Rede von
Franz
Müntefering
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Diese Debatte gilt als die Stunde der Opposition. In
dieser Debatte kann sich die Opposition nämlich mit der
Politik der Bundesregierung insgesamt auseinander set-
zen. Dass das geschieht, haben wir erwartet. Aber Frau
Merkel, die die Oppositionsführerin sein will, hat heute
Morgen gekniffen und den Gassenhauer Glos vorge-
schickt. Das zum Thema „Führung der Opposition“, sehr
geehrte Frau Merkel.
Gestern erlebten wir einen schwächelnden Merz – er
verhedderte sich im Zahlengestrüpp – und heute einen pö-
belnden Glos. Im Vergleich zu der Art und Weise, wie sich
Frau Merkel soeben ausdrückte, ist – da haben einige
schon Recht –, die Sprache der „Bild“-Zeitung Literatur.
Die Ausreißer, die Sie sich leisten, gehen über das hinaus,
was in der Demokratie und insbesondere in diesem Parla-
ment üblich sein sollte.
Von Verantwortung gegenüber diesem Land und ge-
genüber diesem Staat war wenig zu hören. In Ihrer Rede
haben Sie vor allen Dingen viel agitiert und diffamiert. Sie
haben versucht, Menschen persönlich anzugreifen. Frau
Merkel, ich sage Ihnen: Es ist Zeit, dass wir uns in diesem
Land besinnen. Es ist Zeit, dass Sie endlich verstehen: Mit
der Art, wie Sie Opposition machen, muss Schluss sein.
Das, was Sie machen, hat wenig mit Opposition zu tun.
Sie versuchen, jenseits der demokratischen Regeln Men-
schen in diesem Lande und auch die Bundesregierung zu
diffamieren. Hören Sie damit auf und besinnen Sie sich!
Sie haben angekündigt, im Vermittlungsausschuss
morgen Abend solle alles offen sein. Das ist eine
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Franz Müntefering
interessante Mitteilung. Ich bin sehr gespannt, ob Herr
Koch das gewusst hat. Bei dem, was Sie dann gesagt ha-
ben, habe ich allerdings Zweifel bekommen, dass Sie es
wirklich ernst meinen. Sie haben die Hartz-Vorschläge
angesprochen und die Regelung, die wir im Gesetz veran-
kern wollen, als etwas herunterzureden versucht, was nicht
funktionsfähig sein könne.
Wir beschließen, dass es für gleiche Arbeit gleichen
Lohn gibt. Vielleicht können wir uns auch in diesem Par-
lament darauf einigen, dass das in dieser Republik das
Normale sein sollte.
Wir beschließen darüber hinaus, dass in Tarifverträ-
gen vereinbart werden kann, dass es davon Ausnahmen
gibt. Herr Sommer vom DGB und andere, auch Arbeitge-
ber, haben in der Anhörung des Deutschen Bundestages
deutlich gemacht: Sie sind damit einverstanden, dass an
dieser Stelle sehr flexibel dafür gesorgt wird, dass dieses
Instrument funktioniert. Mein Eindruck war, Frau Merkel,
dass Sie das entweder nicht verstehen wollen oder es nicht
verstanden haben. Meine Bitte an Sie ist: Wenn Sie in den
Vermittlungsausschuss gehen, lesen Sie sich das vorher
noch einmal durch, damit Sie wissen, worüber Sie reden.
Das, was wir vorschlagen und was Wolfgang Clement er-
kämpft hat, ist eine vernünftige Regelung, die dazu bei-
tragen wird, dass im Bereich der Leiharbeit unter geord-
neten Bedingungen mehr Menschen in Arbeit kommen als
bisher. Dafür werden wir sorgen.
Aber es geht eigentlich um etwas ganz anderes. Es geht
darum, dass Sie es schon schlimm finden, dass es in
Deutschland überhaupt noch Gewerkschaften gibt. So-
zialdemokraten werden dafür beschimpft, dass sie in der
Gewerkschaft sind. Ich finde das verwunderlich, aber das
kommt in Ihren Worten zum Ausdruck.
Das kommt auch zum Ausdruck, wenn Sie über das
Bündnis fürArbeit im Betrieb sprechen. Auch in diesem
Bereich wissen Sie nicht Bescheid. Es gibt Bündnisse für
Arbeit im Betrieb, die mit den Gewerkschaften vereinbart
worden sind. Aber darum geht es Ihnen ja gar nicht. Sie
wollen, dass es Bündnisse für Arbeit im Betrieb gibt, aber
keine Flächentarifverträge mehr, in denen so etwas ver-
einbart werden kann. Sie wollen den Gewerkschaften das
Kreuz brechen. Das ist Ihre Politik und das werden wir
Sozialdemokraten nicht mitmachen.
