Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Las-
sen Sie mich zu einem Thema kommen, das auch die
Außenpolitik, obgleich es gar nicht mehr dazu gehört, maß-
geblich mitbestimmt hat, nämlich zu Europa. Europa ist auf
einem guten Weg. Wir haben große Fortschritte erzielt. Wir
kommen voran mit einer europäischen Verfassung,
voran mit der Erweiterung, voran auch mit der deutsch-
französischen Partnerschaft. Daran haben Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten, die Grünen, und die
Bundesregierung maßgeblich mitgewirkt.
CDU/CSU sind hier jedoch, wie auch in der Innenpolitik,
auf dem Holzweg. Ihnen geht es in diesen Tagen nicht um
Tatsachen; sie betreiben billige Polemik, sie polarisieren.
Sie gefallen sich in Populismus. Das Schlimmste daran
ist, dass Sie Ihre eigene Reputation und Ihre eigene Se-
riosität in der Europapolitik auf dem Altar des Opportu-
nismus opfern.
Sie sind in dieser Frage in die Regionalliga abgestiegen.
Sie schaden damit nicht nur sich selbst – das könnte mir
ja noch egal sein –, Sie schaden vor allem dem Ansehen
unseres Landes.
Ich will mich auf Ihren Umgang mit einem möglichen
EU-Beitritt der Türkei konzentrieren. Sie betreiben hier
primitive Stimmungsmache. Es ist schon von der Konti-
nuität gesprochen worden. Seit 1963 ist der Türkei eine
Perspektive aufgezeigt worden. Natürlich steht ein Inte-
resse dahinter, das Interesse, der Demokratie, der Rechts-
staatlichkeit, der Durchsetzung von Menschenrechten,
dem Laizismus in diesem Land zum Durchbruch zu ver-
helfen und die demokratischen Strukturen zu stabilisie-
ren. In dieser Kontinuität stehen wir, dieser Kontinuität
fühlen wir uns auch verpflichtet.
Sie sollten uns alle auch einmal hinter die Fassade
blicken lassen, die Sie mit Ihrem Antrag, dem schäuble-
schen Antrag, aufgebaut haben und hinter der Sie sich ver-
stecken. Dann wird klar, dass Sie nicht Frieden geschlos-
sen haben mit dem Verständnis Europas und der Euro-
päischen Union, wie es sich jetzt darstellt. Die Europä-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 937
ische Union ist eben keine Konfessionsgemeinschaft,
sondern eine Wertegemeinschaft, die auf Pluralität und
auf kultureller Vielfalt beruht: Sie hat christliche Wurzeln,
sie hat jüdische Wurzeln, sie hat aber eben auch islami-
sche Wurzeln. Sie betreiben im Hinblick auf die Wahlen
in Hessen und Niedersachsen billigen Wahlkampf. Das
muss auch in dieser Debatte einmal deutlich angespro-
chen werden.
Natürlich ist uns bewusst, dass Beitrittsverhandlungen
erst dann geführt werden können, wenn klar ist, dass die
Kopenhagener Kriterien und die wirtschaftlichen Krite-
rien erfüllt werden. Dann kann der Weg in die Europä-
ische Union vollendet werden. Wenn wir diesen Weg aber
jetzt abschneiden würden, würden wir damit zur Destabi-
lisierung in dieser Region maßgeblich beitragen.
Ich komme jetzt auf die deutsch-französischen Bezie-
hungen, auf die der Herr Kollege Müller – wenn er von
Konsens spricht, dann kann irgendetwas nicht stimmen –
vorhin bereits hingewiesen hat, zu sprechen. Ich kann mich
noch an die wohlfeilen Worte des ansonsten geschätzten
Kollegen Pflüger sowie der Kollegen Altmaier und Hintze
erinnern. Alle haben in der vergangenen Legislaturperiode
immer wieder gesagt, wir würden die deutsch-französi-
schen Beziehungen sturmreif schießen. Ich erinnere daran,
dass der deutsch-französische Motor läuft: Es gibt eine
Vielzahl von Initiativen in der Außen- und Sicherheitspoli-
tik, der Verteidigungspolitik, der Justiz- und Innenpolitik.
