Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ge-
schichte unseres Landes zeigt uns, dass es nach den großen
außenpolitischen Debatten, die hinter uns liegen, in der
Außenpolitik unseres Landes bei den großen Grundlinien
viele Gemeinsamkeiten gibt. Aber es gibt doch ein paar
Punkte, die der Präzisierung bedürfen und die nicht in Ver-
gessenheit geraten dürfen.
Wenn der Bundeskanzler heute vorgetragen hat, dass die
Osterweiterung der Europäischen Union, die auf dem Gip-
fel in Kopenhagen ansteht, ein Stück Wiedervereinigung
Europas ist und dass sie viel mehr Chancen als Risiken bie-
tet, dann will ich für die FDP nicht unerwähnt lassen, dass
wir diese Position schon immer vertreten haben und der
Bundeskanzler erst in jüngster Zeit zu dieser Erkenntnis ge-
kommen ist. Das muss hier einmal ausgesprochen werden.
Als er noch niedersächsischer Ministerpräsident war,
klang das noch ganz anders. Deshalb können wir es nicht
zulassen, dass sich jetzt diejenigen als Befürworter hin-
stellen, die früher eher Gegner waren.
Erster Punkt. Der Bundeskanzler hat bei der Wieder-
vereinigung Europas eine Diskussion über Übergangs-
fristen begonnen, die bei den Deutschen den Eindruck
hinterlassen hat, wir müssten uns vor diesen friedlichen
Menschen fürchten, mit denen wir schon länger Handel
treiben. Wir stimmen in manchen Teilen der Europapoli-
tik überein, aber beim Tempo und bei den Ambitionen gibt
es Unterschiede. Unser Engagement bei der Europapoli-
tik war größer, als es beim Bundeskanzler je gewesen ist.
Zweiter Punkt. Herr Bundesaußenminister, Sie haben
wieder die Menschenrechtspolitik angesprochen, in der
ich mit Ihnen übereinstimme. Ich sage Ihnen: Ohne Men-
schenrechte, ohne die Öffnung von Grenzen und die Frei-
heit für alle Menschen kann die Marktwirtschaft kein Er-
folg werden. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn
diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, wird der
Kampf gegen den Terrorismus nicht erfolgreich sein kön-
nen. Warum haben Sie nicht die Courage, zu erklären,
dass Putins Tschetschenienpolitik keinen Anlass für Lob
bietet?
Viele internationale Organisationen weisen auf Folter,
Vergewaltigung und Säuberungsaktionen in tschetscheni-
schen Dörfern hin. Wieso gibt dann der Bundeskanzler
eine Erklärung ab – das ist im Pressetext nachzulesen –,
in der er Putins Tschetschenienpolitik lobt? Ich weiß noch
genau, wie der frühere Bundeskanzler Kohl China be-
sucht hat und von Soldaten der chinesischen Armee emp-
fangen wurde. Sie haben ihm damals Missachtung der
Menschenrechtspolitik vorgehalten. Sie haben als Oppo-
sitionspolitiker früher anders als heute als Außenminister
geredet. Wenn sich Außenpolitik in Grundlinien bewegen
und glaubwürdig sein soll, dann gehört auch ein klares
Wort an den russischen Präsidenten zur Tschetschenien-
politik dazu. Mit Säuberungen kann man den Terrorismus
nicht bekämpfen.
Dritter Punkt. Herr Bundesaußenminister, Herr Struck
und Herr Kollege Erler, bei der Irak-Politik lege ich Wert
auf Klarheit. Ich sage Ihnen auch gleich, worin sich un-
sere Haltung unterscheidet. Niemand will einen Krieg.
Niemand würde ihn gutheißen. Aber es gibt einen Unter-
schied. Wir glauben nicht, dass Sie dem deutschen Volk
die volle Wahrheit sagen. Wenn die Inspektoren Kofi
Annan und den Mitgliedern des Sicherheitsrates raten,
einzuschreiten, weil Saddam Hussein bestimmte Waffen-
systeme entwickelt hat, können Sie im Fall einer Manda-
tierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
nicht mehr an der Linie des Bundeskanzlers festhalten,
sich nicht zu beteiligen.
Sie haben schon jetzt ein Hintertürchen geöffnet.
Deshalb können Sie offen erklären, was Sie wollen. Ich
sage Ihnen, was dann passieren wird. Sie werden logisti-
sche Hilfe für die Völkergemeinschaft anbieten, die Sie
im Übrigen schon jetzt andeuten. Falls sich etwas ereig-
net, werden Sie öffentlich erklären, dass Sie die Fuchs-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 931
Panzer, die in Kuwait stationiert sind, allein aus huma-
nitären Erwägungen einsetzen müssen, um die Menschen
und die Soldaten zu schützen. Das ist die Wahrheit. Vor
diesem Hintergrund frage ich Sie, ob sich dann die ganze
Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten von
Nordamerika und ihrem Präsidenten in der Art, wie sie ge-
führt worden ist, überhaupt gelohnt hat.
