ganz ungeniert den Grund für die
schlechte Haushaltssituation nennen, nämlich die beispiel-
los schlechte Finanz-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik Ih-
res Kanzlers und Ihrer Ministerkollegen. Dies zieht natür-
lich auch den Entwicklungshaushalt in Mitleidenschaft.
Ich fordere Sie auf, klar und deutlich zu dem Beschluss
zu stehen, die ODA-Quote bis zum Jahre 2006 auf
0,33 Prozent zu erhöhen.
Im bisherigen Haushaltsentwurf kann ich dies jedenfalls
auch nicht ansatzweise erkennen. Auch die mittelfristige
Finanzplanung deutet keine entscheidende Verbesserung
an. Denn bis zum Jahre 2006 soll der BMZ-Etat schritt-
weise lediglich auf 3,96 Milliarden Euro steigen. Er liegt
damit immer noch unter dem Ansatz von 1998. So wird
Deutschland das seinen internationalen Partnern gege-
bene Versprechen nicht einlösen können.
Ich möchte ausdrücklich auch davor warnen, bei der
ODA-Quote herumzutricksen. Es würde nicht nur die
Glaubwürdigkeit der Entwicklungspolitik im Inland be-
schädigen, sondern es würde auch unsere internationale
Glaubwürdigkeit ruinieren, wenn wir das gegenüber der
EU, der internationalen Staatengemeinschaft und den
Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern
gegebene Versprechen brechen oder durch plumpe Tricks
umgehen. Es wäre auch ein Betrug an den Tausenden ide-
alistischen freiwilligen und beruflichen Entwicklungsex-
perten, die den guten Ruf der deutschen Entwicklungspo-
litik in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben.
Kollege Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Abgeordneten Wieczorek-Zeul?
Bitte.
Deswegen habe ich betont: der Abgeordneten.
Jetzt sitze ich einmal auf der linken Seite und schon ha-
ben Sie mich nicht gesehen.
Links sehe ich ganz schlecht. Das stimmt.
Ich frage Sie, Herr Kollege, ob Ihnen präsent ist, dass
während der Regierungszeit der CDU/CSU der Bau der
U-Bahn von Schanghai und der U-Bahn von Kanton im
Umfang von mehr als 1 Milliarde Euro als Official Deve-
lopment Assistance gerechnet worden ist, und ob Sie das
nicht auch als eine Manipulation bezeichnen würden. Sol-
che Dinge kommen unter meiner Amtsführung nicht vor.
Deshalb weise ich ausdrücklich zurück, wenn gesagt
wird, bei uns würde bei der ODA-Quote getrickst.
Dr. Christian Ruck
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Ich war an den Diskussionen über diese Entscheidun-
gen zum Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, nicht nur in
China, aber auch da, beteiligt. Ich kann nach wie vor
nichts Schlechtes daran finden, dass man Infrastruktur-
projekte in den Ländern, mit denen man das vereinbart
hat, ganz wesentlich fördert.
– Entschuldigung, Sie müssen sich schon bitte genau mit
dem Thema befassen. Es waren nur zu einem kleinen Teil
Entwicklungshilfemittel; es war keine Vollfinanzierung.
Ich bitte Sie wirklich, sich das noch einmal genau anzu-
schauen. Dann können wir uns noch einmal unterhalten.
Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie Verkehrsinfrastruk-
turprojekte fördern. Die können in Ihrer Amtszeit genauso
gut sein, wie sie in unserer Amtszeit waren. Ich werfe Ih-
nen vor, dass Sie in der mittelfristigen Finanzplanung
keine Mittel für den Aufwuchs vorgesehen haben und dass
nicht erkennbar ist, wie Sie mit neuem Geld die ODA-
Quote erfüllen wollen. Sie haben uns im Ausschuss vor-
getragen, wie Sie sich die Erfüllung der ODA-Quote vor-
stellen: mit Entschuldung, mit Auslandseinsätzen der
Bundeswehr usw.
Frau Ministerin, wir wollen, dass Sie sich klar und
deutlich dazu bekennen, dass wir einen Aufwuchs an fri-
schem Geld bis 2006 brauchen. Die Mittel müssen Sie
rechtzeitig in Ihren Haushalt einstellen. Da ist aber über-
haupt nichts drin.
– Wahrscheinlich war die Frage so unlogisch, dass ich sie
gar nicht verstehen konnte.
Uns geht es in den nächsten Jahren um mehr Flexibi-
lität und größere Wirksamkeit unserer Instrumente, eine
bessere Arbeits- und Kompetenzverteilung, national wie
international, eine durchgreifende Reform der multilate-
ralen Entwicklungszusammenarbeit, eine bessere Verzah-
nung von Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Ent-
wicklungspolitik, die Förderung des Konzepts der
internationalen Marktwirtschaft und eine gleichwertige
Integration wirtschaftlicher und technologischer Koope-
rationselemente in die EZ.
Damit können wir drei Ziele am besten verfolgen: ers-
tens die weltweite Armut und die sozialen Sprengsätze
wirksam zu bekämpfen, zweitens die globalen Probleme,
zum Beispiel im Umwelt-, Wasser-, aber auch im Ge-
sundheitsbereich, zu lösen und drittens auch die Stellung
und das Ansehen unseres Landes in der Welt zu fördern.
Uns ist es ein Anliegen, dass sich wenigstens die Ent-
wicklungspolitik positiv von dem ansonsten tief traurigen
Bild rot-grüner Regierungspolitik abhebt.
Ich erteile dem Kollegen Thilo Hoppe, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-
vor ich auf den Einzelplan 23 eingehe, erlauben Sie mir
einen Kommentar zu der gesamten Haushaltsdebatte und
all ihren Begleiterscheinungen hier im Haus und auch vor
dem Haus.
Ich habe versucht, mich in die Situation eines Durch-
schnittsweltbürgers hineinzuversetzen, sagen wir, in die
Situation eines Campesinos aus Lateinamerika, einer
Blumenpflückerin aus Afrika oder eines Teppichknüpfers
aus Indien. Stellen Sie sich vor, ein Gast aus einem dieser
Länder säße hier auf der Tribüne, würde sich die Argu-
mente anhören und draußen vielleicht in eine dieser vie-
len Demonstrationen geraten, die zurzeit stattfinden.
Wenn er fragen würde: Worum geht es? Wofür demons-
triert ihr? Wogegen wehrt ihr euch?, bekäme er die Ant-
wort: gegen die Reduzierung der Eigenheimzulage oder
gegen die Dienstwagenbesteuerung. Ich glaube, unser
Gast würde antworten: Eure Sorgen möchte ich haben.
Ganz gewiss soll darüber konstruktiv gestritten werden,
wie der Haushalt am besten konsolidiert werden kann,
welche Sparmaßnahmen vertretbar sind und welche nicht.
Aber wer mit offenen Augen auf den gesamten Globus
schaut und von den Lebensumständen weiß, unter denen
die Mehrheit der Weltbevölkerung leben muss, der wird
nicht mehr davon sprechen können, dass unserem Land
bald der Untergang droht oder dass den Bürgerinnen und
Bürgern das letzte Hemd genommen werden soll. Wir jam-
mern auf einem sehr hohen Niveau. Mich stört dabei, dass
die Relation und die Realität völlig aus dem Blick geraten.
Dazu gehört, dass nach wie vor 800 Millionen Menschen
dieser Erde nicht wissen, wie sie satt werden sollen. Sie
sind vom Hungertod bedroht. Dabei wird auf dieser Erde
genug Nahrung produziert, um doppelt so viele Menschen
zu ernähren.
Die Herausforderung ist enorm: Frieden kann es auf
dieser Welt nicht geben, solange die Schere zwischen den
extrem Armen und den Wohlhabenden so weit auseinan-
der klafft. Doch Hunger auf der einen und Überfluss auf
der anderen Seite stellen nicht nur ein Missverhältnis dar,
sondern stehen oft auch in einem ursächlichen Zusam-
menhang. Es geht also nicht nur darum, von unserem
Reichtum abzugeben und zum Teilen bereit zu sein, son-
dern es geht in erster Linie um Gerechtigkeit.
Die aktuelle Krise auf dem Kaffeemarkt belegt – wir
wurden erst gestern im AWZ darüber informiert –, dass
die Einkünfte der Kaffeebauern in den Anbauländern ra-
pide sinken.
970
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 971
– Das war bei einem Gespräch der Obleute mit Oxfam im
AWZ zur Kaffeekampagne. – Während die Kaffeeprodu-
zenten immer weniger verdienen und von den Erlösen gar
nicht mehr leben können, klettern die Gewinne der fünf
marktbeherrschenden Kaffeekonzerne immer höher.
Auch wir Endverbraucher profitieren von diesem billigen
Kaffee. Wir können ihn zu völlig unrealistischen und un-
gerechten Preisen genießen. Die Menschen, die diesen
Kaffee für uns anbauen, können noch nicht einmal ihre
Grundbedürfnisse befriedigen.
Nachhaltige Entwicklungspolitik beschränkt sich des-
halb nicht auf die klassische Entwicklungshilfe, sondern
hat Gerechtigkeit zum Ziel, nämlich die gerechte soziale
und ökologische Gestaltung der Globalisierung. Das
bedeutet mehr Fairness im Welthandel und im interna-
tionalen Finanzsystem. Das bedeutet auch eine Global
Gouvernance, die von der Maxime ausgeht, dass jeder
Mensch gleich viel wert ist und die Chance haben muss,
sich ausreichend ernähren und in Würde leben zu können.
Die Bundesregierung hat in den letzten vier Jahren Ent-
wicklungspolitik immer auch als internationale Struk-
turpolitik verstanden, als Engagement für gerechtere
Strukturen in der Weltwirtschaft. Dieser Kurs soll ver-
stärkt fortgesetzt werden.
Entwicklungspolitik als Engagement für eine gerechte
Gestaltung der Globalisierung spiegelt sich nicht nur im
Einzelplan 23 wider, sondern ist eine Querschnittsauf-
gabe. Ich erwähne in diesem Zusammenhang die Akti-
vitäten des Auswärtigen Amtes, und zwar besonders in
Afghanistan, die Aktivitäten des Umweltministeriums
und ganz besonders das beharrliche Engagement von
Renate Künast für ein weltweites Recht auf Nahrung und
gegen die für die Entwicklungsländer katastrophalen EU-
Subventionen für Agrarexporte. Denn es ist ein Skandal,
dass zurzeit jede Kuh in Europa noch mit 2 Dollar pro Tag
subventioniert wird, während 1,2 Milliarden Menschen
dieser Welt mit noch nicht einmal 1 Dollar pro Tag zu-
rechtkommen müssen.
Eine vernünftige, zukunftsweisende Entwicklungspo-
litik braucht beide Komponenten: Engagement für Ge-
rechtigkeit und Kooperation mit Ländern des Südens, die
zu Eigenanstrengungen und Reformen bereit sind. Ent-
wicklungspolitik, wie sie von Heidemarie Wieczorek-
Zeul und Uschi Eid betrieben wird, verfügt über diese bei-
den Komponenten. Dies wird durch couragiertes
Engagement auf den internationalen Konferenzen deut-
lich und ist auch im Haushaltsentwurf ablesbar.
Wir alle wissen um die äußerst angespannte Haus-
haltslage. Ich bin sehr froh, dass die Mittel im Einzel-
plan 23 gegen den allgemeinen Haushaltstrend trotzdem
um 2,3 Prozent erhöht werden.
Es soll in den kommenden Jahren weitere Steigerungen
geben. Die Mittel für die öffentliche Entwicklungszusam-
menarbeit, die ODA, die von der Kohl-Regierung in den
90er-Jahren kräftig gekürzt wurden, konnten wieder
leicht angehoben werden. Der Trend ist umgekehrt. Bis
2006 wird Deutschland als Zwischenschritt zur Errei-
chung des 0,7-Prozent-Ziels mindestens 0,33 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für Entwicklungsaufgaben
zur Verfügung stellen.
Bei der ersten AwZ-Sitzung habe ich gedacht, dass sich
dieser Ausschuss von allen anderen unterscheidet, weil
alle an einem Strang ziehen und es überraschend viele Ge-
meinsamkeiten gibt. Nun war ich erstaunt, dass hier im
Plenum eigenartige Rechenbeispiele vorgeführt werden.
Ganz verschiedene Töpfe werden miteinander vermischt
und Äpfel mit Birnen verglichen. Fakt ist, dass die Mittel
im Einzelplan 23 um 2,3 Prozent steigen.
Besonders freue ich mich, dass in diesem Einzel-
plan 23 die Ansätze für die entwicklungspolitische Bil-
dungsarbeit deutlich angehoben werden.
Denn entwickeln müssen sich nicht nur die Länder im Sü-
den. Ändern und entwickeln muss sich auch viel im Be-
wusstsein und im Konsumverhalten der Menschen hier-
zulande.
Gerade die kirchlichen Hilfswerke „Brot für die Welt“
und Misereor und Organisationen wie FIAN, Oxfam,
Terre des Hommes und die Transfair-Stiftung machen in
diesen Tagen mit Aufklärungskampagnen darauf auf-
merksam. Sie werden darin noch stärker als bisher von der
Bundesregierung unterstützt.
Sosehr ich mich auch darüber freue, dass die Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit angehoben werden:
Angesichts der großen Herausforderungen – da muss ich
Herrn Ruck Recht geben – reichen diese Mittel nicht aus.
Zur Lösung globaler Umwelt- und Entwicklungsaufgaben
muss nach zusätzlichen Wegen der Finanzierung gesucht
werden. Meine Fraktion setzt sich sowohl für die inter-
national koordinierte Einführung von Entgelten für die
Nutzung von Luftraum und Weltmeeren als auch für
eine Devisenumsatzsteuer ein, die so genannte Tobin-
Tax. Hier hat es durch die Spahn-Studie bereits lobens-
werte Vorstöße des BMZ gegeben. Ich hoffe für die
Zukunft, dass auch der Bundesfinanzminister diese Be-
mühungen unterstützen wird.
Wir sind in der Adventszeit, also in einer Zeit, in
der Wunschzettel geschrieben werden. Ich habe einen
Thilo Hoppe
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Thilo Hoppe
konkreten Wunsch, der an uns alle – an mich und an Sie –
in diesem Haus gerichtet ist. Alle im Bundestag vertrete-
nen Parteien mit Ausnahme der FDP haben in ihrem
Wahlprogramm das 0,7-Prozent-Ziel festgeschrieben.
Wir wissen, dass bis 2006 nur ein Zwischenschritt erreicht
werden kann. Aber mittel- und langfristig sollte dieses
Ziel im Auge behalten werden.
Ich habe einen ganz konkreten Vorschlag, eine Bitte,
wie jeder von uns dazu beitragen kann, dass wir dieses
Ziel schneller erreichen.
Wenn jetzt der Lohnsteuerjahresausgleich vorbereitet
wird, kann jeder von uns, der dieses Ziel politisch verfolgt,
diesen Maßstab an sich selbst anlegen und darauf achten,
dass neben den Parteiabgaben und Spenden im Wahlkreis
0,7 Prozent seines Jahreseinkommens für Projekte der Ent-
wicklungszusammenarbeit ausgegeben werden.
Lassen Sie uns selber mit gutem Beispiel vorangehen!
Dann wird es auch leichter sein, in der Bevölkerung ein
Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass noch größere An-
strengungen nötig sind, um der gerechten Gestaltung der
Globalisierung näher zu kommen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Lieber Kollege Hoppe, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede.
Nun hat Kollege Markus Löning, FDP-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist sicher legitim, wenn sich die Ministerin um eine gute
Darstellung ihrer Politik bemüht. Man könnte schon fast
von einer rosigen Darstellung sprechen. Frau Ministerin,
ich denke, es ist nötig, dass Sie das machen; denn in der
Sache ist das nicht berechtigt.
Ich komme aus der Werbung.
In der Werbung sagt man: Ein gutes Produkt verkauft sich
von selbst. Für ein weniger gutes Produkt braucht man zu-
mindest gute Werbung.
Ein wenig von dieser Werbung haben wir heute gehört.
Das fängt schon bei den Zahlen an, Frau Ministerin.
Herr Hoppe, Sie haben auf die Mittelerhöhung im Ein-
zelplan verwiesen. Dennoch haben Sie nicht den Mittel-
ansatz in Höhe von 4 Milliarden Euro erreicht, der im
Haushaltsplan für das Jahr 1998 enthalten war; der Kol-
lege Ruck hat bereits darauf verwiesen. Sie müssen auf
andere Einzelpläne Rekurs nehmen, um darstellen zu kön-
nen, dass die Mittel im Einzelplan 23 erhöht worden sind.
Das ist nämlich de facto nicht der Fall. Sie sollten meiner
Ansicht nach so ehrlich sein, das zuzugeben.
Woher stammen denn die Mittel, die bereits erwähnten
2,3 Prozent, um die die Ansätze im Einzelplan erhöht wor-
den sind? Dabei handelt es sich doch im Wesentlichen um
Mittel aus dem Antiterrorpaket, die bereits im letzten
Haushaltsplan aufgeführt waren, nur unter einem anderen
Titel. De facto findet also keine Erhöhung der Mittel im
Einzelplan 23 statt. Vor diesem Hintergrund frage ich
mich, wie Sie von einer Erhöhung reden können und wie
Sie es schaffen wollen, dass 0,33 Prozent des Brutto-
nationaleinkommens für Entwicklungsaufgaben aufge-
bracht werden.
Lassen Sie mich etwas zu den Entschuldungsstrate-
gien anmerken. Es ist zu begrüßen, wenn den ärmsten
Ländern bei der Entschuldung unter die Arme gegriffen
werden soll. Das ist insbesondere dann richtig, wenn es
mit vernünftigen Auflagen verbunden wird, sodass die
Länder anschließend nicht wieder in eine ähnliche Situa-
tion geraten. Es gibt aber zwei Punkte, zu denen ich an
dieser Stelle gerne etwas von Ihnen gehört hätte. Zum ei-
nen ist allen einschlägigen Untersuchungen zufolge be-
kannt, dass die in den entschuldeten Ländern frei werden-
den Mittel nicht bei den Ärmsten der Armen ankommen.
Sie landen eben nicht bei denen, die sie wirklich brauchen
und die auf unsere Hilfe angewiesen sind.
Zum anderen hätte ich gern etwas von Ihnen darüber
gehört – der Kollege Ruck hat sich bereits dazu geäußert –,
was mit Ländern wie Uganda geschehen soll, die schon
ein gutes Stück auf dem Entschuldungspfad zurückgelegt
hatten, die aber nach Auskunft des IWF plötzlich wieder
die Entschuldungsgrenzen erreichen oder überschreiten.
Wie gehen Sie mit diesen Problemen um? Meiner Mei-
nung nach gibt es in dem Programm Strukturprobleme,
die geprüft werden müssen. Ich hätte mir gewünscht, an
dieser Stelle etwas zu diesen Fragen zu hören.
Zum Thema Grundbildung: Der Bundeskanzler hat
im Vorfeld des G-8-Gipfels in Kanada einen langen Arti-
kel in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlicht, in dem
er völlig zu Recht auf die Bedeutung der Bildung, vor al-
lem der Grundbildung, für die Entwicklung Afrikas hin-
gewiesen hat. Er hat in diesem Zusammenhang angekün-
digt, dass die Bundesregierung in den nächsten fünf
Jahren die Mittel für die Grundbildung erhöhen wird, und
zwar will sie die Mittel verdoppeln. Das begrüßt die FDP
selbstverständlich.
972
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 973
Bildung, vor allem Grundbildung, ist ein Schlüssel-
begriff für die Entwicklung nicht nur in Afrika, sondern
auch in anderen Entwicklungsländern. Die Alphabetisie-
rung ist eine wichtige Voraussetzung, um Entwicklungs-
hemmnisse zu beseitigen, um eine wirtschaftliche Ent-
wicklung zu erreichen und den Menschen die Möglichkeit
zu bieten, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Ein Blick in den Haushaltsplanentwurf zeigt aber, dass
von den Versprechen des Bundeskanzlers nichts übrig
geblieben ist.
In der Grundbildung tut sich gar nichts. Der Kanzler ver-
spricht die Verdoppelung der Ausgaben in fünf Jahren,
aber der entsprechende Ansatz verändert sich nicht. Wie
wollen Sie denn die Entwicklung fördern und die Armut
bekämpfen, wenn Sie diesen Schlüssel zur Beseitigung
der Entwicklungshemmnisse nicht einsetzen und in die-
sem Bereich untätig bleiben?
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich wünsche mir, dass
Sie bei der Darstellung Ihrer Politik auf die rosa Brille
verzichten und genauer auf die kritischen Punkte achten,
auch auf diejenigen, die Ihnen vielleicht nicht so gefallen.
Vielen Dank.
Herr Kollege Löning, auch Ihnen gratuliere ich herz-
lich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Nun erteile ich der Kollegin Karin Kortmann, SPD-
Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Ich habe gestern Nachmittag zu Herrn Ruck
gesagt, dass mir sein Beitrag in der neuen Ausgabe von
„E+Z“ gefalle. Daraufhin hat er gesagt, dass er wohl et-
was falsch gemacht habe, wenn ich ihn lobe. Heute würde
ich Sie nicht loben, Herr Ruck. Ich habe Sie in der Zu-
sammenarbeit als einen fairen Verhandlungspartner ken-
nen gelernt, der es eigentlich nicht nötig hat, wortgewal-
tig die Dinge so darzustellen, wie Sie es vorhin getan
haben. Wir haben bisher eigentlich gut zusammengear-
beitet, wenn es um die Entwicklungszusammenarbeit
ging.
Herr Löning, Sie sind zwar nur ein Jahr jünger als ich.
Aber Ihnen fehlt noch ein bisschen die Erfahrung im AwZ;
denn sonst wüssten Sie, dass das Geld dort ankommt, wo-
hin es gehört. Im Gegensatz zur Wirtschaft oder zu dem
Bereich, in dem Sie gearbeitet haben, stimmen bei uns In-
halt und Verpackung überein. Es kommt das heraus, was
draufsteht.
Wir alle wissen, dass die wirtschaftliche Zusammenar-
beit bzw. die Entwicklungszusammenarbeit – die Minis-
terin und Thilo Hoppe haben schon darauf hingewiesen –
einen zentralen Beitrag zur globalen Zukunfts- und Frie-
denssicherung leistet. In den letzten vier Jahren ist es uns
unter der Verantwortung der Regierung, der Ministerin
und der Fraktion gemeinsam gelungen, die Entwick-
lungspolitik aus ihrem Nischendasein herauszuholen, das
Gießkannenprinzip bei den Hilfeleistungen zu beenden
und vor allen Dingen dazu beizutragen, dass die Entwick-
lungspolitik ein eigenständiges Feld der Außenpolitik ge-
worden ist. Das war zu Zeiten von Minister Spranger
nicht immer der Fall. Ich kann mich noch sehr gut an das
Bundestagswahljahr 1998 erinnern. Damals haben einige
Organisationen aus dem Bereich der Kirchen der CDU/
CSU-FDP-Bundesregierung ein so genanntes Armuts-
zeugnis für das ausgestellt, was Sie in der Entwicklungs-
zusammenarbeit verbrochen und was Sie nicht eingelöst
haben. Diese verfehlte Entwicklungspolitik ist beendet.
Diese Zeiten sind längst vorbei.
Es gibt heute sehr viel wohlwollende Unterstützung für
den Kurs, den die Ministerin eingeschlagen hat. Um das
zu belegen, möchte ich – wir müssen uns nicht allein auf
die Berichte der Welthungerhilfe und von Terre des hom-
mes stützen, die in ihrer Analyse falsch liegen – Reinhard
Hermle zitieren, der Vorsitzender von Venro und gleich-
zeitig Mitarbeiter des katholischen Hilfswerks Misereor
ist. Er sagt zur Koalitionsvereinbarung:
Der Text weist in die richtige Richtung, schreibt
fort, was bewährte entwicklungspolitische Praxis ist
bzw. in der vergangenen Leigslaturperiode begonnen
wurde.
Er sagt außerdem:
In den vergangenen vier Jahren hat die Koalition
viele positive Anstöße für die Entwicklungspolitik
gegeben.
Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang noch auf Fol-
gendes aufmerksam machen: Während des Bundestags-
wahlkampfes gab es eine Veranstaltung zu 40 Jahren Ent-
wicklungszusammenarbeit der Kirchen. Auf ihr wurde
gesagt, dass man Kerzen anzünde und bete, dass die rot-
grüne Regierung im Amt bleibe, weil sie die richtigen
Schritte in der Entwicklungszusammenarbeit eingeleitet
habe.
– Nicht alles im Advent ist besinnlich. Es muss auch ein
kleiner Verweis gestattet sein.
Wenn wir heute über die Gründe reden, warum die
Weichen in der Entwicklungspolitik neu gestellt worden
sind, dann dürfen wir nicht vergessen, dass das auch et-
was damit zu tun hat, was vor 25 Jahren – exakt: im Sep-
tember 1977 – eingeleitet worden ist. Damals kam zum
ersten Mal die Nord-Süd-Kommission unter Leitung
von Willy Brandt zusammen. Er hat bereits sehr früh er-
kannt, dass der Globalisierung der Probleme nur mit ge-
meinsamem globalen Handeln und mit einer Globali-
sierung der Politik, einer so genannten Weltinnenpolitik,
Markus Löning
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Karin Kortmann
begegnet werden kann. Ich erwähne das, weil heute Mor-
gen ständig von großen, schwergewichtigen Bundeskanz-
lern die Rede war. Willy Brandt mahnte schon damals eine
Neuordnung der internationalen Beziehungen an und be-
zeichnete das Interesse der Industrieländer an der wirt-
schaftlichen Entwicklung des Südens als gesundes Eigen-
interesse. Heute sprechen wir nicht mehr von einem
gesunden Eigeninteresse, sondern von einem wohlver-
standenen Eigeninteresse. Ich bin stolz darauf, dass es
diesen großen sozialdemokratischen Weltpolitiker gege-
ben hat, der entwicklungspolitische Weichen gestellt hat.
Wir sind ihm nach wie vor verpflichtet.
Wir werden die WTO deshalb sozial und ökologisch
ausrichten. Wir werden die internationale Finanzarchitek-
tur, wie angekündigt und beschlossen, reformieren. Wir
werden eine globale Umweltordnung schaffen und an ei-
ner Weltfriedensordnung mitarbeiten, die die Teilhabe
aller ermöglicht. Wir werden des Weiteren die sozial-
demokratischen Leitlinien zu Innovation, Solidarität und
Gerechtigkeit in den Erneuerungskurs von IWF und Welt-
bank einbringen. Wir werden uns auch unseren bilate-
ralen, europäischen und internationalen Verpflichtungen
weiterhin so verantwortungsvoll stellen wie in den letzten
vier Jahren.
