Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Zunächst herzlichen Dank dafür, Herr Bundeskanz-
ler, dass Sie unseren österreichischen Freunden so gehol-
fen haben.
Durch Ihren Einsatz – das war ein beispielloses Mobbing
eines kleines Landes –
und durch die Tatsache, dass Ihre Politik so abschreckend
gewesen ist, ist dieses Wahlergebnis in Österreich zu-
stande gekommen.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Michael Glos
– Bevor Sie von der linken Seite her schon in aller Früh
so laut rufen, sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass es
Ihre Genossen in Österreich waren, die die Abschluss-
kundgebung mit Bundeskanzler Schröder aus Deutsch-
land abgesagt haben.
Aber es war zu spät. Es hat nichts mehr geholfen.
Das zeigt wieder, dass das alte Sprichwort noch gültig ist,
das da heißt: Niemand ist unnütz; er kann immer noch als
abschreckendes Beispiel dienen.
Wir wissen, dass Sie bei uns in Deutschland die Wahl
durch einen Parforceritt, der längerfristig zum Schaden
unseres Landes sein wird, knapp gewonnen haben. Wir
müssen das akzeptieren und wir werden das akzeptieren.
– Wenn Sie es nicht akzeptieren, dann lässt es sich auch
durch Lautstärke nicht heilen. – Ich fordere Sie und Ihre
Freundinnen und Freunde, wie es heißt, auf, endlich zu re-
gieren und endlich von Ihrem Mandat Gebrauch zu ma-
chen, statt ständig neue Kommissionen einzusetzen.
Herr Stiegler von der SPD ist ja zu Zeiten des Wahl-
kampfs Fraktionsvorsitzender gewesen. Sie müssen nun in
seine großen Schuhe hineinwachsen, Herr Müntefering.
Wo der Herr Stiegler Recht hat, hat er Recht.
Daran sieht man auch, welche Halbwertszeit vor allem
Ihre Machtworte haben. Sie haben am Montag im SPD-
Präsidium ein so genanntes Machtwort gesprochen. He-
rausgekommen sind wieder nur Kakophonie und über-
flüssige Debatten. Das hat unser Land und das haben die
Bürgerinnen und Bürger satt. Sie haben das nicht verdient.
Die „Süddeutsche Zeitung“, die Ihnen sonst sehr ge-
wogen ist, hat Recht, wenn sie ausgerechnet am 11. No-
vember Herrn Kister schreiben lässt – ich zitiere –:
Dies ist eine Regierung der Enttäuschung.
Zu ergänzen ist: Dies ist nicht nur eine Regierung der Ent-
täuschung, sondern auch eine Regierung der Täuschung
und der Irreführung, eine Regierung des Wahlbetrugs und
der Bilanzfälschung, eine Regierung der Faktenver-
schleierung und der Wirklichkeitsverweigerung. Das sind
die Tatsachen.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Herr Hartz, der langsam
die Rolle von Herrn Stollmann übernimmt – auch er war ein
Herzeigewirtschaftler, ausschließlich hervorgeholt, um die
letzte Wahl zu gewinnen – und in dessen Fußstapfen tritt,
hat mit der so genannten Ich-AG eine Legalisierung der
Schwarzarbeit vorgeschlagen. Nach der Ich-AG müsste
richtigerweise die Du-AG folgen. Die Du-AG müsste
Murksarbeit legalisieren; denn das, was Sie von Rot-Grün
bisher abgeliefert haben, war Murksarbeit.
Herr Bundeskanzler, Sie haben das in einem Interview
mit einer großen Hamburger Wochenzeitung als hand-
werkliche Fehler bezeichnet. Ich finde, man sollte das
deutsche Handwerk nicht beleidigen, indem man einen
solchen Murks mit handwerklichen Fehlern entschuldigt.
Wir haben es nicht nur in der Haushalts-, Steuer- und
Sozialpolitik, sondern auch – und das kann langfristig
noch schlimmer sein – in der Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik mit dilettantischem Verhalten zu tun.
Die Position der Bundesregierung in der Irak-Frage ist
ebenfalls von Irreführung und Verschleierung geprägt.