Dass wir keine Soldaten entsenden können, war jedem
klar, weil sonst die Bundeswehr überfordert wäre. Aber
dass wir das tun, was in strikter Anlehnung an das Völ-
kerrecht vernünftig ist, ist doch ebenso klar. Was sollte
also diese Begleitmusik im Wahlkampf? Sie hat auch mit
dem Wahlkampf nicht aufgehört.
Ich erinnere noch einmal kurz an die Vasallendiskus-
sion und den Vergleich mit Abrassimow. Dann kam die
unsägliche Debatte um die frühere Bundesjustizministe-
rin und ihren Ausrutscher, wie ich es einmal nennen
möchte, weil ich noch gut mit ihr umgehe; er ist aber
kaum zu entschuldigen.
Jetzt lese ich, das alles sei nicht antiamerikanisch. Aber
angesichts der Situation im Irak und der Möglichkeit, dass
die Völkergemeinschaft letztlich ein Eingreifen be-
schließen könnte – was wir nicht hoffen und wünschen –,
frage ich Sie, warum über Frau Wieczorek-Zeul in der
„Bild“-Zeitung zu lesen ist
– dann soll sie es richtig stellen –, sie habe die Politik des
US-Präsidenten Bush als „blanken Zynismus“ bezeich-
net.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü-
nen, es gibt eine bestimmte Form der Auseinanderset-
zung, in der der Ton die Musik macht.
Auch in Kontroversen, wie es sie schon früher mit den Ver-
einigten Staaten von Amerika gab, gehört es dazu, eine
Wortwahl zu treffen, die der außen- und sicherheitspoli-
tischen Lage gerecht wird. Was soll denn diese Veranstal-
tung vor der deutschen Öffentlichkeit, wenn die Bundesre-
gierung weiß, dass sie im Falle eines Falles logischerweise
bestimmte Beteiligungsformen anbieten muss, wenn sie
glaubwürdig sein will? Im Grunde genommen geht es
nicht nur in dem Fall, dass der Sicherheitsrat einen ent-
sprechenden Beschluss fasst, um das Bild von Gefolgs-
leuten oder Vasallen der Vereinigten Staaten, das ein
großer Teil der deutschen Öffentlichkeit von uns hat.
Wir sollten auch einmal die Kernfrage erörtern, dass
wir es mit dem Irak mit einem Regime zu tun haben, das
zweifellos eher danach trachtet, das Leben derjenigen zu
bedrohen, die nicht seiner Meinung sind, als sich mit ih-
nen auf eine Aussprache einzulassen.
Der Charakter dieses Mannes ist doch weltweit bekannt.
Ich möchte betonen, dass es in dieser Frage eine abwei-
chende Haltung gibt. Es wäre besser, wenn Sie Ihre Hal-
tung öffentlich darstellen würden, Herr Bundesaußenmi-
nister und Herr Erler. Denn wenn es zu einer schwierigen
Situation kommt, werden auch Sie letztlich diese Haltung
einnehmen müssen. Dann werden Sie um den Einsatz der
Fuchs-Spürpanzer nicht umhinkommen, die nach Anga-
ben von Herrn Struck gegenwärtig noch nicht einmal ein-
setzbar wären. Ich frage mich übrigens, wofür sie bei dem
Mandat Enduring Freedom gut sein sollen, für das sie be-
reits zur Verfügung gestellt worden sind. Wenn sie nicht
einsatzfähig sind, ist das doch sinnlos. Wenn sie im Falle
eines Falles mit Ihren humanitären Begründungen, die Sie
dann sicherlich vorbringen werden – das sage ich Ihnen
voraus –, benötigt würden, müssten sich auch deutsche
Soldaten im Einsatzgebiet aufhalten und mit ihnen umge-
hen können. Das ist aber nicht der Fall.
Das alles widerspricht sich. Dabei handelt es sich auch
nicht um eine konsistente Irak-Politik. Diese Begründung
führen Sie nur an, um den Koalitionspartner zu be-
schwichtigen, sodass die Mehrheit gesichert ist. Aber ein
klares Mandat wollen Sie nicht offen diskutieren, weil Sie
dann einräumen müssten, dass Sie im Wahlkampf einen
Fehler gemacht haben und dass Sie nun doch so handeln
müssen, wie es möglicherweise von Ihnen erwartet wird.
Sie haben in der Öffentlichkeit einen falschen Eindruck
erweckt. Das ist Ihr Glaubwürdigkeitsfehler. Dieser Feh-
ler wiegt schwer, weil es nicht darum geht, wie Sie mit
Hunde- und Katzenfutter und mit Blumengebinden ver-
fahren, sondern weil er eine wichtige außenpolitische
Frage betrifft. Zu diesem Thema ist eine Aussprache un-
verzichtbar.
