Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! An einer Stelle der Rede des Genossen Müntefering
hat es mich richtig umgehauen: als der für den Wahlkampf
der Sozialdemokratischen Partei verantwortliche Gene-
ralsekretär die Sprache der politischen Auseinanderset-
zung kritisierte. Wenn es jemanden in Deutschland gibt,
der für Brutalität und Verrohung der politischen Sprache
steht, dann ist es Müntefering und sonst keiner.
Von Ihnen Ratschläge entgegennehmen zu müssen,
was die politische Kultur angeht, ist schwer erträglich.
Das gilt auch für Ihre Anwürfe gegenüber anderen Par-
teien bezüglich ihrer Parteispenden und Finanzsituation.
Müntefering ist derjenige, der in Nordrhein-Westfalen
lange Verantwortung in der Sozialdemokratischen Partei
getragen hat, die von einer Korruption in eine andere
Spendenaffäre hineintrudelt.
Gestern hat der Staatsanwalt für den Oberbürgermeis-
ter von Wuppertal Kremendahl 18 Monate Bestrafung ge-
fordert. Herr Müntefering, an Ihrer Stelle würde ich den
Mund nicht so voll nehmen; denn Sie tragen mit Verant-
wortung für all die Skandale, die unter Ihrer Regentschaft
in Nordrhein-Westfalen stattgefunden haben.
Ich will mich mit einigen Argumenten auseinander set-
zen, die Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben. Es ist schon
einigermaßen erstaunlich: Deutschland befindet sich in
einer großen Wachstumskrise, während andere vergleich-
bare Volkswirtschaften sehr viel schneller wachsen.
Wenn andere Volkswirtschaften schneller als die eigene
wachsen, bedeutet das den Export von Arbeitsplätzen und
Wohlstand dorthin.
Es gab kein Wort, weder vom Bundeskanzler noch vom
Fraktionsvorsitzenden der SPD, dazu, wie wir Wachstum
und die Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland för-
dern und Bürokratie beseitigen wollen. Stattdessen wird
ausschließlich über die Verteilung dessen schwadroniert,
was noch gar nicht erwirtschaftet worden ist. Dies kann
keine verlässliche wirtschaftspolitische Handlungsanwei-
sung sein.
Es wird sehr viel von Gemeinwohlorientierung gere-
det. Herr Müntefering, in der Koalitionsvereinbarung ha-
ben Sie beispielsweise etwas über das Gemeinnützig-
keitsrecht für Kultur, Sport und anderes geschrieben. Der
SPD-Parteitag hat das einstimmig abgesegnet. Wenn Sie
das Gemeinwohl in Deutschland tatsächlich fördern wol-
len – wie Sie es hier deklamiert haben – dann dürfen Sie
Vorschläge, die die gesamte Kulturförderung in Deutsch-
land auf den Kopf stellen würden, nicht machen. Derje-
nige, der auch im Geiste für die Kultur- und Gemeinwohl-
förderung ist, muss so etwas zurückweisen. Sie aber
haben das einstimmig auf Ihrem Parteitag beschlossen.
Hanebüchen war auch Ihre Argumentation bezüglich
der Investitionen in Bildung und Forschung.
Die Investitionen in Bildung und Forschung stiegen, hieß
es. Die Kollegin Bulmahn ist gerade draußen, trotzdem
sage ich: Wenn Sie die Etats für Bildung und Forschung
sowie Wirtschaft zusammenfassen würden, würden Sie
sehen, dass die Etats stagnieren und der Investitionsanteil
für Bildung und Forschung zurückgeht.
Sie liefern ein absolutes Zerrbild nicht nur von der
Wirklichkeit, sondern vor allen Dingen von den angebli-
chen Erfolgen Ihrer Regierungsarbeit. Sie haben in Ihrer
Rede jedweden Bezug zur Wirklichkeit vermissen lassen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 911
Das gilt im Übrigen auch für die Verkehrsinvesti-
tionen. Deutschland steht im Stau und der Generalse-
kretär a. D. und jetzige Fraktionsvorsitzende, der Genosse
Müntefering, versucht, uns zu erklären, noch nie sei so
viel in den Verkehr investiert worden. Die Wahrheit ist:
Trotz der Abkassiererei durch die Verkehrsmaut werden
die Verkehrsinvestitionen in Deutschland sinken. Im ge-
samten Haushalt haben wir die historisch niedrigste Inves-
titionsquote seit Beginn der Finanzrechnung. Das ist die
bittere Wahrheit, die Herr Münterfering hier zu verschlei-
ern versucht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird im-
mer wieder die Frage gestellt: Wo sind die Alternativen
der Opposition?
Ich frage mich, ob nicht zugehört wird. Ich will einige
Elemente dessen, was wir heute schon zweimal vorgetra-
gen haben, hervorheben.
An erster Stelle steht eine Steuerreform, nach der sich
Leistung in Deutschland wieder lohnt. Bei dem, was Sie
jetzt in das Parlament eingebracht haben, handelt es sich
ausschließlich um Steuererhöhungen mit einem Gesamtvo-
lumen von etwa 40 Milliarden Euro in dieser Legislaturpe-
riode. Wir aber brauchen Leistungsanreize für die Men-
schen draußen, die sich regelrecht abkassiert und nicht in
ihrem Anliegen wahrgenommen fühlen, dass sie für unsere
Volkswirtschaft auch etwas leisten wollen. Nur wer eine
Steuerreform in dem von mir genannten Sinne angeht, wird
auch bei den Bürgern wieder Leistung ernten. Das ist der
erste Punkt, den wir hier heute angesprochen haben.
