Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Zöpel hat uns eben mit kräftigen Worten aufge-
fordert, zu akzeptieren, dass im Wahlkampf alle wichtigen
Fragen zur Sprache kommen müssen. Ich kann dazu
nur sagen: Darüber gibt es im Parlament eine breite Übe-
reinkunft. Die Differenz besteht darin, dass wir der Auf-
fassung sind, dass im Wahlkampf alle wichtigen Fragen
wahrheitsgemäß
und sachgemäß beantwortet werden sollten. Dagegen hat
Rot-Grün in schändlicher Weise verstoßen.
Lieber Herr Fischer, wir erleben jetzt, dass die Regie-
rung kleinlaut versucht, den Preis für den Anti-USA-
Wahlkampf zu zahlen, in den sie sich selber hineinbug-
siert hat. Das ist sehr kritisch zu sehen. Deswegen muss
heute über einige Fragen vom Grundsatz her diskutiert
werden. Denn unsere Politik muss sich am Interesse und
am Wohle Deutschlands ausrichten und nicht an den Feh-
lern, die Rot-Grün im Wahlkampf gemacht hat.
Was mich betroffen macht – das will ich vorab sagen –,
ist, dass uns die Regierung heute, vor einem der vielleicht
wichtigsten Gipfel der letzten Jahrzehnte, in zentralen
Fragen der europäischen und internationalen Politik eine
Auskunft schuldig bleibt.
Natürlich finden wir es gut, dass Sie endlich wieder zur
deutsch-französischen Zusammenarbeit finden. Aber der
Verweis auf ein Gespräch mit dem französischen Staats-
präsidenten ist doch keine Rechtfertigung dafür, dem
Souverän, dem Deutschen Bundestag, vor einem der
wichtigsten europäischen Gipfel dieses Jahrzehnts, mög-
licherweise dieses Jahrhunderts, in zentralen Fragen die
Auskunft zu verweigern.
Nun möchte ich zu einem zentralen Thema kommen,
zur Debatte über die Türkei. Eine der wesentlichen Fra-
gen der europäischen Politik lautet: Wie können wir den
Wunsch der Türkei, zu Europa zu gehören, konstruktiv
aufgreifen, ohne dabei heute Vorfestlegungen zu tref-
fen, die morgen vielleicht mit unserem Selbstverständ-
nis in der Europäischen Union kollidieren? Es wäre
schön, wenn man über diese Frage sachlich sprechen
könnte.
Ich finde es schon merkwürdig, dass heute Redner der-
jenigen Parteien stolz auf die Zollunion als einen der
wichtigen Schritte im Verhältnis Europas zur Türkei ver-
weisen, die seinerzeit diejenigen politischen Gruppierun-
gen darstellten, die im Europäischen Parlament just gegen
diese Zollunion gestimmt haben. Das lassen wir Ihnen
nicht durchgehen.
Wir haben immer gesagt: Wir müssen darauf achten,
dass es eine gute Partnerschaft und ein privilegiertes Ver-
hältnis zwischen der Türkei und der EU gibt. Hier war die
Zollunion in der Tat ein wichtiger Schritt. Das hat Michael
Glos in der Erklärung deutlich gemacht, die heute wieder
– wie das oft auch in anderen Zusammenhängen ge-
schieht – verkürzt zitiert worden ist.
Damals waren es die Sozialdemokraten und die Grünen,
die sich dieser Zollunion unter dem Aspekt der Men-
schenrechte – dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt – ver-
weigert haben.
Wenn wir uns heute mit Blick auf die Stellung des Mili-
tärs im Verfassungsgefüge der Türkei, mit Blick auf die
Rechte bzw. das Nichtvorhandensein von Rechten der
Frauen, die Pressefreiheit und die kurdischen Bevöl-
kerungsgruppen in der Türkei sowie mit Blick auf den
Umgang mit christlichen Kirchen in der Türkei unmög-
lich festlegen können und deswegen einen Automatismus,
der zu einer Vollmitgliedschaft führt, ablehnen, dann
sollte das Ihre Unterstützung finden und nicht Ihren Wi-
derstand herausfordern.
Wenn man derart mit Zitaten umgeht, ist auch zu fra-
gen: Wie ist die jeweilige Situation? Herr Fischer, es gibt
im Vergleich zu damals zwei wesentliche Unterschiede.
Erstens gab es den Verfassungskonvent, der jetzt erstma-
lig die Chance eröffnet, dass aus der Europäischen Union
tatsächlich eine politische Gemeinschaft, eine echte Wer-
tegemeinschaft entsteht, noch nicht. Zweitens gab es in
der Türkei keine islamistische Regierung. Wir können
nur hoffen, dass die türkische Regierung den radikalen
Worten ihrer politischen Führer in der Vergangenheit
nicht entsprechende Taten folgen lässt, sondern dass sie
tatsächlich den Weg zu Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit findet. Das wollen wir mit all unseren Kräften un-
terstützen. Keiner hier im Hause kann heute allerdings sa-
gen, ob das tatsächlich gelingt. Es wäre doch fatal, wenn
wir einen Automatismus in Gang setzten, der die Europä-
ische Union später in ihrem Kern träfe und das, was wir
mit unserer Verfassung vornehmen, konterkarierte.
