Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tagelang
war Berlin angesichts der für heute erwarteten Rede in
eine größere Aufregung versetzt.
Herr Bundeskanzler, ich sage Ihnen ganz offen: Ich habe
für die Menschen im Lande gehofft, dass die für heute an-
gekündigte große Rede auch wirklich eine große Rede
werden würde,
eine Rede, bei der die Menschen bei allem Streit, den wir ha-
ben müssen, eine Linie und ein wenig Licht am Ende des
Tunnels hätten erkennen können. Was Sie uns dann aber ge-
boten haben – besonders beeindruckend in den Passagen,
bei denen Sie geradezu gebrüllt haben –, war im Grunde der
Eindruck, dass da ein Mann mit dem Rücken an der Wand
steht und nichts weiter kann, als die Opposition zu verdäch-
tigen, zu verleumden und in ein schlechtes Licht zu rücken.
Deutschland hat in diesen Tagen eine Sehnsucht nach
Führung, nach Verlässlichkeit und vor allem – das wäre
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erst einmal ein Beginn – nach Wahrnehmung der realen
Situation, wie sie in unserem Lande besteht.
Bei Ihnen haben die heute verkündeten Arbeitslosen-
zahlen überhaupt keine Rolle gespielt. Ich weiß nicht, ob
die 4 Millionen Menschen Sie interessieren. Ich weiß
nicht, was in Ihnen vorgeht – das muss ich Sie ganz ehr-
lich fragen –, wenn es heute über 200 000 mehr sind als vor
einem Jahr. Ich weiß nicht, ob Sie sich innerlich damit aus-
einander setzen, dass der Anstieg gegenüber Oktober drei-
mal so hoch war wie sonst im Durchschnitt der letzten
zehn oder 20 Jahre. Das interessiert aber die Menschen.
Damit hier nun nicht wieder gesagt wird, wir würden
das Land schlechtreden,
darf ich einmal zitieren. Sie haben ja langsam einen Tun-
nelblick in Bezug auf das, was die Realität in diesem
Lande ausmacht.
Herr Schrempp, immerhin einer Ihrer geschätzten Ge-
sprächspartner – ich habe nichts dagegen, der Mann hat
für viele Arbeitsplätze in diesem Land gesorgt –, ist ange-
sichts der Lage sprachlos. Herr Scholl von Merck, einem
Unternehmen im MDax, kann sich nicht erinnern – und
das sind nicht meine Worte –, dass es je „eine solche Per-
version von Wahlversprechen“ gegeben habe. Herr Haupt
von Tengelmann sagt, Deutschland sei führungslos.
– Hören Sie genau zu; Sie müssen sich schon mit der Rea-
lität in diesem Land auseinander setzen.
Der Vorstandsvorsitzende von Merck sagt: Wir sind be-
straft, dass wir so lange am Standort Deutschland festge-
halten haben. – Der Chef von Infineon sagt: Wir werden uns
schwer tun, in Deutschland noch zu investieren. – Tausende
und Abertausende andere sagen gar nichts mehr, sie han-
deln einfach und lassen ihr Kapital außer Landes wandern.
Das ist die Wahrheit über Deutschland in diesen Tagen.
Herr Bundeskanzler, hinter dem steht, was in den letz-
ten Jahren passiert ist:
Die Menschen haben Sie inzwischen durchschaut. Sie
glauben Ihnen nicht mehr, weil sie wissen, dass alles, was
Sie einmal sagen, kaum berechenbare Halbwertzeiten hat,
dass dies manchmal nicht einmal die Dauer einer Unter-
richtung überlebt – ich erinnere nur an die Sache mit dem
Fuchs: Spürpanzer oder Transportpanzer? –, dass sich die
Autoren Ihrer Vorschläge schneller von allem verabschie-
det haben, als Sie gucken können, weil sie sehen, dass Sie
das alles nicht richtig umsetzen. Ihre eigene Glaubwürdig-
keit ist verloren gegangen. Das ist für die Führung eines
Landes einer der größten Verluste, die passieren können.
Nun gibt es in dieser ganzen Sache eine neue Platte, die
da heißt: „Zerstörung meiner sozialen Integrität“. Diese
Platte spielen Sie dann gleich als Ehepaar; ich möchte
mich dazu nicht weiter äußern.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, können Sie sich ei-
gentlich noch erinnern, was Sie den Menschen in diesem
Lande schon alles zugemutet haben? Von 1998 bis 2000
waren Sie stolz, „Genosse der Bosse“ genannt zu werden.
Danach hatten wir einen Sommer der „ruhigen Hand“. Im
Wahlkampf dann haben Sie begonnen, die Wirtschaft in
diesem Lande zu beschimpfen, und sie als „fünfte Ko-
lonne der Opposition“ bezeichnet. Diejenigen, welche die
Arbeitsplätze in diesem Lande schaffen, sind in den Au-
gen des Herrn Bundeskanzlers die „fünfte Kolonne der
Opposition“; Sie haben in diesem Zusammenhang auch
noch von „Kettenhunden“ und „Helfershelfern“ gespro-
chen. Und, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, als Sie ge-
rade etwas Oberwasser im Wahlkampf hatten,
waren Sie es, der – ich hätte mir eine solche Aussage
zweimal überlegt – dem Wettbewerber im Wahlkampf die
Führungsfähigkeit für dieses Land abgesprochen hat.
Sie haben damit eine Schärfe in die Debatte gebracht, die
es bisher im Wahlkampf nicht gegeben hat. Deshalb: Be-
klagen Sie sich bitte nicht über die Zerstörung Ihrer so-
zialen Integrität. Sie haben die Stimmung angeheizt.
Schon nach der Wahlniederlage in Sachsen-Anhalt
sind Sie zu unser aller großem Erstaunen aus einer Präsi-
diumssitzung der SPD gekommen mit den Worten: „Er
oder ich!“ – Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht: Sie
oder wir, Stillstand oder Fortschritt,
Staat oder Freiheit, Belastung oder Entlastung, Täu-
schung oder Verlässlichkeit, das sind die Alternativen in
diesem Lande.