Das wäre im Übrigen auch leichtfertig. Die großen Or-
ganisationen, die wir in diesem Lande haben, Arbeitneh-
mer und Arbeitgeber, Gewerkschaften, Zentralverband
des Deutschen Handwerks und BDA, bilden eine der
Grundlagen dafür, dass wir in Deutschland wohlstands-
fähig geworden sind. Da sitzen Leute miteinander am
Tisch, die verhandeln und etwas durchsetzen können. Die
haben nämlich etwas im Kreuz. Die Ideologie der totalen
Privatisierung der Lebensrisiken, die Sie vertreten, führt in
die Irre. Das werden wir nicht mitmachen. Zum Sozialstaat
gehört, dass die großen Interessen gebündelt und geschlos-
sen vertreten werden können. Das ist unsere Position.
Dann haben Sie etwas zur Riester-Rente gesagt. Auch
da muss ich Ihnen sagen, verehrte Frau Oppositionsfüh-
rerin: Sie haben nicht verstanden, um was es da geht. Sie
haben kritisiert, dass die Riester-Rente angeblich büro-
kratisch sei. Wenn man einen Vertrag zur Riester-Rente
abschließen will, muss man zwei Dinge tun: erstens ein
Formular ausfüllen, auf dem der Name, das Geburtsda-
tum, der Familienstand und das Einkommen stehen, und
zweitens seinem Arbeitgeber sagen, dass man diesen Ver-
trag abschließen will. Das hat mit Bürokratie wenig zu
tun. Dass es diese Koalition – und nicht Sie – in der ver-
gangenen Legislaturperiode hinbekommen hat, diese zu-
sätzliche private, kapitalgedeckte Vorsorge einzuführen,
ist eine große, historische Leistung. Darauf werden wir
aufbauen bei allem, was wir in Zukunft im Sinne der Al-
terssicherung tun werden. Das funktioniert, keine Sorge.
Jetzt ist es 1 Prozent, im Jahre 2008 sind es dann 4 Prozent.
Herr Rürup wird mit seiner Kommission im Verlauf
dieses Jahres und des nächsten Jahres ein Konzept für die
nachhaltige Finanzierung der Systeme der sozialen Si-
cherung insgesamt entwickeln. Sie werden dabei die de-
mographische Entwicklung in diesem Lande beachten.
Auf dieser Grundlage werden sie uns Vorschläge machen.
Mit dem Blick auf die lange Linie der Alterssicherung
wird das ein wichtiges Ergebnis sein, mit dem wir uns aus-
einander zu setzen haben. Wir alle werden es im Bundes-
tag wiederfinden. Beim Thema Alterssicherung geht es
nicht nur um die nächsten fünf oder zehn Jahre, sondern
es muss bis in die nächsten Generationen hinein geplant
werden. Auch die, die heute 20, 25 und 30 Jahre alt sind,
wollen von uns wissen, wie das eigentlich in Zukunft
läuft. Deshalb sagen wir: Die Riester-Rente, die gut und
richtig ist, wird über eine ganze Reihe von Jahren tragen,
aber wir wissen angesichts unserer demographischen Ent-
wicklung, dass wir auch darüber hinaus denken müssen.
Das werden wir tun und deshalb wird die Kommission,
die Herr Rürup leitet, uns wichtige Erkenntnisse an die
Hand geben.
Unabhängig davon werden wir schon im Verlauf des
kommenden Jahres im Rahmen der Gesundheitsreform
viele Dinge mit der Zielsetzung auf den Weg bringen,
nicht zusätzliches Geld ins System zu holen, sondern den
Wettbewerb im System zu verbessern. Wir werden dafür
sorgen, dass wir mit dem vielen Geld, das im System vor-
handen ist, die Qualität der medizinischen Versorgung ge-
genüber heute verbessern.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 907
Sie haben den EU-Beitritt der Türkei angesprochen.
Ich hatte den Eindruck, dass Sie von den Zitaten ziemlich
kalt erwischt worden sind. Ich konnte Ihre Begeisterung
sehen, so wie sie Ihnen auch jetzt gerade wieder ins Ge-
sicht geschrieben steht.
