Ich erteile das Wort der Kollegin Katrin
Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Westerwelle, Sie haben dem Bundeskanzler gerade
vorgeworfen, er sei zu heftig gewesen. Ich muss sagen:
Ihnen hat es wieder einmal nicht an Heftigkeit gefehlt; in
Ihrer Rede hat es nur an Substanz gefehlt. Aber das sind
wir schon gewohnt, Stichwort „18 Prozent“.
Sie haben sich hier hingestellt und gesagt, die Massen-
arbeitslosigkeit in Deutschland – sie ist in der Tat ein
großes Problem, das wir mit allen Mitteln angehen – sei
demokratiegefährdend. Ich will Ihnen sagen, was ich für
demokratiegefährdend halte: Ich halte es für demokratie-
gefährdend, dass Sie, Herr Westerwelle, dabei zusehen,
wie in Ihrer eigenen Partei mit antisemitischen Ressenti-
ments Wahlkampf gemacht wird.
Es ist in der Tat sehr bemerkenswert – der Bundes-
kanzler hat zu Recht darauf hingewiesen –, was wir hier
in den letzten Wochen von der Opposition und von Teilen
der politischen Rechten im Land erleben, alles getarnt
als politische demokratische Auseinandersetzung. Das,
meine Damen und Herren, ist wirklich beispiellos in der
Geschichte. Was Sie veranstalten, Frau Merkel, ist heuch-
lerisch, es ist eine unredliche Kampagne ohnegleichen,
nur nach hinten, ohne Inhalt.
Wir – damit meine ich Rot und Grün – werden diese Art
von Kampagne und diese Art von Schauspiel nicht hin-
nehmen. Das erleben Sie heute hier in diesem Hause.
Liebe Frau Merkel, ich frage Sie allen Ernstes: Woher
nehmen Sie eigentlich die Unverfrorenheit zu dieser maß-
losen Inszenierung? Sie haben heute schon wieder Michel
Glos auf die Bühne geschickt, um genau das weiterzutrei-
ben, was Sie seit Wochen hier veranstalten.
Ausgerechnet Sie, die im Bundestagswahlkampf wie
eine Drückerkolonne von Haus zu Haus gelaufen sind, mit
unverfrorenen Versprechungen, bei denen Sie das Blau-
Weiße vom Himmel versprochen haben,
stellen sich heute hier hin und wollen über Wahrheit re-
den.
Sie haben ein Sofortprogramm für 20 Milliarden Euro
auf den Tisch gelegt und die ganzen Verheißungen kosten
über 70 Milliarden Euro. Glauben Sie denn allen Ernstes,
dass die Menschen in Deutschland das schon vergessen
haben?
Da fragt man sich schon, was Sie geritten hat, sich von
Herrn Koch den Untersuchungsausschuss aufschwatzen
zu lassen. Vielleicht hatten Sie heute Morgen schon Gele-
genheit zur Zeitungslektüre. Die Attribute übertreffen
sich von Blatt zu Blatt. „Irrwitzig“ ist noch eines der
harmloseren. Herr Westerwelle, auch Sie haben sich ge-
rade dafür ausgesprochen. Herr Döring, Ihr Parteikollege,
hat das als größten politischen Schwachsinn bezeichnet.
Ich kann dem Mann nur zustimmen.
Frau Merkel, Sie lassen sich ausgerechnet von einem
Herrn Koch instrumentalisieren, in dessen Verantwor-
tungsbereich CDU-Schwarzgelder in jüdische Vermächt-
nisse umgelogen werden. Haben Sie denn keine Möglich-
keit mehr, die Realität in diesem Lande wahrzunehmen?
Ausgerechnet der „brutalstmögliche Aufklärer“, der seiner-
zeit erklärt hat, dass sein einziger Fehler gewesen sei, die
Öffentlichkeit falsch informiert zu haben! Frau Merkel,
kehren Sie zurück zur politischen Kultur und zum gesun-
den Menschenverstand in diesem Lande!
Jetzt kommt er also, der Untersuchungsausschuss, der
„große konzeptionelle Renner der Opposition“, so hat es
die „Neue Zürcher Zeitung“ genannt. Mehr ist es nicht.