Um diese Alternativen geht es.
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
–Wissen Sie, was die Leute besonders gut leiden können?
Das ist Ihr dauerndes Grinsen und Lachen auf der Regie-
rungsbank.
Natürlich leben wir in einer Zeit, in der sich alles ver-
ändert. Ich glaube, in einem sind wir uns einig: Diese Ver-
änderung beschreiben wir gemeinsam mit Globalisierung.
Nur bezüglich der Frage, was wir denn angesichts dieser
Globalisierung machen, gibt es einen grundsätzlichen
Unterschied.
Für Sie ist das so etwas wie höhere Gewalt. Für Sie ist
das die Grundlage für Ausreden nach dem Motto, dass es
nicht anders sein kann. Für uns ist es eine Chance, eine
Hoffnung auf die richtigen Veränderungen mit den richti-
gen Wirkungen für die Menschen im Lande.
Sie spüren, dass die Menschen Ihnen das mit der höhe-
ren Gewalt und der Globalisierung nicht abnehmen, weil
sie sehen, dass sich die Dinge in anderen Ländern besser
entwickeln. Herr Bundeskanzler, wann hat es das eigent-
lich gegeben, dass man in einem Nachbarland von
Deutschland eine Wahl deutlich gewinnt, weil man sagt:
So wie in Deutschland soll es bei uns nicht werden? Das
ist doch nun wirklich Ausdruck der Tatsache, dass andere
Länder wissen, sie können es anders machen als Deutsch-
land. Dies ist der Unterschied zwischen uns und den an-
deren: Dort weiß man um die Gestaltungsmöglichkeiten
und handelt. Sie gestalten Politik eben nicht.
Herr Bundeskanzler, nun haben Sie in den letzten Tagen
viele Interviews gegeben und sich mit dem Gemeinwohl
befasst. Sie haben einen Gegensatz zwischen den Partiku-
larinteressen, den Einzelinteressen und dem Gemeinwohl
beschrieben. Sie haben gesagt: Ich muss mir den Freiraum
dafür erkämpfen, dass ich das Gemeinwohl gegen die Ein-
zelinteressen durchsetzen kann.
Ich möchte Sie als Erstes bitten, dass Sie von dieser
Pauschaldiffamierung aller Verbände in diesem Land ein
Stück Abstand nehmen. Es gibt viel ehrenamtliches En-
gagement, ohne das wir in diesem Land nicht auskommen
würden.
Ich frage Sie: Was tritt denn eigentlich an die Stelle der
von Ihnen so verfemten Verbände? Wer soll denn, bitte
schön, das Gemeinwohl definieren?
Ich gewinne hier den Eindruck, dass an die Stelle aller
Verbände nur noch einer tritt, der die Definitionshoheit,
also sozusagen den Alleinvertretungsanspruch hinsicht-
lich des Gemeinwohls hat, und das ist der Bundeskanzler
der Bundesrepublik Deutschland. Das hielte ich nun wirk-
lich für fatal. Hierbei machen wir mit Sicherheit nicht mit.
Herr Müntefering leitet ein: Weniger für den privaten
Konsum ausgeben und dem Staat das Geld geben, damit
die Kasse stimmt! – Herr Gabriel in Niedersachsen tönt
dazu: Die Menschen verballern immer noch Millionen zu
Silvester. Auch dies könnte dem Staat zufließen. – Ich
werde jetzt meine überschüssigen Wunderkerzen abge-
ben, die ich noch zu Hause in der Schublade habe. Viel-
leicht hilft es ja.
Ministerpräsident Beck möchte natürlich auch dabei sein.
Zitat: „Beinahe würde ich mit Asterix sagen: Die spinnen –
nicht die Römer, sondern in dem Fall die Deutschen.“
Wir sind ganz kurz davor, dass wir mit Bertolt Brecht
fragen müssen:
Wäre es nicht einfacher, die Regierung löste das Volk
auf und wählte ein anderes?
Das sind Ihre Maxime und wohl Ihre Hoffnung, Herr Bun-
deskanzler.
Nun weiß auch ich, dass wir uns natürlich um das Ge-
meinwohl kümmern müssen.
Die Definition des Gemeinwohls steht im Übrigen – das
sage ich auch – keiner Person zu,
sondern das Gemeinwohl entsteht in einer Demokratie,
wenn Parteien in einem fairen Wettstreit um die beste po-
litische Lösung ringen.
Genau an diesem fairen Wettstreit werden wir uns betei-
ligen.
Deshalb müssen wir einmal überlegen: Was sind ei-
gentlich unsere Maßstäbe dafür, wie wir vorgehen wol-
len? Herr Bundeskanzler, ich habe mir viel Mühe gege-
ben, vor dieser Rede einmal zu überlegen: Was könnte
denn ein Maßstab oder eine verlässliche Grundlage sein,
auf der wir hier miteinander darum ringen können: Tun
wir das Richtige? Tun wir das Falsche? Wie sind unsere
Ideen zu bewerten?
Ich habe gedacht, ein Fundament könnte doch sein:
Wenn sich eine Bundesregierung einen Sachverstän-
digenrat beruft – das tut sie selbst und gibt eine Menge
Geld dafür aus –,
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dann könnten wir uns in diesem Haus doch einfach ein-
mal über die Ratschläge der Sachverständigen unterhalten
und fragen: Wie steht welche Partei zu dem Ratschlag der
Sachverständigen?
Nun bin ich gestern Abend natürlich wieder in leichte
Depression verfallen;
denn der Herr Stiegler, der heute gar nicht mehr richtig auf
Deck darf,
hat uns gesagt, dass alles das, was von Leuten mit Profes-
sorentitel kommt, irgendwie Geschwätz ist. Sie haben
sich diese Meinung nicht zu Eigen gemacht, Sie haben das
aber auch nicht zurückgenommen. Ich vertraue weiterhin
darauf, dass die von Ihnen berufenen Sachverständigen-
räte hinreichend Neutralität haben – drei der Professoren
sind übrigens in der SPD –, sodass wir uns darüber unter-
halten können.