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hat
diese Weichenstellungen bei der UN-Konferenz fortge-
setzt. Sie hat nämlich mit dazu beigetragen, dass sich die
internationale Staatengemeinschaft dem 0,7-Prozent-Ziel
verpflichtet hat und es jetzt schrittweise umsetzt. Wenn
wir mit dazu beitragen können, bis zum Jahre 2006 einen
0,33-Prozent-Anteil zu erreichen, dann haben wir einen
Riesenschritt gemacht.
Die Ministerin hat bereits darauf hingewiesen – ich
finde, es ist gut, dies zu wiederholen –, dass die ODA-
Quote zum Zeitpunkt der Wahl 1972 – ich nenne Willy
Brandt – bei 0,32 Prozent lag. Bis zu den Bundestags-
wahlen im Jahre 1982 gab es einen Aufwärtstrend; die
Quote erreichte 0,48 Prozent. Das ist ein Traumziel, das
wir heute gerne erreicht hätten. Dann begann der 16 Jahre
währende Abwärtstrend durch die Union. Als wir vor vier
Jahren die Regierungsverantwortung übernommen ha-
ben, lag die Quote wieder bei 0,26 Prozent. Trotz der
schwierigen Haushaltslage sind wir jetzt dabei, diesen
Trend umzukehren.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung
am 29. Oktober dieses Jahres Folgendes dazu gesagt:
Die Finanzierungsbasis für die Entwicklung haben
wir festgeschrieben; wir werden bis zum Jahr 2006
das Ziel einer Quote von 0,33 Prozent für die Ent-
wicklungsarbeit umsetzen.
Dieses Ziel wollen wir erreichen. Dazu gehört aber noch
ein wenig mehr: Dazu gehört zunächst die Würdigung,
dass der Einzelplan 23 für das Jahr 2003 um 2,3 Prozent
auf 3,784 Milliarden Euro erhöht wird. Dazu gehört aber
auch, dass wir stabile Ausgaben für die europäische Ent-
wicklungszusammenarbeit vorsehen, dass wir die Schul-
denerlasse im Rahmen der HIPC-Entschuldungsinitiative
der G-7-Länder fortsetzen, dass wir an der Einführung ei-
ner Devisenumsatzsteuer weiterarbeiten und dass wir uns
bei der Überwindung einer nicht tragbaren Verschuldung
für ein faires und transparentes Verfahren, für ein so ge-
nanntes internationales Insolvenzverfahren einsetzen.
Sie könnten jetzt fragen, was die ganze HIPC-Ent-
schuldungsinitiative gebracht hat. Herr Weiß wird mir
gleich in seinem Redebeitrag sicherlich bei folgendem
Verfahren zustimmen: Wir waren vor zwei Jahren in Bo-
livien und haben uns angeschaut, was in diesem so ge-
nannten Musterländle der Entwicklungszusammenarbeit
und der Entschuldung vonstatten geht. Dort gibt es ein
Höchstmaß an Zusammenarbeit von Staat und internatio-
nalen Gebergemeinschaften wie Wirtschaft, Zivilgesell-
schaft, Europäischer Kommission und Weltbank, um in
diesem Land zu einem fortschrittlichen Entwicklungs-
konzept beizutragen. Ich möchte dies nicht kleinreden,
aber ich bin bereit, darüber nachzudenken, ob alle unsere
Instrumente tatsächlich greifen. Wir brauchen jedoch ei-
nen multilateralen Ansatz, Herr Ruck, und keinen bilate-
ralen, um in diesen Bereichen dazu beitragen zu können,
dass Entwicklung möglich ist.
Ich möchte ein zweites Beispiel nennen, an dem deutlich
wird, dass wir mit bilateraler Arbeit allein nicht weiter-
kommen. Vor knapp einem Jahr haben wir in diesem Parla-
ment darüber beraten, wie wir dem Plan Colombia, den die
US-Regierung beschlossen hat, ein anderes Konzept entge-
gensetzen, um in Kolumbien dazu beizutragen, dass die
Friedensansätze, die die Pastrana-Regierung begonnen hat,
umgesetzt werden können. Das können wir nicht, wenn wir
bilateral in Regierungsverhandlungen stecken bleiben.
Umso wichtiger war es – dieses Parlament hat einen Rie-
senbeitrag dazu geleistet –, dass wir gesagt haben: Wir leh-
nen den Plan Colombia mit seinem militärischen Ansatz ab
und unterstützen soziale und wirtschaftliche Aufbaupro-
jekte. Wir wollen in Kolumbien zu einem Anbau kommen,
der es den Menschen ermöglicht, vom Koka-Anbau weg-
zukommen. – Wir haben festgestellt, dass das der richtige
Ansatz ist. Herr Ruck, Sie müssen zugeben, dass dies eine
Weichenstellung ist, die Sie nicht vorgenommen haben.
Das Konzept der Ministerin ist erfolgreich. Sie brauchen
nicht neidisch zu sein. Sie müssen uns nur gut unterstützen,
dann kommen wir alle weiter.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Arnold Vaatz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol-
legin Kortmann, Sie haben davon gesprochen, dass die
Kirchen der Entwicklungspolitik des Kollegen Spranger
ein Armutszeugnis ausgestellt hätten. Ich möchte Sie fra-
gen, ob Sie prüfen können, ob Sie in dieser Frage nicht in
einem Glashaus sitzen.
Es sollte unstreitig sein, dass sich Entwicklungspolitik
nicht ausschließlich auf die materielle Hilfe beschränken
kann. Sie kann nur dann Erfolg haben, wenn sie sich auch
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 975
die Autorität erwirbt, mit dem Adressaten der Hilfe in einen
partnerschaftlichen Dialog über demokratische Werte ein-
zutreten. Wir stellen beispielsweise in Afrika eine Entwick-
lung fest, die in die entgegengesetzte Richtung geht.
Die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen, was sich
gegenwärtig in Simbabwe ereignet. Vor einigen Tagen
stand ein skandalöses Interview des Präsidenten von
Namibia in der „Welt“. Ich vermisse bis heute eine Stel-
lungnahme der Regierung Schröder zu diesen Aussagen.
Ich vermisse auch eine Querverbindung zwischen solchen
Entwicklungen und der Entwicklungshilfepolitik dieser
Regierung. Dieser Wertediskussion ist Carl-Dieter Spranger
in seiner Amtszeit nie ausgewichen.
Frau Kollegin Kortmann, Sie haben Gelegenheit zur
Erwiderung.
Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, was 1998
von einem wichtigen Bereich der Nichtregierungsorgani-
sationen, den Kirchen, zur Entwicklungszusammenarbeit
der Kohl-Regierung gesagt wurde. Ich kann Ihnen gern
das entsprechende Armutszeugnis zur Verfügung stellen.
Ich kann Ihnen auch das Protokoll aus dem damaligen
Spranger-Ministerium zur Verfügung stellen, in dem
steht, wie damals die Abteilungsleiter versucht haben, da-
rauf zu erwidern, was sie nicht konnten. Ich habe Ihnen
auch gesagt, welche Unterstützung die jetzige Bundesre-
gierung gerade aus diesem Bereich, der sehr genau und
sehr skeptisch überprüft, ob die Hilfe ankommt, hat, wenn
es darum geht, präventive Friedenssicherung zu unter-
stützen, Beteiligungschancen für die Länder des Südens
zu schaffen, Handelsbarrieren abzubauen und eine neue
Finanzarchitektur zu entwerfen.
Wir haben im Rahmen der Entwicklungszusammenar-
beit in dem „Glashaus“, in dem wir auch hier im Parlament
sitzen, dazu beigetragen, dass es eine Schwerpunktsetzung
zum einen in thematischer Hinsicht gibt. Der Aktionsplan
2015, den die Ministerin nannte, ist ein wichtiges Beispiel
dafür, wie kohärente Politik aussehen kann, indem sich
eine gesamte Bundesregierung dazu verpflichtet, zur Hal-
bierung der Armut beizutragen. Es war der Kanzler, der auf
UN-Ebene den Anstoß zu diesem Aktionsplan gegeben
hat; dessen sollten Sie sich noch einmal vergewissern.
Zweitens haben wir dazu beigetragen, die Schwerpunkt-
setzung auch auf die Länder zu konzentrieren; denn dann
kommt unter dem Strich mehr dabei heraus.
Mich wundert in der gesamten Debatte heute die Schärfe
und Unsachlichkeit, wie Sie manche Dinge vortragen. Die
Ministerin hat in der vorletzten Sitzung des AwZ die Inhalte
der Koalitionsvereinbarung vorgestellt. Ich habe aus Ihren
Reihen keine kritische Frage gehört, die dem entspricht, was
heute vorgetragen worden ist. Wenn Sie diese Bühne für
Fragen brauchen, dann kann ich das verstehen. Ich wünsche
mir aber weiterhin eine gute Sacharbeit im Ausschuss.
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich
Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Ich möchte auf das angesprochene Interview eingehen
und sagen, dass auch ich dieses Interview mit Entsetzen
gelesen habe. Ich finde die dort genannten Vorwürfe wirk-
lich skandalös. Offensichtlich hat dieses Interview auch in
Namibia selbst blankes Entsetzen ausgelöst; das ist gut.
Für die Bundesregierung sage ich: Wir sind uns unserer
Verpflichtung gegenüber den Menschen in Namibia be-
wusst. Ich werde dieses Interview zum Anlass nehmen,
um den Botschafter zu einem Gespräch zu bestellen. Denn
ich finde, da muss Klarheit geschaffen werden.
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Peter
Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sowohl in
den Reden der Frau Ministerin als auch in der Rede, die
Frau Kollegin Kortmann soeben gehalten hat, fällt auf,
wie sehr die Vertreter der Koalition nach vier Jahren
Rot-Grün noch immer versuchen, Ihre rückwärts ge-
wandte Politik zu verteidigen und in diesem Sinne zu ar-
gumentieren. Irgendetwas im BMZ-Haushalt scheinen
Sie verstecken zu wollen; sonst müssten Sie nicht so ar-
gumentieren, wie Sie es getan haben.
Wenn man in einer solchen Haushaltsdebatte, Herr Kol-
lege Hoppe, gegenüber den Menschen, zum Beispiel in den
Entwicklungsländern, wirklich ehrlich sein will, dann sollte
man eigentlich nicht weiterhin die Mär verbreiten, der Ent-
wicklungshilfehaushalt wachse von 2002 auf 2003 um
2,3 Prozent an; denn das stimmt schlichtweg nicht.
Frau Ministerin, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün, bitte lesen Sie doch die Zahlen, die das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
selbst publiziert hat. Im Jahre 2002 verfügt das BMZ ins-
gesamt über etwas mehr als 3,851Milliarden Euro. Um es
genau zu sagen: Es verfügt über 3,699 Milliarden Euro
aus dem Einzelplan 23 und über 152,258 Millionen Euro,
die ihm aus dem so genannten Antiterrorpaket und aus
dem so genannten Afghanistan-Paket im Einzelplan 60
zur Bewirtschaftung zugewiesen worden sind.
Was hier vorgetragen wird, ist übrigens nicht die „Zähl-
weise Peter Weiß“, sondern die offizielle Zählweise des
BMZ, publiziert in diesem wunderschönen, bunten Heft.
Am Anfang dieses Heftes sind ein schönes Bild der Frau
Ministerin und ein Vorwort. Im hinteren Teil dieses Hef-
tes ist der Haushalt des Ministeriums aufgeführt. Da heißt
es auf Seite 43: Der Haushalt des BMZ 2002 hat einen Ge-
samtumfang von 3 851 238 000 Euro.
Arnold Vaatz
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
PeterWeiß
Im Haushaltsentwurf 2003 sind – das ist auch richtig –
die so genannten Antiterror- und Afghanistan-Mittel in die
Einzelpläne integriert. Das ist auch beim Einzelplan 23,
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, der Fall. Allerdings tauchen in diesem
Einzelplan nur noch 3,784Milliarden Euro auf. Damit das
im Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2003 nicht
so auffällt, hat das Bundeskabinett am 20. November be-
schlossen, dass das BMZ 30 Millionen Euro aus seinem
Haushalt für Afghanistan an das Auswärtige Amt abzutre-
ten hat. Dies ist übrigens kein einmaliger Vorgang, son-
dern das soll auch in den Folgejahren geschehen. So blei-
ben dem BMZ im Jahre 2003 noch 3,754Milliarden Euro;
das bedeutet ein Minus von über 97 Millionen Euro. Der
Umfang des Haushalts des BMZ steigt nicht, sondern
sinkt. Das ist die Realität, die sich in Ihren Zahlen wider-
spiegelt.
Ich finde es überhaupt nicht lustig, dass Sie das jetzt
ständig bezweifeln und trotz der Korrektheit der Zahlen
Gegenteiliges erzählen. Das hat nämlich nur eines zur
Folge: Die Glaubwürdigkeit Ihrer Entwicklungspolitik
sinkt noch mehr. Wenn man so lügt, wie Sie es hier tun,
dann geht der letzte Rest an Glaubwürdigkeit verloren.
Sie haben sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt – dieses Ziel
haben Sie hier bestätigt; es wurde auch in der Regierungs-
erklärung des Kanzlers formuliert –: Im Jahre 2006 sollen
0,33 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Ent-
wicklungshilfe ausgegeben werden. Allerdings steht schon
heute fest, dass Sie dieses Ziel mit dem BMZ-Haushalt,
den wir hier beraten, und mit der ebenfalls vom Kabinett
beschlossenen mittelfristigen Finanzplanung bis zum
Jahr 2006 überhaupt nicht erreichen können.
Der BMZ-Haushalt hat heute einen Anteil von rund
70 Prozent an der so genannten ODA-Quote, also an dem
0,33-Prozent-Ziel. Ein nur geringes Wachstum des Brut-
tonationaleinkommens unterstellt – zu mehr wird es ange-
sichts der katastrophalen Wirtschaftspolitik von Rot-Grün
nicht reichen –,
müsste der BMZ-Etat bis zum Jahr 2006 auf 4,5 Milliar-
den Euro anwachsen, damit das 0,33-Prozent-Ziel er-
reicht wird. Die mittelfristige Finanzplanung weist aber
nur 3,96 Milliarden Euro aus.
Natürlich könnte man das 0,33-Prozent-Ziel auch er-
reichen, indem man andere Etatansätze, die für die Be-
rechnung der ODA-Quote ebenfalls relevant sind, steigert,
zum Beispiel den deutschen Beitrag zum Entwicklungshil-
fehaushalt der Europäischen Union. Nur: Der EU-Ent-
wicklungshilfehaushalt 2001 ist kleiner als der EU-Ent-
wicklungshilfehaushalt 2000. In der Finanzplanung der
EU bis 2006, die uns ebenfalls vorliegt, werden die Fi-
nanzmittel für externe Politikbereiche gerade einmal um
0,86 Prozent gesteigert,
also auch da ist nichts, mit dem man die ODA-Quote von
0,33 Prozent erreichen kann.
Meine Damen und Herren, erfolgreiche Entwicklungs-
politik ist auch, ja vielleicht sogar in erster Linie eine Frage
der Verlässlichkeit. Unsere Partnerländer, die Menschen in
diesen Partnerländern wie auch die nationalen und inter-
nationalen entwicklungspolitischen Akteure sollten sich
auf ein international aktionsfähiges Deutschland verlassen
können. Bei einer Regierung wie dieser, bei der Worte und
Taten so weit auseinander klaffen, ist jedoch nur auf eines
Verlass: auf die Unzuverlässigkeit.
In der enumerativen Aufzählung vieler guter Absich-
ten, Frau Ministerin, geht meines Erachtens völlig verlo-
ren, was das eigentliche strategische Ziel der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit ist. Mit der Elfenbeinküste
zum Beispiel bricht in diesen Tagen ein weiteres afrikani-
sches Land auseinander.
Angesichts des zunehmenden Staatenzerfalls in einigen
Regionen der Welt, angesichts immer neuer Enttäuschun-
gen, weil Regime sich als korrupt und unfähig erweisen
oder beispielsweise Herr Nujoma solche Interviews gibt,
wie er sie gegeben hat, stellt sich die Frage: Fehlen der
staatlichen Entwicklungszusammenarbeit, die ja zualler-
erst auf Verabredungen zwischen zwei Regierungen ba-
siert, zunehmend die geeigneten Partner?
Zu dieser Frage, die die Aktionsfähigkeit staatlicher Ent-
wicklungszusammenarbeit fundamental betrifft, fehlt jeg-
liche konzeptionelle Antwort der Bundesregierung.
Eine Antwort könnte und sollte meines Erachtens sein, die
Zivilgesellschaft als Motor einer nachhaltigen Entwick-
lung zu stärken.
Das geschieht verbal, auch heute, aber nicht im Bundes-
haushalt 2003.
Die nominalen Steigerungen für Kirchen, Stiftungen
und Nichtregierungsorganisationen basieren einzig und
allein darauf, dass, wie von mir vorhin dargestellt, Mittel
aus dem Stabilitätspakt Südosteuropa, für Afghanistan
und aus dem Antiterrorpaket auf die normalen Haushalts-
mittel draufgerechnet werden. Unter dem Strich sind es
exakt 0 Euro,
das heißt, es gibt keine Stärkung der zivilgesellschaft-
lichen Zusammenarbeit im Bundeshaushalt 2003.
Wenn nun schon eine Bundesregierung finanziell nicht
viel für die Entwicklungszusammenarbeit anbietet,
976
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 977
gibt es dann wenigstens ein stringentes Konzept zur Stär-
kung dieser Politikfelder, wie Sie immer vortragen?
Ich meine, das Thema, das die Entwicklungspolitik end-
lich aus ihrem Schattendasein herausholen und ins Zen-
trum nationaler wie internationaler Politik rücken müsste,
ist die Globalisierung. Das BMZ wäre prädestiniert für
ein erweitertes politisches Aufgabenverständnis als Glo-
balisierungsministerium. In einem BMZ als Globalisie-
rungsministerium würden nicht nur alle die Globalisie-
rung betreffenden Fragen unter einem Dach vereint,
sondern endlich auch globale Kontexte aus der Einzel-
sichtweise von Fachressorts herausgeholt und übergrei-
fend sichtbar gemacht werden.
Um das zu leisten, bedarf es aber zuallererst eines über-
zeugenden politischen Leitbildes für den Globalisie-
rungsprozess. Wir glauben, dass die Idee einer interna-
tionalen sozialen Marktwirtschaft das Grundgerüst für
ein System internationaler Kooperation, zur Nutzung der
Globalisierungschancen und zur Bewältigung von Globa-
lisierungsproblemen liefert.
Aber wie soll eine Bundesregierung international eine
solche Leitidee voranbringen, die sich nicht einmal zu
Hause auf die Politik der sozialen Marktwirtschaft ver-
steht?
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine beschei-
dene Bitte ist: Unterlassen Sie erstens die Falschmeldun-
gen bezüglich des Entwicklungshaushalts und bekennen
Sie sich zu Ihren eigenen Zahlen. Stellen Sie zweitens ei-
nen realistischen und finanzierbaren Plan vor, wie Sie bis
zum Jahr 2006 das Ziel von 0,33 Prozent tatsächlich errei-
chen wollen. Dann haben wir auch eine gemeinsame Ba-
sis, auf der wir eine Politik für die Menschen in den Ent-
wicklungsländern formulieren und durchsetzen können.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Detlef Dzembritzki, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren über keinen der ganz
großen Haushalte, obwohl man nach dem Gestus des Kol-
legen Weiß annehmen könnte, wir hätten jetzt die Gene-
raldebatte über all die Fragen, über die wir insgesamt im
Rahmen der Haushaltsberatungen gestern und heute dis-
kutiert haben und morgen noch diskutieren werden.
Der Einzelplan 23 macht gerade einmal 1,5 Prozent des
bundesdeutschen Gesamthaushalts aus und in diesen
1,5 Prozent liegt schon eine Steigerung; denn im Vorjahr
waren es weniger. Dennoch ist die Arbeit, die in diesem
Bereich geleistet wird, zu einem wesentlichen Teil ver-
antwortlich für das hohe Ansehen, welches die Bundes-
republik in weiten Teilen der Welt genießt. Würden Per-
sonen aus den Ländern des Südens, aus Ländern, mit
denen wir partnerschaftlich zusammenarbeiten, bei uns zu
Gast sein oder sich zu Gesprächen hier aufhalten und die-
ser Debatte folgen, würden sie die Köpfe schütteln über
gewisse Diskussionsbeiträge, zum Beispiel über den zu-
letzt gehörten von Herrn Weiß.
Ich will an dieser Stelle, weil das heute noch nicht ge-
schehen ist, nicht nur der Ministerin und deren Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern, sondern insgesamt den vielen
Menschen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
Entwicklungsprojekten, und im Entwicklungsbereich
herzlich danken.
Sie sind diejenigen, die den guten Ruf der Bundesrepublik
mit vertreten und nach draußen tragen.
Wenn beispielsweise von afghanischer Seite seit Mo-
naten darauf gedrängt wird, dass wir dort eine stärkere, ja
eine Führungsrolle übernehmen, dann ist das auch darauf
zurückzuführen, dass die afghanische Regierung die Er-
fahrung gemacht hat, dass wir verlässliche Partner sind,
dass man sich auf die Zusammenarbeit mit uns einstellen
kann und dass wir dort tatsächlich konkrete Hilfe geleis-
tet haben und weiter leisten werden.
Nun gehört es – wem in diesem Raum sage ich es? –
zur Natur einer Mediendemokratie, dass unterschiedliche
Positionen in der Öffentlichkeit überspitzter und plakati-
ver dargestellt werden – wir haben es eben erlebt –, als das
beispielsweise in unseren Fachausschüssen geschieht.
Frau Kollegin Kortmann hat bedauernd angesprochen,
dass all das Fachliche, was hier möglicherweise bei eini-
gen noch nicht abrufbar war, durchaus hätte abgerufen
werden können. Vielleicht wird das bei konstruktiver Ar-
beit in den Fachausschüssen möglich.
Lieber Kollege Ruck, wenn ich Ihren Zeigefinger sehe,
möchte ich sagen: Im Grunde wissen es ja alle von Ihnen
viel besser, als sie es hier vortragen. Sie wissen, wie ge-
schätzt und geachtet unsere Arbeit in diesem Bereich ist.
Ich hatte überhaupt nichts dagegen, dass Sie das Haar in
der Suppe als Schwerpunkt der heutigen Auseinanderset-
zung sahen, aber es wäre schon besser, wenn Sie zu einer
konstruktiven, differenzierten und kritischen Oppositi-
onsarbeit kämen. Ich weiß nicht, ob das schädlich für Sie
ist, Herr Kollege Ruck: Sie haben es ja ein bisschen ver-
sucht. Vielleicht lässt sich daraus Hoffnung schöpfen.
Auf jeden Fall kann ich sagen, dass die SPD-Fraktion
sich der Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit
sehr wohl bewusst ist, übrigens nicht erst nach dem
11. September des vergangenen Jahres, sondern auch
schon vorher. Natürlich gehört auch die Bekämpfung der
Ursachen des Terrors zum Themenbereich unserer Ent-
wicklungszuammenarbeit.
Die Bundesregierung hat einen Haushalt vorgelegt, der
entgegen dem durch die Sparzwänge gesetzten generellen
Trend einen beachtlichen Aufwuchs aufweist. Sie können
ja lange diskutieren, lieber Kollege Weiß, aber wenn Sie
PeterWeiß
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Detlef Dzembritzki
die Entwurfszahlen und die tatsächlichen Zahlen verglei-
chen, werden Sie eine Steigerung feststellen.
Es ist doch Haarspalterei, wenn wir nun anfangen,
Terrorismusbekämpfungsmittel und Stabilitätspaktmittel
hinzu- oder herauszurechnen. Es sind Mittel,
die wir – Sie wissen, dass das die Konzeption des Hauses
ist – zum Aufbau der Zivilgesellschaft einsetzen, um
gemäß dem präventiven Charakter unserer Arbeit aggres-
sive Entwicklungen zu verhindern, um dafür Chancen zu
bieten, dass Menschen ihre Konflikte friedlich miteinan-
der lösen und es nicht zu Krieg und Spannungen bzw. zur
Zerstörung ihres Landes kommt.
Wir haben in Afghanistan – Sie haben den Stabilitätspakt
angesprochen – bewiesen, dass durch das Instrument der
Entwicklungszusammenarbeit nicht nur Chancen eröffnet
worden sind, sondern Wesentliches erreicht wurde. Gerade
vor dem Hintergrund der Entwicklung in Mazedonien kön-
nen wir ein Stück weit zufrieden damit sein, dass diese In-
strumente gegriffen und wir so eine schlimme Entwicklung
verhindert haben.
Im Haushaltsplan sehen wir einen guten Mix von mul-
tilateraler und bilateraler Zusammenarbeit vor. Herr
Kollege Ruck, ich stimme Ihnen zu, dass wir bei verschie-
denen internationalen Organisationen und Strukturen
schauen müssen, ob dort noch stärker als bei uns Bürokra-
tie abgebaut werden muss. Es ist richtig – Sie haben das
angesprochen –, dass zum Beispiel das Volumen des
Europäischen Entwicklungsfonds im Entwurf ein wenig
reduziert wurde, weil wir wissen, dass die Mittel aus die-
ser Pipeline nicht so fließen, wie wir uns das wünschen.
Hier sind die richtigen Konsequenzen gezogen worden.
Wir sollten aber nicht in den Fehler verfallen, multi-
laterale und bilaterale Zusammenarbeit gegeneinander
auszuspielen.
Vielmehr sollten wir sehen, dass beide Instrumente für
uns von Bedeutung sind und genutzt werden müssen. Das
liegt in unserem Interesse. In der außenpolitischen De-
batte haben Sie vorhin gefordert, dass gerade von deut-
scher Seite aus die multilaterale Zusammenarbeit ange-
gangen werden müsse; in dieser Debatte fordern Sie jetzt,
dass das nicht in der gleichen Weise verfolgt werden solle.
Sie müssen sich schon entscheiden, wofür Sie sich hier
aussprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich mir die
Haushaltsdebatte des letzten Jahres anschaue, stelle ich
fest, dass der Herr Kollege von Schmude – er war damals
Berichterstatter für den Haushalt – in seiner Rede kriti-
siert hat, dass die Mittel im Haushalt des Ministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nicht
in gleichem Maße erhöht wurden wie andere. In diesem
Jahr haben wir eine entgegengesetzte Entwicklung: Trotz
einer Reduzierung des gesamten Haushalts verzeichnen
wir für den Etat des Entwicklungshilfeministeriums einen
Anstieg der Baransätze und einen wesentlichen Anstieg
der Verpflichtungsermächtigungen. All das, was damals
gefordert wurde, wird mit diesem Haushaltsplan umge-
setzt. Ich hätte es als angenehm empfunden, wenn das von
Ihrer Seite konstruktiv-kritisch begleitet worden wäre.