Der zweite Punkt ist die Deregulierung des Arbeits-
marktes. Es ist in dieser Woche bereits darauf hingewie-
sen worden, dass wir kurzfristig unser Minijobgesetz ge-
meinsam mit allen Fraktionen in diesem Haus
verabschieden und in Kraft setzen könnten. Es ist deutlich
gemacht worden, dass die Initiativen für betriebliche
Bündnisse für Arbeit, die Sie – entgegen Ihrer Rede, Herr
Müntefering – mit den geltenden Regelungen blockieren,
ermöglicht werden müssen. Es wäre doch ein kleiner Akt
für mehr Selbstständigkeit in Deutschland, dieses krank-
hafte Scheinselbstständigengesetz zum Jahresende aus-
laufen zu lassen.
Die Liberalisierung der Teilzeitarbeit ist ein weiterer
wichtiger Schritt, der – ebenso wie die Umsetzung des
OFFENSIV-Gesetzes – schon mehrfach vorgeschlagen
worden ist. Herr Müntefering, Sie haben heute behauptet,
die Opposition habe keine klaren Konturen erkennen las-
sen. Das ist genauso ein Zerrbild der Wirklichkeit wie vie-
les andere, was Sie hier heute vorgetragen haben.
Auch von neutraler Seite ist das Urteil über die derzei-
tige Haushaltssituation in Deutschland eindeutig. Der so-
zialistische EU-Kommissar Solbes, der für Haushaltsfra-
gen zuständig ist, stellt fest, das hohe Haushaltsdefizit
resultiere nicht nur aus einem außergewöhnlichen Ereignis,
das sich der Kontrolle entziehe. Grund seien, so Solbes, die
zum Teil selbst verschuldeten Haushaltslücken und die
Einnahmeausfälle aufgrund einer verfehlten Steuerpoli-
tik. Wenn Sie nicht bereit sind, die Ursachenanalyse zu
akzeptieren, die es weltweit in Bezug auf Deutschland
gibt, werden auch alle Ihre Rezepte und Instrumente, die
Sie aufgrund Ihrer falschen Ursachenanalyse entwickelt
haben, nicht wirken. Sie werden unsere Volkswirtschaft
aus der Stagnation in die Rezession führen. Das muss
dringend verhindert werden.
Was das Rentensystem angeht, Herr Kollege
Müntefering, so ist zu sagen, dass wir über dieses Thema be-
reits in verschiedenen Bundestagswahlkämpfen, an denen
Sie höchstpersönlich beteiligt waren, streitig diskutiert ha-
ben. Ich kann mich an Plakate in meinem Wahlkreis erin-
nern, auf denen es hieß: Wenn ihr CDU oder CSU wählt,
steigt der Rentenversicherungsbeitrag, wenn ihr SPD wählt,
bleibt er stabil.
Tatsache ist, dass Sie offensichtlich schon damals, als Sie
als Generalsekretär das Plakat verantwortet haben – denn
Sie sitzen auch in den politischen Entscheidungsgremien
Ihrer Partei, sind also wesentlich beteiligt –, wussten, dass
der Rentenbeitragssatz erheblich steigen würde, und
zwar – wie wir heute wissen – auf den Höchststand von
19,9 Prozent. Das war Ihnen damals bekannt.
Wenn Sie eine solche Ignoranz gegenüber den Tatsachen
walten lassen – dabei interessieren Sie als Generalsekretär
uns weniger; uns interessieren mehr die durch Diensteid
verpflichteten Mitglieder der Bundesregierung – und die
Öffentlichkeit in die Irre führen, dann müssen wir darauf
hinweisen, dass das nicht geht, und zwar insbesondere im
Hinblick auf die Zukunft. Lügen und unvollständige
Wahrheiten dürfen sich nicht auszahlen. Dem dient der
von uns ausschließlich zum Zwecke der Wahrheitsfin-
dung eingerichtete Untersuchungsauschuss.
Deswegen werden wir die politische Auseinandersetzung
in aller Sachlichkeit, aber auch mit der gebotenen Schärfe
führen. Er ist notwendig, damit die politische Kultur in
Deutschland nicht unter Unwahrheiten und Verdrehungen
leidet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden
bei den Haushaltsberatungen unsere Alternativen deutlich
machen. Aber eines ist wichtig: Es geht nicht nur um
Haushaltspositionen. Was dringend notwendig ist, ist ein
Stimmungswechsel in diesem Land. Dieser Stimmungs-
wechsel wird nur dann eintreten, wenn sich diese falsche
Politik grundlegend ändert. Sonst wird es mit Deutsch-
land nicht aufwärts gehen. Wir wollen aber, dass sich die
Steffen Kampeter
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Steffen Kampeter
Leistung der Menschen in Deutschland wieder lohnt. Des-
wegen werden wir auch unsere Alternativen in den ein-
zelnen Etats darlegen.
Herzlichen Dank.