Der Sachverständigenrat setzt sich gleich im ersten
Punkt damit auseinander, wie es weitergehen muss, und
mit der Frage, warum wir eine Wachstumskrise haben. Ich
unterstelle jetzt einmal den Fall: Wir können uns noch da-
rauf verständigen – da bin ich mir bei den Grünen leider
nicht so sicher –, dass Wachstum ein Schlüssel für eine
gute Entwicklung dieser Gesellschaft ist. Dazu sagt der
Sachverständigenrat, dass nur ein konsequenter Steuer-
senkungskurs die Not in diesem Land wenden kann.
Dieser Steuersenkungskurs müsse sicherlich mit einer
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, aber gleichzei-
tig auch
mit einer Senkung der Steuersätze verbunden sein. Sie
verbreitern die Bemessungsgrundlage, aber Sie erhöhen
die Steuern, statt sie zu senken – glatte Fehlentscheidung
gegenüber der Empfehlung des Sachverständigenrats!
All die Steuererhöhungen, die Sie vorhaben, er-
schließen sich ohnehin kaum noch – für Hundefutter
bleibt die Mehrwertsteuer bei 7 Prozent; kriegt die Kuh
Futter, gilt ein höherer Mehrwertsteuersatz –; ich weiß
nicht, ob Sie das alles besser verstehen. Ich bin Physike-
rin; mir ist das zu hoch. Es scheint aber auch in den Rei-
hen der SPD schwer verständlich zu sein; denn unsere
schleswig-holsteinischen CDU-Kollegen haben einen fle-
henden Brief der Landwirtschaftsministerin aus Schles-
wig-Holstein bekommen, nach dem sie sich doch dafür
einsetzen möchten, dass die Erhöhung der Besteuerung
von Baumschulen in Schleswig-Holstein verhindert wird.
Die Opposition sozusagen als tatkräftiger Helfer gegen-
über dem Unsinn der Regierung – diese Rolle nehmen wir
gern an, Herr Bundeskanzler.
Nun kommen wir mal zu der im Augenblick ja in aller
Munde befindlichen Vermögensteuer.
Unbeschadet dessen, dass eine Kompensation dafür, dass
die Vermögensteuer nicht mehr erhoben wird, bereits er-
folgt ist, gibt es jetzt den Vorschlag, die Vermögensteuer
wieder einzuführen.
Ganz vornweg sind dabei Herr Gabriel und Herr Bökel,
die ja unter besonderem Druck stehen.
Jetzt sage ich Ihnen ganz einfach: Das können wir tun.
Wir werden das so machen, dass wir Gesetzentwürfe mit
dem Ziel der Außerkraftsetzung des Torsos der bundes-
weiten Grundlage zur Erhebung der Vermögensteuer ein-
bringen – das werden wir im Bundesrat tun, damit sich
Herr Gabriel auch gleich dazu äußern kann –, und darin
werden wir ausdrücklich regeln, dass der Bund auf seine
Kompetenz, diese Steuer zu erheben, verzichtet. Dann
können die Länder zuschlagen, wo immer sie wollen.
Herr Bundeskanzler, als Herr Gabriel, der Ministerprä-
sident in Niedersachsen, davon gehört hat, hat er gleich
gesagt, so gehe das nicht;
denn wenn das gemacht werde und Niedersachsen die
Steuer erhöbe, führte das dazu, dass sich das Kapital aus
Niedersachsen in andere Bundesländer verflüchtige, was
er nicht wolle.
Herr Bundeskanzler, was für das Verhältnis von Nie-
dersachsen zu Nordrhein-Westfalen oder Bayern gilt, das
gilt auch für das Verhältnis von Deutschland zu Österreich
und Holland. Bei der Globalisierung geht so etwas eben
nicht.
Es ist abenteuerlicher Unsinn, eine Steuer zur Finan-
zierung der Bildung erheben zu wollen. Ich sage Ihnen:
Die niedersächsischen Schüler hätten mehr davon, wenn
Sie die Tausenden von Beamten, die Sie zur Erhebung der
Vermögensteuer brauchen, als Lehrer in Niedersachsen
anstellen würden. Dann hätten sie in den nächsten zwei
Jahren wenigstens vollen Unterricht.
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
Das eigentlich Gravierende, das an all Ihren Maßnah-
men deutlich wird, ist, dass Sie nicht an Wachstum glau-
ben. Sie glauben nicht daran, dass man auch auf anderem
Weg mehr Geld in die Kasse bekommen kann als dadurch,
unentwegt an der Steuerschraube zu drehen. Und das tun
Sie auch noch in einer Art und Weise, die all diejenigen
bestraft, die versuchen, für die Risiken ihres Lebens Vor-
sorge zu tragen. Es kommt derjenige gut durch, der auf
den Bahamas alles verjubelt hat oder der sein Geld jeden
Abend in der Kneipe verprasst.
Schlecht weg kommen hingegen diejenigen, die Anteile
kaufen, die in Fonds anlegen, die Aktien kaufen oder Le-
bensversicherungen abschließen. Sie alle werden ge-
schröpft. Das ist der falsche Weg, wenn Sie, wie Frau
Göring-Eckardt beteuert, mehr Eigenverantwortung wol-
len.
Ich hätte erwartet, von Ihnen heute wenigstens eine
mittelfristige Vision dazu zu hören, wie man aus diesem
Steuerkuddelmuddel wieder herauskommt.
Es gibt in unserer Gesellschaft vielerlei Versuche, zum
Beispiel von Herrn Professor Kirchhof, mit einer durch-
schlagenden Steuerreform die Akzeptanz der Bürger für
das, was in Deutschland passiert, zu erhöhen. Wir haben
uns davon nicht verabschiedet. Wir werden dranbleiben
und werden eine Steuerreform ausarbeiten, die einfach,
transparent und für die Bürger verständlich ist. Wenn Sie
nicht mitmachen, dann legen wir alleine einen Vorschlag
dazu vor.