Ich komme zu einem vierten Punkt, Herr Bundes-
außenminister, zur Türkeipolitik. Richtig ist, dass wir
zusammen mit den anderen europäischen Freunden auch
eine große nationale Verantwortung tragen und mit an ei-
ner Brücke bauen, über die Stabilität exportiert werden
soll. Das ergibt sich im Übrigen aus der engen geschicht-
lichen Bindung Deutschlands nicht nur an die Türkei, son-
dern auch an andere Länder. So kann die Stabilitätspolitik
in Zukunft auch mittel- und osteuropäische Staaten und
Länder umfassen, die bisher im Barcelona-Prozess einge-
bunden sind. Das ist unbestritten. Es gibt wahrscheinlich
keinen Königsweg, Herr Bundesaußenminister. Deshalb
lege ich namens meiner Fraktion auch auf Zwischentöne
Wert.
Wer behauptet, wir würden einen großen außen- und
europapolitischen Fehler machen, wenn wir der Türkei
nicht die Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit
einem Verhandlungstermin in Kopenhagen anbieten wür-
den, weil das auch den Verzicht auf eine Stabilitätspolitik
bedeuten würde – obwohl wir ein massives Interesse da-
ran haben, dort Stabilität zu schaffen – , hat nur grundsätz-
lich Recht. Aber ich weise Sie auf eine Gefahr hin. Das ist
kein Königsweg; denn ein einziges negatives Referendum
– ich betone: ein einziges – in einem Mitgliedsland der
Europäischen Union zerstört diesen Weg. Dann müssen
Sie der Türkei erklären, dass es nun doch nichts mit der
Mitgliedschaft wird. Deshalb bitte ich Sie, unter Berück-
sichtigung der bisherigen strategischen Grundsatzerwä-
gungen darüber nachzudenken – man kann ja beides
Dr. Wolfgang Gerhardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Wolfgang Gerhardt
parallel verfolgen –, ob ein privilegiertes Partner-
schaftsverhältnis – die G-10-Staaten und die EU nennen
das so; ich habe schon einmal in einer Debatte über eine
besondere Form eines Partnerschaftsvertrages gespro-
chen, der durchaus zu einem Verhältnis führen kann, wie
es Russland jetzt zur NATO hat; das könnte ein Angebot
auch an andere Länder sein – nicht auch ein Weg sein
kann. Mit einem solchen Weg lässt sich möglicherweise
das vermeiden, was ich eben geschildert habe. Streiten wir
bitte nicht darüber, wer der weitsichtigere, geostrategisch
klügere Kopf ist! Debattieren wir stattdessen darüber, ob
nicht auch eine Alternative, die man parallel verfolgen
kann, etwas bringen kann!
Ich möchte noch auf eines aufmerksam machen. Die
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die 1963 einen As-
soziierungsvertrag mit der Türkei abgeschlossen hatte,
entspricht ja nicht einmal der Europäischen Union von
heute,
geschweige denn der Europäischen Union von morgen,
und zwar weder in Größe und Umfang noch dann, wenn
der Konvent zu einem Ergebnis kommt, das die von uns
gewünschte Vertiefung Europas bedeutet.
– Ich komme gleich auf das Zollabkommen zu sprechen. –
Auch die EU des Jahres 2004 wird nach der Europawahl
ganz anders sein als die heutige Europäische Union, die
sich noch im Entwicklungsstadium befindet. Deshalb
sage ich: Vorsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen und lieber Außenminis-
ter, wer wie Sie in der innenpolitischen Auseinanderset-
zung behauptet, dass er die größere Weitsicht habe, der
wird möglicherweise eines Tages unseren türkischen
Freunden erklären müssen, dass von einer Mitgliedschaft
doch nicht die Rede sein könne,
weil die Referenden in den europäischen Ländern negativ
ausgefallen seien. Wer hat dann den größeren Fehler in
der Türkeipolitik gemacht?
Durch Zwischentöne etwas anzudeuten, strategisch
parallel zu denken und Partnerschaftsverträge zu entwer-
fen kann letztendlich ein stabilerer Weg sein als der jet-
zige. Meine Fraktion hat heute darüber bewusst nicht ab-
schließend entschieden. Wir sind der Meinung, dass eine
strategische Entscheidung erst auf einem europäischen
Gipfel gefällt werden sollte, nachdem der Konvent und
die Mitgliedstaaten über den Verfassungsentwurf beraten
haben. Erst dann wissen wir selbst, wie die neue Gestalt
Europas aussehen soll, und erst dann sollten wir erneut
Gespräche mit anderen Ländern beginnen. Das ist alles,
was ich dazu bemerken wollte.
Abschließend möchte ich noch sagen: Zu einer klugen
Außenpolitik hat immer gehört, dass man zwar die Tradi-
tionslinien einhält, dass man sich aber auch strategische
Alternativen und Optionen offen hält.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.