Rede von
Winfried
Nachtwei
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-
rade in der Sicherheitspolitik sind nüchterne Lagebilder
ohne Verharmlosung und Verdrängung auf der einen Seite
und ohne Dramatisierung auf der anderen Seite von zen-
traler Bedeutung. Die bürgerliche Opposition bekommt
das Kunststück hin, beide Extreme gleichzeitig darzustel-
len. Einerseits verdrängen Sie im Hinblick auf einen et-
waigen und hoffentlich noch zu verhindernden Irak-Krieg
die möglichen Folgen und diffamieren geradezu die Dis-
kussion darüber. Andererseits, wenn es um den Zustand
der Bundeswehr geht, malen Sie schwarz – schwärzer
geht es nicht mehr – und behaupten schriftlich und münd-
lich in der Öffentlichkeit, die Bundeswehr habe ihre Ein-
satz- und Bündnisfähigkeit verloren. Das behaupten Sie
wider besseres Wissen.
Bei Friedenseinsätzen auf dem Balkan und in Kabul
sowie bei der Unterstützung der Terrorismusbekämpfung
zeigt sich eine Einsatz- und Bündnisfähigkeit der Bun-
deswehr, die allseits anerkannt wird. Vergleichen Sie die
Bundeswehr im Einsatz mit anderen Partnerarmeen und
überprüfen Sie, wie verlässlich diese einen Beitrag zur
Bewältigung der verschiedenen Herausforderungen leis-
ten, dann stellen Sie fest, dass sich die Bundesrepublik in
keiner Weise verstecken muss. Ich finde es sehr bemer-
kenswert, dass Sie zur gleichen Zeit, in der Sie über die
Christian Schmidt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Winfried Nachtwei
fehlende Einsatzbereitschaft der Bundeswehr klagen, zum
Beispiel in Gestalt des Bremer Innensenators Böse for-
dern, dass die Bundeswehr auch im Innern, zum Beispiel
beim Objektschutz, eingesetzt werden soll. Darüber, wie
das alles zusammenpassen soll, müssen Sie selbst nach-
denken.
Unbestreitbar ist aber, dass die Bundeswehr die Grenze
ihrer Belastbarkeit erreicht hat und dass deshalb schon
seit geraumer Zeit eine grundlegende Bundeswehrreform
notwendig ist, die sie in die Lage versetzt, neue Aufgaben
zu bewältigen. Mit einer solch grundlegenden Bundes-
wehrreform hat Rot-Grün im Jahr 2000 begonnen. Wir
setzen sie nicht nur fort, sondern versuchen, sie weiterzu-
entwickeln.
Die Eckdaten des Entwurfs des Einzelplans 14 belegen
den Reformwillen der Koalition. Der Gesamtansatz wird
verstetigt und bleibt damit verlässlich. Des Weiteren steigt
die Investitionsquote – das ist für die Modernisierung der
Bundeswehr von elementarer Bedeutung – von 22,2 Pro-
zent auf 24,7 Prozent. Wir begrüßen ausdrücklich, dass es
die politische und militärische Leitung der Bundeswehr
schafft, mit begrenzten Mitteln mehr Output zu erzielen.
Vor sechs Wochen haben SPD und Bündnis 90/Die
Grünen in ihrer Koalitionsvereinbarung versprochen: Die
Aufgabenstruktur, die Ausrüstung und die Mittel für die
Bundeswehr werden wieder in ein ausgewogenes Verhält-
nis gebracht. Dieses Verhältnis war in den gesamten 90er-
Jahren aus nachvollziehbaren Gründen aus dem Lot gera-
ten. Wir haben des Weiteren versprochen, unter Einhaltung
der mittelfristigen Finanzplanung die Bundeswehr effizi-
ent zu modernisieren sowie die Beschaffungsplanung,
die materielle Ausstattung und den Personalumfang der
Bundeswehr fortlaufend den künftigen Herausforderun-
gen anzupassen. Der erste Schritt zur Anpassung der Be-
schaffungsplanung steht nun unmittelbar bevor. Mit ihm
nehmen wir von einer Planung Abschied, die teilweise
mehr an Wünschen als an der Realität orientiert war. Wir
kommen also jetzt bei der Beschaffungsplanung auf den
Boden der Tatsachen zurück. Um dies durchzusetzen und
durchzuhalten, bedarf es wohl erheblicher politischer
Kraftanstrengungen. Ich möchte schon zum jetzigen Zeit-
punkt der politischen und militärischen Spitze der Bun-
deswehr ausdrücklich gratulieren; denn nach aller Erfah-
rung muss man sich hier gegen einige Einzelinteressen
durchsetzen.