Ein weiterer großer Komplex über den Sie heute ge-
sprochen haben und der auch im Sachverständigengut-
achten behandelt wird, ist der Arbeitsmarkt.
Deutschland hat nicht nur weniger Wachstum als die
meisten Länder um uns herum, unser Land braucht auch
ein besonders hohes Wachstum, bevor hier neue Arbeits-
plätze entstehen. Es wäre ein ganz ehrenwertes Ziel, wir
würden es schaffen, dass wie in anderen Ländern auch be-
reits bei einem Wachstum von 1,5 Prozent neue Arbeits-
plätze entstehen und nicht erst bei einem Wachstum von
2,5 Prozent.
Wie ist das zu schaffen? Sie versuchen das mit dem
Hartz-Konzept.
Wenn Sie den Vorschlag von Hartz wenigstens eins zu
eins umsetzen würden! Aber Sie müssen ja sogar aufpas-
sen, dass Ihnen Herr Hartz nicht das Gebrauchsrecht für
den Namen entzieht, weil er selber so unzufrieden ist.
Ich sage Ihnen:
Wir müssen die Selbstständigkeit fördern.
Dazu reicht es aber nicht aus, durch die Zusammenlegung
von zwei schon bestehenden Banken eine neue Bank zu
gründen. Dazu müssen vor allen Dingen die Sparkassen
beitragen, von denen ich, wie Sie, der Meinung bin, dass
sie ihre Arbeit machen müssen. Man braucht auch nicht
die Ausrede Basel II heranzuziehen. Aber da die konjunk-
turelle Lage in unserem Land im Moment so ist, dass es
40 000 Insolvenzen gibt, ist offentsichtlich auch die Be-
rechenbarkeit für die Vergabe von Krediten für die deut-
schen Bankinstitute schlechter geworden. Sorgen Sie des-
halb dafür, dass es nicht so viele Insolvenzen gibt; dann
können die Banken auch wieder bessere Kredite verge-
ben. Das ist die Wahrheit, Herr Bundeskanzler.
Sie werden mit der verquasten Ich-AG keine neuen
Arbeitsplätze und keine Deregulierung auf dem Arbeits-
markt schaffen. Das deutsche Handwerk ist froh, dass
seine Berufe endlich aus der Definition herausgenommen
wurden, und der Bundesfinanzminister ist bis heute noch
nicht in der Lage, einen Steuersatz dafür festzulegen. Was
soll das also für eine Institution sein? Deshalb fordern wir
– auch Friedrich Merz hat das gestern gesagt –: Wir brau-
chen eine richtige Förderung aller Selbstständigen durch
weniger Bürokratie und durch die Abschaffung des
Scheinselbstständigkeitsgesetzes.
Das wäre heute ein offenes Wort von Ihnen wert gewesen.
Unsere Zustimmung wäre Ihnen sicher.
– Hören Sie zu, Herr Poß, bevor Sie wieder schreien:
Nichts, nichts, nichts!
Ich komme auf die Entlastung im Dienstleistungsbe-
reich in Zeiten der Globalisierung zu sprechen. Sie schla-
gen uns Folgendes vor: Wenn Sie die Tür von innen wi-
schen, gibt es 500 Euro. Das ist die eine Sorte der
Beschäftigung.
Eine andere Sorte von Beschäftigung ist: Wenn Sie die Tür
von außen streichen, wird nach dem alten 630-DM-Gesetz
bezahlt. Eine dritte Sorte von Beschäftigung ist: Wenn Sie
das Schloss an der Tür durch jemanden von der Personal-
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Service-Agentur reparieren lassen, wird nach Verdi-Tarif
und möglichst noch nach BATbezahlt. – Das ist die Wahr-
heit Ihrer Entbürokratisierung. Dazu haben wir wirklich
bessere Vorschläge.
Wagen Sie doch den mutigen Sprung im Bundesrat!
Die Türen sind doch gar nicht verschlossen; ich weiß gar
nicht, wovon Sie da die ganze Zeit geredet haben. Im Bun-
desrat ist alles an den Vermittlungsausschuss überwiesen
worden.
Nichts ist blockiert oder abgelehnt worden. Morgen findet
die Sitzung statt. Dann überlegen wir einmal, was gut für
Deutschland ist.
Herr Bundeskanzler, Sie legen sich ja derzeit mit jedem
in Deutschland an, aber in der „Zeit“ haben Sie als Erstes
erklärt, dass dies mit den Gewerkschaften nicht nötig ist.
Nun haben Sie uns heute umfänglich das Konzept bei der
Leih- und Zeitarbeit erläutert: ein Riesenpaket von Ta-
rifverhandlungen mit allen möglichen Abstufungen nach
oben und unten. Können Sie mir einmal erklären, warum
es in Deutschland nicht möglich ist, für eine begrenzte
Zeit, maximal zwölf Monate, einfach den Betrieben, den
Entleihern und den Leihern zuzutrauen, sich ohne ein rie-
siges Paket von abgestuften Tarifverträgen und Regelun-
gen einigen zu können? Das muss doch in diesem Land
möglich sein.
All diese umständlichen Regelungen, die uns jetzt
beim Kampf zwischen den Branchengewerkschaften wie-
der ereilen werden, ob hier Verdi, die IG Chemie oder die
IG Metall tätig werden darf, beschließen Sie doch nicht,
weil Sie sie für richtig halten. Das wissen wir doch: Nicht
einmal Herr Clement hält sie für richtig; bei den anderen
weiß ich das nicht. – Das ist schlicht Ihr Dankeschön für
die Unterstützung der Gewerkschaften, die von ihrer Par-
teiunabhängigkeit abgewichen sind und die Sozialdemo-
kraten in diesem Wahlkampf unterstützt haben. Das ist die
reine Wahrheit. Es geht nicht um die Menschen, sondern
um ein einfaches Dankeschön.