Im Haushaltsplan haben wir – ich denke, das ist ein
wichtiger Hinweis – insbesondere die Vorhaben der zivil-
gesellschaftlichen Gruppen, der Nichtregierungsorgani-
sationen, der kirchlichen Träger, der politischen Stiftun-
gen und des zivilen Friedensdienstes bei den Baransätzen
und bei den Verpflichtungsermächtigungen berücksich-
tigt. Die hervorragende Arbeit, die gerade von diesen Or-
ganisationen und Institutionen geleistet wird, verdient un-
seren Dank und unsere Unterstützung. Bei dem von Ihnen
angeführten Zitat des Vorsitzenden von Venro hat sich ge-
zeigt, dass diese Organisationen wissen, dass sie in uns ei-
nen verlässlichen Partner haben.
Die von uns vorgenommene Steigerung bei der politi-
schen Bildungsarbeit ist ebenfalls wichtig für uns alle.
Auch in Zukunft wird es darauf ankommen, dass wir in
unserer Bevölkerung ein Verständnis für die Notwendig-
keit dieser internationalen Zusammenarbeit wecken. Wir
müssen dafür sorgen, dass die Steigerung im Bereich der
Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttosozialpro-
dukts, die wir gemeinsam wollen, in der Bevölkerung ver-
standen wird. Die politische Bildungsarbeit ist eine we-
sentliche Voraussetzung dafür.
Von dieser Stelle aus möchte ich der evangelischen und
der katholischen Kirche Dank sagen, dass sie in Schwerin
bzw. Trier die großen Aktionen „Brot für die Welt“ und
„Adveniat“ gestartet haben. Diese Arbeit ist sehr wichtig,
weil sie in die Breite geht und weil dort nicht nur nach öf-
fentlichen Geldern gerufen wird, sondern weil mit den
Spenden der Bevölkerung ein wesentlicher Beitrag dazu
geleistet wird, dass internationale Solidarität wahrgenom-
men werden kann.
Ich finde es interessant – auch wenn wir vier Jahre Re-
gierungszeit hinter uns haben, werde ich Sie aus der Ver-
antwortung nicht entlassen –, dass Sie, Herr Löning, und
auch die Kollegen Ruck und Weiß sich über die finanziell
offensichtlich katastrophale Situation in Uganda Gedan-
ken machen. Die finanzielle Situation, die Sie uns hinter-
lassen haben, trägt eben nach wie vor dazu bei, dass wir
uns hinsichtlich der ODA-Quote der sozialdemokrati-
schen Zielmarke nur schrittweise annähern können.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Das werden Sie nicht ändern können.
– Nein, in zehn Jahren werden wir das erreicht haben.
978
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 979
Herr Kollege Dzembritzki, ich muss Sie an Ihre Rede-
zeit erinnern.
Frau Präsidentin, ich will meine Rede beenden und will
meine Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass wir in Zu-
kunft nicht nur über Geld diskutieren, sondern dass wir
auch unsere Politik infrage stellen werden – insbesondere
in den Industrieländern. Denn wenn ich sehe, dass wir
zum Beispiel für Schutzzölle und für Subventionen für die
Agrarwirtschaft mehr Geld ausgeben, als wir für die Ent-
wicklungshilfe aufbringen, dann muss ich feststellen:
Auch hier muss ein Umdenken stattfinden; auch hier soll-
ten wir gemeinsam einen Schub vornehmen.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums des Innern. Das Wort hat der Bundesmi-
nister des Innern, Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Laufe
der heutigen Bundestagssitzung sind viele Gegensätze er-
kennbar geworden. Deshalb will ich zum Beginn meiner
Ausführungen einen Punkt herausstellen, von dem ich
annehme, dass wir darin einig sind, nämlich dass die
Gewährleistung der inneren Sicherheit zu den Kern-
aufgaben des Staates gehört. Weil das so ist, ist der Staat
auch darauf angewiesen, dass ihm die dafür notwendige
finanzielle Ausstattung zur Verfügung steht. Seiner Auf-
gabe in diesem Bereich kann der Staat nur gerecht wer-
den, wenn er – das ist eine Selbstverständlichkeit; man
muss manchmal aber auch Selbstverständlichkeiten wie-
derholen – über eine verlässliche Einnahmebasis verfügt.
Der Ansatz für den Einzelplan 06 im kommenden
Haushaltsjahr beläuft sich auf 4,023 Milliarden Euro. Ge-
genüber dem im Bundeshaushalt ausgewiesenen Soll des
laufenden Haushaltsjahres beträgt der Aufwuchs also
9,8 Prozent. Damit weist der Einzelplan des Bundesminis-
teriums des Innern im Ressortvergleich den stärksten Auf-
wuchs auf. An dieser Zahl können Sie erkennen, welchen
Rang die Innenpolitik, insbesondere die Gewährleistung
der inneren Sicherheit, im Handeln der Bundesregierung
einnimmt.
Der Aufwuchs ist auf die zusätzlichen Haushaltsmittel
insbesondere zur Stärkung der inneren Sicherheit und zur
Bekämpfung des Terrorismus zurückzuführen. Wenn
Sie die einzelnen Ansätze vergleichen, dann sehen Sie,
dass wir beim Bundesamt für Verfassungsschutz einen
Aufwuchs von 22,13 Prozent, beim Bundeskriminalamt
von 20 Prozent, beim Bundesamt für die Sicherheit in der
Informationstechnik von rund 30 Prozent, beim Bundes-
grenzschutz von über 12 Prozent, beim Bevölkerungs-
schutz und bei der Katastrophenschutzhilfe, deren Bedeu-
tung wir angesichts der Jahrhundertflut nicht aus dem
Gedächtnis verloren haben, einen Aufwuchs von knapp
38 Prozent und beim Technischen Hilfswerk von über
9 Prozent haben.
Dieses finanzielle Engagement kann natürlich nur zu-
stande kommen auf der Grundlage einer soliden Finanz-
und Haushaltspolitik. Deshalb steht es in einem engen Zu-
sammenhang mit der soliden Finanz- und Haushaltspoli-
tik von meinem Kollegen, dem Bundesfinanzminister
Hans Eichel, dem ich dafür meinen ausdrücklichen Dank
ausspreche.
Ich glaube, es besteht auch Anlass, den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern meines Hauses, die bei diesen schwieri-
gen Verhandlungen wichtige Arbeit haben leisten müssen,
meinen besonderen Dank dafür auszusprechen.
Eine wichtige Institution bei der Gewährleistung der
inneren Sicherheit ist der Bundesgrenzschutz. Ich hoffe,
dass es gelingt, ihm im Laufe dieser Legislaturperiode den
ihm entsprechend seinen Aufgaben zukommenden Na-
men, nämlich Bundespolizei, zu geben. Diese Institution
hat sich großes Ansehen im Innern und im Ausland er-
worben. Auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Bundesgrenzschutzes will ich an dieser Stelle meinen
herzlichen Dank aussprechen.
Natürlich kann der Bundesgrenzschutz diese Arbeit
nur leisten, wenn er mit den notwendigen modernen Ein-
satzmitteln ausgestattet ist, über das notwendige Personal
verfügt und – das will ich hinzufügen – seine Personal-
struktur so gestaltet wird, dass die Mitarbeiter ihrer Auf-
gabe mit der nötigen Motivation nachgehen können. Des-
halb war es mir wichtig und ich bin sehr froh und dankbar
darüber – ich weiß, dass es immer eine schwierige Ausei-
nandersetzung mit dem Bundesfinanzministerium gege-
ben hat –, dass wir wie in den vergangenen Jahren auch in
diesem Haushaltsjahr das Hebungsprogramm beim Bun-
desgrenzschutz fortsetzen können. Wir haben dafür knapp
5,9 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Ich glaube,
dieser Aspekt spielt für die Leistungsfähigkeit des
Bundesgrenzschutzes eine große Rolle.
Wenn Sie sich das Aufgabenspektrum des Bundesgrenz-
schutzes anschauen – dazu gehören die Sicherung unserer
Flughäfen und unseres Flugverkehrs, worüber es ja jüngst
eine Debatte gab; der Schutz der Auslandsvertretungen
und der Einsatz von Entschärfergruppen auf Flughäfen;
daneben wird er in ganz speziellen Fällen angefordert, die
ich jetzt nicht näher bezeichnen will –, dann werden Sie
Verständnis dafür haben, dass ich mich im Bundesrat da-
für einsetze, dass es eine Erschwerniszulage für die GSG 9
gibt. Ich hoffe, dass der Bundesrat seinen Widerstand ge-
gen diesen Vorschlag aufgeben wird.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundesminister Otto Schily
Selbstverständlich braucht der Bundesgrenzschutz
ebenso wie andere Behörden, die für Ordnung und Si-
cherheit zuständig sind, ein modernes Funksystem. Ich
bemühe mich seit ziemlich langer Zeit darum, eine Eini-
gung darüber herbeizuführen. Ich wäre dankbar, wenn auf
allen Seiten des Hauses dafür Unterstützung zustande
käme, dass wir den Analogfunk durch einen modernen Di-
gitalfunk ablösen. Denn der Analogfunk verfällt tech-
nisch und wir haben die Möglichkeit, einen modernen Di-
gitalfunk aufzubauen. Die Kosten dafür, soweit wir es im
Moment beurteilen können, fallen geringer aus, als die,
die wir für eine Fortsetzung des Analogfunks aufwenden
müssten. Wir wären gut beraten, uns dafür zu entscheiden.
Ich hoffe, dass dies morgen auf der Innenministerkon-
ferenz – ich bin dem jetzigen Vorsitzenden der Innenmi-
nisterkonferenz, dem Kollegen Dr. Böse, dankbar, dass er
mich darin nachhaltig unterstützt – endlich vorankommt.
Es muss gelingen, den Digitalfunk bis zur Fußballwelt-
meisterschaft 2006 funktionsfähig zu machen, damit wir
uns bei einem solchen Weltereignis des Sports nicht bla-
mieren, weil wir an der Stelle Defizite haben.
In der Kürze der Zeit – ich habe noch etwas über fünf
Minuten Redezeit – kann ich nicht alles vor Ihnen an-
sprechen. Ich will Ihnen aber vor Augen führen, dass sich
die Aufgaben des Bundeskriminalamtes, so wichtig sie
sind, nicht auf das Inland beschränken, sondern dass das
Bundeskriminalamt in vielfältiger Weise auch in europä-
ische und internationale Institutionen eingebettet ist.
Wenn ich über die Bitten und Anforderungen nach-
denke, die im Laufe der Jahre auf mich zugekommen sind,
zuletzt im Gespräch mit dem serbischen Ministerpräsi-
denten Djindjic, muss ich sagen: Allein die Anzahl der
diesbezüglichen Bitten und Anforderungen von Regie-
rungen in- und außerhalb Europas an die Bundesre-
gierung und die Landesregierungen ist ein wirklicher
Ausweis für die höchste Leistungsfähigkeit unserer Si-
cherheitsinstitutionen. Deshalb sollten wir – bei aller not-
wendigen Kritik an der einen oder anderen Stelle – darauf
achten, dass wir dieses Ansehen nicht in irgendeiner
Weise infrage stellen. Ich glaube, wir haben wirklich An-
lass, auf diese Institutionen stolz zu sein.
Ich will darauf besonders im Zusammenhang mit dem
hinweisen, was unsere Polizei in Afghanistan unter außer-
ordentlich gefahrvollen Bedingungen leistet. Ich möchte
diese Leistung mit einem Ausdruck belegen, der sonst nur
für Doktorarbeiten angewandt wird: Das, was dort beim
Aufbau einer eigenständigen Polizei geleistet wird, ver-
dient die Note summa cum laude. Ich finde, das sollten
wir hier einmal aussprechen.
Ich kann noch Weiteres anführen. Ich habe großen Res-
pekt davor – ich habe das seinerzeit vermittelt –, dass der
frühere Inspekteur des Bundesgrenzschutzes heute der
Berater der rumänischen Regierung, meines rumänischen
Innenministerkollegen, beim Aufbau einer rechtsstaatli-
chen Grenzpolizei in Rumänien ist, mit der dort Krimina-
lität bekämpft werden soll.
Ministerpräsident Djindjic – ich habe ihn schon er-
wähnt –, der in seinem Land vor großen Problemen steht,
deren Ausmaß wir uns gar nicht vorstellen können, ist an
uns herangetreten mit der Bitte, dass wir ihn unmittelbar
beraten.
Zu den Institutionen, die für die Sicherheit auf Bun-
desebene zuständig sind, gehört ferner das Bundesamt
für Sicherheit in der Informationstechnik, eine Institu-
tion, um die uns viele Länder beneiden. Ich bin froh da-
rüber, dass wir deren Leistungsvermögen immer weiter
haben stärken können. In einer modernen Welt, die sich
weitgehend moderner Informations- und Kommunika-
tionstechniken bedient, ist dieses Amt von großem Wert.
Ich kann alle Aufgaben, die dort geleistet werden, nicht im
Einzelnen aufführen. Ich will nur darauf hinweisen, dass
wir dieses Amt weiter stärken.
Stärker ins Bewusstsein ist die Tatsache getreten, dass
wir uns auch auf Bundesebene mehr um Bevölkerungs-
schutz, um Katastrophenschutzhilfe kümmern müssen.
Ich sage das ganz selbstkritisch. Ich glaube, Selbstkritik
wird an der Stelle dankenswerterweise auch von der Op-
position geleistet. Alle waren der Meinung: Mit Ende des
Kalten Krieges ist die Zivilschutzaufgabe obsolet gewor-
den. Sie haben das abgebaut, wir haben das eine Weile
fortgesetzt. Ich sage das ganz selbstkritisch. Ich glaube,
wir brauchen uns da gegenseitig nichts vorzuwerfen. Aber
wir müssen das ändern.
Deshalb ist es richtig, dass sich Bund und Länder auf
ein neues Rahmenkonzept geeinigt haben. Wir haben uns
nicht in akademische Diskussionen darüber verstrickt,
wer für was zuständig ist, und auch keine lange Verfas-
sungsdiskussion begonnen. Vielmehr versuchen wir, die
praktischen Aufgaben anzugehen und unsere jeweiligen
Kapazitäten und Möglichkeiten miteinander zu vernet-
zen. Das ist der richtige Ansatz.
Ich habe Wert auf die Feststellung gelegt, dass wir die
organisatorische Veränderung, die wir dadurch vorge-
nommen haben, dass wir den Zivilschutz in das Bundes-
verwaltungsamt eingegliedert haben, nicht zurückneh-
men; denn dadurch gewinnen wir Effizienzvorteile, weil
die Overheadkosten auf diese Weise geringer sind. Wir
haben auf diese Weise nicht zwei Zentralabteilungen, für
jede Institution eine. Wir werden eine Verwaltungsge-
meinschaft gründen und ein neues Bundesamt für Bevöl-
kerungsschutz und Katastrophenschutzhilfe einrichten, in
dem wir neue Dienstleistungsangebote zur Verwirkli-
chung dessen, was wir in dem Rahmenkonzept angelegt
haben, schaffen. Ich glaube, das ist der richtige Ansatz.
Ich habe mir eigentlich vorgenommen, einiges über
den Sport zu sagen. Aber ich nehme an, aus meiner Frak-
tion wird dazu Stellung genommen. Deshalb will ich zum
Schluss noch auf einen Punkt kurz eingehen, wenn mir die
Zeit bleibt, Frau Präsidentin. Ich sehe, der Sekundenzei-
ger Ihrer Uhr geht so rasch voran, dass ich in der Zeit nicht
alle meine Stichworte ansprechen kann.
Alle Seiten dieses Hauses – die Opposition mahnt das
an und wir haben uns das vorgenommen – sind bestrebt,
980
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 981
die Bürokratie abzubauen. Das ist eine wichtige Aufgabe.
Ich bin auf der Seite aller, die sich in diesem Sinne enga-
gieren wollen. Wir haben – hier besteht ja ein Zusam-
menhang – auf dem Gebiet der Modernisierung der Bun-
desverwaltung durchaus beachtliche Fortschritte erzielt.
Ich möchte Ihnen, was den Bürokratieabbau auf Bun-
desebene angeht, einige Zahlen nennen: Wir haben
92 Behörden geschlossen. Die Zahl der Behörden wurde
von 654 auf 562 reduziert. Natürlich können Sie sagen, 562
seien immer noch zu viel. Wir haben nahezu 18000 Stellen
gestrichen. Die Zahl sank von rund 309000 auf etwa
291000. Das sind circa 6 000 weniger als vor der Wieder-
vereinigung. Der Personalbestand im Geschäftsbereich des
BMI ist um 14,6 Prozent reduziert worden. Im Rahmen des
Projekts „Bund Online“ haben wir enorme Effizienzge-
winne erzielen können. Es gibt eine enge Verbindung zwi-
schen Bürokratieabbau, Modernisierung der Verwaltung
und Nutzung der modernen Kommunikations- und Infor-
mationstechnik.
Aber an einem Punkt, nämlich in der Frage der
Normenüberflutung – das ist ein Vorwurf, mit dem wir
umgehen müssen; auch die Opposition hat dies in der
Aussprache über die Regierungserklärung kürzlich ange-
sprochen –, sind weder Bund noch Länder, noch Kom-
munen, noch die Europäische Union sehr deutliche
Schritte vorangekommen. Wir müssen uns einfach auch
einmal vom Grundsätzlichen her darauf besinnen, woher
diese Produktivität an Normen rührt. An dieser Stelle soll-
ten wir tatkräftig ansetzen. Wir werden uns dieser
Aufgabe ressortübergreifend – zusammen mit dem Bun-
desfinanzministerium, mit dem Bundeswirtschaftsminis-
terium, insbesondere auch mit dem Bundesjustizministe-
rium – annehmen; denn ein Ressort alleine kann das gar
nicht leisten. Ich hoffe auf Unterstützung aller, die sich
dort engagieren wollen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich hoffe, dass
dieser Einzelplan, so wie er im Entwurf vorliegt, die Zu-
stimmung der Haushälterinnen und Haushälter findet; sie
haben die eigentliche Entscheidung darüber zu fällen.
Deshalb appelliere ich an Sie alle, die gute Arbeit der Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter, auch in den nachgeordne-
ten Institutionen des Bundesministeriums des Innern, da-
durch zu bestätigen und anzuerkennen, dass Sie diese
Haushaltsansätze billigen.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Strobl,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kol-
legen! Ihre Rede von heute Abend, Herr Bundesinnenmi-
nister, passt hervorragend zu einer Aussage, mit der Sie in
der „Bild“-Zeitung zitiert wurden, als Sie bezüglich der
rot-grünen Regierungspolitik auf Probleme angesprochen
worden sind. Sie sagten: „Probleme? – Es gibt doch keine
Probleme.“ Auch in der Innenpolitik scheint sich Rot-
Grün inzwischen auf Stillstand festgelegt zu haben. Zu-
gegeben, angesichts der katastrophalen Auswirkungen Ih-
rer Finanz- und Wirtschaftspolitik kann es immer noch
besser sein, Sie tun nichts, als dass Sie sich in blindem und
ziellosem Aktionismus ergehen.
Zustimmen, Herr Bundesinnenminister, möchte ich Ih-
nen ausdrücklich, was den Dank an Ihre Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter angeht. Ich glaube, diese verdienen ihn
besonders.
Insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
Bundesgrenzschutzes, des BKA, des BfV und des BND
verdienen Respekt, Anerkennung und Dank dafür, dass
sie die Aufgaben im Bereich der inneren Sicherheit für
uns alle wahrnehmen.
Allerdings ist, Herr Bundesinnenminister, die Sicher-
heitslage in Deutschland, insbesondere was die Bedro-
hung durch terroristische Anschläge angeht, viel zu ernst,
als dass man einfach zur Tagesordnung übergehen könnte.
„Deutschland ist in großer Gefahr“, so der Präsident
des Bundesnachrichtendienstes, Hanning, vor drei Wo-
chen in der „Welt am Sonntag“. Der Stellvertreter Osama
Bin Ladens droht in einem Video Deutschland mit direk-
ten Anschlägen. Dies ist die Situation in Deutschland.
Ich zitiere den BND-Präsidenten Hanning weiter:
Aus Sicht der al-Qaida beteiligt sich Deutschland in
besonderer Weise an dem Kreuzzug, wie sie es nen-
nen, und das wiederum hat die Konsequenz gehabt,
dass Deutschland von Bin Ladens Stellvertreter ... in
einer Video-Botschaft am 8. Oktober als potenzielles
Angriffsziel genannt worden ist.
Djerba, Riad, Bali, Mombasa und der Anschlag auf den
französischen Tanker „Limburg“ belegen, dass auch die
Verbündeten der USA, also auch die Bundesrepublik
Deutschland, im Fadenkreuz des islamistischen Terroris-
mus stehen.
Wir stehen durch den internationalen Terrorismus
vor einer neuen, noch nicht da gewesenen Bedrohung
auch in der Bundesrepublik Deutschland. Daraus folgt für
uns als für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in
besonderem Maße verantwortliche Politiker, dass wir da-
rauf reagieren. Wir müssen die richtigen Schlüsse ziehen
und eine Politik machen, mit der wir konsequent vor al-
lem ein Ziel verfolgen: die Sicherheit der Bürgerinnen
und Bürger zu gewährleisten.
Natürlich wissen auch wir: Eine absolute Sicherheit
wird es in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht geben
können. Aber wir haben zumindest die Aufgabe, alles
dafür zu tun, um ein möglichst hohes Maß an Sicherheit
zu gewährleisten. Das, was Rot-Grün – teilweise mit un-
serer Unterstützung – in der vergangenen Legislaturperi-
ode beschlossen hat, reicht dafür nicht aus. Dies war
Bundesminister Otto Schily
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Thomas Strobl
unsere Meinung und dies ist unsere Meinung. Deswegen
müssen wir uns heute sehr grundsätzliche Gedanken über
eine neue und sehr umfassende Sicherheitsarchitektur in
der Bundesrepublik Deutschland machen.
– Warten Sie es doch ab.
Wenn wir von einer neuen Sicherheitsarchitektur in
Deutschland sprechen, müssen wir in einigen zentralen
Punkten neu nachdenken und auch umdenken. Mögliche
extremistische Gewalttäter beispielsweise dürfen mög-
lichst erst gar nicht in unser Land einreisen. Wenn wir
aber schon die Einreise nicht verhindern können, müssen
wir in Deutschland wenigstens dafür sorgen, dass solche
Elemente so früh wie möglich entdeckt, erkannt und un-
schädlich gemacht werden, jedenfalls mindestens außer
Landes gewiesen werden können.
Schon aus diesem Grunde brauchen wir ein Sicher-
heitspaket III. Ein solches Sicherheitspaket III wird die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hier im Deutschen Bun-
destag mit zahlreichen umfangreichen und weitreichen-
den Gesetzesänderungen einbringen. Dies wird übrigens
– nach „Otto I“ und „Otto II“ – kein von den Fraktionen
von SPD und Grünen entwerteter Minimalkompromiss
sein, sondern echte Qualitätsware zur Verbesserung der
inneren Sicherheit in unserem Land.
Einige konkrete Vorschläge will ich hier anreißen.
Herr Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Veit?
Bitte sehr, Kollege.
Dann der Kollegin Sonntag-Wolgast?
Ja.
Frau Präsidentin, Entschuldigung, wir hatten uns in
etwa zeitgleich von unseren Plätzen erhoben. Der Kollege
Veit ist so freundlich, mir den Vortritt zu lassen. Ich fasse
mich auch relativ kurz.
Herr Kollege, vor dem Hintergrund Ihrer Forderungen
an das dritte Sicherheitspaket möchte ich Sie an das
Gespräch heute Mittag mit einem amerikanischen Kon-
gressabgeordneten, einem Vertreter der Republikaner, er-
innern. Er hat uns auf solche Fragen hin ausdrücklich ge-
sagt, die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den
USAbei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus
könne überhaupt nicht besser sein. Weitere gesetzliche
Maßnahmen halte er im Moment nicht für notwendig.
Sie waren dabei, Herr Kollege. Sie erinnern sich sicher.
Ich war bei dem Gespräch zugegen, Frau Sonntag-
Wolgast. Die Amerikaner sind höfliche Menschen.
Jeder hier im Raum und auch in der deutschen Öffent-
lichkeit weiß, dass das Verhältnis der Bundesrepublik
Deutschland und insbesondere ihres Bundeskanzlers zu
den Amerikanern, namentlich zum amerikanischen Präsi-
denten, so gut ist, dass es besser nicht sein könnte.
Ich glaube, hieran haben Sie noch zu arbeiten.
– Wenn Sie zugehört hätten, Herr Kollege, hätten Sie sie
gehört.
Wir haben einige spannende Fragen erörtert. Sie haben
sicher davon gelesen: In den Vereinigten Staaten von Ame-
rika gibt es ein neues Ministerium, ein Heimatschutzmini-
sterium, welchem eine wichtige Bündelungsfunktion –
Konzentration und Koordination – für den Bereich der in-
neren Sicherheit in diesem Land zukommt. Es hat ein Bud-
get von 40 Milliarden US-Dollar und 170000 Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter. Wenn ich mir ansehe, was in den
USA seit dem 11. September gegangen ist, und überlege,
was gerade die Fraktionen von Rot und Grün seit dem
11. September an Notwendigem in diesem Land blockiert
haben,
dann komme ich zu dem Schluss, dass es große Unter-
schiede zwischen den USA und der Bundesrepublik
Deutschland gibt:
Dazu gehört erstens die falsch verstandene Toleranz
von Rot-Grün gegenüber extremistischen Ausländern in
Deutschland.
Daraus resultiert eine zu laxe Haltung in den Fragen des
Aufenthaltsstatus, der Bleiberechte, der Einbürgerung
982
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 983
und der Ausweisung. Eine Katze mit Handschuhen fängt
keine Mäuse.
Herr Kollege Strobl, gestatten Sie eine weitere Zwi-
schenfrage, und zwar des Kollegen Veit?
Nachdem der Kollege Veit seine Meldung zu einer
Zwischenfrage eben zurückgezogen hat,
würde ich jetzt gern meine Gedanken zu Ende führen.
Vielleicht beantwortet sich das eine oder andere dann
auch von selbst, Herr Kollege.
Wir wollen nicht, dass Terroristen bei uns ungehindert
einreisen können.