Herr Glos, ich habe auch schon eine Idee, womit sich der
Untersuchungsausschuss beschäftigen kann. Sie haben
vorhin in der Debatte schon deutlich gemacht, was Sie ei-
gentlich wollen. Sie haben hier nämlich in Richtung Re-
gierungsbank gesagt, einer Mehrwertsteuererhöhung
würden Sie zustimmen. Das haben wir alle gehört
und werden es im Protokoll nachlesen können. Das ist
doch eine gute Aufgabe für den Untersuchungsausschuss,
was Michel Glos hier zum Thema Mehrwertsteuer-
erhöhung sagt. Vielen Dank! Dabei werden Sie Herrn
Westerwelle wahrscheinlich an Ihrer Seite haben.
Ich wüsste gerne, wo Ihre Vorschläge zur Reform der
Rentensysteme in Deutschland, zur Reform des Gesund-
heitssystems, Ihre Alternativen zur Haushaltssanierung
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
bleiben. Vielleicht haben Sie, Frau Merkel, heute noch
Gelegenheit, deutlich zu sagen, worum es Ihnen eigent-
lich geht.
Wir haben Sozialsysteme, die in der Tat auf den Prüf-
stand gehören. Die Sozialsysteme müssen der Altersent-
wicklung der Gesellschaft gerecht werden. Das müssen
wir nicht nur in Bezug auf heute und auf das Rentenni-
veau, das wir heute erreichen können, überlegen, sondern
auch mit Blick darauf, wie es in 20, 25 oder 30 Jahren aus-
sieht. Genau darauf kommt es an. Deswegen brauchen wir
weitere Reformen.
Bisher hören wir von Ihnen nichts weiter als Klamauk
und Tamtam. Ich bin wirklich erschüttert: Was ist nur aus
der bürgerlichen Volkspartei CDU geworden?
Sie können noch nicht einmal ordentlich Opposition be-
treiben; man stelle sich vor, Sie hätten regieren müssen.
Gute Nacht, Deutschland, kann ich da nur sagen.
Wenn wir heute über den Haushalt debattieren, meine
Damen und Herren, dann tun wir das vor dem Hintergrund
einer wirklich schwierigen wirtschaftlichen Situation.
Nicht nur im Bundeshaushalt muss gespart werden. Auch
in den Ländern muss gespart werden, ebenso in vielen Un-
ternehmen im Land, von den großen Verlagen bis zu den
kleinen mittelständischen Unternehmungen. Diese Lage ist
nicht schönzureden – das tut hier auch niemand –, sondern
damit muss man umgehen, und zwar mit zwei Dingen: mit
vernünftigem Sparen und mit intelligenten Reformen, die
wir auf den Weg bringen.
Aber es macht keinen Sinn, Herr Glos und Herr Merz, die
Situation schlechter zu reden, als sie ist. Sie scheinen ja
Ihre Berufung genau darin gefunden zu haben. Herr Merz
sprach gestern hier von der Psychologie des Schlechtre-
dens. Wer ist es denn hier im Hause, der tut, als sei
Deutschland bereits ein Entwicklungsland? – Das sind
Sie.
Wer ist es denn, der behauptet, Deutschland stünde am
Abgrund? – Das sind wiederum Sie. Und wer ist es, ver-
dammt noch mal, der versucht, das Ansehen dieses Lan-
des international zu beschädigen?
Es gelingt Ihnen nicht, aber Sie versuchen es. Das sind
wiederum Sie.
Tatsache ist doch: Es geht uns in diesem Land nicht
mehr so gut wie vor Jahren
– im Osten wusste man das übrigens schon etwas länger –,
aber viele klagen auf relativ hohem Niveau. Und was fiel
Ihnen, Herr Merz, gestern in Ihrer Rede ein? – Nicht die
Arbeitslosenhilfeempfänger, nein, Ihnen fallen die
Dienstwagen- und Hausbesitzer ein. Das ist der Unter-
schied zwischen uns.
Wir sagen: „Alle müssen anpacken“ und Sie machen
kleinkarierte Klientelpolitik. Das werden die Menschen in
diesem Land wissen.
Wir können uns ja einmal vorstellen, wie es wäre,
wenn Stoiber nun unser Kanzler wäre. Dann hätten wir
nämlich statt des Steuersongs den Stoibersong und Frau
Merkel spielte wahrscheinlich die Schalmei dazu.
Dann hätten wir jetzt den „Jetzt habt ihr mich gewählt“-
Song für Stoiber. Ich sage Ihnen: Dann hätten wir wirk-
lich den Salat.