Deswegen haben wir einen Antrag eingebracht – er
wurde leider von der unverständigen Mehrheit des Hauses
abgelehnt –, mit dem wir fordern, bei den Gesprächen mit
der Türkei den Gedanken mit zu erwägen, ob nicht eine
Form der privilegierten Partnerschaft eine Alternative sein
könnte, die weder die Türkei noch die Europäische Union
überfordert. Wer das von vornherein ausschließt, schadet
den Interessen des europäischen Integrationsprozesses,
dem wir uns alle verpflichtet fühlen. Diese Unterschei-
dung halte ich für bedeutsam.
Ich möchte noch einmal die Bundesregierung auffor-
dern, zu diesem Weg zurückzukehren. Wochen- und mo-
natelang hat der Außenminister intern und öffentlich er-
klärt, es gebe keinen Kuhhandel mit der Türkei, der
besagt, dass sie ihr Veto bei der ESVP, also bei der Nut-
zung der NATO-Fazilitäten für die europäische Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik, zurücknimmt und es
938
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 939
dafür ein Zugeständnis in Form der Absenkung der Krite-
rien bei der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gibt.
Das war immer ihre Position. Seit kurzem klingt es zu-
mindest aus dem Munde des Bundeskanzlers ganz anders:
Wenn sich bei der ESVP und der Zypern-Frage etwas tut,
ist das mit den Kriterien nicht mehr so wichtig.
Meine Damen und Herren, die Demokratiekriterien,
aber auch die Wirtschaftskriterien sind deshalb so wich-
tig, weil die Europäische Union eine Schicksalsgemein-
schaft ist, die nur dann eine gute Zukunft hat, wenn sie auf
gemeinsamen Werten beruht und feste Regeln gelten.
Wenn diese verletzt werden, verletzen wir uns damit ein
Stück weit selbst.
Weil alle konkreten Fragen von der Regierung syste-
matisch ausgelassen wurden, will ich zum Gipfel von
Kopenhagen noch einen Punkt, ein „ceterum censeo“,
ansprechen, den wir hier im Plenum schon des öfteren
erörtert haben. Ich finde es sehr bedenklich, dass über die
große historische Wirkung der Erweiterung der Europä-
ischen Union um die jungen Reformdemokratien in Mit-
tel- und Osteuropa gar nicht mehr gesprochen wird.
Wie muss sich eigentlich ein polnischer, ein ungari-
scher, ein slowakischer oder ein slowenischer Kollege
fühlen, wenn er den Eindruck gewinnt, dass sich unsere
Regierung, der Partner, auf den sie Hoffnungen setzen,
nicht mehr für sie interessiert? Wir aber interessieren uns
noch für sie. Deswegen möchte ich Sie, Herr Bundes-
außenminister, von dieser Stelle aus noch einmal auffor-
dern, die Ungerechtigkeit des Vertrages von Nizza, näm-
lich den Ungarn und Tschechen weniger EP-Sitze
einzuräumen, als ihnen nach ihrer Bevölkerungszahl zu-
steht, in den Beitrittsverträgen zu korrigieren. Das ist eine
Frage der Fairness und der Partnerschaft mit den Staaten,
die Demokratie und Freiheit erstritten haben und sich auf
unser Wort verlassen müssen.
Wir müssen ferner in Kopenhagen sicherstellen, dass
die Staaten, die zu uns stoßen und wirtschaftliche Hilfe
für ihren Entwicklungsprozess brauchen, durch die Fi-
nanzregeln, die wir in der Europäischen Union haben,
nicht von Anfang an in die Nettozahlerposition geraten.
Wir erwarten, dass die Staats- und Regierungschefs in fai-
rer Weise einen Ausgleichsmechanismus vereinbaren, da-
mit dieser Start auch wirklich klappt und die Sache gut
wird.
Wir lassen uns auf eine jahrzehntelange Partnerschaft,
auf eine Schicksalsgemeinschaft ein. Dazu gehört, dass
wir fair miteinander umgehen und gemeinsam die Chan-
cen nutzen, aus der Erweiterung der Europäischen Union
ein wirklich großes, historisches und gutes Projekt zu ma-
chen. Das ist die Aufgabe, der wir uns politisch stellen
müssen.
Es hätte mich sehr gefreut, wenn ich dazu heute etwas
von der Regierung gehört hätte. Es ist nicht die Aufgabe
der Regierung, die Opposition zu beschimpfen, sondern
eine ordentliche Politik zu betreiben und sich für die ei-
genen Fehler zu rechtfertigen. Dahin sollten Sie langsam
zurückkehren, verehrte Mitglieder der Regierung, ob Sie
nun auf den Abgeordnetenbänken oder vorne sitzen.
Ich will diese Debatte aber auch nutzen, um ein Wort
zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Auswärtigen
Amt zu sagen. Wir haben Jahre höchster politischer Bri-
sanz erlebt. Die Europapolitik, die Außenpolitik und die
internationale Politik haben höchste Anforderungen ge-
stellt. Ich kann auf jeden Fall sagen – ich glaube, das gilt
auch für viele Kollegen –, dass wir sowohl in der Ständi-
gen Vertretung in Brüssel, in Berlin, aber auch in den an-
deren Botschaften erlebt haben, dass die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes über die Maßen
hinaus eine sehr gute Arbeit leisten. Ich möchte ihnen im
Namen der Kollegen, die in der internationalen Politik ar-
beiten, dafür an dieser Stelle, beim Einzelplan 05, einmal
ausdrücklich danken.
Herzlichen Dank.