Wir wollen, dass diejenigen, die bereits bei uns sind und
dem religiösen Fanatismus zuzurechnen sind, außer Landes
verwiesen werden können. Sie haben hier nichts verloren.
Zweitens. Das von der rot-grünen Bundesregierung re-
formierte Staatsangehörigkeitsrecht steht der Auswei-
sung von gewaltbereiten Extremisten natürlich diametral
entgegen.
Es ist kein Geheimnis, dass gewaltbereite Islamisten ver-
mehrt unter dem Deckmantel der deutschen Staatsan-
gehörigkeit agieren. Rot-Grün hat dies durch das neue
Staatsangehörigkeitsrecht in großem Maß ermöglicht.
Es ist eine Tatsache, dass wir all die nun Eingebürgerten,
selbst dann, wenn es sich um Terroristen handeln sollte, nie
wieder loswerden. Die Straftat mag noch so groß sein, sie
bleiben dieser Republik auf ewig als Staatsbürger erhalten.
Wir sollten einmal ganz vorbehaltlos prüfen, meine ich, ob
der Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft
für hier eingebürgerte Doppelstaatler, die eine terroristi-
sche Vereinigung im In- oder Ausland unterstützen, eine
Rechtsfolge sein kann.
Wir wollen jedenfalls nicht, dass Terroristen unter dem
Deckmantel deutscher Staatsangehörigkeit gegen diesen
Staat oder gegen andere Staaten der freien Welt agieren
können. Deswegen müssen wir auch eine Debatte über
den Verlust der Staatsangehörigkeit für terroristische
Doppelstaatler führen.
Drittens. Ein Trauerspiel gibt es beim Thema fäl-
schungssichere Ausweis- und Visapapiere.
Wann endlich lassen SPD und Grüne zu, dass biometri-
sche Daten in Ausweispapieren und Visumsverfahren
aufgenommen werden, so wie es die Sicherheitsexperten
händeringend wünschen und andere Länder im Übrigen
machen? Außer Ankündigungen im Sicherheitspaket II ist
nichts geschehen.
Ich sage Ihnen mit einem bekannten Berliner, mit Erich
Kästner: Es gibt nichts Gutes – außer: Man tut es.
Ganz duster, um nicht zu sagen: zappenduster, sieht es
diesbezüglich im Haushalt aus. Mindestens 13 Millionen
Euro wollte das BMI eigentlich für die Biometrie etati-
sieren. Schily ist jedoch bei Eichel eingeknickt. Für das
nächste Jahr sollen gerade mal 1,5 Millionen Euro veran-
schlagt werden. Das ist zu wenig.
Das heißt: Im nächsten Jahr wird die rot-grüne Bundesre-
gierung weiter dulden, dass mit gefälschten Ausweispa-
pieren und falschen Visapapieren in Deutschland großer
Schaden und größte Gefahr im Bereich der inneren Si-
cherheit bestehen bleiben und entstehen werden.
Viertens. Zu einer neuen umfassenden Sicherheitsar-
chitektur gehört freilich, dass wir zu einer stärkeren Bün-
delung, Integration und Konzentration auch bei den Si-
cherheits- und Katastrophenschutzbehörden kommen.
Auch hierzu werden wir Vorschläge machen.
Fünftens. Für die Rolle der Bundeswehr in unserem
Staat gilt auch: Wir werden neu darüber nachdenken.
Wenn Bremens Innensenator Böse – der Bundesinnenmi-
nister hat ihn bereits erwähnt – bei der morgen tagenden
Innenministerkonferenz den Einsatz der Bundeswehr im
Innern zum Schutz vor Terroranschlägen vorschlagen will,
dann hat er doch nur Recht. Als Polizeisenator weiß er,
dass seit dem 11. September, gerade was den Polizeiob-
jektschutz angeht, eine völlig neue Situation da ist. Des-
wegen brauchen wir auch eine Neuorientierung der zivil-
militärischen Zusammenarbeit. Wer es, wie offensichtlich
Thomas Strobl
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Thomas Strobl
der bremische Innensenator, mit der Sicherheit der Men-
schen in diesem Land ernst meint, der weiß, dass an einem
Einsatz der Bundeswehr im Innern bei entsprechenden
Gefahrenlagen kein Weg vorbei führt.
Auch der Zivil- und Katastrophenschutz ist von emi-
nent wichtiger Bedeutung.
Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob wir einem Anschlag
wie beispielsweise auf Bali oder in Mombasa gewachsen
wären. Experten auf diesem Gebiet sagen mir, dass der
Katastrophenschutz insgesamt zu schlecht ausgestattet ist
und dass wir, insbesondere für die Ausrüstung, dringend
mehr Mittel etatisieren müssten.
Noch schlimmer ist – dies haben mir Experten auf
meine Frage, was passiert, wenn bei uns etwas passiert,
wenn der Terror zuschlägt, geantwortet –, dass in einem
solchen Fall nichts geschehen würde, außer dass erst ein-
mal 48 Stunden um Kompetenzen gerangelt würde.
Deswegen brauchen wir eine neue Sicherheitsarchitektur.
Wir brauchen eine Reorganisation, eine Reform und eine
Optimierung im Zivil- und Katastrophenschutz.
Ich mache Ihnen das an einem Beispiel deutlich. Bei ei-
nem Angriff mit Pockenviren müsste der Bundesinnen-
minister erst mit Ministerin Schmidt – das ist die Dame,
die mit großer Sach- und Fachkunde die Gesundheits-
politik in diesem Lande verwaltet –
die Kompetenzen klären.
Besser wäre es übrigens, man würde schon jetzt, wie
andere Länder auch, zum Schutz der Bevölkerung vor-
sorgen. Die Antwort der Bundesregierung auf eine An-
frage des Kollegen Koschyk zeigt, dass davon in keiner
Weise die Rede sein kann.
Herr Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Reichenbach?
Nein, ich möchte, auch aufgrund der fortgeschrittenen
Redezeit, zum Ende kommen.
Aber nicht nur in der horizontalen Kompetenzvertei-
lung gibt es Probleme, auch hinsichtlich der vertikalen
Kompetenz der Länder für den Katastrophenschutz müs-
sen wir umdenken. Der Bund braucht bei einer Bedrohung
aus terroristischen Angriffen eindeutig mehr Mitverant-
wortung. Er muss verstärkt Verantwortung übernehmen,
und zwar auch in den Fällen, die nicht eindeutig als Ver-
teidigungsfall im herkömmlichen Sinne einzustufen sind.
Die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kom-
munen muss bei großflächigen Gefahren oder Gefahren
von nationaler Bedeutung optimiert werden.
Herr Kollege Strobl, Ihre Redezeit ist nun wirklich
überschritten.
Die Bedrohungssituation stellt, so schlimm sie auch
sein mag, eine Chance dar, um überkommene Strukturen
zu hinterfragen und um eine neue Strategie zum Schutz
der Bevölkerung, der Bürgerinnen und Bürger dieses Lan-
des, durchzusetzen. Herr Bundesinnenminister, es ist
höchste Zeit: Nutzen Sie diese Chance!
Reden Sie nicht nur, handeln Sie!
Ich danke Ihnen.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort an den
Kollegen Otto Schily.
Herr Kollege Strobl, von Montesquieu gibt es den schö-
nen Satz, dass manche Menschen ihre Vorurteile mehr lie-
ben als die Wirklichkeit. So ist das auch bei Ihnen.
Ich muss feststellen, dass Sie das, was Sie eben gesagt ha-
ben, aus dem Plattenschrank geholt haben. Was Sie hier
zu bieten hatten, war nicht sehr kurzweilig.
Zum Thema Office of Homeland Security. Ich habe
mich mehrfach mit Tom Ridge getroffen. Er bestätigt das,
was Ihnen Herr Sensenbrenner heute gesagt hat, dass
nämlich die Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten
Staaten von Amerika und Deutschland nicht besser, enger
und vertrauensvoller sein könnte. Nehmen Sie das zur
Kenntnis und lassen Sie das dumme Geschwätz, das Sie
uns bei diesem Punkt eben am Pult geboten haben!
– Das muss ich hier in aller Klarheit sagen.
Sie sind auf die 170 000 Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter zu sprechen gekommen, die dieses Ministerium hat.
984
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 985
Das Bundesministerium des Innern, das, wie Sie richtig
erkannt haben, wahrlich nicht allein für die Gewährleis-
tung der inneren Sicherheit zuständig ist, verfügt allein
über 60 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dabei sind
wir ein wesentlich kleineres Land als die Vereinigten
Staaten von Amerika.
Sie haben über Einbürgerung gesprochen. Kennen Sie
eigentlich die Fälle, um die es sich handelt? Das sind
Einbürgerungsverfahren, die zu Ihrer Regierungszeit zu-
stande gekommen sind.
Wir haben das Einbürgerungsrecht so verändert, dass Per-
sonen, die eine Gefahr für die innere Sicherheit unseres
Landes darstellen, nicht mehr eingebürgert werden kön-
nen. Sie haben dieses Einbürgerungsgesetz abgelehnt.
Das ist der Sachverhalt.
Sie reden über Biometrie und machen dazu allgemeine
Ausführungen, wissen aber offenbar gar nicht, was vor
sich geht. Die deutsche Bundesregierung ist es, die auf der
europäischen Ebene vorangeht und entsprechende Vor-
schläge macht. Allerdings haben wir in Europa nicht al-
lein zu bestimmen.
– Druck machen wir, das können Sie mir glauben. Aber es
ist nicht so, dass man nur mit den Fingern zu schnippen
braucht und schon geht es in Europa voran. Aber immer-
hin haben wir schon durchgesetzt, dass in ein Visum ein
Lichtbild integriert wird. Wenn Sie die Zeitung lesen wür-
den, dann hätten Sie gewusst, dass, wie ich kürzlich vor-
gestellt habe, wir als erstes Land diese europäische Rege-
lung durchsetzen. Das ist ein großer Fortschritt, zu dem
uns Herr Sensenbrenner – Sie haben ihn gerade kennen
gelernt – gratuliert hat.
Verwechseln Sie doch bitte nicht wie Ihr Kollege
Bosbach dauernd Fälschungssicherheit und Identifizie-
rungssicherheit. Das sind zwei Paar Schuhe. Fälschungs-
sichere Papiere im optimalen Standard stellen wir schon
heute her. Besuchen Sie doch einmal die Bundesdrucke-
rei! Es kann nicht schaden, sich das einmal anzusehen; sie
ist hier in der Nähe. Sie werden feststellen, dass wir auf
dem Gebiet der Fälschungssicherheit den höchsten Stan-
dard in der Welt haben. Wir müssen allerdings durchset-
zen, dass dieser Standard auch anderswo gilt. Über dieses
Thema habe ich mich mit Herrn Sensenbrenner und an-
deren unterhalten.
Herr Kollege Schily, die drei Minuten für Ihre Kurzin-
tervention sind abgelaufen.
Verwechseln Sie nicht Ihre Vorurteile mit der Wirk-
lichkeit. Dann kommen Sie auch in der Innenpolitik bes-
ser zurecht, Herr Kollege Strobl.
Herr Kollege Strobl, Sie haben die Möglichkeit zu ant-
worten.
Herr Bundesinnenminister, ich verstehe Ihre Aufre-
gung nicht. Aber ich sage ganz klar: Der Dank an Ihre
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war ernst gemeint.
Erstens, zur Zusammenarbeit mit den USA. Die Zu-
sammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden beider
Länder bzw. den politisch Verantwortlichen in den USA
und Ihnen kritisieren wir überhaupt nicht. Ich habe ledig-
lich die Mängel ganz konkret angesprochen. Insofern ha-
ben Sie hier einen Nebenkriegsschauplatz eröffnet, über
den wir eigentlich keinen Streit haben.
Zweitens, zur Biometrie. Wir finden, dass das Ganze
ein bisschen langsam geht. Herr Bundesinnenminister,
wir wissen – ich vermute, Ihre Erregung rührt daher –,
dass Sie ursprünglich etwas anderes wollten, aber dass
insbesondere die Kolleginnen und Kollegen um den Kol-
legen Ströbele das verhindert haben, was Sie richtiger-
weise durchsetzen wollten.
Dass gerade in diesem entscheidenden Punkt die Mittel
– wir sind in der Haushaltsberatung – auf einen Bruchteil
dessen, was Sie ursprünglich in den Haushalt für 2003
einstellen wollten, zusammengekürzt worden sind, spricht
wirklich Bände.
Drittens, zum Staatsangehörigkeitsrecht. Herr Bundes-
innenminister, es kann doch nicht ernsthaft ein Streit da-
rüber bestehen, dass das neue Staatsangehörigkeitsrecht
in großem Maße die Möglichkeit bietet, Doppelstaats-
bürgerschaften zu erwerben.
– Aber natürlich ist das so. Die Zahlen sind doch eindeu-
tig. Sie sind von ungefähr 13 Prozent auf jetzt über 40 Pro-
zent angestiegen. Man muss sich nur einmal die Zahlen
anschauen.
Dabei ist es das erklärte Ziel des neuen Staatsan-
gehörigkeitsrechts – das kann man ja durchaus haben –,
dass der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft erleich-
tert werden soll. Dass Sie dadurch natürlich auch denjeni-
gen, die dem terroristischen Umfeld angehören, eine sol-
che Möglichkeit eröffnen, ist klar.
Dort, wo die SPD in den Ländern Regierungsverant-
wortung trägt – beispielsweise in Berlin –, haben Sie eine
Otto Schily
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Thomas Strobl
Regelanfrage bei den Verfassungsschutzbehörden nicht
hinbekommen.
Sie haben es bis heute bundesweit nicht durchsetzen kön-
nen, dass bei jedem Staatseinbürgerungsverfahren eine
Regelanfrage bei den entsprechenden Diensten gemacht
wird. Das Problem ist, dass die entsprechenden Maßnah-
men aus reiner Ideologie nicht ergriffen werden.
Ich möchte Ihnen persönlich schon zugestehen, dass
Sie es gerne sähen, wenn diese Regelung bundesweit
praktiziert würde und wir bei Einbürgerungsverfahren
wenigstens die Regelanfrage bei den Verfassungsschutz-
behörden hätten. Leider ist es bei Rot-Grün so, dass Ihnen
hier wie auch in anderen Punkten die notwendige Unter-
stützung versagt bleibt.
Nächste Rednerin in der Debatte ist Silke Stokar,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde
versuchen, wieder etwas Ruhe und Sachlichkeit in diese
aufgeregte Debatte zu bringen. Beginnen wir damit: Die
Gewährleistung der Sicherheit ist eine elementare Staats-
aufgabe. – Diesem Satz kann sicherlich jedes Mitglied
dieses Hauses und jede Fraktion zustimmen.
Meine Damen und Herren von der CDU, Sie versuchen
zwar immer wieder, es so darzustellen, aber es trifft trotz-
dem nicht zu, dass Sie sozusagen den Kampf gegen den
internationalen Terrorismus gepachtet haben, während
wir, die Fraktion der Grünen, die Blockierer sind und die
SPD deswegen ihre Aufgaben nicht wahrnehmen kann.
Wir haben damals, als es um das Sicherheitspaket ging,
auch in den Expertengesprächen sehr genau abgewogen,
ob die von den politischen Parteien und von Experten vor-
geschlagenen Maßnahmen tatsächlich geeignet waren, ei-
nen Beitrag zum Kampf gegen den internationalen Ter-
rorismus zu liefern. Diese Arbeit werden wir in aller
Ruhe fortsetzen.
Meine Damen und Herren, Sie wissen doch genau, dass
die Vorschläge, die Sie jetzt wiederholen, einen langen
Bart haben. Mir sind Ihre Vorschläge seit Beginn dieser
Auseinandersetzung bekannt.
– Ich erläutere Ihnen gleich, weswegen sie falsch sind.
Teilweise ist Ihnen bereits nachgewiesen worden, dass
Ihre Vorschläge verfassungswidrig sind.
Ich höre gern zu und bin auch bereit, Vorschläge aus ei-
ner konservativen Innenpolitik aufzugreifen. Ich habe
aber immer mit konservativer Innenpolitik in Verbindung
gebracht, dass Sie ein Gefühl dafür haben, dass in einem
demokratischen Rechtsstaat nicht alle Mittel erlaubt sind.
Sie waren in den 70er-Jahren diejenigen, die uns vorge-
worfen haben, wir hätten uns verfassungswidrig verhal-
ten. Heute sitzt auf Ihrer Seite eine Fraktion von Verfas-
sungsfeinden; denn Ihre Vorschläge verstoßen in jedem
einzelnen Punkt gegen die Grundwerte, von denen Sie
selbst ausgehen.
Das haben wir auch heute wieder gehört: Sie fordern die
Türken auf, sich an die deutsche Kultur und an die deut-
sche Verfassung zu halten. Dabei stellen Ihre eigenen Vor-
schläge elementare Verfassungsverstöße dar.
Ich bin nicht bereit, mich weiter damit auseinander zu
setzen.
Meine Damen und Herren, ich gebe Ihnen in einem an-
deren Punkt durchaus Recht. Im Bereich der inneren
Sicherheit gibt es tatsächlich noch Reformbedarf. Ich
merke zu diesem Haushaltsplanentwurf kritisch an: Aus
den Aufwüchsen, die hier eindrucksvoll geschildert wor-
den sind, können im Laufe dieser Legislaturperiode wirk-
lich keine Auswüchse werden. Deshalb setzen wir Grüne
einen deutlichen Schwerpunkt darauf, im Bereich der ge-
samten Sicherheitsbehörden zu prüfen, an welchen Stel-
len die Strukturen – auch in der internationalen Zusam-
menarbeit – nicht mehr sachgerecht sind und wo es zu
Reibungsverlusten durch Zersplitterung oder doppelte
Aufgabenwahrnehmung kommt.
Mir geht es nicht darum, über das zu diskutieren, was
wir schon vor dem Bundestagswahlkampf vorgeschlagen
haben. Vielmehr würde ich gern über die zukünftigen
Aufgaben diskutieren. Ich würde gern die Frage erörtern,
was der Beschluss hinsichtlich des Aufbaus einer europä-
ischen Grenzpolizei für den BGS konkret bedeutet. Auch
die Konzepte zu den Krisenreaktionskräften und den Auf-
bau einer europäischen Polizei würde ich gern diskutie-
ren. Dabei handelt es sich um Beschlüsse des Europä-
ischen Parlaments, aus denen sich Zukunftsaufgaben
ergeben, zu denen Sie aber keine Vorschläge einbringen.
Sie wollen das auch gar nicht. Ihre Vorschläge, zum Bei-
spiel hinsichtlich des Einsatzes der Bundeswehr im In-
nern, stammen aus den 80er-Jahren. Ich überlasse die
Diskussion über die Bundeswehr gern dem Verteidi-
gungsausschuss. Wir brauchen einen solchen Einsatz der
Bundeswehr in Deutschland nicht. Das wäre nur ein wei-
teres Vorhaben, das gegen die Verfassung verstößt.
986
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 987
Da ich nicht bereit bin, meine ganze Redezeit damit zu
verschwenden, mich über Ihre absurden Vorschläge aus-
zulassen, möchte ich einen weiteren Punkt ansprechen,
der uns besonders wichtig ist. Wir haben in dem vorlie-
genden Haushaltsentwurf 169 Millionen Euro für Maß-
nahmen der Integration und der Sprachförderung ein-
gestellt. Genau darum und nicht um die alten Fragen des
Staatsbürgerschaftsrechts – ich nenne nur das Stichwort
„Doppelpass“ – geht es jetzt. Lassen Sie uns doch die Zu-
kunftsaufgaben gemeinsam bewältigen. Wir befinden uns
schließlich in einer Situation, in der wir einige Punkte
tatsächlich gemeinsam angehen müssen. Die Zukunfts-
aufgabe lautet: Wie können wir die bereits in Deutschland
lebenden Zugewanderten und diejenigen, die noch zu uns
kommen werden, integrieren und wie können wir ihnen
durch mehr Sprachförderung eine soziale Perspektive in
unserem Land bieten?
Ihre Politik der Stigmatisierung und Ausgrenzung ver-
größert letztendlich die Risiken für die innere Sicherheit.
Sie leisten keinen Beitrag zu mehr Sicherheit. Sie leisten
vielmehr einen Beitrag zu einer unsicheren und in sich ge-
spaltenen Gesellschaft.
Ich bedauere es, dass in manchen Bereichen des vor-
liegenden Haushaltsentwurfs so viele Mittel bereitgestellt
werden müssen. Ich möchte zwei Bereiche ansprechen.
Es ist nach wie vor erforderlich, jüdische Einrichtungen in
Deutschland zu schützen. Ich habe es ganz besonders be-
dauert, dass die FDP, deren Fraktion nur noch spärlich
vertreten ist, weil sich ihre Mitglieder kaum noch in den
Plenarsaal trauen, und die einst eine liberale Bürger-
rechtspartei war, heute durch die Folgen eines skandalö-
sen antisemitischen Wahlkampfes gelähmt ist.
Eine solche Politik ist kein Beitrag zu mehr innerer Si-
cherheit. Sie führt vielmehr dazu, dass wir den Objekt-
schutz von jüdischen Einrichtungen sicherstellen müs-
sen. Ich finde es unerträglich, dass jüdische Kinder in
Deutschland in Kindergärten gehen müssen, die von der
Polizei geschützt werden. Nicht darüber, wie wir ein solch
Klima verschärfen können, sondern darüber, wie wir es
entschärfen können, möchte ich mir Gedanken machen.
Nur wer sich der Vergangenheit stellt, kann die Zukunft
bewältigen. Ich möchte damit auf ein weiteres Thema ein-
gehen, das mir persönlich sehr am Herzen liegt. Wir wol-
len uns nicht der kilometerlangen Regale mit Akten voller
unschöner Erinnerungen entledigen, die in der Birthler-
Behörde auf weitere Aufarbeitung warten. Es darf auch
keine Verschlusssache Kohl geben. Es hat ja ein paar
kluge Köpfe in der CDU/CSU gegeben – schade, dass
Herr Schäuble nicht anwesend ist – , die durchaus mit uns
einer Meinung waren. Wir streiten für die Fortsetzung der
mutigen Arbeit von Marianne Birthler. Wir werden sehr
genau darauf achten, dass ihr nicht auf kaltem Weg, durch
den Entzug von Haushaltsmitteln, die Arbeit weiter er-
schwert wird.
Das Gleiche gilt auch für die Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“. Wir werden uns dafür ein-
setzen, dass die Entschädigungsleistungen an ehema-
lige Zwangsarbeiter durch das Einstellen entsprechender
Haushaltsmittel fortgesetzt werden.
Ich möchte mit folgendem Hinweis enden: Vor dem
Gebäude, in dem die Innenministerkonferenz tagen wird,
werden wahrscheinlich sehr viele Menschen – aus guten
Gründen – demonstrieren. Weil ich mich leider mit Ihrer
– beinahe hätte ich gesagt: absurden – Rede auseinander
setzen musste, konnte ich nicht mehr auf den vorhande-
nen Reformbedarf im Bereich des öffentlichen Dienst-
rechts und des Beamtenrechts eingehen. Ich würde mich
freuen, wenn die Fraktionen ehrlich gemeinte Konzepte
dazu auf den Tisch legen würden. Die Menschen, die mei-
ner Meinung nach zu Recht demonstrieren werden – ich
meine insbesondere die uniformierten Kolleginnen und
Kollegen der GdP aus unserem, dem Bundesbereich –, er-
warten von uns eine Antwort. Meine Antwort lautet:
Wenn wir im Bereich der Sicherheitsbehörden und des In-
nenministeriums keine strukturellen Reformen durch-
führen
Frau Kollegin Stokar von Neuforn, ich muss Sie an
Ihre Redezeit erinnern.
– Frau Präsidentin, ich bin bereits bei meinen Schluss-
satz –, dann müssen wir bei den Menschen sparen. Das ist
nicht gerecht. Wir wollen an den Strukturen sparen und
die Menschen im öffentlichen Dienst gerecht, fair und an-
ständig bezahlen.
Ich danke Ihnen!
Frau Kollegin Stokar, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Silke Stokar von Neuforn
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
– Das war Ihre zweite Rede? Dann habe ich eine Fehlin-
formation bekommen. Trotzdem: Gratulation.
Der nächste Redner in der Debatte ist Dr. Max Stadler
von der FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Tat habe ich schon zweimal Gelegenheit
gehabt, Frau Stokar zu hören. Des Weiteren war ich vor
einer Woche mit ihr bei einer Podiumsdiskussion. Ich
konnte feststellen, dass sie eine Meisterin des Konjunk-
tivs ist, weil sie sehr oft die Redewendung „Ich würde
gerne über dieses oder jenes Thema reden“ gebraucht,
woran sie hier niemand hindert.
Aber dazu, Frau Kollegin Stokar, wenn Sie in den Indika-
tiv übergehen, muss ich Ihnen, soweit Sie sich mit meiner
Partei, der FDP, auseinander gesetzt haben, sagen: Dies ist
der Deutsche Bundestag und keine Klischeeanstalt. Bitte
denken Sie daran.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Innenmi-
nister hat zu Recht gesagt, dass speziell nach dem 11. Sep-
tember 2001 die Gewährleistung der inneren Sicherheit
das zentrale Thema der deutschen Innenpolitik ist. Aus
der Sicht der FDP ergänze ich – im vermuteten Einver-
ständnis, Herr Schily –: „die Gewährleistung der inneren
Sicherheit bei Beibehaltung der inneren Liberalität“, auf
die wir zu Recht stolz sind. Ich habe dazu schon oft die
Grundposition der FDP dargestellt, sodass ich es bei
Stichworten belassen möchte, um noch auf einige andere
Punkte zu sprechen zu kommen.
Die Grundposition der FDP zur inneren Sicherheit
ist: Es gilt vor allem, Praxisdefizite zu beseitigen. Wir
brauchen eine optimale Ausstattung der Sicherheits-
behörden. Die FDP unterstützt notwendige Gesetzesän-
derungen. Aber wir reichen nicht die Hand, wenn dem
Haus Unverhältnismäßiges vorgeschlagen wird. Es gibt
Vorschläge des bayerischen Innenministers Beckstein
von gestern, und zwar sowohl im zeitlichen als auch im
übertragenen Sinne. Das bayerische Kabinett hat gestern
die ganze Palette dessen, was hier zu Recht schon einmal
abgelehnt worden ist, wiederholt, nämlich Bundeswehr-
einsatz nach innen, Ausweisung bei Verdacht usw. Da-
rüber – das haben Sie, Herr Kollege Strobl, ja schon an-
gekündigt – werden wir uns hier wieder im Detail
auseinandersetzen müssen.