Auf dem CSU-Parteitag gab es dazu eine Diskussion. Wir
sehen natürlich die begleitenden Dinge, wenn solche Sa-
chen im Bundestag auftauchen. Ich frage Sie, ob es falsch
ist, dass Herr Beckstein den Auftrag hat, bei seinen Auf-
tritten im hessischen Wahlkampf primär über die EU-Er-
weiterung um die Türkei zu sprechen. Ich frage Sie, ob der
Antrag, den Sie heute hier vorlegen und der nicht ein Ver-
such der differenzierten Auseinandersetzung mit dem
Thema ist, nicht die eindeutige Linie verfolgt, die Türkei
definitiv von einem Beitritt zur EU auszuschließen. Dazu
sage ich Ihnen: Das, was Sie machen, kann man nur tun,
wenn man so tief in der Opposition ist, wie Sie es sind. Sie
können keine Hoffnung haben, jemals wieder in der Re-
gierung zu sein. Wenn Sie heute da säßen, würden Sie ei-
nen solchen Antrag nicht stellen.
Ich sage Ihnen: Es ist zu vermeiden, dass die Türkei in ih-
rer strategischen Bedeutung an den Rand und zurück in
die islamische Region gedrückt wird. Es muss mit ihr über
die Bedingungen gesprochen werden, unter denen sie
Mitglied der EU werden kann. Das muss jede verantwor-
tungsvolle Regierung der Bundesrepublik Deutschland
tun. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
In Ihrer Rede, Frau Merkel, sind die wichtigsten Dinge,
um die es in diesem Lande geht, Erneuerung und Ge-
rechtigkeit und Nachhaltigkeit, nicht vorgekommen.
Wir haben die Riester-Rente in der letzten Legislaturpe-
riode durchgesetzt, wir haben erneuerbare Energien vo-
rangebracht, wir haben die LKW-Maut eingeführt,
wir haben gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften
ermöglicht,
wir haben die Mitbestimmung erweitert und wir haben die
Haushaltskonsolidierung vorangebracht. Und wir haben
Hartz auf den Weg gebracht. Diese Linie der Erneuerung
werden wir auch in dieser Legislaturperiode weiter ver-
folgen. Wir werden das mit dem sozialdemokratischen
Anspruch und dem Anspruch dieser Koalition tun, eine
Politik der Gerechtigkeit zu machen.
Nur ganz Starke können sich einen schwachen Staat
leisten. Wir stehen auf der Seite der Menschen, die auf
die Solidarität der Gemeinschaft angewiesen sind.
Gemeinwohl ist kein Spruch, Gemeinwohl ist uns wich-
tig. Das bleibt auch so. Man kann auch auf Gemein-
wohldenken verzichten, aber ich sage Ihnen ganz klar:
Wir wollen so nicht sein. Gemeinwohl und Solidarität
sollen auch in Zukunft in dieser Gesellschaft eine Rolle
spielen.
Wenn Herr Westerwelle oder Herr Merz mir entgegen-
halten, eine solche Haltung sei altmodisch,
das sei Beton, sage ich: Sei’s drum. Beton ist ein dankba-
rer Stoff, mit dem man viel machen kann. Mir ist davor
nicht bange. Ich sage Ihnen: Gemeinwohldenken, Solida-
rität in dieser Gesellschaft und auch Sozialstaat sind mo-
derner, als Sie es sich überhaupt vorstellen können. Wir
werden in dieser Gesellschaft nicht darauf verzichten
können und wollen.
Wir haben genug Probleme in diesem Land, die zu be-
wältigen sind, das ist unbestritten, leider auch durch eine
Opposition, die vor allen Dingen destruktiv ist. Wir lassen
uns auf das Niveau nicht ein, Frau Merkel. Ich will Ihnen
noch sagen: Wir werden auch die Tinte nicht saufen, in die
Sie uns hineinzuziehen versuchen.
Die Heuchelei im Zusammenhang mit dem Wahlkampf
und dem Verhalten der Regierung in dieser Zeit ist schon
außerordentlich. Im August dieses Jahres, als der Bundes-
finanzminister eine Haushaltssperre verhängte – wir alle
wissen, was das bedeutet –, hat der Kanzlerkandidat der
CDU/CSU, Herr Stoiber, ein 100-Tage-Programm ver-
abschiedet und zusammen mit Frau Merkel und Herrn
Merz und natürlich mit Herrn Glos verkündet. Nach
diesem 100-Tage-Programm sollten im nächsten Jahr
22 Milliarden Euro ausgegeben werden. Was ist das denn
für eine Heuchelei? Wie kann jemand den Menschen im
August – der Bundesfinanzminister hat eine Haushalts-
sperre verhängt – 22 Milliarden für das kommende Jahr
versprechen, obwohl er, weil er die Verantwortung in ei-
ner Landesregierung trägt, über die Situation mindestens
so gut Bescheid weiß wie die Bundesregierung? Das ist
der eigentliche Skandal in diesem Wahlkampf gewesen.
