Rede von
Gerhard
Schröder
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ich glaube, das, was wir eben gehört haben, ist cha-
rakteristisch für die Lage der deutschen Konservativen
unter Frau Merkel und Herrn Stoiber –
ein Niveau der politischen Auseinandersetzung, das an
Inhaltsleere und Bodenlosigkeit nicht mehr zu überbieten
ist,
ein Niveau der politischen Auseinandersetzung, das über
Inhalte gar nichts mehr weiß und auch nichts mehr wissen
will, sondern nur noch zum Instrument der persönlichen
Diffamierung greift. Das haben Sie, Herr Glos, heute hier
bewiesen.
Exakt dieses Niveau erleben wir seit einiger Zeit. Ich
fordere Sie auf, Frau Merkel, davon Abstand zu nehmen.
Das schadet unserem Land, das schadet dem demokra-
tischen Prozess und das schadet letztlich uns allen.
Es ist Ihre Verantwortung, diese Scharfmacher zurück-
zupfeifen, und zwar gründlich.
Wir werden über dieses Muster der inhaltslosen politi-
schen Auseinandersetzung noch zu reden haben.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 877
Zunächst aber: kein Wort des Hauptredners der CDU/
CSU zur realen Lage im Land.
Außer dümmlichen Sprüchen hat er nichts, aber auch
gar nichts vorgebracht.
Das Niveau zeigt in seltener Deutlichkeit, dass Sie zu kei-
ner einzigen der Fragen, die bei uns anstehen – gewiss
sind die schwierig genug –, auch nur den Hauch einer Ant-
wort haben.
Das ist doch der Grund, warum Sie nur zur persönlichen
Diffamierung und zu jeder Form von Klamauk in der po-
litischen Auseinandersetzung greifen,
weil Sie mehr nicht anzubieten haben. Das ist der Tatbe-
stand, über den man hier einmal reden muss.
Es kann kein Zweifel sein: Die ökonomische Situa-
tion im Land ist, was die Wachstumserwartungen angeht,
nicht so, wie sich die internationalen Organisationen, wie
sich die wissenschaftlichen Institute und wie sich auch die
Bundesregierung das zu Beginn dieses Jahres vorgestellt
und auf der Basis von wissenschaftlichen Untersuchun-
gen prognostiziert haben.
Wir haben gerade gestern alle miteinander den Ifo-In-
dex für die Weltwirtschaft zur Kenntnis nehmen müssen.
Weltweit – mit einem Schwerpunkt in Westeuropa und
keineswegs allein in Deutschland – gibt es einen Rück-
gang um 17 Prozentpunkte. Das hat Ursachen, meine Da-
men und Herren.
– Ich wende mich doch gar nicht mehr an Sie; denn was
Sie inhaltlich anzubieten haben, hat Herr Glos doch ge-
rade unter Beweis gestellt.
Ich wende mich an diejenigen, die politisch seriös argu-
mentieren wollen, und an diejenigen, die uns heute zu-
schauen.
Die Ursachen für die Fehlprognosen und für die nicht
erfüllten Wachstumserwartungen liegen auf dem Tisch.
Erstens: massive Einschnitte im Neuen Markt, und
zwar weltweit.
Zweitens: unseriöse Geschäftspraktiken, nicht nur in
den Vereinigten Staaten, sondern inzwischen auch in
Deutschland, was das Frisieren von Bilanzen und Ähnli-
chem angeht.
Drittens. Niemand kann sich doch Illusionen darüber
machen, dass das weltwirtschaftliche Klima durch die
Krise in und um den Irak aufs Schwerste geschädigt ist.
Das sind die zentralen Ursachen für die ökonomischen
Schwierigkeiten, mit denen natürlich auch unser Land zu
kämpfen hat. Anstelle von diffamierenden Reden und an-
stelle des Klamauks, zu dem Sie greifen, sollten Sie dis-
kutable, ernst zu nehmende Vorschläge zur Bewältigung
der Schwierigkeiten machen. Diese Vorschläge fehlen bei
Ihnen indessen doch völlig. Das ist doch das Strukturpro-
blem, mit dem Sie zu kämpfen haben.
Als Folge dieser ökonomischen Schwierigkeiten ha-
ben wir es in den Jahren 2002 und 2003 mit erheblichen
Einnahmedefiziten zu tun,
sowohl in den öffentlichen Haushalten, und zwar keines-
wegs nur in denen des Bundes, als auch in den sozialen Si-
cherungssystemen. Die Folge dieser Einbrüche aufgrund
nachlassender Konjunktur, die so von niemandem pro-
gnostiziert worden ist, ist natürlich, dass insbesondere in
den sozialen Sicherungssystemen die strukturellen Pro-
bleme und die durch die – Gott sei Dank – zu finanzie-
rende Einheit verursachten Probleme offenbarer denn je
geworden sind. Dafür schaffen wir kurz- und mittelfris-
tige Lösungen. Über die gilt es hier, in diesem Parlament,
zu reden und zu streiten. Der Ausweg, den Sie wählen
– persönliche Diffamierungen, unsinnigste Vergleiche –,
hilft doch niemandem in Deutschland. Das verunsichert
doch mehr, als Sie wahrhaben wollen.
Kein Zweifel: Über die ökonomischen Probleme ist zu
reden. Aber die Situation im Land hat auch eine andere
Seite. In den letzten Jahren sind die Löhne der abhängig
Beschäftigten anders als in den frühen 90er-Jahren, als
Sie am Ruder waren, real um 7 Prozent gestiegen. Ich
frage mich gelegentlich: Über welches Land reden Sie ei-
gentlich?
Anders, als Sie wahrhaben wollen, sind in der zweiten
Hälfte der 90er-Jahre und insbesondere in den letzten vier
Jahren die außenwirtschaftlichen Zahlen das, was mit
den Ausfuhren zusammenhängt, nicht zurückgegangen,
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
sondern gestiegen, und das inmitten einer weltwirtschaft-
lichen Krise, in der wir ohne Zweifel sind. Die Ursachen
sind bezeichnet. Der Marktanteil Deutschlands ist von
9 Prozent auf 10 Prozent gestiegen. Nehmen Sie das doch
einmal zur Kenntnis und sagen Sie es auch! Denn dahin-
ter stehen Leistungen von Menschen in unserem Land.
Diese Menschen haben es doch nicht verdient, von Ihnen
diffamiert zu werden.
Kein Zweifel: Es gibt ökonomische Probleme. Den
Willen der Menschen voranzukommen – das macht die
Kraft dieses Landes aus – zu verschweigen und zu diffa-
mieren ist falsch, selbst wenn man in der Opposition ist.
Opposition heißt doch nicht, in der Weise, wie Sie, Herr
Glos, es heute gemacht haben, vorzugehen, nämlich ehr-
abschneidend. Opposition heißt doch, real und ehrlich an-
dere Vorschläge zu machen, wenn man sie denn hat. Tun
Sie doch endlich Ihre Pflicht als Opposition!