Ich möchte – wie gesagt – noch auf einige andere
Punkte, die nach Auffassung der Liberalen auch wichtig
sind, zu sprechen kommen.
Erstens. Die deutsche Innenpolitik wird ja – wie andere
Politikbereiche auch – zu einem großen Teil von der EU
vorgegeben und bestimmt.
Jetzt liegt ein Vorschlag vor, dass zum Beispiel die Asyl-
und Migrationspolitik der Mehrheitsentscheidung im
EU-Ministerrat unterliegen soll. Umso wichtiger ist es,
dass sich die deutschen Innenpolitiker im Bundestag, dass
sich das Parlament in diese Diskussionen, die im EU-Mi-
nisterrat geführt werden, in geeigneter Weise einschaltet.
Darum suchen wir im Innenausschuss seit langem um die
geeignete Form. Ich möchte den Kollegen Koschyk von
der CDU ausdrücklich dafür loben, dass er eine neue Ini-
tiative ergriffen hat, damit zum Beispiel nicht mehr das
passiert, was wir noch unter der früheren Regierung bei
dem Thema Europol erlebt haben. Europol ist eine be-
grüßenswerte Einrichtung. In der Ausgestaltung ist jedoch
eine Immunitätsregelung für Polizeibeamte getroffen
worden, die im Dienst Straftaten begangen haben, die dem
deutschen Recht völlig fremd ist. Man war dann in der Si-
tuation, wegen dieses einen Punktes nicht das gesamte
Projekt ablehnen zu können. Daher ist es ein wichtiger
Beitrag zur Beseitigung des Demokratiedefizites in der
EU, wenn sich das deutsche Parlament nach dem Vor-
schlag Koschyks stärker einschaltet.
Meine Damen und Herren, zweite Anmerkung. Die EU
ist für viele Bürger weit weg. Die Entscheidungen der
Kommunalpolitik spüren sie hingegen am eigenen
Leibe. Aufgrund Art. 28 Abs. 3 des Grundgesetzes Ge-
währleistung der kommunalen Selbstverwaltung – ist es
eine Aufgabe des Bundesinnenministers und des Innen-
ausschusses, darauf zu achten, dass die dramatische Ver-
schlechterung der finanziellen Situation der Kommunen
ein Ende findet.
Das hat Rot-Grün ja sogar erkannt. Im Koalitionsvertrag
von 1998 haben Sie versprochen, tätig zu werden. Ge-
schehen ist jedoch nichts. Erst im März 2002 haben Sie
eine Reformkommission eingesetzt, die sich im Mai kon-
stitutiert hat; dies ist viel zu spät. Sie hat jetzt die Vorgabe,
bis zur Sommerpause 2003 Vorschläge vorzulegen. So
lange können die Kommunen nicht warten.
Ich will eine kleine Episode einfügen. Ich komme ge-
rade von kommunalen Haushaltsberatungen in einer
mittleren Stadt. Wir konnten den Haushalt nur ausglei-
chen, weil wir Mittel für die neue Grundsicherung, die es
ab 1. Januar 2003 geben wird und die die Kommunen in
erheblichem Umfang belasten wird,
aus dem Haushaltsentwurf herausgestrichen haben. Denn
der Münchner Oberbürgermeister Ude von der SPD hat
Herrn Eichel geschrieben. Herr Eichel hat geantwortet:
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 989
Diese Mittel würden den Kommunen vollständig ersetzt.
Wir mussten also, um unseren Haushalt auszugleichen, so
tun, als ob wir Herrn Eichel glauben würden. So drama-
tisch ist die Situation.
Frau Stokar hat im sachlichen Teil ihrer Rede kurz die
Beamtenpolitik angesprochen. Ich bin der Auffassung,
dass die Aufgabenkritik auf allen staatlichen Ebenen und
in den Kommunen gerade bei der jetzigen Finanznot noch
nicht zu Ende sein kann. Aber da, wo wir weiterhin aus
guten Gründen Beamte beschäftigen, muss der öffentli-
che Dienst attraktiv bleiben, damit wir einen leistungs-
fähigen öffentlichen Dienst behalten. Nehmen wir die Ak-
tion der GdP vielleicht nicht zu ernst, aber der Kern
dessen muss uns schon zu denken geben, nämlich dass
von seiten der Bundesregierung laufend Vorschläge kom-
men, die die Beamtenschaft, etwa die Polizeibeamten, die
nun wirklich staatstragend sind, verunsichern. Eine
30-prozentige Kürzung des Weihnachtsgeldes hat Herr
Eichel in Aussicht gestellt.
Herr Dr. Wiefelspütz sagt, das sei unverantwortlich, das
werde man auf keinen Fall mitmachen. Ich erinnere an die
Debatte über die Öffnungsklausel – das ist jetzt auch eine
reine Sparmaßnahme –, bei der von den Fraktionen von
Rot-Grün bisher eine klare Position fehlt.
Da meine Zeit beinahe abgelaufen ist,
darf ich noch eine Bitte an Sie äußern. Das wichtige
Thema „direkte Demokratie“ sollte nicht wieder so ver-
schenkt werden wie in der letzten Legislaturperiode,
als Sie sich intern nicht einigen konnten und viel zu spät
einen Vorschlag vorgelegt haben. Machen Sie rechtzeitig
einen vernünftigen ersten Schritt im Sinne der Volks-
initiative, dem dann vermutlich alle zustimmen können.
Herr Minister Schily, Sie haben von der liberalen Op-
position den Anspruch darauf, konstruktive Zusammenar-
beit erwarten zu dürfen, aber auch und vor allem kon-
struktive Kritik. Beides werden Sie wieder bekommen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Freitag,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Koalitionsvereinbarung steht: Die Förderung des
Spitzensports wird auf hohem Niveau fortgesetzt. Das ist
eine klare Aussage. Der heute vorliegende Entwurf, Herr
Minister, zum Einzelplan 06 wird dieser Aussage zwei-
fellos und deutlich gerecht. Ich stelle also fest, dass die
Ausgaben in wesentlichen Bereichen gegenüber dem
Haushalt 2002 steigen. Ich nenne nur die zentralen Maß-
nahmen, die sportwissenschaftlichen Institute und den
Sportstättenbau für den Hochleistungssport.
Wir konnten nachlesen, dass es der Union wieder ein-
mal nicht gut genug ist. Ihnen, meine Damen und Herren
von der Opposition, ist aber auch bekannt, dass der Sport
in genau diesem von mir gerade genannten Bereich seinen
notwendigen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leis-
tet. Dieses Vorgehen ist im Übrigen mit dem Deutschen
Sportbund abgestimmt. Ich spreche eigentlich den leider
nicht anwesenden Kollegen Riegert an. Er weiß es ganz
genau, aber er behauptet in seinen Pressemitteilungen
grundsätzlich etwas anderes.
Unser Dank, meine Damen und Herren von der Union,
geht ausdrücklich an den Deutschen Sportbund, der kon-
struktiv mitarbeitet und nicht grundlos nörgelt.
Von dieser Haltung sind Sie allerdings leider meilenweit
entfernt.
Lassen Sie mich noch einige weitere Anmerkungen ma-
chen. Für die zentralen Maßnahmen – für den deutschen
Sport ein ganz wichtiger Bereich – werden 2003 mehr
Gelder zur Verfügung gestellt werden. Diese Steigerung
kommt im Übrigen auch den Olympiastützpunkten zu-
gute. Ich empfehle wirklich dringend, in Zukunft vor Ab-
gabe von Pressemitteilungen einfach nur in den Haushalt
hineinzuschauen. Dann könnte man sich manche Pein-
lichkeit ersparen.
Das gilt im Übrigen auch für die Aussagen der Union
über den leistungsbezogenen Behindertensport. Hier
steigen auch im kommenden Jahr die Ausgaben – diese
Zahlen sollten Sie sich wirklich gut anhören – um rund
500 000 Euro auf fast 4,4 Millionen Euro. Von der Zahl
her ist das annähernd der Betrag, den es 1998 von der Re-
gierung Kohl gegeben hat, allerdings in D-Mark. Da stel-
len Sie sich hin und erwecken den Eindruck, der
Behindertensport könne sein Behindertensportkonzept
nicht umsetzen. Mit solchen Sprüchen tun Sie dem DBS
wahrlich keinen Gefallen.
Wir werden den „Goldenen Plan Ost“ fortsetzen.
Zahlreiche Projekte wurden mit dem Geld dieses Plans
bereits verwirklicht. Wir werden weiterhin dazu beitra-
gen, dass in den neuen Bundesländern entsprechende
Sportstätten gefördert werden. Dazu ist der „Goldene Plan
Ost“ unverzichtbar.
Dr. Max Stadler
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dagmar Freitag
Die Sportförderung des BMI kann sich sehen lassen.
Das weiß eigentlich jeder; nur die Opposition versteht es
nicht. Das ist kein Wunder, wenn man bei den entschei-
denden Debatten im Plenum nicht anwesend ist. Der deut-
sche Sport versteht es allerdings schon und auf dessen Ur-
teil legen wir in diesem Fall – sehen Sie es uns nach –
einfach mehr Wert.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanne Jaffke,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Freitag, ich werde auf das Thema Sport
nicht zu lange eingehen. Ich möchte Sie – Sie sind schon
in der dritten Wahlperiode Abgeordnete dieses Parla-
ments – allerdings an eines erinnern: Das, was im Etat
steht, und das, was hinterher vollzogen wird, ist immer
noch zweierlei.
Ich bin seit 1990 Mitglied im Haushaltsausschuss und
kann davon ein Lied singen.
Niemand in diesem Hohen Hause wird wohl ernsthaft
in Zweifel ziehen, dass Sicherheit ihren Preis hat. So ver-
mittelt auch der Haushalt des Bundesinnenministeriums
vom äußeren Erscheinungsbild her den Eindruck einer so-
liden Finanzausstattung.
Er wächst um 9,8 Prozent auf. Sie werden gleich hören,
warum ich das anmahne.
Seit dem 11. September 2001 gibt es keine veröffent-
lichte Meinung, die für Sicherheit benötigte Gelder – sei
es durch die Erhöhung der Tabaksteuer, der Versiche-
rungsteuer oder welcher Steuer auch immer – infrage
stellt. „Freudige Zahlungsbereitschaft“ aller Bürger be-
gleitet unsere innere Sicherheit.
Doch auch die fürchterlichen Ereignisse, die seit dem
11. September allabendlich als Hiobsbotschaften in un-
sere Wohnzimmer flimmern – seien es Anschläge in
Djerba, in Kenia, in Afghanistan, in Israel, auf Bali oder
wo auch immer –, sollten uns nicht dazu verleiten, mit der
Schwerpunktsetzung im Haushalt des Bundesinnenminis-
teriums unkritisch umzugehen.
Selbstverständlich darf man nicht übersehen – jetzt
komme ich darauf zurück, Herr Kollege –, dass über allen
Etatansätzen eine globale Minderausgabe von 1,5 Mil-
liarden Euro schwebt, die nicht ausgeplant ist und die
auch den Bundesinnenminister treffen kann – es sei denn,
die Mehrheiten, die Sie stellen, wissen das zu verhindern,
was ich mir wünsche.
Lassen Sie mich einige Gedanken zur Problematik der
Sicherheit an der derzeitigen EU-Außengrenze aus-
führen, einem Gebiet, das von der Bundesregierung oft
sträflich vernachlässigt wird,
obwohl es nur wenige Kilometer von hier entfernt ist. Seit
wenigen Wochen ist beschlossen, dass die Republiken Po-
len und Tschechien, wie andere MOE-Staaten, ab 2004 zur
Europäischen Union gehören werden. Sicher ist allen Be-
teiligten klar, dass die Grenzen damit nicht automatisch of-
fen sein werden. Eine Freizügigkeit ohne jegliche Kon-
trolle wird nicht sofort stattfinden. Sicher ist allen auch
klar, dass die Bedingungen des Schengener Abkommens
durch die jungen Demokratien nicht sofort umsetzbar sind.
Gestatten Sie hier die Frage: Warum wird dann in dem
Haushaltsentwurf 2003 der Etatansatz zur Unterstützung
der polizeilichen Ausbildung und Ausstattung in den
MOE-Staaten zurückgeführt? Ist es nicht dringlicher, ge-
rade jetzt die Anstrengungen zu verstärken, damit die
Schengen-Standards auch in den östlichen Ländern
schnell erfüllt werden können?
Wie selbst Staatssekretär Körper auf eine schriftliche
Anfrage bestätigt, werden in den nächsten fünf Jahren
auch wesentliche Veränderungen in der Organisations-
und Einsatzstruktur des BGS unausweichlich sein.
Deshalb hier einige Anmerkungen.
Wie konsequent wird zum Beispiel die digitale Funk-
technik in den Einsatzfahrzeugen eingeführt? Der derzei-
tige Ausstattungszustand wird den modernen Erfordernis-
sen nicht gerecht.
Fahndungsabfragen bzw. Überprüfungen bei Aufgriffen
vor Ort an der grünen Grenze sind ohne eine solche Tech-
nik nicht möglich. Der Minister hat darauf verwiesen und
bittet Sie um Unterstützung.
Selbstverständlich wird sich eine Verringerung der Per-
sonenkontrollen an der Außengrenze als stationäre Kon-
trolle ergeben und selbstverständlich wird das zu einer Aus-
weitung der so genannten räumlichen Kontrolle führen.
Aber soweit ich von meinen BGS-Beamten vor Ort infor-
miert bin – ich habe nun einmal in meinem Wahlkreis die
gesamte EU-Außengrenze des Landes Mecklenburg-Vor-
pommern, die in zwei BGS-Bereiche aufgeteilt ist; ich habe
das große Vergnügen, Bereiche der EU-Außengrenze durch
den BGS Nord und durch den BGS Ost betreut zu wissen –,
sind weder technische noch personell-strategische Schritte
unternommen worden, um die Beamten, die vor Ort ihren
Kopf und ihre Schienbeine hinhalten, auf diese neuen He-
rausforderungen vorzubereiten.
990
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 991
Im Übrigen: Eine Diskussion um Streichung, Kap-
pung, Halbierung oder Ähnliches von Weihnachtsgeld,
Urlaubsgeld oder was auch immer befördert nicht die Ein-
satzfreude unserer Beamten, sondern eher Gleichgültig-
keit gegenüber dem Dienstherrn.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch erwähnen – viel-
leicht ein wenig berufsbedingt veranlasst –, dass die Aus-
stattung an dieser sensiblen grünen Grenze mit den sehr
nützlichen vierbeinigen Helfern nicht nur zu gering ist,
sondern auch nicht spezifiziert genug. Ich habe erfahren,
dass Hundeführerstellen nicht korrekt im Stellenplan aus-
gewiesen sind. Damit kommen nicht nur zu wenig Hunde
zum Einsatz, sondern auch die Aus- und Weiterbildung
wird damit gefährdet.
Soweit ich es in Erfahrung bringen konnte, gibt es auch
nur Rauschgiftspürhunde, keine Sprengstoffspür-
hunde, was ich für einen Fehler halte, Herr Kollege
Hacker, gerade vor dem Hintergrund der eingangs kurz er-
wähnten Sicherheitsrisiken und der auch von Amts wegen
festgestellten Bedrohungslage für Deutschland. Im Übri-
gen: Wo Geld für Pferde in Berlin ist, sollte auch welches
für Rauschgift- und für Sprengstoffspürhunde an der
EU-Außengrenze, an dieser sensiblen grünen Grenze, ge-
funden werden.
Sie wissen sehr genau, dass die Ströme des unkontrol-
lierten Gutes über diese Grenze zunehmen, vor allen Din-
gen beim Kinder- und Frauenschmuggel. – Wenn Sie da-
rüber lachen können, Frau Kollegin, ich kann es nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich bitte
noch darauf eingehen, dass es seit dem 11. September
2001 auch in unserem Land eine neue Sensibilisierung für
den direkten zivilen Schutz der Bevölkerung in unserem
Land gibt. Das Technische Hilfswerk, in seiner Zustän-
digkeit immer nur dann gewürdigt, wenn es sehr erfolg-
reich im internationalen Einsatz ist bzw. wenn Sturm oder
Flug im eigenen Land Katastrophen verursachen, wird
nun endlich in seiner materiell-technischen Ausstattung
erneuert.
Ich hoffe, dass dieses Verfahren beibehalten wird. Es ist
dringend notwendig.
Gleichzeitig haben die Ereignisse im August in Sach-
sen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Niedersachsen
und Mecklenburg-Vorpommern durch das Jahrhun-
derthochwasser an Elbe und Nebenflüssen nicht nur dazu
geführt, dass eine Welle ungeahnter Solidarität ausgelöst
wurde – wofür allen Beteiligten Dank und Anerkennung
gebührt –, sondern auch dazu, dass die Überlegungen zur
Errichtung einer zentralen Koordinierungsinstanz zur Be-
wältigung solcher Katastrophen wieder intensiviert wer-
den. Das ist in Ordnung. Ich hoffe, dass die Konzeption
bald vorliegt – der Minister hat es versprochen – und de-
ren Umsetzung zügig in Angriff genommen werden kann,
ohne dass behördliche oder föderale Eitelkeiten blockie-
rend wirken. Haushaltsansätze in diesem Zusammenhang
zu überprüfen und zu verändern ist angesagt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-
koalition, an gemeinsamen Lösungen im Interesse des Si-
cherheitsbedürfnisses und Schutzes unserer Bevölkerung
ist der CDU/CSU gelegen. So die Vorschläge konstruktiv
umsetzbar sind, arbeiten wir daran mit.
Ich danke.
Das Wort hat der Kollege Sebastian Edathy, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Beratung des Haushalts des Bundesministe-
riums des Innern gibt insbesondere zu zwei Dingen An-
lass: auf vier erfolgreiche Jahre deutscher Innenpolitik
zurückzublicken
und zugleich einen Blick auf die vor uns liegende Zeit zu
werfen. Dabei gilt: Reformwillig- und -fähigkeit
sind ebenso Markenzeichen sozialdemokratisch geprägter
Innenpolitik wie die sorgfältige Wahrnehmung der
Sicherheitsinteressen unseres Landes und seiner Bevölke-
rung.
Markenzeichen der Union hingegen scheinen Reform-
blockade und, wenn man Herrn Strobl zugehört hat, In-
strumentalisierung statt Lösung von Problemen zu sein.
Ich habe mir nicht vorstellen können, dass ich mir eines
Tages Herrn Marschewski als Vertreter der Union her-
beisehnen würde,
aber Sie haben mich in diese unvorstellbare Situation ge-
bracht, Herr Strobl. Das muss man schon sagen.
Ich darf hier an die wichtige und zentrale Reform
des Staatsangehörigkeitsrechts erinnern, die sich nach-
haltig positiv auf die Entwicklung unserer Gesellschaft
auswirken wird, weil wir Schluss damit gemacht haben,
dass die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft auf die
Frage der Abstammung reduziert bleibt. Herr Strobl, Sie
Susanne Jaffke
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Sebastian Edathy
sollten schon darüber nachdenken, ob Sie diese wichtige
Entscheidung grundsätzlich diskreditieren wollen, indem
Sie hier Fälle vorführen, die durch das neue Recht weit-
gehend ausgeschlossen werden, in dem wir nämlich ge-
rade die Maßnahmen zur Sicherheitsüberprüfung im
Einbürgerungsverfahren eher verstärkt haben.
Aber gleichzeitig haben wir gesagt: Die Menschen, die
Teil unserer Gesellschaft sind, sollen es in der Tat auch
leichter haben, sich über die Einbürgerung zu dieser
Gesellschaft bekennen zu können.
Auch die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes
hat Maßstäbe gesetzt, nicht zuletzt, weil es gelungen ist,
ein lange Zeit mit viel Ideologie befrachtetes Thema so zu
behandeln, dass man mit ihm vernünftig umgehen kann.
Wir sind auf das In-Kraft-Treten des neuen Gesetzes vor-
bereitet. Das kann man auch dem Entwurf des Bundes-
haushalts für das Jahr 2003 entnehmen. Allein 169 Mil-
lionen Euro werden gemäß dem Haushaltsentwurf für
Sprachfördermaßnahmen nach dem neuen Recht zur
Verfügung gestellt. Für das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge, das aus dem bisherigen Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hervorgeht, sind
im Haushaltsentwurf 290Millionen Euro vorgesehen. Sie
können daran sehen, meine Damen und Herren: Reden
und Handeln stimmen bei dieser Regierung überein.
Für die finanzielle Absicherung der Belange der deut-
schen Innenpolitik gilt: Auch der Haushaltsplan des Bun-
desinnenministeriums ist selbstverständlich vom alterna-
tivlosen Weg der Konsolidierung des Bundeshaushalts
nicht ausgenommen. Aber es gilt genauso, dass gerade in
diesem Haushalt in einem besonders akzentuierten Maße
Schwerpunkte der Bundespolitik zum Ausdruck kommen.
Das gilt insbesondere für den Bereich der inneren Sicher-
heit und für den Bereich des Katastrophenschutzes.
Ich möchte hier ins Gedächtnis rufen, dass der Bun-
desinnenminister und insbesondere die heutige Bundesjus-
tizministerin und damalige Staatssekretärin im Innenmini-
sterium, Frau Zypries, im Sommer überaus erfolgreich mit
einem effektiven und unbürokratischen Krisenmanagement
den Folgen der Hochwasserkatastrophe begegnet sind.
Weil es angesprochen worden ist: Die für den Zivil-
schutz bereitgestellten Mittel wachsen im nächsten Jahr
auf 62 Millionen Euro deutlich an und es werden 10 Mil-
lionen Euro zur Anschubfinanzierung eines Programms zur
Verbesserung der Einsatzfähigkeit des Technischen Hilfs-
werks bei Hochwasserkatastrophen bereitgestellt. Das darf
man auch dann anerkennen, wenn man nicht zur Mehrheit
dieses Hauses gehört, weil hier deutlich wird: Deutsche In-
nenpolitik zeichnet sich aus, weil sie nahe bei den Men-
schen ist, und vor allen Dingen, weil sie handlungsfähig ist.
Unsere Innenpolitik orientiert sich am Menschen und
deshalb folgen alle Entscheidungen, die wir zum Schutz
unseres Staates auf den Weg bringen, dem Leitbild des de-
mokratischen Rechtstaates, der die Grundlage für die Frei-
heit und Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger ist.
Auch da kann man Herrn Strobl widersprechen. Freiheit
und Sicherheit sind eben keine Gegensätze, sondern das
Leben in Freiheit wird erst dann ermöglicht, wenn wir Si-
cherheit so definieren, dass sie eben Risiken mindert,
ohne die Freiheit zu opfern.
Das ist ein Markenzeichen unserer Politik. Man kann
nicht nur als Sozialdemokrat, sondern überhaupt als De-
mokrat froh darüber sein, dass die CDU/CSU die Bun-
destagswahl im September eben nicht gewonnen hat.
Dem Ziel der Sicherheit dient nicht zuletzt die kon-
sequente Bekämpfung von Extremismus, die ich ab-
schließend ansprechen will. Dabei gilt: Die Unterstützung
der politischen Bildung – wir erhöhen beispielsweise die
Mittel für die politische Bildungsarbeit der Bundeszen-
trale für politische Bildung auf 18,2 Millionen Euro im
nächsten Jahr – sowie Maßnahmen der Intervention und
Prävention sind Querschnittsaufgaben, insbesondere aber
Aufgaben der Innenpolitik.
Wir werden – ich hoffe, über die Fraktionsgrenzen hin-
weg – weiterhin sicherstellen, dass in unserem Land
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus
entschlossen entgegengetreten wird.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir die Debatte über die
Herausforderungen, die sich als Folge des 11. September
2001 ergeben haben, verantwortungsbewusst geführt und
deutlich gemacht haben, dass dort der Begriff der Reli-
gionsgemeinschaft für abscheuliche Taten missbraucht
wurde. Das diskreditiert keine Religionsgemeinschaft, son-
dern nur diejenigen, die sich über jedes Recht und über die
Menschenwürde hinwegsetzen. Wir tragen dem Rechnung.
Ich denke, als Demokraten sollten wir das gemeinsam tun.
Bundesinnenminister Otto Schily genießt aufgrund
seiner hervorragenden Arbeit in der Bevölkerung zu
Recht ein hohes Ansehen.
Für diese Arbeit wird er weiterhin die volle Unterstützung
der SPD-Bundestagsfraktion haben.
Vielen Dank.
992
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 993
Letzter Redner in der Debatte ist Stephan Mayer,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Deutschland ist in allen politischen Berei-
chen mittlerweile Schlusslicht in Europa.
In vielen Bereichen, vor allem was die Wirtschafts- und Fi-
nanzpolitik anbelangt, trifft dies leider Gottes zu. Doch in
einem Punkt sind wir in Deutschland immer noch einsame
Spitze: in dem perfektionistischen und geradezu manischen
Streben, alles und jedes zu regeln, zu regulieren und zu
klassifizieren, und zwar immer mit dem hohen Anspruch,
möglichst viel Einzelfallgerechtigkeit an den Tag zu legen.
Die deutschen Unternehmer, insbesondere im Hand-
werk und im Handel, müssen die Ankündigungen der
Regierungskoalition in der Koalitionsvereinbarung, den
bundesrechtlichen Normenbestand zu bereinigen und
überflüssige Gesetze und Vorschriften aufzuheben, so-
wie die erst gestern getätigte Ankündigung des Bundes-
finanzministers Eichel, der Bürokratie den Kampf anzu-
sagen, als blanke Drohung empfunden haben.
Auch vor vier Jahren wurden diese wohlklingenden und
verheißungsvollen Ankündigungen gemacht.
Wie sieht die Realität aus? Bürger und Unternehmen
müssen derzeit allein auf Bundesebene 2 197 Gesetze und
46 779 Einzelvorschriften befolgen. Wer sich in Deutsch-
land rechtstreu verhalten will, muss weit über 85 000 Ge-
setzesbefehle befolgen.
Allein in der vergangenen Legislaturperiode wurden
396 neue Bundesgesetze und 1 379 neue Rechtsverord-
nungen erlassen, während in derselben Zeit nur 95 Bun-
desgesetze und 406 Rechtsverordnungen abgeschafft
wurden. Man muss wirklich zugeben, dass der Saldo in
diesem Punkt ausnahmsweise einmal positiv ist.
Gerade der Mittelstand wird durch die überbordende
Bürokratie in Deutschland stranguliert. Während Groß-
unternehmen in Deutschland im Durchschnitt lediglich
153 Euro Bürokratiekosten pro Arbeitsplatz im Jahr zu
tragen haben, lasten auf dem Mittelstand pro Arbeitsplatz
im Jahr durchschnittlich 3 579 Euro, das heißt, die Last ist
mehr als 23-mal so hoch.