Sie können ganz sicher sein, dass das auf den Tisch kom-
men wird.
Weil es sich um einen kochschen Diffamierungsaus-
schuss handelt, sage ich auch ein Wort zu Herrn Koch. Er
übertrifft in seinem Haushalt alles. Ursprünglich hat er
650 Millionen Euro Nettoneuverschuldung vorgesehen;
dann hat er sie auf 818 Millionen Euro erhöht und jetzt
sind es 2 Milliarden Euro in Hessen.
Franz Müntefering
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Franz Müntefering
Auf Bundesebene überschreiten wir das, was wir uns vor-
genommen haben, um 65 Prozent.
Herr Koch überschreitet das, was er sich in Hessen vor-
genommen hat, um 140 Prozent.
So viel zum Können und zur Wahrheit dieses Herrn Koch.
Frau Merkel, mit Ihrer Sprache und Ihren Anwürfen
verlassen Sie den Boden demokratischer Argumentation.
Es lohnt sich, die Äußerungen der letzten Wochen zu ver-
folgen. Laut Laurenz Meyer – ich sehe ihn gerade vor mir –
taumelt Deutschland in eine Katastrophe. Aber auch an-
dere können zitiert werden: „Lügenausschuss“ und
„Flächenbombardement an Steuern“. Frau Merkel lacht
noch wohlwollend dazu. Wenn ich Flächenbombarde-
ment höre, ist mir immer ein wenig gruselig zu Mute.
Es wäre gut, wenn Sie Ihre Äußerungen ein wenig kon-
trollieren würden. Das gilt übrigens auch für „Steuer-
terror“ und andere Begriffe kriegerischer Art, die Sie ge-
brauchen.
Der „Barrikadenkampf“ wird verkündet, der „Ab-
grund“ wird aufgetan, es wird vom „Sanierungsfall“ und
von der „Katastrophe“ gesprochen. Sie sind der schweren
Hysterie offensichtlich in hohem Maße verfallen. Bei uns
zu Hause – Herr Merz ist nicht anwesend – sagt man: Ge-
hen Sie einmal zum Klapsdoktor. Bei Ihnen ist inzwischen
ein Stadium erreicht, bei dem man dringend etwas tun
müsste. Ich sage Ihnen: Das geht so nicht weiter.
Zur Opposition gehört aber auch die FDP. Insbeson-
dere nach dem Auftritt, den Herr Westerwelle hier eben
hingelegt hat, will ich sie gerne ansprechen.
Herr Westerwelle, als ich das Stichwort Möllemann da-
zwischengerufen habe, haben Sie in Ihrer Reaktion auf die
finanzielle Dimension dieser Veranstaltung hingewiesen.
Ich habe diesbezüglich nachgefragt. Ich frage Sie noch
einmal: Haben Sie die Kasse Ihrer Partei nur in Nord-
rhein-Westfalen oder auch in den anderen Bundesländern
auf die Frage hin geprüft, ob Herr Möllemann auch in
diesen Bundesländern unterwegs war und vielleicht ge-
gen Sie – das kann ja sein – Truppen gesammelt hat?
Das eigentlich Schlimme an dieser Situation ist aber,
dass Sie das Geld und nicht das eigentlich Wichtige an-
sprechen. Am 5. Juni dieses Jahres fand vor der FDP-Zen-
trale in der Reinhardtstraße in Berlin eine Demonstration
von FDP-Mitgliedern und jüdischen Mitbürgern gegen
die antisemitischen Aktionen von Herrn Möllemann und
seinen Freunden statt. Hunderte aufgebrachte Bürgerin-
nen und Bürger nahmen an dieser Demonstration teil. Der
Parteivorsitzende Guido Westerwelle hat sie beruhigt und
gesagt: Das hat mit der FDP und meinem Vize nichts zu
tun.
Herr Westerwelle, zu diesem Punkt müssen Sie sich noch
bekennen.
Die Sache Möllemann hat aufgrund des Verstoßes ge-
gen das Parteiengesetz eine finanzpolitische Dimension.
Das Schlimme an dieser Sache ist aber, dass Sie monate-
lang zugelassen und akzeptiert haben, dass in Deutsch-
land in einer ungeheuerlichen Weise, hart am Rande anti-
semitischer Vorbehalte, Wahlkampf gemacht worden ist.
Dazu werden Sie sich als Parteivorsitzender der FDPnoch
äußern müssen.