Rede von
Joachim
Stünker
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich an dieser Stelle vor einem Ausblick in die
15. Legislaturperiode einen kurzen Rückblick auf die
14. Legislaturperiode halten.
Ich finde, bei allem Streit, den wir hier gehabt haben, und
bei allen unterschiedlichen Auffassungen, kann man eines
objektiv nicht bestreiten: Durch die rot-grüne Politik in
der 14. Legislaturperiode hat die Rechtspolitik als solche
in diesem Hohen Hause endlich wieder das Gewicht be-
kommen, das ihr zusteht, Herr Götzer,
und zwar nicht nur in diesem Hohen Hause, sondern da-
rüber hinaus auch gesamtgesellschaftlich. Es ist wieder
über Rechtspolitik diskutiert worden. Rechtspolitik ist
wieder wahrgenommen worden, und zwar nicht nur dann,
wenn es darum ging, sozusagen in Einzelfällen im Nach-
hinein kriminalpräventiv in Form von Reparaturgesetzen
oder Ähnlichem tätig zu werden. Das ist das, was Sie
heute wieder vorgestellt haben.
Für uns ist Rechtspolitik, Herr Kollege Götzer, ein be-
stimmendes, gestaltendes Element im gesellschaftlichen
Zusammenleben der Menschen. Dafür ist die Rechtspoli-
tik seit 2 000 Jahren da. Am Ende der letzten Legislatur-
periode, also kurz vor der Wahl, gab es in der auflagen-
stärksten deutschen Tageszeitung einen Leitartikel, der
mit der Schlussfolgerung endete:
In der Rechtspolitik von Rot-Grün ist in vier Jahren
mehr bewegt worden als in 16 Jahren davor.
Dieses Lob nehmen wir gerne entgegen. Genauso ist es
gewesen.
Die Reformgesetze, die wir erstellt haben, sind bereits
genannt worden. Ich möchte sie nicht im Einzelnen auf-
zählen, sondern nur einige Punkte nennen. Die Schuld-
rechtsreform, die wir vorgenommen haben, haben Ihre
Regierungen zehn Jahre lang liegen gelassen. Sie haben
nichts gemacht.
Bezüglich der Novellierung des Mietrechts, bei der wir
dafür gesorgt haben, dass sich Mieter und Vermieter wie-
der in gleicher Augenhöhe sozial gegenübertreten kön-
nen, haben Sie 16 Jahre lang nichts gemacht. Sie haben
nichts auf den Weg gebracht. Die Implementierung des Tä-
ter-Opfer-Ausgleichs in die Strafprozessordnung haben
Sie 20 Jahre lang nicht geschafft, obwohl das die Praxis
Otto Fricke
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Joachim Stünker
immer wieder gefordert hat und heute froh darüber ist,
dass wir das endlich gemacht haben.
Zum Gewaltschutzgesetz – Sie haben Gott sei Dank im
Ergebnis mitgemacht – mussten wir den Anstoß geben.
Wir mussten diesen Weg gehen.
Zu guter Letzt – das ist ein kleines Bonbon –: Meine
Studienzeit ist zwar 30 Jahre her, aber bereits damals dis-
kutierten wir über die Reform der Juristenausbildung. Sie
und die Vorgängerregierungen haben dies nicht hinbe-
kommen. Wir haben es in der letzten Legislaturperiode
geschafft, meine Damen und Herren, und werden damit
Entscheidendes verändern.
Diese Rechtspolitik, die Auflösung des Reformstaus,
werden wir in den nächsten vier Jahren, in der 15. Legis-
laturperiode, fortsetzen. Hierbei werden wir uns von Ih-
nen nicht in die Richtung treiben lassen, die Sie, Herr
Götzer, wieder aufgezeigt haben, nämlich immer dann,
wenn in der Gesellschaft furchtbare Straftaten geschehen,
ein Reparaturgesetz zu erstellen.
Lassen Sie mich die langen Linien unseres weiteren
Vorgehens kurz skizzieren. Es geht für uns um die weitere
Modernisierung von Verfahren und Institutionen in der
Justiz. Hierbei steht im Vordergrund, die Belastung der
Justiz zu mindern und dafür Qualität und Akzeptanz der
richterlichen Entscheidungen durch intensivere Prozess-
leitung und verbesserte Kommunikation zwischen den
Beteiligten weiter zu fördern. Die gut ausgebildeten nicht
richterlichen Dienste können mehr Verantwortung über-
nehmen. Dabei werden Ressourcen frei, sodass wir die
richterlichen Dienste auf ihre Kernaufgaben beschränken
können.
Weiterhin geht es um eine moderne Gesellschaftspoli-
tik. Das Recht der Partnerschaften, der Ehe und der Fa-
milie, muss sich dem zeitgemäßen Verständnis von Bin-
dung und Zusammenleben anpassen. Wir bieten den
Menschen dafür belastbare Formen in einem Katalog von
Rechten und Pflichten an. Auf der Grundlage der Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts wird die Ko-
alition daher das Lebenspartnerschaftsgesetz überarbeiten
und ergänzen. Insbesondere den rechtlichen Schutz für
Menschen in nicht ehelichen Lebensgemeinschaften wer-
den wir weiter verbessern.