Zurzeit befinden sich viele Privathaushalte, aber vor
allem viele Unternehmen in einer wirtschaftlich äußerst
angespannten Phase. Dies ist in jeder Hinsicht besorg-
niserregend, bietet zugleich aber auch die große Chance,
dass jetzt deutliche Schritte in Richtung Verwaltungsver-
einfachung und in Richtung eines schlanken Staates ge-
troffen werden und diese Maßnahmen nachvollzogen und
akzeptiert werden. Die Politik darf in einem immer kom-
plizierter und heterogener werdenden Lebensumfeld nicht
dem Irrglauben verfallen, jedem Einzelnen die absolute
Einzelfallgerechtigkeit angedeihen lassen zu können.
Leider habe ich bei Ihrer Koalitionsvereinbarung bzw.
bei dem, was davon noch übrig ist, sowie Ihren derzei-
tigen Gesetzgebungsvorhaben den Eindruck, dass Sie
genau das Gegenteil beabsichtigen: mehr Staat, mehr Ver-
waltung, mehr Bürokratie. Sie sind nach wie vor der voll-
kommen überholten und in Europa mittlerweile einmali-
gen Auffassung, dass in einer ökonomischen Krise das
Heil beim Staat zu suchen ist.
Dies ist – auch als Antwort an Sie, Herr Innenminister –
ein anachronistischer Etatismus. So kann man die mittler-
weile überbordende Bürokratie in Deutschland auch be-
gründen.
Nicht anders ist es zu erklären, dass beispielsweise die
Umsatzpauschalierung für Landwirte erschwert wird und
die Durchschnittsgewinnermittlung kleinerer Landwirte
abgeschafft werden soll, was beispielsweise in meinem
Wahlkreis Altötting zwangsläufig dazu führen wird, dass
sich die Kosten eines bäuerlichen Durchschnittsbetriebes
für Steuerberatung und Buchführung ungefähr verdreifa-
chen werden. Man braucht auch kein Hellseher zu sein,
um zu prognostizieren, dass die Erhöhung der Pauschal-
besteuerung des privaten Gebrauchs von Dienstfahrzeu-
gen um sage und schreibe 50 Prozent dazu führen wird,
dass PKW-Fahrer zu dem zwar sehr bekannten, aber alles
andere als beliebten Fahrtenbuch werden greifen müssen.
Meine Damen und Herren, dies ist der falsche Weg.
Nicht die Bürger sind für den Staat da, sondern der Staat
ist für die Bürger da.
Verwaltung und Normen dürfen daher kein Selbstzweck
sein. Von einem Gemeinwesen, das überreguliert, über-
normiert und überklassifiziert ist, verabschieden sich die
Bürgerinnen und Bürger innerlich. Deshalb ist der Subsi-
diaritätsgedanke, der der katholischen Soziallehre ent-
springt und mittlerweile mehr als 100 Jahre alt ist, noch
nie so modern gewesen wie heute. Verwaltungsabläufe
und Verwaltungsentscheidungen müssen zum einen trans-
parent und durchschaubar sein und müssen zum anderen
auf der kleinstmöglichen Ebene möglichst bürgernah ge-
troffen werden.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Stephan Mayer
In diesem Zusammenhang ist der von Ihnen, Herr Bun-
desinnenminister, initiierte Leitfaden zur Gesetzesfolgen-
abschätzung durchaus als positives Signal zu verstehen.
Nur hat dieses Projekt sein Ziel, nämlich die Wirksamkeit
und Akzeptanz von Regelungen zu erhöhen, bislang nicht
erreicht. Kein einziges Gesetz wurde durch die Gesetzes-
folgenabschätzung weniger geschaffen. Kein einziger Euro
wurde gespart. Insofern kann man dazu nur sagen: Gut ge-
meint ist noch lange nicht gut gemacht.
Deshalb kann ich – um auf die bereits erwähnten ehr-
geizigen Ziele in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung
zum Thema Verwaltungsmodernisierung zurückzukom-
men – nur mit der Feststellung enden: Den Schily hör ich
wohl, allein mir fehlt der Glaube.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Mayer, ich gratuliere Ihnen recht herzlich
zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und wün-
schen Ihnen für Ihre politische Zukunft alles Gute.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Justiz. Das Wort hat die Ministerin
Brigitte Zypries.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist uns in der vergangenen Legislaturperiode
gelungen, die Justiz in entscheidenden Bereichen zu re-
formieren und zu modernisieren. Die Modernisierung der
Justiz ist jetzt auf einem guten Weg, nicht nur weil wir das
Zeitalter der gezackten Gebührenmarke beim Deutschen
Patent- und Markenamt inzwischen hinter uns gelassen
haben.
In den vor uns liegenden vier Jahren wird es nun darum
gehen, die verbliebenen Reformvorhaben in Angriff zu
nehmen und zum Abschluss zu bringen. Gleichzeitig gilt
es, die Modernisierung der Justiz weiter voranzutreiben
und die dort noch bestehenden Defizite weiter abzubauen.
Dass wir dies alles tun wollen, spiegelt sich auch im
Justizhaushalt wider. Natürlich konnte sich der Justiz-
haushalt den Bemühungen um die dringend erforderliche
Konsolidierung der Staatsfinanzen nicht verschließen. Es
ist aber gelungen, die Voraussetzungen zu schaffen, um
die erfolgreiche Reform- und Modernisierungspolitik
fortzusetzen. Dies ist umso beachtenswerter, als der Jus-
tizhaushalt, was sein Volumen anbelangt – wie Sie alle
wissen –, als klein anzusehen ist. Nicht umsonst wurde
hier immer wieder vom kleinen, aber feinen Justizhaus-
halt gesprochen. Der Anteil seiner Ausgaben an den Ge-
samtausgaben des Bundeshaushalts beträgt gerade einmal
0,14 Prozent.
In Zahlen ausgedrückt beträgt das Ausgabevolumen rund
350 Millionen Euro. Davon entfallen allein 306 Milli-
onen Euro auf Personal- und Verwaltungsausgaben.
Trotzdem gibt es im Haushalt durchaus einige wich-
tige Projekte – sie sind auch mit Geld unterlegt –, die
nichts mit der Gesetzgebung zu tun haben. Ein Beispiel
und wichtiger Posten in unserem Haushalt ist das Deut-
sche Forum für Kriminalprävention. In diesem Fo-
rum haben sich Bund, Länder, Kommunen, Religionsge-
meinschaften, Verbände und Wirtschaft an einen Tisch
gesetzt. Sie wollen die Erkenntnis, dass Kriminalprä-
vention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, mit
Leben füllen.
Der Bundesinnenminister war im letzten Jahr der Vor-
sitzende des Deutschen Forums für Kriminalprävention.
Letzten Samstag durfte ich ihn ablösen und den Stab von
ihm übernehmen. Ich werde mich als Vorsitzende dieses
Kuratoriums weiter für die Fortschreibung der von Herrn
Innenminister Schily begonnenen guten Arbeit einsetzen.
Dazu werde ich zwei Bereiche vorschlagen: Zum einen
sollen gemeinsam mit der Wirtschaft Projekte in Angriff
genommen werden, mit denen die Technik dazu genutzt
wird, Kriminalprävention zu schaffen. Zum anderen will
ich gemeinsam mit der Kollegin Schmidt das Thema
Gewalt gegen ältere Menschen, insbesondere in Einrich-
tungen und der häuslichen Pflege, sowie gegen Behin-
derte offensiv aufgreifen, weil wir glauben, dass die Op-
fer von Gewalt gerade dort besonders hilflos sind, wo ihr
Leid verschwiegen und unter den Teppich gekehrt wird.
Meine Damen und Herren, der Justizhaushalt hat auch
die Opfer des Terrorismus nicht aus dem Blick verloren.
Entsprechend dem Ziel der Bundesregierung, die Schwä-
cheren zu schützen, haben wir bereits in diesem Jahr ei-
nen Entschädigungsfonds eingerichtet, aus dem Sofort-
hilfen an die Opfer terroristischer Anschläge ausgezahlt
werden können. Diesen Entschädigungsfonds werden wir
beibehalten.
Was den Bereich des Gesetzgebungsrechts angeht, so
will ich Themen ansprechen, die ich schon in der Debatte
über die Regierungserklärung des Kanzlers genannt habe.
Dazu gehört das Wirtschaftsrecht, das schon längst kein
exotisches Feld mehr für interessierte Betriebswirte,
Buchhalter und Manager ist. Wir werden deshalb in die-
ser Legislaturperiode unser Zehnpunkteprogramm zur
Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anleger-
schutzes umsetzen.
994
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 995
Wir wollen im Aktien- und Bilanzrecht die Mitglieder
von Vorständen und Aufsichtsräten stärker in die persön-
liche Haftung gegenüber den Aktionären nehmen
und das Wirtschaftsstrafrecht verschärfen.
Im Bilanz- und Abschlussprüfungsrecht verstärken wir die
Pflicht zur Wahrheit und Klarheit und führen einen exter-
nen Überwachungsmechanismus ein, das Enforcement.
Das sind Vorhaben, bei denen wir uns in Übereinstim-
mung mit der Wirtschaft befinden. Sie wissen, dass eine
Kommission Vorschläge vorgelegt hat, die von der Wirt-
schaft akzeptiert werden.
Wir wollen das Versicherungsvertragsrecht moderni-
sieren. Dort müssen wir die Behandlung von Gentests, die
Überschussbeteiligung in der Lebensversicherung und die
Altersrückstände in der privaten Krankenversicherung re-
geln.
Zu einem ähnlichen Komplex gehört auch das Ur-
heberrecht in der Informationsgesellschaft. Sie wissen,
der erste Korb – wie wir es nennen – ist im Bundestag und
Bundesrat anhängig. Weitere Schritte werden wir ange-
hen; wir werden sie gemeinsam mit den Betroffenen, den
Urhebern, den Verwertungsgesellschaften und den Ver-
brauchern erörtern.
Ein Thema, das heute morgen in der Presse behandelt
wurde, ist das UWG. Es steht auf dem Prüfstand. Sie wis-
sen, dass wir die Reform mit der Einsetzung der Arbeits-
gruppe „Unlauterer Wettbewerb“ im Bundesministerium
der Justiz schon längst begonnen haben. In ihr sind hoch-
rangige Mitglieder aus der Industrie, dem Handel, dem
Handwerk, den Verbraucherverbänden, den Gewerkschaf-
ten und dem Bereich der Sachverständigen vertreten.
Allen möchte ich an dieser Stelle für ihre Arbeit dan-
ken und ankündigen, dass wir diesen Gesetzentwurf zügig
angehen werden. Dabei kann es nicht darum gehen – so
wird es teilweise gefordert –, punktuelle Lösungen wie
die Liberalisierung des § 7 UWG über Sonderveranstal-
tungen und Sonderangebote – auch „Lex C &A“ genannt –
vorzunehmen; denn das Wettbewerbsrecht betrifft den
Kernbereich der sozialen Marktwirtschaft. Ich meine des-
halb, dass wir eine stimmige Gesamtlösung brauchen und
punktuelle Eingriffe vermeiden sollten. Wir werden des-
halb im nächsten Jahr ein Gesamtkonzept vorlegen.
Ein Thema aus dem Wirtschaftsrecht würde ich gern
noch ansprechen, das mir aus meiner Tätigkeit in den letz-
ten vier Jahren besonders am Herzen liegt. Sie wissen,
wenn Deutschland Gastgeber der Olympischen Spiele im
Jahre 2012 sein will, dann müssen wir einen hinreichenden
markenrechtlichen Schutz der olympischen Symbole
sicherstellen. Das verlangt das IOC. Anderenfalls können
die Spiele nicht nach Deutschland vergeben werden.
Wir werden schnell einen entsprechenden Gesetzent-
wurf vorlegen; denn ich will, dass auch das Justizministe-
rium – ebenso wie der Rest der Bundesregierung – das
Seine tut, um die Bedingungen für die deutsche Bewer-
bung um die Olympischen Spiele zu erfüllen.
Ich hoffe natürlich sehr, dass diese Bewerbung dann auch
erfolgreich sein wird.
Ich gehe davon aus, dass auch die Kollegen von der Op-
position, selbst wenn sie jetzt nicht klatschen, dieses Ge-
setzesvorhaben unterstützen werden.
Auch auf das Betreuungsrecht, das der Kollege Funke
in der Debatte über die Regierungserklärung angespro-
chen hat, möchte ich kurz eingehen. Wir sind uns mit den
Ländern darin einig, dass hier etwas getan werden muss.
Im Interesse der Betroffenen und zum Schutz ihres Selbst-
bestimmungsrechts sollten Betreuungen nur dann einge-
richtet werden, wenn sie wirklich notwendig sind.
Ich werbe deshalb inzwischen für das Institut der Vorsor-
gevollmacht und setze mich für seine Stärkung ein. Was
wir wahrscheinlich auch brauchen werden, ist eine stär-
kere Notwendigkeitskontrolle bei den Betreuungen und
auch eine stärkere Einbindung der Sozialbehörden.
Es gibt eine Rechtstatsachenforschung zu diesem
Thema. Das Ergebnis wird Anfang 2003 und, bearbeitet
von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, Mitte 2003 vorlie-
gen. Dann haben wir eine solide Grundlage für weitere
Schritte. Dann kann dieses Haus beraten, was davon um-
gesetzt werden soll.
Unsere Modernisierungspolitik ist aber nicht auf die Ge-
setzgebung beschränkt. Ein Schwerpunkt des Justizhaus-
halts liegt – wie in den vergangenen Jahren – beim Deut-
schen Patent- und Markenamt. Sie wissen, wir sind
dabei, dieses Amt zu modernisieren. Nach wie vor befindet
sich die Zahl der Anmeldungen im Patentbereich auf höchs-
tem Niveau. Im Jahre 2001 sind 64151 Anmeldungen er-
folgt. Das ist für sich genommen sehr erfreulich. Die Zah-
len sind auch ein handfester Beweis dafür, dass die Justiz
das ihre tut, um den Wirtschaftsstandort Deutschland at-
traktiv zu machen; sie belegen auch die Innovationskraft
Deutschlands.
Der stetige Anstieg der Anmeldezahlen seit Mitte der
90er-Jahre bedeutet für uns die Verpflichtung, das Amt
personell und sächlich vernünftig auszustatten, damit die
Menschen, die dort arbeiten, auch in der Lage sind, diese
Anträge schnell zu bearbeiten. Das war in der Vergangen-
heit nicht immer der Fall. Die Zahl der Patentprüfer war
von 1993 bis 1998 von 654 auf 554 zusammengestrichen
worden.
Der Stau, der sich damals gebildet hat, muss jetzt abgear-
beitet werden. Im Markenbereich hat das Amt bereits den
Bundesministerin Brigitte Zypries
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundesministerin Brigitte Zypries
Break-even-Point erreicht. Es kann jetzt mehr Anträge
bearbeiten, als neu eingehen. Das ist, wie ich finde, ein
sehr erfreuliches Ergebnis.
Auch im Patentbereich sind wir von diesem Punkt nicht
mehr fern. Diesen Weg werden wir entschlossen fortset-
zen. Deshalb haben wir im Regierungsentwurf auch vor-
gesehen, dass 60 neue Planstellen für Patentprüfer ge-
schaffen werden.
Ich glaube, dass dieser Personalzuwachs eine vernünftige
Innovationsmaßnahme und – parallel mit dem Ausbau der
Informationstechnik in dem Amt – auch ein unverzicht-
barer Beitrag zum Standort Deutschland ist.
Im Übrigen ist es so, dass sich der Haushalt des Deut-
schen Patent- und Markenamtes insofern „erkenntlich“
zeigt, als er die Einnahmen für den Justizhaushalt erwirt-
schaftet; denn der Justizhaushalt ist nicht nur klein und
fein, sondern es ist auch der einzige Haushalt, der ungefähr
80 Prozent seines Volumens selbst erwirtschaftet, eben vor
allem über dieses Deutsche Patent- und Markenamt.
Das wollen wir weiter unterstützen.
Lassen Sie mich noch erwähnen, dass sich die erfolg-
reiche Tätigkeit im Patentbereich auf die Gerichte aus-
dehnt. Auch in der Patentgerichtsbarkeit ist Deutsch-
land in Europa führend. Ungefähr zwei Drittel der etwa
800 anhängigen europäischen Patentstreitigkeiten werden
in Deutschland geführt. Wir kämpfen im Moment im eu-
ropäischen Kontext sehr stark dafür, dass diese Regelung
über die Gerichtsbarkeit so bleibt. Das Gemeinschafts-
patent darf die bewährte Patentgerichtsbarkeit in Deutsch-
land nicht gefährden.
Zu guter Letzt, meine Damen und Herren, noch zwei
Worte zu einem Thema, das wahrscheinlich insbesondere
die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte unter Ihnen in-
teressiert,
die Anwaltsgebührenerhöhung. Ich habe eben beim
parlamentarischen Abend der Bundesrechtsanwaltskam-
mer gesagt, dass ich das Anliegen, die Gebühren nach vie-
len Jahren wieder einmal anzupassen, für berechtigt halte.
Wenn wir dies durchsetzen wollen – das habe ich auch ge-
sagt –, können wir das nur gemeinsam mit den Ländern tun.
Ich habe den Kollegen Gasser gebeten, zwei Minister
aus den A-Ländern und zwei Minister aus den B-Ländern
zu benennen, mit denen wir eine kleine Arbeitsgruppe bil-
den können, um das einmal vorzubesprechen. Dann müs-
sen wir mit den Anwaltsverbänden reden. Ich wäre Ihnen
dankbar, meine Damen und Herren von der Opposition,
wenn Sie auch mit den von Ihnen regierten Ländern spre-
chen würden, insbesondere mit den Finanzministern,
nicht nur mit den Justizministern; denn die Justizminister
sind hier sowieso unserer Ansicht. Aber wir müssen auch
die Finanzminister der Länder dazu bekommen, dieses
Vorhaben mitzutragen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit zu später
Stunde.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Haushaltsdebatte ist immer auch eine Generaldebatte.
Deshalb möchte ich anlässlich der Beratungen des Ein-
zelplans 07 einige rechtspolitische Schwerpunkte von
CDU und CSU für diese Wahlperiode nennen. Dabei halte
ich es für sinnvoll, kurz darauf einzugehen, was aus unse-
rer Sicht überhaupt Aufgabe von Rechtspolitik ist. Das er-
scheint mir deshalb notwendig, weil die Erfahrungen in
der vergangenen Wahlperiode gezeigt haben, dass die
Vorstellungen hierüber zwischen Rot-Grün einerseits und
den bürgerlichen Kräften andererseits teilweise doch sehr
weit auseinander gehen.
Für uns ist Rechtspolitik vor allem die Stärkung und,
wo nötig, die Verbesserung des Rechtsstaats sowie die Si-
cherung der Freiheit der Bürger gegenüber dem Staat und
auch gegenüber Dritten.
Bei Rot-Grün war jedoch in der vergangenen Wahlperiode
immer deutlicher zu erkennen, dass Rechtspolitik als Mit-
tel der Gesellschaftsveränderung betrachtet wird. Diesen
Bestrebungen werden wir, sollten sie weiter verfolgt wer-
den, auch weiterhin entschiedenen Widerstand leisten.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einige
grundsätzliche Bemerkungen machen. Sicherheit und
Freiheit gehören untrennbar zusammen. Sicherheit ist Vo-
raussetzung für Freiheit. Das Recht wiederum sichert
diese Freiheit. Dafür brauchen wir einen starken Staat;
denn nur ein starker Staat kann einen optimalen Schutz
der Bürger gegen Verbrechen gewährleisten. Starker Staat
und liberaler Staat sind kein Widerspruch; denn gerade ein
liberaler Staat muss wehrhaft sein, da sonst die freiheitli-
che Demokratie den vielfältigen Bedrohungen nicht ge-
wachsen ist.
– Ja, das sind Dinge, die man Ihnen immer wieder ins Ge-
dächtnis rufen muss, weil Sie dagegen handeln.
996
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 997
Es muss Schluss sein, Herr Kollege Schmidt, mit einer
als Liberalität getarnten Gleichgültigkeit gegenüber den
Sicherheitsbedürfnissen der Bürger.
Die Menschen bei uns im Land haben ein Recht auf Si-
cherheit.
Deshalb gilt bei uns null Toleranz gegenüber Verbrechen.
Wir handeln danach und haben danach gehandelt, solange
wir Verantwortung hatten. Aber wir müssen Sie leider da-
ran erinnern.
Wer Recht bricht und sich damit gegen unsere Wert-
ordnung stellt, muss mit konsequenter Verfolgung und
Bestrafung rechnen.
Beim Schutz der Bürger darf es keine rechtsfreien Räume
geben. Ich hoffe, das findet auch die Zustimmung der
Koalitionsfraktionen. Wir lehnen die Verharmlosung von
Rechtsbruch und Gewalt durch so genannte Entkriminali-
sierung ab; denn sie schafft den Nährboden für Krimina-
lität, senkt Hemmschwellen, ermutigt Rechtsbrecher und
entmutigt die gesetzestreuen Bürger.
Ich möchte auch klarstellen, dass für uns jedenfalls
nicht die Sorge um die Täter im Mittelpunkt steht,
sondern der Schutz der Bürger und die Not der Opfer von
Straftaten, die wir lindern wollen.
Jetzt zu einigen unserer Schwerpunkte. Im Mittelpunkt
der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen leider, gerade
auch in den letzten Monaten, besonders verabscheuungs-
würdige Sexualverbrechen.
Der letzte Fall war jener der 16-jährigen Jennifer, die vor
wenigen Wochen im schleswig-holsteinischen Neumünster
einem Sexualmord zum Opfer fiel. Der mutmaßliche Tä-
ter war nur kurz zuvor aus der Strafhaft entlassen worden.
– Leider müssen wir dies immer wieder sagen. Sie schrei-
ben zwar in Ihre Koalitionsvereinbarung, Sie wollten hier
etwas tun, aber Sie handeln nicht, es folgen keine Taten.
Es gibt nur leere Worte.
Nicht weniger erschreckend ist die große Zahl von Kin-
dern, die Opfer sexuellen Missbrauchswerden. Dies sind
jährlich rund 20 000 Fälle in Deutschland. Die Dunkel-
ziffer ist jedoch viel höher.
Die CDU/CSU-Fraktion hat deshalb einen Gesetzent-
wurf zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor
Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten in den
Deutschen Bundestag eingebracht, dessen erste Lesung
bereits stattgefunden hat. Dieser enthält im Wesentlichen
folgende Vorschläge: Wir wollen die Grundfälle des sexu-
ellen Missbrauchs von Kindern als Verbrechen einstufen
und auch die Verabredung zum Kindesmissbrauch sowie
den Anstiftungsversuch künftig strafbar machen.
Wir wollen einen neuen Straftatbestand einführen, der
solches Verhalten unter Strafe stellt, das den sexuellen
Missbrauch von Kindern erst ermöglichen soll. Wir wol-
len Strafschärfungen im Bereich der Kinderpornographie,
die Strafbarkeit der Billigung oder Belohnung schwerer
Sexualstraftaten und die Möglichkeit der Überwachung
des Fernmeldeverkehrs für sämtliche Fälle des Kindes-
missbrauchs und der Verbreitung von Kinderpornographie.
Wir wollen die konsequentere Nutzung der DNA-Ana-
lyse in Strafverfahren – auch wenn dies den Grünen nicht
gefällt. Wir sind der Auffassung, dass es künftig bei-
spielsweise auch möglich sein soll, einem Exhibitionisten
den genetischen Fingerabdruck abzuverlangen, wenn zu
befürchten ist, dass der Betreffende schwerwiegendere
Straftaten verüben könnte.
Wir wollen – dies ist das Thema, bei dem wir uns hof-
fentlich einigen oder aufeinander zugehen können – die
nachträgliche Sicherheitsverwahrung. Wir wollen si-
cherstellen, dass gegen hochgefährliche Straftäter künftig
die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auch
nachträglich, das heißt bis zur bevorstehenden Entlassung
aus der Haft, angeordnet werden kann.
– Ja, das sind die alten Argumente, die durch Wiederho-
lung nicht besser werden. Das Problem ist bekannt: Es be-
steht eine Gesetzeslücke für die Fälle, in denen sich die
Gefährlichkeit des Straftäters erst nach der Rechtskraft
der Verurteilung im Strafvollzug herausstellt.
CDU und CSU haben hierzu bereits in der letzen Wahl-
periode im Bundestag und auch über den Bundesrat meh-
rere Gesetzesinitiativen eingebracht, um diese Lücke zu
schließen und die Bevölkerung besser vor hochgefährli-
chen Straftätern zu schützen. Alle diese Vorschläge wur-
den von Rot-Grün abgelehnt; übrigens ebenso wie eine
Initiative Bayerns, den Grundfall des sexuellen Miss-
brauchs von Kindern als Verbrechen einzustufen. Dies ist
mir gänzlich unverständlich, denn wer sich an Kindern
vergeht, ist ein Verbrecher, nichts anderes.
Die von Rot-Grün in der vergangenen Wahlperiode
schließlich halbherzig beschlossene Vorbehaltslösung
schließt die Lücke keineswegs. Man stelle sich vor: Hoch-
gefährliche Straftäter, die derzeit in Haft sitzen, werden
von dem Gesetz nicht erfasst.
Dr. Wolfgang Götzer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Wolfgang Götzer
Außerdem besteht nach der rot-grünen Vorbehaltslösung
weiterhin keine Sicherungsverwahrungsmöglichkeit, wenn
die Gefährlichkeit des Täters erst während des Strafvoll-
zuges zutage tritt. Im Übrigen ist der Anwendungsbereich
des Gesetzes in nicht hinnehmbarer Weise eingeschränkt.
Dieses Gesetz taugt also nicht.
Nur mit unserem Gesetzentwurf, den wir jüngst einge-
bracht haben, kann die nach wie vor bestehende unerträg-
liche Gesetzeslücke wirksam geschlossen werden.
Wir wollen des Weiteren, dass die Sicherungsverwah-
rung bereits nach der ersten Tat möglich ist, wenn diese be-
sonders schwerwiegend gewesen ist. Wir wollen schließ-
lich auch, dass sie auf Heranwachsende Anwendung
finden kann, sofern diese nach Erwachsenenstrafrecht zu
verurteilen sind.
Hier könnte die Bundesregierung endlich einmal be-
weisen, dass es ihr mit dem schärferen Vorgehen gegen
Sexualstraftäter wirklich ernst ist. Die bekannte, ebenso
vollmundige wie populistische Äußerung des Bundes-
kanzlers in der „Bild“-Zeitung – wegschließen, und zwar
für immer – steht in eklatantem Gegensatz zu dem, was
Rot-Grün tatsächlich zum besseren Schutz der Kinder vor
Sexualstraftätern tut.
