Rede von
Dr.
Guido
Westerwelle
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war ein bemer-
kenswerter Schlussapplaus. Vier Abgeordnete der SPD
sind sogar aufgestanden. Die müssen Sie sich merken!
Es ist schon bemerkenswert: Normalerweise kann man
an der Länge des Beifalls die Qualität einer Rede ablesen.
Ist der Beifall lang, war die Rede gut. Bei Ihnen ist es aber
genau umgekehrt. Seit Monaten ist zu beobachten: Je
schlechter Ihre Reden sind, desto länger applaudieren Ihre
Genossen,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 887
so, als wollten sie Ihnen ein bisschen Mut machen. Denn
nachdem der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch-
land etwas mehr als eine Stunde gesprochen hat, ist fest-
zuhalten, dass Sie, Herr Bundeskanzler, zwei Drittel Ihrer
Redezeit darauf verwandt haben, sich mit der Opposition
auseinander zu setzen und sie zu beschimpfen. In der ver-
bleibenden Zeit haben Sie nichts anderes gebracht als ein
paar Allgemeinplätze. In Wahrheit ist diese Rede, die
doch von Ihren Emissären als historische Rede angekün-
digt worden ist, sogar noch hinter Ihrer Regierungserklä-
rung zurückgeblieben, die Sie hier vor wenigen Wochen
abgegeben haben.
Sie haben eine Sammelsuriumrede gehalten. Ihre Rede
zeigt, dass Sie ausgebrannt sind und dass es Ihnen an Saft
und Kraft fehlt.
Sie haben am Anfang mit einer Heftigkeit auf die Op-
position eingeprügelt, die mich prompt an ein Zitat von
Johann Wolfgang von Goethe erinnert hat:
Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an
Wahrheit und an Kräften fehlt.
Das, was Sie heute gebracht haben, war sehr heftig, Herr
Bundeskanzler.
Was die Wahrheit angeht, möchte ich Sie darauf auf-
merksam machen, dass uns während Ihrer Rede eine Mel-
dung der Nachrichtenagentur dpa von 9.51 Uhr erreichte:
Die Zahl der Arbeitslosen ist im November wieder
über die Vier-Millionen-Marke gestiegen. Nach
Angaben der Bundesanstalt für Arbeit waren
4 025 800Menschen ohne Arbeit, 96 100mehr als im
Oktober und 236 900 mehr als vor einem Jahr.
Von einem Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland erwarte ich, dass er hier eine Konzeption
vorträgt und uns mitteilt, wie das Ziel der Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit durch Strukturreformen vorange-
bracht werden kann. Dazu sagen Sie aber nichts, Herr
Bundeskanzler.
Sie reden sich mit der Weltwirtschaft heraus.
Diese Regierung hat keinen Faden; sie hat noch nicht
einmal einen roten Faden. Das Problem ist, dass Sie keine
Struktur und keine Konzeption haben. Sie erzählen uns et-
was über Ihre Sicht zu Drogerien und Apotheken. Das ist
zwar außerordentlich wichtig, aber das kann doch nicht
allen Ernstes Ihre Antwort darauf sein, wie die demokra-
tiegefährdende Massenarbeitslosigkeit wieder reduziert
werden kann. Sie reden an den Menschen vorbei. Ihr Pro-
blem ist, Herr Bundeskanzler, dass Sie jetzt von Ihren Zi-
taten eingeholt werden. Sie haben zur Erheiterung des
Hauses fünf Jahre alte Zitate von Herrn Glos vorgetragen.
Bei Ihnen reicht es, fünf Wochen alte Zitate vorzutragen,
um Sie in der Wirtschaftspolitik als Umfaller zu entlarven.
Was haben Sie nicht alles versprochen! Sie wollten – mit
dieser Aussage sind Sie in den Wahlkampf gegangen – die
Steuern und die Schulden nicht erhöhen und die Abga-
benbelastung auf einem stabilen Niveau halten. Nichts da-
von ist erfüllt worden. Es ist ja bemerkenswert, mit wel-
cher Wortakrobatik Sie uns mittlerweile die Erhöhung der
Abgaben schmackhaft machen wollen, ausgerechnet Sie,
der noch im Sommer dieses Jahres gesagt hat, dass eine
solche Politik in der jetzigen konjunkturellen Situation
ökonomisch unsinnig sei und deshalb nicht in Betracht
gezogen werde. Nein, Sie können sich mit dem Hinweis
auf die Lage der Weltwirtschaft nicht beliebig herausre-
den. Das Problem in Deutschland ist nicht irgendeine kon-
junkturelle Krise. Sie hoffen und vertrauen darauf – das ist
in Wahrheit das Problem der Regierung –, dass die Welt-
konjunktur anspringt, indem die Vereinigten Staaten von
Amerika strukturelle Maßnahmen beschließen und durch-
führen, die Sie in Deutschland ausdrücklich verweigern.