Jetzt kommt wieder unsere Alternative. Globalisierung
bedeutet, dass die betriebliche Realität viel vielfältiger
wird, als das in der Industriegesellschaft der Fall war.
Weil das so ist, sagen wir: Wenn es um die Sicherung von
Beschäftigung geht,
dann sollten wir im Betriebsverfassungsgesetz den Be-
triebsräten die Möglichkeit eröffnen, mit den Arbeitge-
bern betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schließen,
gegen die die Tarifpartner bei einem begründeten Wider-
spruch Einspruch erheben können.
Ich frage Sie: Warum trauen Sie das den Menschen
nicht zu? Sie haben es im Übrigen dort, wo Sie als Helfer
tätig waren, nämlich bei Holzmann, durchgedrückt. Aber
wenn es der normale kleine Mittelständler haben will,
dann sperren Sie sich, weil Sie eben nicht bereit sind,
Flexibilisierung zuzulassen und Vertrauen in die Men-
schen vor Ort zu setzen. Das ist die Wahrheit: Regulierung
durch den Staat ist auf alles Ihre Antwort.
Dies ist übrigens ein Vorschlag des Sachverständigen-
rates, den Sie nicht umsetzen. Genauso fordert der Sach-
verständigenrat: Wir müssen schnellstens dahin kommen,
dass sich Arbeit lohnt. Wer arbeitet, muss mehr bekom-
men, als wenn er nicht arbeitet. Dazu brauchen wir fle-
xible Regelungen. Die hessische Landesregierung hat
dazu eine entsprechende Initiative in Form des OFFEN-
SIV-Gesetzes im Bundesrat eingebracht. Damit könnte
experimentiert werden. Sie haben es aufgehalten, weil Sie
im Bundestag dagegen gestimmt haben, sonst wäre
Deutschland weiter.
Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie diesem Gesetz
zu! Dann kann es morgen in Kraft treten und wir gewin-
nen endlich Spielräume in Deutschland.
Darüber hinaus hat sich der Sachverständigenrat rich-
tigerweise mit den sozialen Sicherungssystemen ausei-
nander gesetzt, insbesondere mit dem Gesundheitssys-
tem.Die grundsätzlichen Empfehlungen, die auch ich nicht
alle im Detail teile – das sage ich ganz ausdrücklich –, ge-
hen in eine Richtung: mehr Wettbewerb.
Was Sie in der Bundesregierung machen, hat mit Wettbe-
werb im Allgemeinen wirklich nichts zu tun.
Sie haben über die Apotheken gesprochen. Sagen Sie
doch bitte einmal die Wahrheit darüber, was Sie bei den
Apotheken vorhaben! Haben Sie mit dem Apothekerver-
band gesprochen und sich das aktuelle Verfahren erklären
lassen? Dass sie den Krankenkassen einen Rabatt ge-
währen müssen, sind die Apotheker bereits gewöhnt. Da-
rüber hinaus sind aber auch Rabatte für den Großhandel
und den Arzneimittelhersteller vorgesehen.
Abgesehen davon, dass Sie gegenüber der pharmazeuti-
schen Industrie wortbrüchig geworden sind,
bleibt es jetzt dem Apotheker überlassen, die unterschiedli-
chen Rabatte vom Hersteller bis zum Großhändler wieder
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
einzutreiben. Das heißt, Sie schaffen mehr Bürokratie,
statt sie abzubauen. Deshalb sind wir dagegen, Herr Bun-
deskanzler.
Ich weiß nicht, was das Gerede der Frau Bundesge-
sundheitsministerin über die Vielzahl von Krankenkas-
sen soll. Schließlich hat sich der Markt in diesem Bereich
schon ein Stück weit entwickelt. Statt der einst 600 Kran-
kenkassen gibt es nur noch etwas mehr als 300.
Das ewige Gerede über die große Zahl der Krankenkas-
sen mit dem Hintergedanken, die AOK werde am besten
zu einer Allgemeinen Zentralen Krankenkasse umgestal-
tet, werden wir nicht mittragen, weil der Wettbewerb zwi-
schen den Krankenkassen ein Element des Wettbewerbs
im Gesundheitswesen darstellen wird.
Mit all unseren Vorstellungen, ob Gesundheit, Arbeits-
markt oder Steuern, stehen wir – das kann ich sicherlich
weitgehend unwidersprochen feststellen –
dem von Ihnen einberufenen Sachverständigenrat wohl
näher als Sie. Ich wundere mich schon darüber, dass Sie
in einem solchen Umfang Steuermittel einsetzen, ohne
sich auch nur einmal auf Ihren eigenen Sachverständi-
genrat zu berufen. Sie könnten zumindest erläutern,
warum Sie die Ratschläge nicht annehmen. So aber kann
es nicht weitergehen. Dann berufen Sie lieber keine Sach-
verständigenräte mehr ein, sondern sagen gleich, dass Sie
sich selbst genug sind. Das wäre schließlich auch eine Er-
kenntnis für das deutsche Volk.
Zum Thema Rente. Auch wir haben – das gebe ich
wieder ehrlich zu –
zu lange gesagt, die Rente sei sicher. Wir haben dann aber
1998 als ersten wichtigen Schritt den demographischen
Faktor eingeführt. Wir haben heute bereits über den poli-
tischen Umgang miteinander gesprochen. Lassen Sie
mich in diesem Zusammenhang feststellen: Seinerzeit
war das Verhetzungspotenzial gegen die Einführung des
demographischen Faktors wider besseres Wissen so groß,
dass Sie sich, als Sie die Wahl gewonnen hatten, selbst
nicht mehr getraut haben, den demographischen Faktor
beizubehalten. Anschließend mussten Sie sogar Herrn
Riester entlassen, weil er den blümschen demographi-
schen Faktor nicht erhalten durfte und deshalb so viel
Murks machen musste. Das ist die Wahrheit!