Des Weiteren sind Aufgabenstruktur und Perso-
nalumfang anzupassen. Dabei werden Vorschläge der
Weizsäcker-Kommission die Richtschnur bilden. Diese
Kommission hatte bekanntlich einen militärischen Perso-
nalumfang von 240 000 Soldaten empfohlen. Bei der Sen-
kung des Personalumfangs wird es nicht nur um militäri-
sche Zweckmäßigkeit, sondern auch darum gehen, die
Zahl der Eingriffe in die Lebensplanung und die Grund-
rechte junger Männer so weit wie möglich zu verringern.
Wenn wir im Laufe der Legislaturperiode die Wehrver-
fassung überprüfen, dann steht selbstverständlich auch
die Wehrform zur Diskussion. Aufgrund meiner bisheri-
gen Erfahrungen mit der Koalition in der laufenden Le-
gislaturperiode kann ich sagen, dass wir diese Diskussion
sehr sachbezogen und ohne Beachtung früherer Dogmen
führen werden.
Herr Minister Struck, Sie haben zu Recht die Erar-
beitung neuer verteidigungspolitischer Richtlinien
angekündigt. Wir brauchen eine differenzierte und nüch-
terne Analyse der Risiken, der Bedrohungen und der
Chancen. Wir brauchen in Zeiten entgrenzter und un-
sichtbarer Bedrohungen, des transnationalen Terroris-
mus, privatisierter Gewalt und der Verbreitung von Mas-
senvernichtungswaffen eine Verständigung über die
Bedeutung der Selbstverteidigung. Wir brauchen eine
Verständigung über die Gewichtung von Verteidigung,
Krisenbewältigung und Terrorismusbekämpfung. Darauf
müssen wir im Rahmen unserer Grundwerte, wie sie im
Völkerrecht fixiert sind, und im Rahmen unseres Ver-
ständnisses von umfassender gemeinsamer und vorbeu-
gender Sicherheit sorgfältigere und genauere Antworten
finden.
Hier wirkt es für mich allerdings sehr irritierend, dass
Kollege Schäuble zwar die richtigen Fragen stellt – eini-
ges von ihm habe ich ja zitiert –, dass er aber bei diesen
richtigen Fragen den Werte- und Normenrahmen der Ant-
worten beschweigt. Damit setzen Sie sich einem Verdacht
aus, den ich so äußern muss
und der hoffentlich von Ihnen widerlegt wird, nämlich ei-
ner Art offensiver Selbstverteidigung das Wort zu reden,
die mit dem internationalen Gewaltverbot nicht mehr ver-
einbar wäre.
Wir befinden uns in einem tief greifenden sicherheits-
politischen Umbruch. Diesen werden wir politisch nur be-
wältigen, wenn wir darüber nicht nur hier und in sicher-
heitspolitischen Zirkeln, sondern auch in der Gesellschaft
möglichst breit diskutieren. Die Chance einer solchen
breiten gesellschaftlichen Debatte und Verständigung be-
stand vor zwei Jahren im Kontext der Weizsäcker-Kom-
mission, aber sie wurde damals leider nicht genutzt. Jetzt
besteht erneut die Chance. Wir müssen sie deshalb nutzen,
weil eine solche breite gesellschaftliche Debatte für den
neuen sicherheitspolitischen Konsens, den wir brauchen,
unverzichtbar ist.
Danke schön.