Wir wissen alle, dass man mit Gesetzen nicht alle Ver-
brechen verhindern kann, schon gar nicht, wenn es sich
um einen Ersttäter handelt und dieser vorher nicht auffäl-
lig gewesen ist. Hier aber handelt es sich um Täter, die be-
reits straffällig geworden sind und bei denen die Gefahr
besteht, dass sie nach Verbüßen ihrer Straftat erneut ein
Verbrechen begehen. Ein solches kann in der Tat durch die
Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
verhindert werden. Wir von der Union sind der Meinung,
dass für den Schutz der Bevölkerung und vor allem der
Kinder alles getan werden muss, was rechtsstaatlich mög-
lich ist.
Herr Kollege Stünker, wenn Sie der Meinung sind, es
sei verfassungswidrig, dann sollten wir es vom Bundes-
verfassungsgericht überprüfen lassen. Wir als Gesetzge-
ber sollten jede Möglichkeit ergreifen, die uns zum bes-
seren Schutz der Bevölkerung vor solchen Straftaten
geeignet erscheint.
Wir sind gespannt, ob sich die Bundesregierung unse-
ren Vorschlägen weiterhin verweigert oder jetzt doch end-
lich bereit ist, mit uns die dringend notwendigen Verbes-
serungen zu beschließen. Die erste Lesung unseres
Gesetzentwurfs hat gewissen Anlass zur Hoffnung – wenn
auch nur in begrenztem Umfang – gegeben.
Sehr verehrte Frau Ministerin, wir warten auf den ange-
kündigten Gesetzentwurf Ihres Hauses und hoffen, dass Sie
sich gegenüber Ihrem grünen Koalitionspartner durchset-
zen können. Was von den Grünen zu diesem Thema zu
hören ist, dient dem Täterschutz und nicht der Sicherheit
der Menschen. Dafür haben wir nicht das geringste Ver-
ständnis. Sexualstraftäter dürfen nicht länger von rot-grü-
nen Versäumnissen profitieren können.
– Ja, das ist unglaublich. Wir sollten schnellstmöglich et-
was dagegen tun. Wir sollten diesen Zustand beenden.
Ich komme zur strafrechtlichen Behandlung Heran-
wachsender zwischen 18 und 21 Jahren. Wir wollen si-
cherstellen, dass die Anwendung von Jugendstrafrecht
auf Heranwachsende wirklich nur im Ausnahmefall in Be-
tracht kommt. Die gerichtliche Praxis hat sich vom gesetz-
geberischen Leitbild zunehmend entfernt. Wir alle wissen,
dass derzeit fast ausnahmslos Jugendstrafrecht zur Anwen-
dung kommt. Deshalb hat Bayern im Bundesrat eine Initia-
tive gestartet mit dem Ziel, § 105 JGG neu zu fassen. Dazu
besteht Veranlassung und das ist auch gut begründbar. Wer
mit 18 Jahren volljährig ist, wer alle Rechte und Pflichten
eines Staatsbürgers hat, der muss dementsprechend auch
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.
Es ist geboten, meine ich, die Höchststrafe für Heran-
wachsende, soweit auf diese das Jugendstrafrecht ange-
wendet wird, von zehn auf 15 Jahre heraufzusetzen. Auch
dazu gibt es einen bayerischen Gesetzentwurf im Bun-
desrat.
Diese Vorschläge haben übrigens auf der letzten Kon-
ferenz der Justizministerinnen und Justizminister im No-
vember dieses Jahres eine Mehrheit gefunden.
Ein Wort zur Rauschgiftkriminalität.Was dazu in der
Koalitionsvereinbarung steht, lässt nichts Gutes erwarten.
Wir lehnen rechtsfreie Räume in der Rauschgiftbekämp-
fung entschieden ab. Die Legalisierung von Fixerstuben
und die staatliche Abgabe von Drogen sind der falsche
Weg. Die steigende Zahl der Drogentoten, und zwar unter
den Erstkonsumenten von harten Drogen, erfordert eine
verantwortungsbewusste Drogenpolitik, die Prävention,
Hilfe zum Ausstieg für Süchtige und eine Bekämpfung
der Drogenkriminalität mit allen rechtsstaatlichen Mitteln
verbindet.
Wir sind entschieden gegen die Verharmlosung der so
genannten Alltagskriminalität. Deshalb werden wir
auch nicht von unserer Forderung abrücken, beispiels-
weise schärfer gegen Graffitischmierereien vorzugehen
und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese als
Sachbeschädigung bestraft werden, auch wenn Sie von
der rot-grünen Seite alle unsere diesbezüglichen Gesetzes-
initiativen abgeschmettert haben.
Sie sollten einmal mit offenen Augen gerade durch Berlin
gehen, sich ansehen, welches Ausmaß das angenommen
hat, und mit Hausbesitzern, aber auch mit Mietern spre-
chen. Wie die Wände und Züge hier verschmiert werden,
ist unerträglich geworden.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 999
In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung steht dazu:
Die Alltagskriminalität werden wir konsequent
bekämpfen.
Das ist angesichts Ihres tatsächlichen Verhaltens eine der
vielen hohlen Phrasen.
Wir sind für eine sinnvolle Erweiterung des Katalogs
der strafrechtlichen Sanktionen. Das Fahrverbot bei-
spielsweise ist in vielen Fällen auch bei nicht verkehrsbe-
zogenen Straftaten eine angemessene und spürbare Sank-
tion. Auch die Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit
sollte künftig verstärkt zur Anwendung kommen. Die Er-
weiterung des Sanktionensystems bedeutet für uns aber
keinesfalls dessen Aufweichung, zum Beispiel durch eine
weitere Ausweitung der Anwendung von Bewährungs-
strafen. – So weit unsere wichtigsten Schwerpunkte auf
dem Gebiet des Strafrechts bzw. der inneren Sicherheit.
Auf den zivilrechtlichen Bereich möchte ich heute nur
ganz kurz eingehen. Die bereits erwähnte Reform der An-
waltsvergütung, Frau Ministerin, ist in der Tat überfällig.
Auch dazu gab es große Ankündigungen in der letzten
Wahlperiode; das betrifft jetzt natürlich nicht Sie, Frau
Ministerin.
Aber es hat sich rein gar nichts getan. Die Behandlung
dieses Themas wurde mit der Begründung verschoben
– das haben wir im Rechtsausschuss miterlebt, Herr Kol-
lege Funke –, es müsse eine umfassende Neuregelung des
Gebührenrechts erarbeitet werden; dafür werde die Zeit
nicht reichen. Das waren Ausreden. Es ist bisher nichts
geschehen. Die strukturelle Neuregelung wie auch die
Anhebung der seit 1994 unveränderten Gebühren müssen
unverzüglich in Angriff genommen werden.
Eine Verschlechterung beim Versorgungswerk wird es mit
uns aber nicht geben.
Ein abschließendes Wort zum so genannten Antidis-
kriminierungsgesetz, wie es in der Koalitionsvereinba-
rung heißt. Wir werden alles dafür tun, dass nicht wild
gewordene Ideologen das Zivilrecht mit seinem Grund-
satz der Vertragsfreiheit aushöhlen und beispielsweise
Deutsche gegenüber Ausländern in der Rechtsordnung
nicht massiv benachteiligt werden.
Sehr geehrte Frau Ministerin, wir sind zu konstruktiver
Zusammenarbeit bereit, aber selbstverständlich auf der
Grundlage unserer Wertvorstellungen und Ziele.
Die Voraussetzungen dafür sind in dieser Legislaturperi-
ode aus hier nicht näher zu bezeichnenden Gründen bes-
ser als in der vorangegangenen.
An die Adresse der SPD-Mitglieder im Rechtsaus-
schuss möchte ich anlässlich der Geschehnisse, die sich
dort bei den Beratungen zu den Hartz-Gesetzen ereignet
haben, ein klares Wort richten: Das Tempo sind wir von
Ihnen aus der letzten Legislaturperiode schon gewöhnt.
Dass man innerhalb einer Woche am Dienstag die An-
hörung durchführt, am Mittwoch in den Ausschüssen ab-
schließend berät, am Freitag bereits die zweite und dritte
Lesung abhält und das Gesetz durchpeitscht, davon rede
ich gar nicht; das haben wir schon mehrfach erlebt. Nein,
Sie wollten über Änderungsanträge der Koalition abstim-
men lassen, die weder dem Ausschuss noch seinen Mit-
gliedern vorlagen.
– Selbstverständlich wollten Sie das tun. Sie waren wohl
in einer anderen Veranstaltung!
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie können
den bekannten Vorgang nicht mehr im Einzelnen darstel-
len.
Ich bin am Schluss meiner Rede, Frau Präsidentin.
Aber das musste ich den Kollegen von der SPD noch ins
Stammbuch schreiben; denn in diesem Punkt haben sie
dem Parlamentarismus einen schlechten Dienst erwiesen.
Ein solches Vorgehen schadet nicht nur der sachlichen Zu-
sammenarbeit, sondern auch dem Parlamentarismus ins-
gesamt. Das darf sich nicht wiederholen.
Ich danke Ihnen.
Je später der Abend, umso länger werden die Reden. –
Jetzt hat der Abgeordnete Christian Ströbele das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Götzer hat mal wieder in die Kiste gegriffen und
all die Gesetzentwürfe aus der vorletzten, aus der letzten
und zum Teil auch aus dieser Legislaturperiode hervor-
geholt, die er hier verabschiedet haben möchte.
Ich will einen theoretischen Gedanken anführen, um
einmal etwas Neues zu sagen. Das Schlimme ist nicht,
dass Sie dies immer wieder hervorholen. Das Schlimme
liegt meiner Meinung nach ganz woanders: Ich habe ein-
mal gelernt, dass die parlamentarische Demokratie,
also die vermittelte Demokratie, die bessere Staatsform ist
Dr. Wolfgang Götzer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Hans-Christian Ströbele
im Vergleich zur direkten Demokratie, in der das Volk alle
Angelegenheiten direkt regelt; das könnte man heute viel-
leicht schon über Computer möglich machen. Die parla-
mentarische Demokratie ist deshalb besser, weil sie unab-
hängiger von den Emotionen des Augenblicks in der
Bevölkerung ist, weil in ihr sachlicher mit den Problemen
umgegangen werden kann und die Gesetze und die
Rechtsordnung sachlicher gestaltet werden können.
– Das habe ich gelernt.
Jetzt erlebe ich aber, dass Sie von der CDU/CSU die-
sen richtigen Gedanken und damit das Prä der parlamen-
tarischen Demokratie immer wieder unterlaufen, indem
Sie auf Emotionen in der Bevölkerung setzen, diese Emo-
tionen in das Parlament hineintragen und immer wieder
Gesetze fordern, die überhaupt nichts von dem bringen,
was Sie behaupten.
Ich will Ihnen das an zwei Beispielen deutlich machen.
Fahren Sie hier in Berlin mit der U-Bahn oder der S-Bahn,
dann sehen Sie verkratzte Scheiben, voll gemalte Türen
usw.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass das Zerkratzen einer
Scheibe in Berlin bzw. in der Bundesrepublik Deutsch-
land eine Straftat ist. Wenn Sie diejenigen, die das ge-
macht haben, erwischen, dann werden sie, wenn man ih-
nen das nachweisen kann, vor Gericht gestellt und
verurteilt,
weil das Zerkratzen von Scheiben ganz unzweifelhaft den
heutigen Tatbestand der Sachbeschädigung erfüllt. Da
gibt es keinen Irrtum. Kein Richter wird das anders sehen.
Genauso ist es mit dem anderen Bereich. Sie setzen auf
die berechtigten Ängste und Emotionen in der Bevölke-
rung, wenn solche schlimmen Straftaten wie Kindesmiss-
brauch mit anschließender Ermordung geschehen.
Sie wissen genau, dass die Fälle, die Sie hier genannt ha-
ben, genauso passiert wären, wenn all die Gesetze, die Sie
fordern, in Kraft gesetzt würden.
Auf diese Straftat steht schon heute lebenslänglich. Der
Täter, von dem Sie reden, ist nicht aus der Haftanstalt ent-
lassen worden, obwohl man wusste oder es Anhaltspunkte
gegeben hat, dass er gefährlich gewesen ist.
Das heißt, Sie spielen mit diesen Emotionen, weil Sie
meinen, damit in der Bevölkerung Pluspunkte zu machen.
Das ist schlimm und gefährlich, weil Sie damit die Illu-
sion schüren, dass man in der Gesellschaft insgesamt sol-
che Straftaten auf Dauer verhindern kann. Das ist leider
nicht wahr.
Wir haben häufig darauf hingewiesen, dass die Strafta-
ten in diesem Bereich weitgehend eingedämmt worden
sind. Leider passiert immer noch die eine oder andere
ganz schlimme Straftat. Jede, die passiert, ist zu viel. Aber
Sie drücken sich um das Phänomen, dass die große Mehr-
zahl dieser Straftaten, also Kindesmissbrauch, in den Fa-
milien passiert. Ihre Rezepte für die Verhinderung dieser
Straftaten sind kontraproduktiv.
Dabei geht es nämlich darum, die Opfer zu ermutigen,
sich gegen den Täter zu wehren. Den Opfern muss Hilfe-
stellung gegeben werden, damit sie den Täter anzeigen.
Von dieser Seite muss dagegen angegangen werden, weil
dann der Täter in der Familie oder in der nahen Bekannt-
schaft damit rechnen muss, dass er vor Gericht gestellt
wird. Straftaten wie Kindesmissbrauch sind heute mit ei-
nem ganz geringen Risiko verbunden. Das wollen wir än-
dern. Deshalb wollen wir die Rechte der Opfer stärken.
Wir wollen die Behandlung der Opfer vor Gericht oder
bei der Polizei so schonend ablaufen lassen, wie es ir-
gendwie geht, um die Opfer zu ermutigen, zur Polizei,
zum Staatsanwalt oder zum Gericht zu gehen. Möglicher-
weise müssen sie dann vor Gericht selber gar nicht mehr
aussagen. Das ist der andere, der bessere Weg, den wir ge-
hen wollen.
Jetzt lasse ich das einmal beiseite, weil dazu fast alles
gesagt worden ist. Wir haben in der letzten Legislaturpe-
riode in vielen Bereichen erst einmal unsere Pflichtaufga-
ben erledigt. Wir haben die ZPO überarbeitet.
Wir haben die gleichgeschlechtlichen Lebenspartner-
schaften endlich gesetzlich geregelt. Darauf haben viele
gewartet.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 1001
Wir haben mit der Verlängerung der Fristen im Rahmen
des Verwaltungsrechts die Möglichkeit von Rechtsmitteln
verbessert.
Darüber hinaus haben wir eine Reihe von Gesetzen ge-
macht, über die wenig gesprochen wird. Wir haben zum
Beispiel das Untersuchungsausschussgesetz eingebracht,
das es in der Bundesrepublik Deutschland bisher leider
nicht gab. Sie als Opposition profitieren jetzt davon, weil
wir auch den kleineren Parteien wie der CDU/CSU
und der FDP damit bessere Möglichkeiten zur Mitarbeit in
Untersuchungsausschüssen eröffnet haben. Dafür sollten
Sie uns loben. Sie haben damals schließlich mitgemacht.
Wir haben das Parteiengesetz geändert. Die FDP ver-
heddert sich jetzt gerade in den Stricken, die durch dieses
Gesetz gelegt worden sind, obwohl sie seinerzeit zuge-
stimmt hat.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauder?
Damit haben wir unsere Pflichtaufgaben gemacht.
Aber wir wollen nun in der kommenden Legislaturperi-
ode die Kür erledigen.
Zu den Pflichtaufgaben rechne ich die Verbesserung bzw.
die Angleichung der Rechtsanwaltsgebühr. Zur Kür
komme ich gleich. Davor kann der Kollege gerne eine
Frage stellen. – Bitte.
Herr Kollege Ströbele, ist Ihnen bekannt, dass Vor-
schläge zum Bereich des Opferschutzes in der Schublade
der Frau Bundesjustizministerin liegen, die in der letzten
Legislaturperiode nicht abgearbeitet worden sind, bei-
spielsweise zur Frage des Adhäsionsverfahrens? Ist Ihnen
bekannt, dass auf europäischer Ebene Opferschutz-
vorschriften bestehen, die in Deutschland noch nicht um-
gesetzt worden sind, obwohl die Frist dafür am 22. März
dieses Jahres abgelaufen ist, sodass das Bundesjus-
tizministerium Gefahr läuft, auch in diesem Bereich einen
blauen Brief zu bekommen?
Das ist mir natürlich bekannt, Herr Kollege. Ich habe
selber an der Vorbereitung dieser Gesetze mitgewirkt und
bin stolz darauf, weil wir eine ganze Reihe von fortschritt-
lichen Bestimmungen vorgesehen haben.
Wir haben sie leider in der vergangenen Legislaturperiode
nicht mehr verabschieden können, weil wir sie am liebs-
ten in eine grundsätzliche Reform der Strafprozessord-
nung einbetten würden, in der man das alles sehr gut re-
geln könnte. Wir werden das angehen und es in naher
Zukunft mit Ihnen beraten und im Bundestag verabschie-
den.
Wie sieht unsere Kür aus?
Erstens wollen wir die Wirkung von Gesetzen, die aus
früherer Zeit stammen, überprüfen. Es geht darum, dass
Deutschland im Abhören von Telefonaten Weltmeister ist.
Wir wollen wissen, warum das so ist, wer davon betroffen
ist, wofür das erforderlich war, ob es wirklich zwingend
erforderlich ist oder ob gegebenenfalls Korrekturen not-
wendig sind. Wir warten das Gutachten ab; dann beginnen
wir mit der Überprüfung.
Zweitens wollen wir ein Antidiskriminierungsgesetz,
das Sie angegriffen haben. Wir meinen, dass es richtig und
notwendig ist, auch im Zivilrecht zu einer Antidiskrimi-
nierungsgesetzgebung zu kommen, sodass es sich auch
Arbeitgeber, Vermieter und Gastwirte aus finanziellen
und rechtlichen Gründen nicht leisten können, andere
etwa wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer Haut-
farbe oder ihres Geschlechts zu diskriminieren. Ich
meine, dass dies längst überfällig ist.
Wir wollen beispielsweise auch verhindern, dass Ak-
ten, die in Deutschland von den Ermittlungsbehörden zu-
sammengetragen worden sind, etwa an Länder herausge-
geben werden, in denen sie dazu beitragen könnten, dass
in einem gerichtlichen Verfahren die Todesstrafe verhängt
und vollstreckt wird. Weil wir das nicht wollen, wollen
wir Sicherungen einbauen.
Lassen Sie mich abschließend eines bemerken: Zurzeit
gibt es in den Charts einen Song, der etwas mit der Dro-
genpolitik zu tun hat und in dem ich mit dem Satz „Gebt
das Hanf frei!“ zitiert werde.
Dieser Satz ist zwar aus dem Zusammenhang gerissen,
trotzdem stehe ich dazu.
Diese Forderung wird zwar von der Koalition und wahr-
scheinlich – das ist mir nicht bekannt – auch von der Mi-
nisterin noch nicht mitgetragen.
Hans-Christian Ströbele
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Hans-Christian Ströbele
Aber wir stehen dazu und wollen versuchen, diese Forde-
rung in dieser Legislaturperiode umzusetzen.
Wenn das nicht möglich ist, wollen wir einer Verein-
barung zufolge zumindest erreichen, dass Hanf und
Cannabis vom Arzt als Medizin verschrieben
– es gibt viele Kranke, die darauf angewiesen sind – und
von den Apotheken ausgegeben werden können.
Wir wollen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichtes vollzogen wird, derzufolge der einfache
Besitz von Hanf nicht zum Verlust des Führerscheins
führen kann. Wir wollen, dass der Besitz bundesweit ein-
heitlich so geregelt wird, dass man nicht wegen ein paar
Gramm Haschisch in der Tasche verhaftet, vor Gericht ge-
zerrt und möglicherweise zu einer Strafe verurteilt werden
kann. Das sind unsere Ziele für eine freiheitlichere Ge-
sellschaft.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Fricke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Ströbele, nach Ihrer Rede ist mir eines nicht klar: Will
denn die Koalition, dass das Ganze zum Verbrechen he-
raufgestuft wird oder nicht? Zu dieser Frage habe ich un-
terschiedliche Stimmen gehört. Sie werden mir bzw. dem
Rechtsausschuss sicherlich eine Antwort darauf geben.
Als Haushälter, lieber Herr Stünker, und nicht als Mit-
glied des Innenausschusses darf ich darauf hinweisen,
dass das Haushaltsvolumen des Justizministeriums klein
ist – darin gebe ich Ihnen Recht, Frau Ministerin – und ei-
nen sehr hohen Kostenwirkungsgrad hat. Aber auch in
diesem Bereich – das müssen wir als Haushälter feststel-
len – wird gespart und mit dem Mittel der globalen Min-
derausgabe überproportional umgegangen, was ich, ge-
linde gesagt, nicht ganz fair finde.
Wir haben in den vergangenen Wochen allerdings er-
fahren, dass der Justiz in der Koalition leider eine sehr ge-
ringe Bedeutung zukommt. Sie führt ein Nischendasein.
Das wird im Koalitionsvertrag und auch in vielen anderen
Bereichen sichtbar. Ich behaupte ja nicht, dass das bei den
Rechtspolitikern oder bei Ihnen, Frau Ministerin, der Fall
ist. Wenn ich mir aber die große Linie anschaue, dann
muss ich feststellen, dass von Rechtspolitik herzlich we-
nig die Rede ist.
Es gibt aber noch eine andere Gefahr. Das Justizressort
wird in den Ländern und im Bund oft zur Beute gemacht.
Wir haben erlebt – wenn ich mich richtig erinnere, ist das
von allen Seiten kritisiert worden –, wie es beispielsweise
dem Innenminister oder dem Ministerpräsidenten zuge-
schlagen wurde. Dass so etwas geschieht, liegt nach mei-
ner Ansicht an der, auch fiskalisch gesehen, mangelnden
Größe des Justizministeriums. Dieser Gefahr sollten wir
begegnen. Das sage ich bewusst auch als Haushaltspoli-
tiker, der den Haushalt des Justizministeriums als wichtig
erachtet.
Es gibt nach meiner Meinung zwei Möglichkeiten, die-
ses Problem zu lösen: Frau Ministerin, ich weiß, dass Sie
die Bildung eines Rechtspflegeministeriums – in Rhein-
land-Pfalz gibt es ein solches Ministerium bereits seit lan-
gem; auch Hamburg hat ein solches Ministerium – auf
Bundesebene anstreben. Hier haben Sie die Unterstützung
der FDP. Einen solchen Vorschlag enthält – ich glaube:
seit Jahrzehnten – auch das FDP-Programm.
Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit. Da der In-
nenminister anwesend ist, fürchte ich, dass ich ein lautes
Aufstöhnen hören werde, wenn ich sie vortragen werde.
– Er hat immerhin denselben Vornamen wie ich. Es kann
also durchaus sein, dass er sich darüber empört, wie je-
mand mit einem solchen Vornamen so etwas sagen könne.
Ich persönlich bin der Ansicht, dass der Datenschutz,
der, wie wir alle wissen, aus historischen Gründen beim
Innenministerium angesiedelt ist, sehr gut in den Bereich
des Justizministeriums einzugliedern ist.
– Sie sehen, das Stöhnen beginnt bereits. – Herr Innen-
minister, man muss schon feststellen – ich habe eben Ihre
Rede am Fernseher verfolgt –, dass Sie, wenn man an die
vielen Behörden denkt, im Bundesinnenministerium ei-
nen riesigen Bauchladen haben. Deshalb wird Ihnen der
Verlust des kleinen Bereichs des Datenschutzes nicht
wehtun. Bedenken Sie, was Sie damit Ihrer Kollegin im
Justizministerium Gutes tun könnten.
– Das wäre eine andere Möglichkeit.
Ein kurzes Wort zur allgemeinen Gesetzgebungs-
arbeit:Wir alle wissen, dass der Rechtsausschuss und das
Justizministerium Großproduzenten sind, wenn es um das
Erlassen von Gesetzen geht. Die Gesetzgebungsarbeit
war in der Vergangenheit manchmal Pflicht und manch-
mal Kür. Daran, ob die Kür immer richtig war, habe ich
meine Zweifel, Herr Ströbele. Manche Kür, die Sie eben
genannt haben – ich nenne das Antidiskriminierungs-
gesetz als Beispiel –, ist eine Pflicht; denn sie beruht auf
der Pflicht, Richtlinien umzusetzen. Eines sollten wir bei
der Gesetzgebungsarbeit allerdings nicht tun – Herr
Ströbele, ich hoffe, dass Sie jetzt ganz heftig klatschen
werden –: Wir sollten durch gesetzgeberische Aktivitäten
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 1003
in keiner Weise politisches Handeln vortäuschen und
schon gar nicht Sicherheit vorgaukeln. Das darf nicht pas-
sieren.
Noch eine Sache: Ich gehe davon aus, dass es ange-
sichts der vielen Gesetze, die in der letzten Legislaturpe-
riode im Bundestag beschlossen worden sind, viele Kor-
rekturgesetze geben wird, durch die kleinere, aber auch
größere Unstimmigkeiten beseitigt werden.
Ein weiteres kleines Detail – auch das ist schon von der
Ministerin angesprochen worden – ist das Bundespatent-
amt. Über die Notwendigkeit, den dort vorhandenen An-
tragsstau abzubauen, ist bereits gesprochen worden. Ich
glaube, wir sind hier auf einem guten Weg. Ich muss Sie
als Haushälter aber auch davor warnen, dass es gerade in
diesem Bereich immer wieder Begehrlichkeiten seitens
des Finanzministeriums und anderer Ministerien gibt. Ich
muss sicherlich nicht darauf aufmerksam machen, dass
Patente für unsere Wirtschaft wichtig sind. Ich möchte
aber auf eine Sache besonders hinweisen: Für Mittel-
ständler ist es mit Blick auf die Kreditvergabe sehr wich-
tig, dass Patente schnell erteilt werden; denn gerade
Basel II sorgt dafür, dass es der Mittelstand in Zukunft
schwerer haben wird, Kredite zu erhalten.