Erstens. Die Kassen wären leer, in Bayern, in Hessen
und im Bund. Die Maastricht-Kriterien würden nicht ein-
gehalten, weil die Steuereinnahmen mehr als gedacht
zurückgegangen sind, in Bayern, in Hessen und im Bund.
Hätte die Union auch noch ihr Sofortprogramm umgesetzt,
dann lägen wir bei den Maastricht-Kriterien nicht bei über
3 Prozent, sondern bei fast 5 Prozent. Das ist die Realität.
Zweitens. Der hessische Ministerpräsident müsste
einen Lügenausschuss einrichten, weil die Wahlverspre-
chen der Union in keinem einzigen Punkt realisiert wor-
den wären. Familiengeld? – Fehlanzeige. Kinderbetreu-
ung? – Wollten Sie gar nicht machen; machen wir dafür.
Reform am Arbeitsmarkt? – Gequatsche; wieder Fehlan-
zeige. Mittelstand? – Steuern runter bestimmt nicht, da
kein Geld vorhanden. Ihre 40-40-40-Nummer schließlich
würde 170 Milliarden Euro kosten. Das wäre das Ende
jeglicher Ausgaben des Bundes in der Sozial- und Ar-
beitsmarktpolitik. Damit würde sich der Lügenausschuss
dann beschäftigen, meine Damen und Herren.
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Ich verstehe schon, dass Edmund Stoiber sich ein biss-
chen ärgert; denn wäre er Kanzler geworden, egal wie,
hätte er jetzt wenigstens ein Lied für sich. Nun hat nur
noch die leichte Sonnenbräune und einen Beraterkreis um
sich herum, der ihm das Gefühl gibt, er hätte doch noch
irgendwie gewonnen.
Das ist wie in dem Märchen vom Kaiser mit den neuen
Kleidern. Irgendjemand muss es ihm einmal sagen.
Frau Merkel, vielleicht können Sie es einmal tun. Sagen
Sie ihm: erstens, der Kaiser ist nackt, und zweitens,
Stoiber ist nicht Bundeskanzler. Das ist die Lage im Land.
Wenn ich mir die Lage in Hessen ansehe – 2 Milliar-
den Neuverschuldung statt 800 Millionen –, muss ich sa-
gen: Das ist eine reife Leistung. Man braucht Ausschüsse
im Bund, um davon abzulenken: Wann hat Koch eigent-
lich was genau gewusst?
Der Typ kommt mir vor wie ein volltrunkener Piratenka-
pitän, der auf einem halb abgesoffenen Kahn steht und
blind vor Gier noch ein viel größeres Schiff rammen will.
Ich sage Ihnen: Dieses große Schiff, der rot-grüne Kahn,
ist verdammt in Ordnung und weiß vor allen Dingen, wo-
hin es fahren will.
Im Gegensatz zu Ihrem Steuersenkungsfundamentalis-
mus haben wir ein ausgewogenes Paket vorgelegt. Herr
Westerwelle, es stimmt eben nicht, dass nicht beim Staat
gespart wird, sondern nur bei den Bürgerinnen und Bür-
gern. Zwei Drittel der Sparmaßnahmen liegen beim
Staat und ein Drittel liegt bei den Bürgerinnen und Bür-
gern. Das die Wahrheit; mit der sollten Sie sich einfach
einmal auseinander setzen.
Ja, wir erhöhen die Staatsverschuldung maßvoll. Ja, wir
beseitigen Steuervergünstigungen. Wir haben auch Maß-
nahmen zur Sicherung der Sozialsysteme ergriffen. Man
muss nicht mit jeder Maßnahme einverstanden sein. Es ist
richtig, dass man in der Koalition darüber diskutiert. Wer
aber etwas anderes will, der muss auch einmal ehrlich sa-
gen, was er will. Meine Damen und Herren von der Union,
allein die Aussetzung der Ökosteuer würde die Renten-
beiträge flott auf über 20 Prozent ansteigen lassen. Wenn
es das ist, was Sie wollen, dann sagen Sie das hier bitte.
Machen Sie Ihre Steuersenkungsversprechungen auf
Kosten höherer Schulden? Sagen Sie uns bitte, wie Sie
das umsetzen wollen.
Sagen Sie uns endlich einmal, welche Reformen Sie auf
den Weg bringen wollen und welche Sie wenigstens ein-
mal durchgerechnet haben.