Die Wahrheit wird nur scheibchenweise preisgegeben.
Die Informationspolitik der Öffentlichkeit und dem Par-
lament gegenüber spottet jeder Beschreibung. Das Wort
„Volksverdummung“ ist nur ein milder Ausdruck dafür.
Im Inland werden aus wahltaktischen Gründen Pazifis-
mus, deutsche Sonderwege und Äquistanz – –
– Ich meinte natürlich: Äquidistanz. Herr Bundesminister
des Äußeren, Sie wollen – das ist Ihr Komplex – immer
wieder zeigen, dass Sie von einem Steinewerfer, von ei-
nem Bücherbesorger – ich drücke es vorsichtig aus; man-
che haben Sie „Bücherdieb“ genannt – endlich zu einem
Mann im Nadelstreifen geworden sind. Sie kennen sogar
Fremdworte. Sie versprechen sich nie. Sie sind eine groß-
artige Figur.
Aber machen Sie Ihre Großartigkeit endlich in der Politik
und im Verhältnis zu unseren amerikanischen Freunden
geltend!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, deutsche
Sonderwege sind falsch. Man ist jetzt bestrebt, in den
USAweiteren Flurschaden zu vermeiden. Das hat Struck
unlängst bei Rumsfeld versucht. Ich halte das für nötig
und für sinnvoll. Herr Bundeskanzler, Sie wissen, dass
sich in dieser Frage das Koordinatensystem geändert hat.
Der UN-Sicherheitsrat hat die Irak-Resolution einstim-
mig gebilligt und beschlossen. In Prag wurde die ein-
mütige Haltung der NATO bekräftigt.
Doch wenn es konkret wird, weichen Sie aus: Eine pas-
sive Beteiligung an einer möglichen militärischen Inter-
vention – so haben Sie das unlängst genannt – stellen Sie in
Aussicht, eine aktive Beteiligung lehnen Sie allerdings ab.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 873
Ich kann Ihnen nur empfehlen – Sie rufen: „Richtig!“ –:
Schaffen Sie Klarheit!
Machen Sie klar, wo eigentlich die Grenzen sind. Außer
Ihnen weiß das offensichtlich niemand. Den USA stellen
Sie logistische Unterstützung, IsraelAbwehrraketen und
möglicherweise Panzer in Aussicht. Im Wahlkampf haben
Sie noch jegliche Beteiligung kategorisch ausgeschlossen
und abgelehnt. Damit haben Sie Vorbehalte bei unseren
wichtigsten Verbündeten geschürt.
Das Verwirrspiel um die Fuchs-Panzer für Israel ist der
Gipfel von Dilettantismus. Auch Herr Struck hat sich in
dieser Frage nicht als schlauer Fuchs erwiesen. Man ge-
winnt den Eindruck, die zuständigen Herren sind den An-
forderungen nicht gewachsen.
Was besonders schlimm ist: Erstmals in der Geschichte
unseres Landes hat sich Deutschland bei einer existen-
ziellen Frage aus der westlichen Wertegemeinschaft
ausgeklinkt. Deutschlands Ansehen in der Welt wurde
massiv beschädigt. Unglaubwürdig, unberechenbar und
unzuverlässig – so wird Rot-Grün von unseren Freunden
zu Recht gesehen. Das ist schlimm für unser Land.
Unter Helmut Kohl war Deutschland ein verlässlicher
Partner der westlichen Gemeinschaft.
Unter Gerhard Schröder – Herr Bundeskanzler, diesen
Vorwurf muss ich Ihnen machen – herrschen Misstrauen
und Verunsicherung. Das Gerede von den deutschen
Sonderwegen hallt immer noch nach. Unsere Partner ha-
ben nicht vergessen, wohin deutsche Sonderwege in der
Geschichte des letzten Jahrhunderts und vorher geführt
haben.
Deswegen sollten Sie mit dem Wort von den deutschen
Sonderwegen vorsichtig sein. Wir wollen einen gemein-
samen europäischen Weg gehen, der die Erfahrungen un-
serer Geschichte mit beherzigt.