Demnächst stehen gemeinsame Vorschläge zur institutio-
nellen Reform an. All das sind massive Fortschritte.
Ich will Sie an etwas erinnern, an das Sie wahrscheinlich
gar nicht mehr erinnert werden wollen, nämlich an die
unsägliche Debatte über die Festivitäten anlässlich des
40. Jahrestages des Élysée-Vertrages, die einzigartige ge-
meinsame Versammlung des Deutschen Bundestages und
der Assemblée Nationale am 22. Januar nächsten Jahres.
Was ist nicht alles an Geschichtsklitterung durch Herrn Glos
und andere betrieben worden! Wenn das nur der Herr Glos
gemacht hätte, müsste man es ja nicht ernst nehmen; aber in
dieser sensiblen Angelegenheit mithilfe der „Bild“-Zeitung
Stimmungsmache zu betreiben ist unverantwortlich.
Glücklicherweise gibt es in allen Fraktionen Men-
schen, die von der französischen Sensibilität in dieser
Frage ein wenig Ahnung haben. Wer die Franzosen ein
wenig kennt und weiß, welche Bedeutung Repräsentation
und Symbolik in diesen Fragen für sie haben, der weiß
oder kann erahnen, welcher Schaden in der deutsch-fran-
zösischen Partnerschaft angerichtet worden ist, weil Sie,
Frau Merkel, und alle anderen Verantwortungsträger ge-
schwiegen haben und nicht deutlich und klar Stellung zu
den Vereinbarungen, die zwischen den Europapolitikern
getroffen wurden, bezogen haben. In der vergangenen Le-
gislaturperiode haben wir dieses Thema in der Bespre-
chung der Obleute intensiv beraten. All das hat für Sie auf
einmal überhaupt keine Rolle mehr gespielt.
Ich will auf den Konvent zu sprechen kommen, der
durch die noch engere Zusammenarbeit zwischen Deutsch-
land und Frankreich neuen Schwung erhalten hat. Nicht nur
der Außenminister der Bundesrepublik, sondern auch der
Kollege und Staatsminister für Europa Martin Bury und der
französische Außenminister de Villepin gehören dem Kon-
vent an. Ich denke, dass uns auch in Zukunft weitere zu-
kunftsweisende Empfehlungen unterbreitet werden.
Ich möchte aber auf die Frage hinweisen, wo das Par-
lament bleibt und wie wir mit dem Konvent umgehen.
Wenn wir den Konvent als eine kreative europäische Zu-
kunftswerkstatt begreifen, dann sollten wir – bei aller
Wertschätzung für den Außenminister – nicht nur alles an
die Regierung delegieren, sondern als Bundestag eigen-
ständig Vorschläge entwickeln, die wir an unsere Dele-
gierten, sowohl der Regierung als auch des Deutschen
Bundestages, weiterleiten.
Deswegen schlage ich vor, dass wir nicht nur Debatten
über den Verfassungskonvent und die europäischen Verfas-
sung führen, sondern uns möglichst auch interfraktionell
auf einige wesentliche Punkte festlegen, entsprechende An-
träge beschließen und sie dann in das Handgepäck von
Joschka Fischer, Martin Bury, Professor Meyer, Peter
Altmaier und all den anderen, die für und mit uns Verant-
wortung bei diesem wichtigen Prozess tragen, legen.
Meine Fraktion lädt alle Kolleginnen und Kollegen
herzlich zur Mitarbeit ein. Es würde mich sehr freuen,
wenn die Opposition, vor allem die Union, ihre Strategie
des „Oppositionismus“ um jeden Preis in europapoliti-
schen Angelegenheiten beenden würde.
Sie sind damit gescheitert. Wir laden Sie herzlich dazu
ein, den europäischen Weg der Vernunft wieder einzu-
schlagen.