Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschenrechte zur Leitlinie deutscher Politik zu ma-
chen ist ein riesengroßer Anspruch und auch eine riesen-
große Herausforderung. Das macht sich nicht an schönen
Festreden oder an aufgeregt geführten Fernsehdebatten
und auch nicht an Debatten fest, die ein Stück weit
Stammtisch- oder Karnevalsniveau haben; vielmehr zeigt
sich die Ernsthaftigkeit dieses Anspruchs im Alltag dieses
Parlaments, in der ganz konkreten Alltagsarbeit.
Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass wir mitten in
der gedrängten Haushaltswoche Gelegenheit bekommen,
und zwar zum ersten Mal überhaupt – ich bin zum fünf-
ten Mal in diesem Parlament,
ich bin gern zum fünften Mal in diesem Parlament –, die
Tradition der Debatte zum Tag der Menschenrechte fort-
zuführen und dass wir das endlich einmal nicht zur Geis-
terstunde nachts um zwölf tun müssen, sondern es jetzt
mitten in der Debatte über Außenpolitik tun können, wo-
hin die Menschenrechte gehören.
Ich bin auch sehr froh darüber, dass wir außerhalb des
üblichen Prozedere einen umfangreichen Menschenrechts-
antrag, der die gesamte Bandbreite der innen- und außen-
politischen Rahmensetzungen behandelt, in erster Lesung
Peter Hintze
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Christa Nickels
mitberaten. Ich hoffe, dass er nach gründlicher Beratung
in den Fachausschüssen für uns alle ein Stück weit ver-
bindliches Arbeitsprogramm für die Menschenrechte in
dieser Legislaturperiode sein kann.
Es ist schon viel von der Notwendigkeit des Anti-
terrorkampfes die Rede gewesen. Ich stimme den Rednern
ausdrücklich zu, die quer durch alle Fraktionen darauf hin-
gewiesen haben, dass der Kampf gegen den Terrorismus
sehr ungewöhnliche, neue und auch sehr zukunftsträchtige
Allianzen ermöglicht hat. Aber ich muss auch ein Stück
weit beklagen, dass im Rahmen der Allianz gegen den Ter-
rorismus der berechtigte Kampf gegen den Terrorismus
auch dazu missbraucht oder instrumentalisiert worden ist,
den Menschenrechten weltweit großen Schaden zuzufü-
gen. Auch wenn die Bundesregierung peinlich genau da-
rauf achtet, den Schutz der Menschenrechte im Antiterror-
kampf zu wahren, gibt es doch ganz aktuelle Nagelproben,
die wir zu bestehen haben. Ich will drei nennen.
Zum einen ist es die Menschenrechtssituation in
Tschetschenien, die sich seit dem 11. September immer
mehr verschärft hat.
Seit dem schrecklichen Anschlag im Musical-Theater in
Moskau kommt es nicht nur zu dem berechtigten Kampf
gegen die Terroristen, sondern auch zu einem unter-
schiedslosen Kampf gegen die Zivilbevölkerung in
Tschetschenien.
Die Binnenflüchtlinge und die Flüchtlinge in der Russi-
schen Föderation haben mittlerweile den Status von fast
Vogelfreien. Das ist nicht zu ertragen. Es ist schrecklich.
Darum bin ich froh, dass der Innenminister seine Länder-
kollegen vor Wochen aufgefordert hat, den tschetscheni-
schen Flüchtlingen jetzt den notwendigen Schutz zu
gewähren. Allerdings muss es in einem nächsten Schritt auf
der morgen beginnenden Innenministerkonferenz, bei der
Innenminister aller Länderkoalitionen, Herr Gerhardt, da-
bei sind, dazu kommen, den längst überfälligen Abschie-
bestopp für die Tschetschenen zu beschließen. Auch die
EU darf ihre Außengrenzen gerade jetzt nicht für Flücht-
linge aus der ehemaligen Sowjetunion dicht machen. Wir
brauchen ganz im Gegenteil eine konzertierte Aktion der
europäischen Regierungschefs, um Präsident Putin im
Tschetschenienkonflikt endlich zu einer politischen Lö-
sung zu drängen.
Der Kampf gegen den Terrorismus wird in vielen Staa-
ten der Erde dazu benutzt und missbraucht, unliebsame
Minderheiten zu bekämpfen
und Kritiker mundtot zu machen. Die Einforderung von
Minderheits- und Beteiligungsrechten, kritische Presse-
arbeit oder das Engagement von Demokratie- und Men-
schenrechtsbewegungen werden allzu oft als Förderung
des Terrorismus denunziert.
Gerade gestern habe ich mit der Vorsitzenden einer al-
gerischen Menschenrechtsorganisation gesprochen, die
sich um die Verschwundenenproblematik kümmert. Sie
gehört zu einer Gruppe von Müttern, die die Belange von
7000 Betroffenen vertritt und jeden Mittwoch für ihre ver-
schwundenen Angehörigen demonstriert. Erst vor wenigen
Wochen, am 4. November, musste sich diese Frau zusam-
men mit den anderen Müttern wegen angeblicher terroristi-
scher Gesinnung zusammenschlagen lassen. Das ist ein
sehr schlimmes Beispiel dafür, wie der berechtigte Kampf
gegen den internationalen Terrorismus benutzt wird, die
Opfer zu Tätern zu denunzieren und mundtot zu machen.
Ich warne dringend davor und stimme Irene Khan, der Ge-
neralsekretärin von Amnesty International, zu, die for-
derte, es dürfe keine Instrumentalisierung der Menschen-
rechte zu fragwürdigen Zwecken und keine selektive
Umgehensweise mit Menschenrechten geben. Frau Khan
verlangt zu Recht, es dürfe keine kalkulierte Manipulation
der Arbeit von Menschenrechtsaktivisten geben.
Zum Schluss, da ich nur noch sehr wenig Redezeit
habe, möchte ich auf das hinweisen, was wir auch bei
Petersberg II angesprochen haben: Der Kampf gegen
den Terrorismus hat gerade in Afghanistan für viele
Frauen, die jahrzehntelang in unwürdigsten Zuständen le-
ben mussten, neue Chancen eröffnet. Aber wenn man
weiß, dass die Lage dieser Frauen jahrzehntelang kaum
jemanden außerhalb der so genannten Gutmenschfrak-
tion, der Menschenrechtsaktivisten, interessiert hat, und
wenn man jetzt wieder hört, dass Mitglieder der afghani-
schen Verfassungskommission unwidersprochen die Ein-
führung der islamischen Scharia in das neue Rechtssys-
tem fordern dürfen, ist einem klar, dass die internationale
Staatengemeinschaft aufgefordert ist, die Vergabe der
Mittel für den Wiederaufbau in Afghanistan jetzt an die
Garantie der grundlegenden Freiheits- und Menschen-
rechte zu knüpfen, damit nicht Chancen vertan werden
und damit die berechtigte Hoffnung der afghanischen Be-
völkerung, vor allen Dingen der Frauen dort, nicht erneut
enttäuscht wird.
Danke schön.