Was ganz besonders schlimm war: Nicht einmal die
Staatsräson, die eigentlich einen Bundeskanzler binden
sollte, hat Sie während des Wahlkampfes davon abgehal-
ten, mit billigem Antiamerikanismus auf Stimmenfang
zu gehen. Dafür bringe ich auch gerne Beweise. Es war
schlimm, eine Bundesministerin bis nach der Wahl im
Amt zu belassen, die es immerhin fertig gebracht hat, den
amerikanischen Präsidenten mit Hitler zu vergleichen und
ihn ins Zuchthaus zu wünschen.
Das ist die Tatsache. Sie haben sie im Amt belassen und
nicht weggeschickt.
Von Meinungsverschiedenheiten unter Freunden war
dann nur die Rede. Das ist sehr verharmlosend für das,
was sich angebahnt hat. Ich nenne beispielhaft die Ge-
spräche von Struck, über die er Sie sicherlich unterrichtet
hat. Diese Gespräche werden übrigens in den Vereinigten
Staaten anders gesehen als in Deutschland. Offensicht-
lich ist in Hintergrundgesprächen amerikanischen Journa-
listen etwas anderes gesagt worden, als deutschen Jour-
nalisten zur Veröffentlichung freigegeben wurde.
Herr Struck, Sie waren gleichsam eine Art Spürpanzer des
Bundeskanzlers in den USA.
Hinterher hieß es dann, das Eis sei jetzt gebrochen.
Aber ich stelle fest: Auf gebrochenem Eis kann man keine
Eistänze mehr aufführen und keine Pirouetten drehen. Vor
allen Dingen geht es darum: Wenn man schon auf dem Eis
tanzt, hat die Kür in diesen schwierigen Zeiten keinen
Sinn. Tun Sie endlich Ihre Pflicht!
George Bush senior hat gegenüber Helmut Kohl die
deutsch-amerikanischen Beziehungen seinerzeit unter das
Motto „Partners in Leadership“ oder „Partnership in
Leadership“ gestellt. Sie, Herr Bundeskanzler Schröder,
mussten sich bei Ihren Begegnungen mit Bush junior in
Prag – auf diese Begegnung haben Sie lauern müssen –
mit einem knappen Händedruck begnügen. Der NATO-
Gipfel in Pragwird als der Gipfel des erschlichenen Hän-
dedrucks in die Geschichte der deutsch-amerikanischen
Beziehungen eingehen.
Noch nie zuvor hat ein solches Treffen ohne Begegnung
zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem ameri-
kanischen Präsidenten stattgefunden.
Wir unterstützen die Außenpolitik, wenn sie die Ver-
antwortung unseres Landes in einer globalen Welt in den
Vordergrund stellt. Wir haben Ihnen Zustimmung in
schwierigen Zeiten gewährt, als Ihnen die eigenen
Freundinnen und Freunde die Gefolgschaft verweigert
haben. Auch wissen wir noch, dass Sie selbstverständ-
liche Bündnispflichten nur mit einem Misstrauensvotum
durchsetzen konnten. Deswegen bekennen wir uns aus-
drücklich zur Verantwortung Deutschlands in der Welt.
Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie diese Verantwortung
endlich wahr und nehmen Sie sie ernst!
Die UN-Resolution einschließlich der Androhung mi-
litärischer Gewalt gegen den Irak wurde im Sicherheitsrat
immerhin einstimmig angenommen. Deswegen ist es an
der Zeit, dass Sie die wahltaktisch begründete Eiszeit mit
unseren Freunden in den Vereinigten Staaten wieder be-
enden. Sie ist zum Schaden unseres Landes und der freien
Welt.
Ich meine, wir brauchen endlich wieder einen Schul-
terschluss mit all unseren NATO-Verbündeten, insbeson-
dere mit den wichtigsten. Deswegen hat es keinen Sinn, in
Deutschland auf antiamerikanische Stimmung zu setzen.