Als wir seinerzeit den demographischen Faktor einge-
führt haben, haben wir darauf hingewiesen, dass dies nur
ein erster Schritt sein kann. Deshalb war es vom Grund-
satz her richtig, dass Sie eine freiwillige private kapital-
gedeckte Vorsorge eingeführt haben. Jetzt wollen Sie sie
zu einer zweiten Säule der Rentenversicherung weiterent-
wickeln. Eine zweite Säule der Rentenversicherung haben
Sie bereits, nämlich die Zapfsäule. Die funktioniert gut.
Aber wenn die private kapitalgedeckte Vorsorge wirk-
lich zu einer zweiten Säule weiterentwickelt werden soll,
darf man nicht, wie Sie es heute ausgeführt haben – ich
habe es genau mitgeschrieben –, sagen: „Vereinfachung,
wo notwendig!“. Sie regieren schließlich jetzt und stellen
nicht irgendwelche Vorhaben für die Zeit in zehn Jahren
vor. Schmeißen Sie doch den gesamten bürokratischen
Schrott heraus und beschränken Sie sie auf wenige Krite-
rien; dann wird die private Vorsorge auch wirklich eine
zweite Säule! Wir beteiligen uns, Herr Bundeskanzler.
Ich habe im Interesse der Menschen, vor allem der äl-
teren Menschen, eine Bitte. Ich halte das, was die Grünen
erreicht haben, zwar für richtig, nämlich dass eine Kom-
mission zur Weiterentwicklung der sozialen Siche-
rungssysteme eingesetzt wird. Als beschwerlich emp-
finde ich es aber, dass Sie den Chef dieser Kommission
nicht davon abhalten können, jedes Wochenende irgend-
ein Interview abzusondern. Noch schlimmer erscheint
mir, dass sich nun auch noch jemand aus Ihren Reihen
über das „Professorengeschwätz“ und Sonstiges be-
schwert. Ich möchte mich dazu an dieser Stelle nicht wei-
ter äußern.
Sie müssen schon zum Ausdruck bringen, was Sie wol-
len, Herr Bundeskanzler. Hat diese Kommission Ihre Un-
terstützung oder ist sie nur eine Beruhigungspille für die
Grünen? Ist es Ihnen eigentlich völlig egal, was bei dieser
Kommission herauskommt? Soll in den nächsten zehn
Jahren überhaupt etwas passieren oder wollen Sie weiter-
hin von Tag zu Tag abwarten? Auf diese Fragen haben Sie
heute keine Antwort gegeben. Sie haben nichts, aber auch
gar nichts dazu gesagt.
Wir werden Vorschläge auch für eine langfristige Siche-
rung der Sozialsysteme vorlegen.
Die Wahrheit ist: Sachverstand in Deutschland liegt
vor. Der von Ihnen eingesetzte Sachverstand ist von mir
zitiert worden. Ich sage Ihnen aber: Mit der jetzigen Ko-
alition und insbesondere mit der jetzigen SPD-Truppe
können Sie, Herr Bundeskanzler, die notwendigen Refor-
men in Deutschland nicht auf den Weg bringen. Deshalb
sind Sie führungsschwach und den Aufgaben, die heute in
Deutschland zur Erledigung anstehen, nicht gewachsen.
Das ist die Wahrheit.
Soziale Marktwirtschaft bedeutet auch heute auf der ei-
nen Seite wirtschaftliche Effizienz – darüber, dass diese
mit Ihnen nicht zustande kommt, habe ich eben gespro-
chen – und auf der anderen Seite moralische Qualität. Da-
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mit komme ich auf gesellschaftspolitische Fragen zu spre-
chen. Ich möchte ganz klar sagen: Wo immer Frauen und
Männer, Väter und Mütter erwerbstätig sein wollen, wer-
den wir sie unterstützen und die Grundlagen für die Ver-
einbarkeit von Beruf und Familie verbessern; das ist
keine Frage. Aber wir wollen eine Politik, die die Kom-
munen vor Ort – um deren Zustimmung müssen auch Sie
jetzt buhlen – finanziell in die Lage versetzt, die entspre-
chenden Aufgaben durchzuführen. Deshalb fordere ich
Sie auf: Machen Sie eine ordentliche Steuerreform und
beteiligen Sie die Kommunen angemessen am Steuerauf-
kommen! Dann wird sich auch das Kinderbetreuungsan-
gebot verbessern. Machen Sie nicht den Umweg über die
Ganztagsbetreuung von oben! Das ist Reichszentralismus
und entspricht nicht dem, was wir unter Subsidiarität in
Deutschland verstehen.
Sie haben einen neuen Generalsekretär, der auch uns ab
und an überrascht. Er hat für die Sozialdemokratie weg-
weisende Äußerungen – diesen ist bis heute nicht wider-
sprochen worden – über die Notwendigkeit einer kultu-
rellen Revolution gemacht und will die Lufthoheit über
den Kinderbetten erobern. Glauben Sie – ich frage das vor
allen Dingen die Grünen – eigentlich ernsthaft, dass deut-
sche Eltern sehnlichst darauf warten, dass der Generalse-
kretär Olaf Scholz als Vertreter der deutschen Avant-
garde an ihrer Haustür klingelt, das Kind aus dem
Laufställchen reißt, der Mutter am besten noch ein rotes
Stirnband von Che Guevara umbindet und anschließend
erklärt, dass es eine Besuchserlaubnis für die Eltern nur
noch jeden letzten Montag im Monat gebe, aber auch nur
dann, wenn sie vorher auf das Ehegattensplitting verzich-
teten und nach 20 Uhr aus dem Büro kämen?
Solange die Union in Deutschland etwas zu sagen hat,
werden wir dafür sorgen, dass sich über deutsche Kinder-
betten die deutschen Eltern und sonst niemand beugt. Das
ist unser Ansinnen.
In Zeiten der Globalisierung ist es wichtig und notwen-
dig, dass ein Land nicht nur im Innern erfolgreich ist, son-
dern auch Verlässlichkeit nach außen ausstrahlt. Es ist
schon relativ absurd – das ist noch freundlich formuliert –,
dass Sie, der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch-
land, der in schamloser Weise Wahlkampf mit der Kriegs-
angst der Menschen gemacht hat,
es wagen, uns vorzuwerfen, die Diskussion über die Mit-
gliedschaft der Türkei in der EU werde deshalb geführt,
weil wir Wahlkämpfe gewinnen wollten. Das ist absurd
und fern der Realität, Herr Bundeskanzler.