Das ist Ihr großes Problem, Herr Bundeskanzler.
Sie hoffen darauf, dass die Weltwirtschaft durch Wachs-
tum in den USA in die Gänge kommt. Aber Sie sind nicht
bereit, Ihren Beitrag zu leisten und auf die strukturellen
Prozesse in Deutschland entsprechend zu reagieren.
Wir haben in Deutschland nicht irgendeine Konjunk-
turkrise, sondern eine Krise der Strukturen. Wenn diese
Wahrheit nicht von Ihnen und von der Regierung ange-
nommen wird, dann wird es in diesem Winter 4,5 Millio-
nen Arbeitslose geben. Arbeitslosigkeit ist ein schlimmes
Schicksal für die Betroffenen und deren Familien. Dazu
sagen Sie aber nichts. Sie sprechen stattdessen stunden-
lang über Herrn Glos und seine Zwischenrufe. Sie gehen
auf das Problem der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
nicht ein.
Sie sind angeschlagen und ausgebrannt. So war auch Ihre
Rede. Sie haben keine Ziele formuliert. Das ist das Pro-
blem Deutschlands.
Wenn an der schlechten Situation in Deutschland allein
die Weltwirtschaft bzw. die Weltkonjunktur schuld wäre,
dann wäre es schlechterdings nicht erklärbar, warum
Deutschland unter Ihrer Regierung – das war früher nicht
der Fall – bei nahezu allen ökonomischen Daten zum
Schlusslicht in Europa geworden ist. Das wird auch in
diesem Jahr wieder so sein: Nach den Prognosen wird das
Wirtschaftswachstum in Deutschland bei 0,4 Prozent, in
Frankreich bei 1,1 Prozent, in Großbritannien bei 1,4 Pro-
zent, in Griechenland bei 2,5 Prozent und in Irland bei
3,5 Prozent liegen. Das heißt, Deutschland ist das Schluss-
licht beim Wachstum in Europa. Wenn an der schlechten
Situation in Deutschland nur die Weltwirtschaft bzw. die
Weltkonjunktur oder die „böse“ Globalisierung schuld
wäre, dann müssten doch die anderen europäischen Län-
der zumindest in vergleichbaren Schwierigkeiten stecken.
Dr. Guido Westerwelle
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Dr. Guido Westerwelle
Aber in Wahrheit machen diese, ausdrücklich auch die so-
zialdemokratisch regierten, eine andere Politik. Ich möch-
te aus der Rede zitieren, die der britische Schatzkanzler
am 5. November 2002 – das ist also nur wenige Wochen
her – gehalten hat:
Heute erläutere ich die radikalen Maßnahmen für
mehr Wettbewerb, für weniger Bürokratie und für die
Senkung der Unternehmensteuern zur Förderung
von Entrepreneurship, um die Unternehmenskultur
in der britischen Wirtschaft zu erweitern und zu ver-
tiefen.
Sozialdemokratische Führer in Europa gehen also den
Weg der ordnungspolitischen und marktwirtschaftlichen
Erneuerung. Sie gehen dagegen den Weg der bürokrati-
schen Staatswirtschaft. Das ist das Grundproblem unserer
Republik.
Mit was kommen Sie jetzt an? Sie kommen mit einer
Steuererhöhung nach der anderen an.
Es ist ja bemerkenswert, für welche Sprachverwirrung Sie
in der laufenden Debatte sorgen. Das, was Sie vorgelegt
haben, nennt sich Sparpaket. Seit wann handelt es sich
um ein Sparpaket, wenn die Steuern, die Abgaben und die
Schulden erhöht werden? Die Einzigen, die nach Ihren
Vorstellungen sparen müssen, sind die Bürger.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben wörtlich gesagt – das
ist eigentlich eine freudsche Fehlleistung, die Ihre wahre
Geisteshaltung ausdrückt –:
Weniger für den privaten Konsum – und dem Staat
Geld geben, damit Bund, Länder und Gemeinden
ihre Aufgaben erfüllen können.
Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Ihrer und
unserer Politik: Sie wollen Volkseigentum, wir wollen ein
Volk von Eigentümern.
Sie führen den Klassenkampf fort. Sie können nicht
einmal mehr kaschieren, wie sehr Sie sich den Reformen
entziehen, wie strukturunfähig die Koalition aus Sozial-
demokraten und Grünen ist. Das kann man den jüngsten
Äußerungen von Herrn Stiegler, die uns gestern wieder
beglückt haben, entnehmen. Ich bin mir gar nicht sicher,
ob ich so etwas zitieren darf.
Darf ich das zitieren, Herr Präsident?