Michael Glos
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Michael Glos
Man kann zwar offensichtlich während des Wahlkampfs
in bestimmten Teilen unseres Landes kurzfristig damit
Punkte machen, aber wie Sie den jüngsten Umfragen ent-
nehmen können, ist auch dort die Stimmung mächtig ab-
gestürzt.
Zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung kann Deutsch-
land bei der Bewältigung weltweiter Krisen nicht die
Rolle des unbeteiligten Fernsehzuschauers übernehmen.
Herr Bundeskanzler, Ihr Canossa liegt nicht am Tiber,
sondern Ihr Canossa liegt am Potomac. Je eher Sie sich zu
Ihrem Canossagang nach Washington aufmachen, desto
günstiger wird es für unser Land. Jeder Tag, den Sie län-
ger warten, macht das Ganze teurer.
Wir diskutieren heute auch über einen Antrag, den die
CDU/CSU-Fraktion vorgelegt hat und in dem wir be-
schreiben, wie wir uns das Verhältnis zur Türkei künftig
vorstellen. Wir sind der Meinung – darin sind wir uns si-
cherlich einig –, dass eine stärkere Verankerung der Türkei
in der westlichen Wertegemeinschaft wichtig und richtig
ist. Aber die Ausstellung eines Blankoschecks für den
Beitritt der Türkei als Vollmitglied in die EU lehnen wir
ab, Herr Bundeskanzler.
Wir wissen, dass die EU in jeder Hinsicht damit überfor-
dert wäre. Wir dürfen auch die Position unseres Landes als
größter Nettozahler nicht außer Acht lassen; denn das
würde uns ungeheuer teuer zu stehen kommen. Die Tür-
kei ist weder ökonomisch noch politisch reif für den Bei-
tritt zur Europäischen Union. Wir sind auch der festen
Überzeugung, dass sich Europa auf ein gemeinsames kul-
turelles und auch religiöses Erbe gründet. Die Türkei
gehört nicht dem europäischen Kulturkreis an. Die Eröff-
nung einer echten Beitrittsperspektive für die Türkei hätte
eine Präzedenzwirkung zur Folge und könnte eine unab-
sehbare Lawine von weiteren Beitrittsersuchen von Ma-
rokko bis zur Ukraine nach sich ziehen. Das wäre die lo-
gische Folge. Eine geographisch grenzenlose Europäische
Union würde das Projekt Europa, in das gerade die Union
so viel Herzblut gelegt hat, für immer zerstören.
Herr Bundeskanzler, Sie haben hohe Erwartungen in
Ihre Rede hineinprojizieren lassen. Deshalb sollten Sie
auch zu einem Argument Stellung nehmen, das immer
wieder vorgebracht wird. Kommen Sie nicht mit den bil-
ligen Ausflüchten, das sei alles vor 40 Jahren in die Wege
geleitet worden! Der Hinweis auf die Zollunion mit der
Türkei in den 60er-Jahren geht fehl. Damals gab es ledig-
lich eine Wirtschaftsgemeinschaft und niemand hat sich
den Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
in eine echte Europäische Union mit einem staatenähn-
lichen Charakter vorstellen können. Das ist ein gewaltiger
Unterschied.
Die geostrategische Bedeutung der Türkei ist allge-
mein bekannt. Wir wissen, dass sich viele Menschen in
der Türkei zu Europa hinwenden wollen. Wir wissen aber
auch, dass deren Stimmungen nicht davon abhängig sind,
ob gerade Beitrittsverhandlungen geführt werden oder
nicht. Wichtig ist, dass die wirtschaftlichen Beziehungen
zur Türkei ausgebaut werden. Es ist vor allen Dingen
wichtig, dass eine Assoziierung im außen- und sicher-
heitspolitischen Bereich erfolgt. Genau darauf legen un-
sere amerikanische Freunde Wert.
– Herr Bundesaußenminister, Sie lachen wieder überheb-
lich. Lassen Sie doch Ihre Überheblichkeit!