Ich finde es bemerkenswert, dass Sie heute nur aufgrund
unseres Antrages zu diesem wichtigen Thema etwas
sagen.
Der Rat in Helsinki – ich habe es mir inzwischen von
Leuten erzählen lassen, die dabei waren – hat in einer Art
Überfallaktion und in wenigen Minuten darüber befun-
den, dass man der Türkei eine Vollmitgliedschaft in Aus-
sicht stellen will. Es gab keine Debatte dort über den jet-
zigen Zustand, es gab keine Debatte in der Bevölkerung
und in diesem Parlament. Heute heißt es: Weil es Helsinki
gab, müssen wir natürlich in Kopenhagen weitermachen.
Herr Bundeskanzler, das Thema ist in jeder Hinsicht – ich
hoffe, Frau Roth ist noch anwesend, damit sie nachher
nicht wieder falsches Zeug erzählt – zu ernst. Die Türkei
ist in einem komplizierten außenpolitischen und innenpo-
litischen Prozess. Es darf nicht sein, dass ein großes Land
wie Deutschland und die Europäische Union Signale aus-
senden, die für die Türkei innenpolitisch so verstanden
werden können, dass wir sie zurückweisen und ihnen
falsche Versprechungen machen. Deshalb sage ich Ihnen:
Es war ein Fehler, dass in Europa über Jahre zu wenig
Ehrlichkeit in der Frage der Türkei geherrscht hat.
– Auf das Kohl-Zitat komme ich gleich zu sprechen. Ich
wünschte mir, Helmut Kohl wäre immer so oft Ihr Kron-
zeuge, wie er es heute ist. Dann wären wir in Deutschland
weiter, meine Damen und Herren.
Die Türkei ist in einem ausgesprochen schwierigen
Prozess. Der Internationale Währungsfonds hat massiv
stützen müssen, damit die wirtschaftlichen Daten so sind,
wie sie sind. Die Türkei hat heute 60 Millionen Einwoh-
ner – sie wird in zehn Jahren vielleicht mehr Einwohner
haben als wir –, ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von
22 Prozent des europäischen Durchschnitts, in diesem
Jahr eine Inflationsrate von 40 Prozent und ein Staatsde-
fizit von 15 Prozent,
sodass alleine schon die ökonomischen Grundlagen dafür
sprechen, dass man außerordentlich vorsichtig sein muss.
Derzeit – das wissen auch die Grünen – gibt es in der
Türkei ein Strafverfahren gegen die Mitarbeiter der po-
litischen Stiftungen. Der Bundespräsident hat sich dan-
kenswerterweise der Sache angenommen.
Gegen die Mitarbeiter unserer Stiftungen gibt es massive
Gefängnisandrohungen für ganz normale politische
Dr. Angela Merkel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Angela Merkel
Betätigungen. Glauben Sie wirklich, dass jetzt der rich-
tige Zeitpunkt ist, der Türkei zu sagen, ab 2004 können
wir vielleicht Beitrittsverhandlungen führen?
Sie begeben sich doch in einen unglaublichen Beschleuni-
gungsprozess. Sie stehen doch am Ende unter einem
großen Druck. Mit der Begründung, wenn wir es jetzt nicht
machen, dann geht in der Türkei die Entwicklung nicht
richtig voran, begeben Sie sich in eine Zwangslage, die ich
mir für die Europäische Union niemals vorstellen konnte
und die ich nicht für richtig halte, meine Damen und Her-
ren. Darüber muss in diesem Hause gesprochen werden.
Herr Bundeskanzler, 1963 ging es um eine Zollunion.
1997 hatten sich die Dinge weiterentwickelt. Die Per-
spektiven, die Helmut Kohl damals genannt hat, halte ich
persönlich immer noch für optimistisch. Damals schienen
sie jedoch erreichbarer als heute. Heute sprechen wir je-
doch nicht über Mittelfristigkeit, über irgendwann und ir-
gendwo, sondern beim Rat in Kopenhagen – wir sind ge-
spannt, was Sie heute Abend mit Jacques Chirac
besprechen – wahrscheinlich über den 1. Januar 2004. Die
Türken werden natürlich Erwartungen mit diesem Tag
verbinden. Wenn man so meilenweit in der politischen
Struktur von dem entfernt ist, was man in Europa – auch
im Verfassungskonvent – unter dem politischen gemein-
samen Europa versteht, dann darf und kann man solche
Angebote nicht machen. Ich halte das für unverantwort-
lich. Das hat mit Wahlkampf überhaupt nichts zu tun.
Über die Grünen wundere ich mich wirklich. Sehen Sie
sich das doch einmal an. Bauen Sie doch einmal eine Kir-
che in der Türkei. Sehen Sie sich einmal den Umgang mit
Minderheiten und das Frauenbild an.
Glauben Sie, in den nächsten zwölf Monaten wird sich dort
etwas verändern? Meine Damen und Herren, wir nehmen
gerade zehn neue Länder in die Europäische Union auf.
Die Menschen müssen der Politik folgen können. Es hilft
der Türkei nicht, wenn wir sagen: Nur weil ihr nicht das
richtige Angebot bekommt, haben wir Verständnis dafür,
wenn euer politischer Prozess nicht vernünftig läuft.
Es kann nicht zum Prinzip der Europäischen Union
werden – das sage ich noch einmal in allem Ernst –, dass
ein Land, wenn man ihm einen Gefallen nicht tut, sich
falsch entwickelt.
Ein Land muss seinen Demokratisierungsprozess einzig
und allein aus sich selbst heraus schaffen. Ansonsten ist
das Fundament auf Sand gebaut. Davon bin ich zutiefst
überzeugt, Herr Bundeskanzler.