Es geht um strafrechtliche Reformen und vor allen
Dingen um Prävention. Insbesondere das strafrechtliche
Sanktionensystem ist zu reformieren,
nicht im Sinne von Aufweichung, wie Sie befürchten, son-
dern genau in dem Sinne, den Sie angesprochen haben.
Darüber waren wir uns in der letzten Legislaturperiode in
einigen Bereichen schon sehr weitgehend einig.
Es geht um die sorgfältige Fortentwicklung des Sexual-
strafrechts. Ich denke, wir werden uns in wenigen Wo-
chen in einer Debatte darüber wiedersehen. Es muss aber
auch darum gehen – das ist meine feste Überzeugung –,
das Strafverfahrensrecht mit mehr Effizienz auszustatten,
indem wir auch hier Veränderungen und Modernisierun-
gen vornehmen.
Die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen, dass es
auch um den Anleger- und Verbraucherschutz geht. Da-
rauf brauche ich nicht mehr näher einzugehen.
Es geht ferner um europäische Rechtspolitik. Die
Kriminalitätsbekämpfung darf nicht an den nationalen
Grenzen aufhören. Wir werden daher die justiz- und in-
nenpolitische Kooperation in Europa weiterentwickeln.
Der europäische Haftbefehl ist ebenso ein erster Schritt
wie Eurojust oder die gemeinsamen Anstrengungen zur
Terrorismusbekämpfung.
Es geht weiter – Ihr Kollege aus dem Innenbereich hat,
glaube ich, gerade dazu gesprochen; in diesem Bereich
können wir uns auch treffen – um Rechtsbereinigung,
das heißt, um den Abbau von Bürokratie. Das muss einer
der Schwerpunkte der Arbeit im Rechtsausschuss in die-
sen vier Jahren für uns sein; das ist überhaupt keine Frage.
Dort haben wir viel neu zu regeln, was sich über Jahr-
zehnte in unserem Land an Bürokratie angehäuft hat. Sie
versuchen heute immer darzustellen, Rot-Grün sei dafür
verantwortlich.
Alle Bundesregierungen seit 1945 sind für das verant-
wortlich, was wir heute vorfinden. Dort müssen wir in der
Tat intensiv an die Arbeit gehen.
Lassen Sie mich zuletzt noch etwas detaillierter einen
Gesichtspunkt hervorheben, der mir sehr wichtig ist und
auf den ich in den letzten vier Jahren wiederholt versucht
habe Ihr Augenmerk zu lenken: die Binnenreform der Ju-
stiz. Wie Sie wissen, komme ich aus der Praxis in über 25-
jähriger Tätigkeit. Ich weiß – viele von Ihnen wissen das
auch –, wie groß dort mittlerweile der Druck durch die
Arbeitsbelastung in den Ländern, die zu vollziehen haben,
ist. Ich bin davon überzeugt, dass sich die kritische Lage
der öffentlichen Haushalte in absehbarer Zeit nicht we-
sentlich verändern wird. Diese Situation zwingt die Justiz
wie auch alle anderen Ressorts dazu, sich grundsätzliche
Gedanken darüber zu machen, wie sie ihren gesetzlichen
Auftrag trotz reduzierter Haushaltsmittel auf gewohnt ho-
hem Qualitätsniveau weiter erfüllen können. Die Länder
müssen hierzu in die Lage versetzt werden.
Hieran sind die so genannten Justizentlastungsgesetze
der 90-er Jahre, die im Grunde eigentlich das gleiche Ziel
zum Inhalt hatten, alle gescheitert. Alle diese Justizent-
lastungsgesetze haben nur dazu geführt, dass mehr Belas-
tung erfolgt ist; sie ist von oben nach unten durchgedrückt
worden. Das heißt, im Ergebnis hat die Belastung der
Amtsgerichte heute ein Maß erreicht, das nicht mehr er-
träglich ist.
Von daher meine ich, dass wir einen neuen Weg gehen
müssen. Wir müssen den Weg der Aufgabenkritik gehen.
Die Aufgabenkritik erweist sich gegenüber den tradierten
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 1005
Konsolidierungsmaßnahmen als ein überlegenes Instru-
ment. Sie vermeidet den Weg der pauschalen Kürzung
und setzt nicht bei den Ausgaben der Behörde an. Vielmehr
fragt sie nach den Zielen und Aufgaben des Ressorts. Auf-
gabenkritik ist überdies sozialverträglicher, weil es durch
sie gelingen kann, motivationshemmende pauschale Stel-
lenkürzungen, Einstellungs- und Beförderungsstopps zu
vermeiden. Nicht der Personalbestand, sondern das Ar-
beitsvolumen wird kritisch hinterfragt.
Was meine ich damit konkret? Man kann dieses Paket
in vier Bereiche untergliedern. Wir müssen die Zahl der
Verfahren reduzieren. Wir müssen die Erledigung der an-
hängigen Verfahren mit weniger Aufwand bewerkstelli-
gen. Wir müssen Aufgaben delegieren und wir müssen
Aufgaben auslagern können.