Sie sind zwar Außenminister der Bundesrepublik Deutsch-
land; aber Sie sind Gott sei Dank und gottlob nicht der ein-
zige Vertreter unseres Landes, der Gespräche mit den Ver-
einigten Staaten von Amerika führt. Auch wir sind nicht
auf die Pförtner angewiesen, wenn wir in Amerika etwas
erfahren wollen. Vielmehr habe ich unlängst eine Reihe
von interessanten Gesprächen mit führenden Senatoren,
darunter auch dem Mehrheitsführer im Senat, geführt.
Es hat sich nämlich anders entwickelt, als Sie es sich ge-
wünscht haben. Ich erinnere mich an die Unterrichtung
der Fraktionsvorsitzenden, in der es hieß: Warten Sie erst
einmal den Dienstag ab! An dem besagten Dienstag haben
die Wahlen in den USA zu dem bekannten Ergebnis ge-
führt, das vielleicht ein bisschen anders ausgefallen ist, als
Sie es erwartet haben.
Man kann zwar mit unseren amerikanischen Freunden
diskutieren, aber man muss dabei Verständnis für den deut-
schen Standpunkt suchen. Wenn man einfach nur das, was
man vorher im Wahlkampf zerstört hat, wieder gutmachen
will, ist der Preis zu hoch. Den Preis der Vollmitgliedschaft
der Türkei, den Sie zu zahlen bereit sind, damit Sie sich in
den USAwieder sehen lassen können, ist uns zu hoch. Wir
lehnen – damit das ganz klar ist – diesen Preis ab.
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen.
Man zweifelt in den Vereinigten Staaten und in anderen
führenden Industrieländern – von dort aus wird ja inter-
nationales Kapital entweder zur Verfügung gestellt oder ab-
gezogen – an den wirtschaftlichen Fähigkeiten der
Deutschen, die Wirtschaft wieder nach vorne zu bringen.
Deutschlands Wirtschaft ist gelähmt. Man glaubt sich an
Heinrich Heine erinnert, der in seinem „Wintermärchen“
schreibt: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, werd ich
um den Schlaf gebracht.“ Die Stimmung bei Investoren und
Verbrauchern ist so eisig wie die deutsch-amerikanischen
Regierungsbeziehungen. Jede Woche wird eine neue
steuer- und abgabenpolitische Sau durchs Dorf getrieben
– darüber ist ja gestern ausführlich debattiert worden –, von
der ominösen Mindeststeuer über eine Wertzuwachssteuer
bis hin zur Wiederauferstehung der Vermögensteuer. Ich
bin ganz sicher, dass „Nachbessern“ das Unwort des Jahres
werden wird. Sie werden als einer der größten Kapitalver-
nichter in die Geschichte unseres Landes eingehen.
Sie haben nämlich nicht nur das Geldkapital und das Ka-
pital der kleinen Aktienbesitzer zerstört, sondern – das ist
noch schlimmer – Vertrauenskapital in der Wirtschaft ver-
nichtet. Dieses Kapital lässt sich sehr viel schwerer wie-
der aufbauen als Geldkapital.
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Jeder weiß, dass nach der nächsten Steuerschätzung
den Menschen weitere Belastungen drohen, die dem Stop-
fen immer neuer, selbst gebaggerter Löcher dienen. Hans
Eichel ist vom Hans im Glück zum Herrn der Löcher ge-
worden. Das ist ein beispielloser Absturz und zeigt im
Grunde den ganzen Niedergang von Rot-Grün.
Deswegen kann ich verstehen, wenn Herr Müntefering
als Fraktionsvorsitzender sehr allergisch auf unsere Ab-
sicht reagiert, einen Untersuchungsausschuss einzuset-
zen, der sich mit Hintergründen und Fakten beschäftigt,
der offen legt, wer zu welcher Zeit was über die katastro-
phale Haushaltssituation und die Tatsache wusste, dass
die im Maastrichter Vertrag festgelegte Defizitgrenze
nicht eingehalten werden kann und dass die Sozialversi-
cherungssysteme schon Mitte dieses Jahres pleite gewe-
sen sind, und wer dafür verantwortlich ist, dass dies der
Öffentlichkeit anders dargestellt worden ist.