Als Hauptberichterstatter darf ich in der letzten Minute
meiner Redezeit noch auf ein Problem im Einzelplan des
Bundesverfassungsgerichts hinweisen. Wegen überlanger
Verfahren haben wir alle – das betrifft den Bund, die
Länder und auch das Bundesverfassungsgericht – von
Straßburg kräftig eins auf die Nase bekommen. Aufgrund
der entsprechenden Urteile werden sich Schadenersatz-
forderungen ergeben. Diese werden aus dem Haushalt des
Bundesverfassungsgerichts zu decken sein. Jetzt besteht
die Gefahr, dass man in einen Teufelskreis gelangt – wir
müssen dieses Problem noch im Haushaltsjahr 2003 lö-
sen –: Wenn man die Mittel, die man für die Deckung der
Schadenersatzforderungen benötigt, bei den wissen-
schaftlichen Mitarbeitern einspart, dann bedeutet das,
dass sich die nächsten Verfahren vor dem Bundesverfas-
sungsgericht wieder verzögern, dass dann erneut Klagen
kommen werden und dass man wieder verurteilt wird.
Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. Ich
werde mich zusammen mit den Berichterstattern der an-
deren Fraktionen sehr dafür einsetzen.
Ein letztes Wort: Haushälterische Sorgfalt und Weit-
sicht – ich hoffe dabei auf Ihre Unterstützung – verlangen
von uns allen Voraussicht. Ich bin sicher: Das freut Herrn
Götzer und die anderen Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU-Fraktion ganz besonders; denn man kann
es bereits in der Bibel im vierten Kapitel des ersten
Korintherbriefes lesen, wo es heißt:
Man fordert nicht mehr von den Haushaltern, als dass
sie für treu befunden werden.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Stünker.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich an dieser Stelle vor einem Ausblick in die
15. Legislaturperiode einen kurzen Rückblick auf die
14. Legislaturperiode halten.
Ich finde, bei allem Streit, den wir hier gehabt haben, und
bei allen unterschiedlichen Auffassungen, kann man eines
objektiv nicht bestreiten: Durch die rot-grüne Politik in
der 14. Legislaturperiode hat die Rechtspolitik als solche
in diesem Hohen Hause endlich wieder das Gewicht be-
kommen, das ihr zusteht, Herr Götzer,
und zwar nicht nur in diesem Hohen Hause, sondern da-
rüber hinaus auch gesamtgesellschaftlich. Es ist wieder
über Rechtspolitik diskutiert worden. Rechtspolitik ist
wieder wahrgenommen worden, und zwar nicht nur dann,
wenn es darum ging, sozusagen in Einzelfällen im Nach-
hinein kriminalpräventiv in Form von Reparaturgesetzen
oder Ähnlichem tätig zu werden. Das ist das, was Sie
heute wieder vorgestellt haben.
Für uns ist Rechtspolitik, Herr Kollege Götzer, ein be-
stimmendes, gestaltendes Element im gesellschaftlichen
Zusammenleben der Menschen. Dafür ist die Rechtspoli-
tik seit 2 000 Jahren da. Am Ende der letzten Legislatur-
periode, also kurz vor der Wahl, gab es in der auflagen-
stärksten deutschen Tageszeitung einen Leitartikel, der
mit der Schlussfolgerung endete:
In der Rechtspolitik von Rot-Grün ist in vier Jahren
mehr bewegt worden als in 16 Jahren davor.
Dieses Lob nehmen wir gerne entgegen. Genauso ist es
gewesen.
Die Reformgesetze, die wir erstellt haben, sind bereits
genannt worden. Ich möchte sie nicht im Einzelnen auf-
zählen, sondern nur einige Punkte nennen. Die Schuld-
rechtsreform, die wir vorgenommen haben, haben Ihre
Regierungen zehn Jahre lang liegen gelassen. Sie haben
nichts gemacht.
Bezüglich der Novellierung des Mietrechts, bei der wir
dafür gesorgt haben, dass sich Mieter und Vermieter wie-
der in gleicher Augenhöhe sozial gegenübertreten kön-
nen, haben Sie 16 Jahre lang nichts gemacht. Sie haben
nichts auf den Weg gebracht. Die Implementierung des Tä-
ter-Opfer-Ausgleichs in die Strafprozessordnung haben
Sie 20 Jahre lang nicht geschafft, obwohl das die Praxis
Otto Fricke
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Joachim Stünker
immer wieder gefordert hat und heute froh darüber ist,
dass wir das endlich gemacht haben.
Zum Gewaltschutzgesetz – Sie haben Gott sei Dank im
Ergebnis mitgemacht – mussten wir den Anstoß geben.
Wir mussten diesen Weg gehen.
Zu guter Letzt – das ist ein kleines Bonbon –: Meine
Studienzeit ist zwar 30 Jahre her, aber bereits damals dis-
kutierten wir über die Reform der Juristenausbildung. Sie
und die Vorgängerregierungen haben dies nicht hinbe-
kommen. Wir haben es in der letzten Legislaturperiode
geschafft, meine Damen und Herren, und werden damit
Entscheidendes verändern.
Diese Rechtspolitik, die Auflösung des Reformstaus,
werden wir in den nächsten vier Jahren, in der 15. Legis-
laturperiode, fortsetzen. Hierbei werden wir uns von Ih-
nen nicht in die Richtung treiben lassen, die Sie, Herr
Götzer, wieder aufgezeigt haben, nämlich immer dann,
wenn in der Gesellschaft furchtbare Straftaten geschehen,
ein Reparaturgesetz zu erstellen.
Lassen Sie mich die langen Linien unseres weiteren
Vorgehens kurz skizzieren. Es geht für uns um die weitere
Modernisierung von Verfahren und Institutionen in der
Justiz. Hierbei steht im Vordergrund, die Belastung der
Justiz zu mindern und dafür Qualität und Akzeptanz der
richterlichen Entscheidungen durch intensivere Prozess-
leitung und verbesserte Kommunikation zwischen den
Beteiligten weiter zu fördern. Die gut ausgebildeten nicht
richterlichen Dienste können mehr Verantwortung über-
nehmen. Dabei werden Ressourcen frei, sodass wir die
richterlichen Dienste auf ihre Kernaufgaben beschränken
können.
Weiterhin geht es um eine moderne Gesellschaftspoli-
tik. Das Recht der Partnerschaften, der Ehe und der Fa-
milie, muss sich dem zeitgemäßen Verständnis von Bin-
dung und Zusammenleben anpassen. Wir bieten den
Menschen dafür belastbare Formen in einem Katalog von
Rechten und Pflichten an. Auf der Grundlage der Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts wird die Ko-
alition daher das Lebenspartnerschaftsgesetz überarbeiten
und ergänzen. Insbesondere den rechtlichen Schutz für
Menschen in nicht ehelichen Lebensgemeinschaften wer-
den wir weiter verbessern.
Es geht um strafrechtliche Reformen und vor allen
Dingen um Prävention. Insbesondere das strafrechtliche
Sanktionensystem ist zu reformieren,
nicht im Sinne von Aufweichung, wie Sie befürchten, son-
dern genau in dem Sinne, den Sie angesprochen haben.
Darüber waren wir uns in der letzten Legislaturperiode in
einigen Bereichen schon sehr weitgehend einig.
Es geht um die sorgfältige Fortentwicklung des Sexual-
strafrechts. Ich denke, wir werden uns in wenigen Wo-
chen in einer Debatte darüber wiedersehen. Es muss aber
auch darum gehen – das ist meine feste Überzeugung –,
das Strafverfahrensrecht mit mehr Effizienz auszustatten,
indem wir auch hier Veränderungen und Modernisierun-
gen vornehmen.
Die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen, dass es
auch um den Anleger- und Verbraucherschutz geht. Da-
rauf brauche ich nicht mehr näher einzugehen.
Es geht ferner um europäische Rechtspolitik. Die
Kriminalitätsbekämpfung darf nicht an den nationalen
Grenzen aufhören. Wir werden daher die justiz- und in-
nenpolitische Kooperation in Europa weiterentwickeln.
Der europäische Haftbefehl ist ebenso ein erster Schritt
wie Eurojust oder die gemeinsamen Anstrengungen zur
Terrorismusbekämpfung.
Es geht weiter – Ihr Kollege aus dem Innenbereich hat,
glaube ich, gerade dazu gesprochen; in diesem Bereich
können wir uns auch treffen – um Rechtsbereinigung,
das heißt, um den Abbau von Bürokratie. Das muss einer
der Schwerpunkte der Arbeit im Rechtsausschuss in die-
sen vier Jahren für uns sein; das ist überhaupt keine Frage.
Dort haben wir viel neu zu regeln, was sich über Jahr-
zehnte in unserem Land an Bürokratie angehäuft hat. Sie
versuchen heute immer darzustellen, Rot-Grün sei dafür
verantwortlich.
Alle Bundesregierungen seit 1945 sind für das verant-
wortlich, was wir heute vorfinden. Dort müssen wir in der
Tat intensiv an die Arbeit gehen.
Lassen Sie mich zuletzt noch etwas detaillierter einen
Gesichtspunkt hervorheben, der mir sehr wichtig ist und
auf den ich in den letzten vier Jahren wiederholt versucht
habe Ihr Augenmerk zu lenken: die Binnenreform der Ju-
stiz. Wie Sie wissen, komme ich aus der Praxis in über 25-
jähriger Tätigkeit. Ich weiß – viele von Ihnen wissen das
auch –, wie groß dort mittlerweile der Druck durch die
Arbeitsbelastung in den Ländern, die zu vollziehen haben,
ist. Ich bin davon überzeugt, dass sich die kritische Lage
der öffentlichen Haushalte in absehbarer Zeit nicht we-
sentlich verändern wird. Diese Situation zwingt die Justiz
wie auch alle anderen Ressorts dazu, sich grundsätzliche
Gedanken darüber zu machen, wie sie ihren gesetzlichen
Auftrag trotz reduzierter Haushaltsmittel auf gewohnt ho-
hem Qualitätsniveau weiter erfüllen können. Die Länder
müssen hierzu in die Lage versetzt werden.
Hieran sind die so genannten Justizentlastungsgesetze
der 90-er Jahre, die im Grunde eigentlich das gleiche Ziel
zum Inhalt hatten, alle gescheitert. Alle diese Justizent-
lastungsgesetze haben nur dazu geführt, dass mehr Belas-
tung erfolgt ist; sie ist von oben nach unten durchgedrückt
worden. Das heißt, im Ergebnis hat die Belastung der
Amtsgerichte heute ein Maß erreicht, das nicht mehr er-
träglich ist.
Von daher meine ich, dass wir einen neuen Weg gehen
müssen. Wir müssen den Weg der Aufgabenkritik gehen.
Die Aufgabenkritik erweist sich gegenüber den tradierten
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 1005
Konsolidierungsmaßnahmen als ein überlegenes Instru-
ment. Sie vermeidet den Weg der pauschalen Kürzung
und setzt nicht bei den Ausgaben der Behörde an. Vielmehr
fragt sie nach den Zielen und Aufgaben des Ressorts. Auf-
gabenkritik ist überdies sozialverträglicher, weil es durch
sie gelingen kann, motivationshemmende pauschale Stel-
lenkürzungen, Einstellungs- und Beförderungsstopps zu
vermeiden. Nicht der Personalbestand, sondern das Ar-
beitsvolumen wird kritisch hinterfragt.
Was meine ich damit konkret? Man kann dieses Paket
in vier Bereiche untergliedern. Wir müssen die Zahl der
Verfahren reduzieren. Wir müssen die Erledigung der an-
hängigen Verfahren mit weniger Aufwand bewerkstelli-
gen. Wir müssen Aufgaben delegieren und wir müssen
Aufgaben auslagern können.
Wir, die Koalition, werden Ihnen daher eine ganze
Reihe von Vorschlägen, die aus der Alltagspraxis kom-
men, jeweils für sich nicht neu sind und über die bereits
in der Vergangenheit in verschiedenen Zusammenhängen
immer wieder diskutiert worden ist, bündeln und in einem
Gesetz zur Modernisierung der Justiz vorlegen. Wir wer-
den mit Ihnen in diesem Hohen Hause, mit den Ländern
und natürlich mit den Verbänden darüber diskutieren. Ich
sage ganz bewusst: Hier werden wir nichts regeln können,
wenn wir nicht die Bundesländer mit ins Boot bekommen.
Ich möchte Ihnen kurz 13 Beispiele nennen, damit Sie
wissen, worauf ich hierbei hinauswill.
– Herr Gehb, entschuldigen Sie! Der Kollege Götzer hat
seine Redezeit hier überzogen. Angesichts dessen darf ich
im Rahmen meiner Redezeit wohl auch zu später Stunde
versuchen, Ihnen ein paar Gedanken nahe zu bringen,
über die Sie hinterher in Ruhe nachdenken sollten. Sie
sollten hier nicht nur Krawall machen.
– Herr von Klaeden, dass Sie davon nichts verstehen, das
wissen wir. Das ist wirklich nicht neu.
Lassen Sie mich ein paar Punkte nennen. Durch die För-
derung gesetzlicher Regelungen zum Vorrang einer media-
tiven Streitkultur, also durch außergerichtliche Streitbeile-
gung, können wir die Anzahl der Gerichtsverfahren
reduzieren und damit wesentliche Entlastungen schaffen.
Durch ein obligatorisches Mahnverfahren im Zivilpro-
zess vor Erhebung einer Zahlungsklage bei Ansprüchen,
die 750 Euro nicht überschreiten, werden die Prozessab-
teilungen der Gerichte wesentlich entlastet.
Durch eine Erweiterung der Einstellungsmöglichkei-
ten im Bußgeldverfahren wird die Anzahl der durch Urteil
zu beendenden Verfahren wesentlich reduziert.
Durch die Einschränkung der Zulassung der Rechts-
beschwerde in Ordnungswidrigkeitenverfahren werden
bei den Amtsgerichten, bei den Oberlandesgerichten und
bei den Generalstaatsanwaltschaften wesentliche Ressour-
cen eingespart.
Im Strafprozess setzen wir durch eine Verlängerung der
Fristen zur Unterbrechung der Hauptverhandlung – § 229
StPO – erhebliche Ressourcen für Neuansetzungen und
Sprungtermine frei.
Bei der Protokollführung in Strafsachen in Verfahren
vor dem Strafrichter kann auf den Einsatz eines Urkunds-
beamten der Geschäftsstelle als Protokollführer verzich-
tet werden. Auch durch die Abschaffung der Erstellung ei-
nes Inhaltsprotokolls spart man erhebliche Ressourcen.
Wir müssen materielle und formelle Änderungen des Be-
treuungsrechts – es ist bereits angesprochen worden – vor-
nehmen. Ende 2001 gab es in Deutschland über 980000 Be-
rufsbetreuungsverfahren. Hierfür haben wir insgesamt über
650 Millionen Euro ausgegeben. Dadurch wurden die Jus-
tizhaushalte der Länder ganz wesentlich belastet. Wir wer-
den Ihnen konkrete Vorschläge machen, wie da Abhilfe ge-
schaffen werden kann.
Die Vollstreckung in Strafsachen kann insgesamt auf
den gehobenen Dienst in den Staatsanwaltschaften über-
tragen werden.
Durch eine grundlegende Vereinfachung des Justizkos-
tenrechts könnten sämtliche Kostensachen auf Angehö-
rige des mittleren Dienstes übertragen werden.
Wir werden eine FGG-Reform durchführen.
Durch die Übertragung der Notarprüfungen auf die
Notarkammern können bei den Landgerichten und bei
den Oberlandesgerichten erhebliche Ressourcen freige-
setzt werden.
Wir sollten in Deutschland dem Gedanken gründlich
nachgehen – gleich werden Sie wieder aufschreien –,
durch die Übertragung einvernehmlicher Ehescheidungen
auf Notare die Familiengerichte erheblich zu entlasten.
– Ja, das ist ein vernünftiger Gedanke.
Ich weiß, dass viele dieser Punkte bei Ihnen sicherlich
erst einmal auf Unverständnis stoßen. Das sehe ich Ihren
Gesichtern an. Wir werden an diesen Reformen aber nicht
vorbeikommen, wenn wir eine effektive Justiz, insbeson-
dere eine ordentliche Gerichtsbarkeit, erhalten wollen.
Von daher bin ich guten Mutes, dass wir mit diesen Vor-
schlägen bei den Bundesländern wieder einmal mehr Ver-
ständnis als bei Ihnen finden.
Vielen Dank.
Jetzt hat der Abgeordnete Norbert Barthle das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Stünker, ich werde Ihre für mich
Joachim Stünker
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Norbert Barthle
etwas schwer verdaulichen Vorschläge zu dieser späten
Stunde nicht mehr bewerten. Ich will als neuer Bericht-
erstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für den Haus-
halt des Bundesjustizministeriums meine Rede eigentlich
mit einem Lob an die neue Bundesjustizministerin Frau
Zypries beginnen.
Frau Zypries, Sie haben sich anders als Ihre Kabinetts-
kollegen – ich denke da an Herrn Clement und an Frau
Bulmahn – zu Beginn der neuen Legislaturperiode keinen
neuen beamteten Staatssekretär „gegönnt“. Das mag an
der Qualität Ihres bisherigen liegen. Das liegt vielleicht
auch an der Einsicht, dass der Staat, wenn er vom Sparen
redet, das nicht nur auf die Bürgerinnen und Bürger ab-
wälzen, sondern eigentlich zuerst bei sich ansetzen sollte.
Da ich aber weder von Ihnen noch von Ihrem Kollegen
Schily einen Protest gegen die Ausweitung des Apparates
der Bundesregierung gehört habe, muss ich mein Lob
schon wieder ein bisschen einschränken. Diese Bundesre-
gierung ist nämlich die teuerste, die wir je hatten. Das
können wir uns in diesen Zeiten eigentlich nicht leisten.
Ich hätte Ihnen, Frau Kollegin, auch gegönnt, dass Sie
etwas früher ins Amt gekommen wären.
Das war leider nicht möglich, weil der Bundeskanzler Ihre
Vorgängerin nicht, was er hätte tun sollen, sofort nach
ihrem Fauxpas aus dem Amt genommen hat.
Da wir schon so viel vom Sparen reden, lassen Sie
mich auch noch sagen, dass für mich – man hört es viel-
leicht: Ich komme aus dem Schwabenland; wir gelten ja
als Experten im Sparen – derzeit eine vollkommen neue
Definition des Sparens stattfindet. Sparen heißt plötzlich
höhere Schulden, höhere Steuern, höhere Sozialabgaben
und eine weitere Verlagerung von Belastungen auf Länder
und Gemeinden.
Aber lassen wir das dahingestellt sein. Ich meine, wenn
man schon vom Sparen redet und konstruktive Haushalts-
beratungen durchführen will, dann braucht man eine
Kenntnis der tatsächlichen Ist-Situation sowie belastbare
und wahrhafte Prognosen hinsichtlich der künftigen Ent-
wicklung. Daran, meine Damen und Herren, hat es diese
Bundesregierung leider etwas fehlen lassen.
– Deutlich fehlen lassen! Sie ist uns, dem Parlament, und
auch der Öffentlichkeit die Wahrheit schuldig geblieben.
Schauen wir aber jetzt auf die Zukunft, auf den Etat
des Jahres 2003. Wenn man das Sprichwort gelten lässt,
dass man aus Schaden klug werde, so muss ich leider et-
was an der Intelligenz der Bundesregierung zweifeln.
Denn der Nachtragshaushalt 2002 ist noch nicht verab-
schiedet, da erliegen Sie schon wieder der Versuchung,
die Zukunft durch die rosarote Brille zu sehen, mehr Ein-
nahmen und weniger Ausgaben zugrunde zu legen, als es
die Realität von Ihnen fordert. Das ist schädlich, Frau
Zypries, auch für Ihren Etat; denn Ihr – wie Sie sagten –
so kleiner und feiner Etat ist gerade auf Seriosität ange-
legt. Deshalb wäre es notwendig, an dieser Stelle etwas
genauer hinzuschauen.
Der Bundesfinanzminister gibt in seinem Bericht über
den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Fi-
nanzwirtschaft des Bundes eine sehr schöne Einschätzung
wieder. Er sagt nämlich, die Aufwärtsentwicklung gegen-
über dem Jahr 2002 werde sich voraussichtlich fortsetzen
und an Breite gewinnen. Wenn ich diesen Satz den Men-
schen draußen sage, dann können sie noch nicht einmal
mehr lachen; denen ist zum Weinen zumute.
Was sagt die Bundesregierung? Sie setzt sich ab. Sie
will eben gerade nicht den Einschätzungen des Sachver-
ständigenrates folgen; denn diese Einschätzungen seien,
so die Bundesregierung, viel zu pessimistisch, da der
Sachverständigenrat von erheblich geringeren Wachs-
tumsraten ausgehe. Ich meine, Sie sollten nicht weiterhin
den Wunsch als Vater des politischen Handelns nehmen,
sondern den Sachverständigen, die Sie selbst eingesetzt
haben, mehr Vertrauen schenken.
Das heißt, auch Ihr Etat, Frau Zypries, steht auf töner-
nen Füßen; auch Ihr Etat birgt bereits die Grundlage für
einen Nachtragshaushalt im Jahre 2003 in sich. Das ist un-
ter haushalterischen Gesichtspunkten der völlig falsche
Weg.
Wenn ich mir den Justizetat etwas näher anschaue,
dann muss ich feststellen, Frau Ministerin: Sie haben zwar
vieles erwähnt und dargelegt, was Sie machen wollen, Sie
haben aber nichts darüber gesagt, wo Sie noch Einspa-
rungen vornehmen wollen. Es sind immerhin bereits
4,2 Millionen Euro globale Minderausgaben etatisiert.
Das ist immerhin doppelt so viel, wie Sie zum Beispiel für
die Informationstechnik ausgeben. Hinzu kommt noch die
bereits vom Finanzminister verfügte und bei ihm ein-
gebrachte weitere globale Minderausgabe in Höhe von
1,3 bzw. 1,5 Milliarden Euro, die, heruntergebrochen auf
Ihr Ministerium, roundabout 10 Millionen Euro aus-
macht. Da sehe ich noch keine Perspektive, wie Sie das
bewerkstelligen wollen. Im Gegenteil, ich sehe keine Ein-
sparmöglichkeiten; denn der Justizetat ist kein Investi-
tionsetat, kein Steinbruch, in dem man durch Verschieben
oder Strecken Freiräume schaffen kann.
Deshalb appelliere ich an Sie, Frau Ministerin, die Ein-
sparungen mit Augenmaß vorzunehmen. Es findet unsere
Zustimmung – das sage ich ganz deutlich –, dass Sie die
Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit um rund 24 Prozent
kürzen. Das mag auch dem Wahlkampf geschuldet sein,
aber das ist prinzipiell der richtige Weg. Wovor ich aber
eindringlich warne, sind Kürzungen bei den Ihrem Minis-
terium nachgeordneten Behörden, zum Beispiel beim
Deutschen Patent- und Markenamt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 1007
Sie haben erwähnt, dass dort Positives geschieht. Das
Maßnahmenpaket, dessen Umsetzung bereits erfolgreich
angelaufen ist, darf auf keinen Fall aufgeschnürt werden.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass zu Beginn dieses
Jahres 106 neue Stellen im DPMA geschaffen worden
sind, davon allein 76 im Patentbereich. Da wird gute Ar-
beit geleistet.
Für dieses Jahr erwartet man bei den Patentanmeldungen
wiederum ein Rekordergebnis. Das heißt, die Kreativität,
der Erfindungsreichtum unserer Menschen, der Rohstoff
Geist ist trotz PISA noch vorhanden, wird gefunden und
auch erschlossen. Da ich aus Baden-Württemberg kom-
me, darf ich sagen: Baden-Württemberg ist dank der lang-
jährigen guten CDU-Bildungspolitik das Land, das die
meisten Tüftler stellt. Seit Jahren kommt rund ein Viertel
aller Patente aus Baden-Württemberg. Darauf bin ich
stolz. Innerhalb Baden-Württembergs werden wiederum
aus der Region Ost-Württemberg, aus der ich komme, die
meisten Patente angemeldet. Wir werben mit dem Slogan
„Raum für Talente und Patente“.
Sie sehen, ich habe schon wegen meiner Herkunft al-
len Grund, dafür zu plädieren, dass Sie ein gut ausgestat-
tetes und leistungsfähiges Patent- und Markenamt
führen. Das nützt nicht nur mir und unseren Wählerinnen
und Wählern in meinem Wahlkreis, das nützt vor allem
der gesamten deutschen Bevölkerung, das nützt der deut-
schen Wirtschaft. Wir brauchen Innovationsfähigkeit, wir
brauchen schnelle Abläufe, zumal diese Behörde – das
wurde bereits erwähnt – regelmäßig mehr einnimmt, als
sie ausgibt. Deshalb sage ich ganz deutlich: Das Patent-
amt ist ein Juwel innerhalb der Behördenlandschaft und
das gilt es zu pflegen. Aber wir brauchen für noch schnel-
lere Verfahren und noch schnellere Abläufe noch bessere
Ausstattungen.
Ich möchte einen zweiten Bereich ansprechen, bei
dem ich Sie bitte, nicht zu kürzen, sondern im Gegenteil
die Mittel zu erhöhen, beim Generalbundesanwalt. Der
hat ganz besondere Aufgaben, die man insbesondere vor
dem Hintergrund zunehmender Bedrohung durch Terro-
rismus nicht einschränken darf, sondern eher ausweiten
muss.
Wo Sie ebenfalls noch besser werden könnten, hat
mein Kollege Wolfgang Götzer schon angesprochen. Ich
meine insbesondere die Strafrechtsreform mit dem Be-
reich der Sexualstraftaten. Darauf will ich nicht näher ein-
gehen, aber ich bedauere es schon, dass gerade in diesen
Tagen über einen Mann aus dem Schwarzwald verhandelt
wird, der innerhalb von zehn Tagen zwölf Straftaten be-
gangen hat. Die hätten nicht sein müssen, hätten wir die
Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem
Zitat zum Schluss kommen. Wie sagte Goethe in „Dich-
tung und Wahrheit“?
Gibt doch die Beschaffenheit der Gerichte und der
Heere die genaueste Einsicht in die Beschaffenheit
irgendeines Reiches.
Nun leben wir zum Glück nicht mehr in einem Reich, aber
Ihre Arbeit, Frau Ministerin, kann dazu beitragen, dass die
Menschen einen besseren Eindruck von unserer Republik
bekommen. Das ist nach meinem Eindruck gerade nach
dem Schaden, den Ihr Kollege Struck bereits angerichtet
hat, bitter nötig.
Dazu wünsche ich Ihnen von dieser Stelle aus viel Er-
folg und alles Gute. Uns allen wünsche ich noch erfolg-
reiche und konstruktive Haushaltsberatungen.
Danke sehr.
Danke schön. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht
vor.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, 5. Dezember, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.