Die außenpolitischen Probleme mit Amerika sind
natürlich überhaupt nicht geglättet.
Sie schmücken sich jetzt mit der UN-Resolution, Sie
schmücken sich mit Kofi Annan. Kofi Annan war beim
amerikanischen Präsidenten und hat das Vorgehen be-
sprochen. Es wäre kein einziger Inspekteur heute im Irak,
wenn man nach deutschem Gusto verfahren wäre. Diese
Entwicklung ist Amerika zu verdanken und sonst nie-
mandem.
Was die Verlässlichkeit im Verhältnis zu Amerika an-
geht, gibt es erhebliche Zweifel. Alle spannenden Fragen
sind offen. Ich hoffe genauso wie Sie, dass es im Irak zu
keinem Krieg kommt. Aber wenn es dazu kommt, ist doch
überhaupt nicht klar, wie in der Bundesregierung bei den
einzelnen Fragen vorgegangen wird. Wie wird es denn mit
den Spürpanzern werden – Anruf in Deutschland, War-
nung über Amerika: biologischer Alarm oder chemischer
Alarm? Was macht dann der deutsche Spürpanzer? Darf
der Soldat darin seinem amerikanischen Kameraden hel-
fen oder darf er es nicht? Wen muss er fragen? Wer ent-
scheidet?
Sagen Sie uns beizeiten, wie Sie sich das alles vorstel-
len. Es besteht ein großes Wirrwarr, weil Sie Ihre falschen
Wahlversprechungen aufrechterhalten wollen und falsche
Brandmauern ziehen. Zumindest die Meinung der Union
ist: Wir werden amerikanischen Soldaten immer helfen.
Überlegen Sie sich einmal, wie es sich mit der Verläss-
lichkeit bei einem ganz einfachen, aber entscheidenden
Projekt verhält. Wenn wir möchten, dass Europa im Ver-
hältnis zu Amerika auch eigene Interessen vertreten kann,
dann brauchen wir in Europa eine eigenständige militäri-
sche Rüstungsentwicklung.
Jetzt sehen Sie sich einmal die Geschichte – fast hätte
ich gesagt: die Skandalgeschichte – zur Beschaffung des
Transportflugzeuges A400M an, geschmückt mit unse-
ren Gängen zum Bundesverfassungsgericht. Ganz Europa
wird danken, wenn sich endlich nach Monaten die deut-
sche Regierung dazu durchringt, eine abschließende Zahl
für diese Transportflugzeuge zu nennen. Wir haben die
Nerven und die Bereitschaft der europäischen Rüstungs-
industrie bei diesem einen öffentlich bekannt gewordenen
Punkt bis aufs Äußerste gespannt. Ich will nicht wissen,
bei wie vielen Projekten wir europäische Initiativen ver-
säumen, weil Deutschland eben keine Steigerung beim
Verteidigungsetat hat. Eine solche Steigerung muss es in
Deutschland geben, damit dieses Land in Europa und in
der Welt mitspielen kann.
Deshalb ist Verlässlichkeit innenpolitisch und außen-
politisch so wichtig.
Roman Herzog hat nicht ohne Bedacht gesagt, wir
hätten in Deutschland eine handfeste Vertrauenskrise.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 905
Wir haben nicht nur Politikverdrossenheit, sondern wir
haben eine Krise des Vertrauens in Deutschland.
– Hören Sie zu und schreien Sie nicht immer so viel, Herr
Poß.
Ohne das Vertrauen der Bürger werden Sie keinen ein-
zigen Bürger davon überzeugen, dass Veränderungen in
unserem Land notwendig sind.
Wenn Sie wirklich ein einsichtiger und großer Bundes-
kanzler hätten werden wollen, dann hätten Sie sich heute
hier hingestellt, hätten sich bei den Deutschen für Ihren
Wahlbetrug entschuldigt und hätten gesagt, Sie beriefen
sich auf den Sachverstand und Sie seien bereit, mit der
Opposition jedes Jahr einmal zu messen, wie weit
Deutschland vorangekommen sei. Dann hätten wir es
nicht nötig gehabt, noch einmal das auf die Tagesordnung
zu bringen, was wir im Untersuchungsausschuss auf die
Tagesordnung bringen müssen.
Ich sage ganz klar: Wir kämpfen mit diesem Untersu-
chungsausschuss dafür,
dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes einen
Wahlkampf, wie sie ihn zuletzt erlebt haben, und solche
Momente gespielter Überraschung am Tag nach der Wahl
nicht wieder erleben müssen. Das ist unser Ansinnen. Wir
müssen Ihnen mit diesem Untersuchungsausschuss auf den
Zahn fühlen und herausbekommen, was Sie gewusst haben,
ob Sie gelogen, betrogen oder Wahrheiten verschwiegen
haben.
Wir werden dort ohne Schaum vorm Mund, ganz sachlich
und auf die Zukunft ausgerichtet reden.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von Gerhard Schröder
enden. Er hat in einer bemerkenswerten Rede gesagt:
Demokratie ... braucht starke Charaktere, starke Per-
sönlichkeiten. Nicht Stärke, sondern Schwäche
kommt zum Vorschein, wenn Politiker dem Bürger,
dem Wähler nicht zutrauen, dass er die Wahrheit ver-
trägt. ... Ein derartiges Verhalten greift die Wurzeln
der Demokratie an,
es ruiniert Glaubwürdigkeit und Vertrauen, ohne die
die Demokratie nicht leben und funktionieren kann.
Ich hätte mir gewünscht, Gerhard Schröder wäre wie die-
ser Gerhard Schröder. Aber leider sagte dies der von der
CDU gestellte Außenminister Gerhard Schröder ver-
gangener Jahre. Dem heutigen Bundeskanzler Gerhard
Schröder kämen solche Aussagen nicht über die Lippen.
Er ist heute nicht jener Gerhard Schröder, sondern der
Bundeskanzler, der von einer ziemlich unfähigen Fraktion
getragen wird.
Herzlichen Dank.