Besonders schlimm ist: Sie misstrauen dem Handeln ein-
zelner Personen. Deswegen sagen Sie, Herr Müntefering
– das ist das alte linke, sozialistische Staatsverständnis –:
Gebt euer Geld doch dem Staat; denn dort ist es gut auf-
gehoben. – In Wirklichkeit denken Sie, dass alles, was der
Staat nicht zu 100 Prozent bekommt, ein ganz besonderer
Gunstbeweis sei. Ich sage Ihnen: Lassen Sie mehr Geld
bei den Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere wenn es
um die Finanzierung des Konsums geht! Die Menschen
sollen zumindest über ihren Konsum entscheiden können.
Wenn Sie, Herr Müntefering, mehr Geld fordern, dann
dient das nur dem Staatskonsum. Unsere Wirtschaft
kommt nicht auf die Beine, wenn Verbraucher und Inves-
toren auf Dauer verunsichert sind.
Karl Schiller hat einmal gesagt: Genossen, lasst die
Tassen im Schrank!
Ich glaube, das muss man Ihnen wieder zurufen; denn das,
was Sie jetzt machen, ist eigentlich ein Rückfall in die alte
linke Ideologie der 70er-Jahre. Es ist eigentlich nicht zu
fassen, dass zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch des
Sozialismus wieder eine solch furchtbare Staatsgläubig-
keit in Deutschland herrscht.
– Genauso ist es. Es ist nicht zu fassen.
In seinem „Zeit“-Interview verband der Bundeskanzler
seinen Tritt gegen Eichel, den er ihm aus Hamburg hat ge-
ben lassen, gleichzeitig mit einer Klage über die Wirt-
schaft. Er hat die Presse und die Wirtschaft beschuldigt,
ein Zerrbild von der ökonomischen Lage unseres Landes
zu zeichnen. Die Tatsachen sehen anders aus. Der Absturz
des „Handelsblatt“-Frühindikators zum sechsten Mal
in Folge und das Zwischenzeugnis, das die „Financial Ti-
mes Deutschland“ ausgestellt hat, besagen alles. Mir lie-
gen die entsprechenden Passagen vor. Wenn es gewünscht
wird, kann ich sie vorlesen. Jedenfalls dominiert in die-
sem Zeugnis die Note „mangelhaft“. Sie kommt öfter vor
als „ausreichend“. Die beste Note – sie gibt es nur ein-
mal – ist „befriedigend“.
Es besteht die reale Gefahr, dass die aktuelle Stagna-
tion erneut in eine Rezession einmündet. Ursache hierfür
ist die beispiellose Verunsicherung – ich habe es bereits
angesprochen – insbesondere der Verbraucher und der In-
vestoren. Ich bin sehr gespannt, Herr Bundeskanzler, ob
heute Ihr Auftritt als selbst ernannter Staatsschauspieler
daran etwas ändern wird.
Ich glaube nicht, dass man mit einer Rede irgend etwas
herumreißen kann. Wenn, dann kann man es nur mit ent-
sprechenden Taten tun und diese Taten fehlen.
Diese Taten sind allerdings auch sehr schwer zu verwirk-
lichen, wenn man einen Verein hinter oder vor sich hat,
wie er hier sitzt. Deswegen lassen Sie Ihr Geschrei und
Ihre Pfui-Rufe!
Wenn inzwischen vom kranken Mann Europas die
Rede ist, dann sind die Deutschen gemeint. Früher haben
wir uns als Deutsche immer umgedreht, wenn irgendwo
von einem kranken Mann Europas die Rede war, und ha-
ben geschaut, wer es denn sein könnte. Heute müssen wir
in den Spiegel schauen, wenn vom kranken Mann Euro-
pas die Rede ist. Diesen Zustand sollten Sie beenden.
Der gebetsmühlenartige Verweis auf die Weltkon-
junktur ist nichts als Ablenkungs- und Täuschungs-
manöver. Die Europäische Union hat uns mitgeteilt, dass
das konjunkturbereinigte, das heißt das strukturelle Defi-
zit in Deutschland von 1,4 Prozent am Ende der 90er-
Jahre auf mehr als 3 Prozent angestiegen ist. Das zeigt,
unsere Probleme sind hauptsächlich hausgemacht, und sie
müssen bei uns zu Hause in Deutschland gelöst werden.