Wir, die Koalition, werden Ihnen daher eine ganze
Reihe von Vorschlägen, die aus der Alltagspraxis kom-
men, jeweils für sich nicht neu sind und über die bereits
in der Vergangenheit in verschiedenen Zusammenhängen
immer wieder diskutiert worden ist, bündeln und in einem
Gesetz zur Modernisierung der Justiz vorlegen. Wir wer-
den mit Ihnen in diesem Hohen Hause, mit den Ländern
und natürlich mit den Verbänden darüber diskutieren. Ich
sage ganz bewusst: Hier werden wir nichts regeln können,
wenn wir nicht die Bundesländer mit ins Boot bekommen.
Ich möchte Ihnen kurz 13 Beispiele nennen, damit Sie
wissen, worauf ich hierbei hinauswill.
– Herr Gehb, entschuldigen Sie! Der Kollege Götzer hat
seine Redezeit hier überzogen. Angesichts dessen darf ich
im Rahmen meiner Redezeit wohl auch zu später Stunde
versuchen, Ihnen ein paar Gedanken nahe zu bringen,
über die Sie hinterher in Ruhe nachdenken sollten. Sie
sollten hier nicht nur Krawall machen.
– Herr von Klaeden, dass Sie davon nichts verstehen, das
wissen wir. Das ist wirklich nicht neu.
Lassen Sie mich ein paar Punkte nennen. Durch die För-
derung gesetzlicher Regelungen zum Vorrang einer media-
tiven Streitkultur, also durch außergerichtliche Streitbeile-
gung, können wir die Anzahl der Gerichtsverfahren
reduzieren und damit wesentliche Entlastungen schaffen.
Durch ein obligatorisches Mahnverfahren im Zivilpro-
zess vor Erhebung einer Zahlungsklage bei Ansprüchen,
die 750 Euro nicht überschreiten, werden die Prozessab-
teilungen der Gerichte wesentlich entlastet.
Durch eine Erweiterung der Einstellungsmöglichkei-
ten im Bußgeldverfahren wird die Anzahl der durch Urteil
zu beendenden Verfahren wesentlich reduziert.
Durch die Einschränkung der Zulassung der Rechts-
beschwerde in Ordnungswidrigkeitenverfahren werden
bei den Amtsgerichten, bei den Oberlandesgerichten und
bei den Generalstaatsanwaltschaften wesentliche Ressour-
cen eingespart.
Im Strafprozess setzen wir durch eine Verlängerung der
Fristen zur Unterbrechung der Hauptverhandlung – § 229
StPO – erhebliche Ressourcen für Neuansetzungen und
Sprungtermine frei.
Bei der Protokollführung in Strafsachen in Verfahren
vor dem Strafrichter kann auf den Einsatz eines Urkunds-
beamten der Geschäftsstelle als Protokollführer verzich-
tet werden. Auch durch die Abschaffung der Erstellung ei-
nes Inhaltsprotokolls spart man erhebliche Ressourcen.
Wir müssen materielle und formelle Änderungen des Be-
treuungsrechts – es ist bereits angesprochen worden – vor-
nehmen. Ende 2001 gab es in Deutschland über 980000 Be-
rufsbetreuungsverfahren. Hierfür haben wir insgesamt über
650 Millionen Euro ausgegeben. Dadurch wurden die Jus-
tizhaushalte der Länder ganz wesentlich belastet. Wir wer-
den Ihnen konkrete Vorschläge machen, wie da Abhilfe ge-
schaffen werden kann.
Die Vollstreckung in Strafsachen kann insgesamt auf
den gehobenen Dienst in den Staatsanwaltschaften über-
tragen werden.
Durch eine grundlegende Vereinfachung des Justizkos-
tenrechts könnten sämtliche Kostensachen auf Angehö-
rige des mittleren Dienstes übertragen werden.
Wir werden eine FGG-Reform durchführen.
Durch die Übertragung der Notarprüfungen auf die
Notarkammern können bei den Landgerichten und bei
den Oberlandesgerichten erhebliche Ressourcen freige-
setzt werden.
Wir sollten in Deutschland dem Gedanken gründlich
nachgehen – gleich werden Sie wieder aufschreien –,
durch die Übertragung einvernehmlicher Ehescheidungen
auf Notare die Familiengerichte erheblich zu entlasten.
– Ja, das ist ein vernünftiger Gedanke.
Ich weiß, dass viele dieser Punkte bei Ihnen sicherlich
erst einmal auf Unverständnis stoßen. Das sehe ich Ihren
Gesichtern an. Wir werden an diesen Reformen aber nicht
vorbeikommen, wenn wir eine effektive Justiz, insbeson-
dere eine ordentliche Gerichtsbarkeit, erhalten wollen.
Von daher bin ich guten Mutes, dass wir mit diesen Vor-
schlägen bei den Bundesländern wieder einmal mehr Ver-
ständnis als bei Ihnen finden.
Vielen Dank.