Deswegen werden wir nicht ruhen, bis die Wahrheit ans
Licht gebracht ist. Ich finde, man kann einen Neuanfang
nur auf der Basis von Wahrheit und Klarheit machen.
Es bringt auch nichts, wenn Sie die Forschungsinsti-
tute und die Wirtschaftsverbände beschimpfen, die sich
um die Arbeitsplätze und die Existenz ihrer Firmen Sor-
gen machen. Das bringt überhaupt nichts.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Aller-
letztes:
Michael Glos
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Michael Glos
– Herr Poß, Sie haben soeben das Wort „Heuchler“ in
den Mund genommen. Dies sei Ihnen völlig unbenom-
men. Die schlimmste und schärfste Kritik kommt doch
aus Ihren eigenen Reihen. Das, was Lafontaine
sagt, hat keinen Oscar der Fairness verdient. Wir haben
Gerhard Schröder nicht mit Hitler verglichen. Aber
Lafontaine ist an den Rand gegangen, dieses zu tun. Der
Vergleich mit Brüning ist allerdings nicht so abwegig. Er
hat mit Notverordnungen regiert und Sie sprechen heute
von Notgesetzen, die Sie machen. Wo liegt da der große
Unterschied?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bundes-
kanzler verzichtet laut Presse angeblich darauf, eine Blut-
und Tränenrede à la Churchill zu halten. Er hätte es auch
nicht so gut gekonnt wie Churchill. Er kann nicht einmal
so gut Zigarren rauchen wie Churchill.
Wir sind leider in einer Situation, in der Politik ein ganzes
Stück in Peinlichkeit ausartet.
– Ich weiß überhaupt nicht, was Sie wollen. Ich habe mein
Hemd noch nicht ans Bundeskanzleramt geschickt. Es
sind doch die Bürgerinnen und Bürger, die massenweise
ihre Hemden dorthin schicken, um zu protestieren. Es wa-
ren auch nicht wir, die den so genannten Schröder-Song
finanziert haben. Das mit den bezahlten Songs war Herr
Eichel. Herr Eichel hat – aus Steuergeldern finanziert – ei-
nen Song zum Tag der offenen Tür des Bundesfinanzmi-
nisteriums erstellen lassen. Dort heißt es:
Er steht nicht auf hohe Schuldenberge, die soll’n run-
ter, dafür steht er ein, er will nicht, dass unsere Kin-
der sie erben und deshalb will er sparsam sein. Ver-
spricht nichts, was er nicht halten kann, er senkt die
Steuern, wo er kann, er bringt die Wirtschaft schon
auf Trab, damit die Jugend eine Zukunft hat.
Was ist denn davon übrig geblieben? Ich kann Ihnen
nur eines sagen: Dieser Song ist nicht in die Charts ge-
kommen und er wird nie in die Charts kommen.
Dafür ist jedoch der Schröder-Song in die Charts gekom-
men und er ist der Hit an sich. Das ist der Weg, Herr Bun-
deskanzler, vom Champagner zum Leitungswasser oder
von Brioni zu Hennes & Mauritz, den Sie inzwischen ge-
gangen sind.
Es ist einfach alles nur noch billig und die Menschen
spüren das. Beim Schröder-Song heißt es:
Was du heute kannst versprechen, darfst du morgen
wieder brechen und drum hol‘ ich mir jetzt jeden
einzel‘nen Geldschein, euer Pulver, eure Kohle, euer
Sparschwein!
Herr Bundeskanzler, jetzt haben Sie Gelegenheit, end-
lich die Wende herbeizuführen, die wir in unserem Land
brauchen. Ich sage noch einmal: Das wird allerdings nicht
mit einer Rede geschehen können, sondern nur mit kalku-
lierbarem richtigen Handeln, verbunden mit der Beendi-
gung der Kakophonie und mit sehr viel Klarheit.
Herzlichen Dank.