Es stimmt, dass wir es in Deutschland mit einer sehr
speziellen Psychologie zu tun haben, wenn es um große
und wichtige Reformen geht: Den einen ist schon die
kleinste Reparatur am Haus Deutschland zu viel, die an-
deren wollen das Haus am liebsten gleich ganz abreißen
und neu aufbauen. Was beide Akteure nicht merken, ist,
dass sie beide Teil jener Reformblockade sind, die sich ge-
rade anbahnt. In aller Freundschaft zu den Gewerkschaf-
ten und mit aller Freundlichkeit zu den Verbänden sage
ich: Reform heißt immer auch, bei sich selbst anzufangen,
auch und gerade wenn es um Einschränkungen geht.
Ich sage das aber auch in Ihre Richtung, Frau Merkel.
Der Maximalismus der Union – Sie stellen Forderungen
und setzen immer noch eins drauf – ist in Wahrheit die
größte Reformblockade, mit der wir in Deutschland zu
kämpfen haben. Meine Damen und Herren von der Op-
position, Frau Merkel, auch die Opposition trägt eine Ver-
antwortung für das Land und ist nicht nur dafür da, mög-
lichst viel Krawall zu schlagen. Sie reden Deutschland
schlecht und ziehen Deutschland herunter.
In Deutschland gab es noch nie eine Opposition, die die
demokratischen Institutionen der Republik derart schlecht-
geredet hat und so mit Dreck beworfen hat, wie Sie das
machen:
Erst war es der Bundespräsident, dann der Bundestagsprä-
sident, dann gab es zwischendurch Klamauk im Bundesrat
und jetzt ist es der deutsche Bundeskanzler.
Dabei reden Sie von Patriotismus. Wer sind denn die
wahren vaterlandslosen Gesellen in diesem Land?
Sie sind nicht nur schlechte Verlierer, sondern auch
eine miserable Opposition. Wie würden Sie die Kom-
plettblockade bezeichnen? Was nicht alles blockiert wer-
den soll: Wir haben die Rentenblockade, die Ökosteuer-
blockade, die Arbeitsmarktblockade usw.
Ich kann Sie nur auffordern, mitzumachen und sich an
der Debatte konstruktiv zu beteiligen.
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
Vielleicht kriegt sich ja sogar Herr Koch noch ein.
Die Hartz-Vorschläge sind nach wie vor eine wirklich
große Herausforderung an Politik und Gesellschaft. So
viel Reformgeist hat es auf dem Arbeitsmarkt in Deutsch-
land noch nie gegeben: Personal-Service-Agenturen, Ich-
und Familien-AGs, Minijobs. All diese Maßnahmen brin-
gen Bewegung in den Arbeitsmarkt. Sie wollen dabei
außen vor bleiben? Ich kann Sie im Interesse der Men-
schen, die ohne Arbeit sind, nur bitten: Machen Sie mit!
Es gibt aber noch mehr Bereiche, bei denen es auf ge-
meinsames Handeln und gemeinsame Verantwortung an-
kommt. Wer den Sozialstaat erhalten will, der muss jetzt
handeln. In Deutschland befinden wir uns zum ersten Mal
in einer Situation, in der alles nicht einfach nur immer
mehr wird. Frau Merkel, das war auch der zentrale Fehler
in Ihrem Wahlkampf. Die Leute haben Ihnen nicht ge-
glaubt, dass man immer weiter auf Wachstum setzen
kann. Jetzt kommt es darauf an, die Sozialsysteme zu-
kunftsfest zu machen. Das heißt auch, dass wir den Men-
schen wieder mehr Eigenverantwortung und Entschei-
dungsfreiheit zurückgeben müssen.
Darauf wird es ankommen.
Für den sozialen Schutz der Menschen kann es in Zu-
kunft nicht mehr so wichtig sein, ob jemand abhängig be-
schäftigt oder selbstständig ist. Die modernen Berufsbio-
grafien sind nicht mehr so eindeutig. Einmal ist man in
einem Unternehmen beschäftigt, einmal ist man selbst-
ständig und einmal in Erziehungszeit. Der Sozialstaat hat
nicht allein die Aufgabe, zu versorgen und zu betreuen. Er
muss die Menschen in die Lage versetzen, ihr Leben in die
eigene Hand zu nehmen und sich selbst helfen zu können.
Darum geht es bei der Reform des Sozialstaates.
Gerade weil wir eine Gesellschaft wollen, die denen
zur Seite steht, die in existenzielle Nöte geraten sind, müs-
sen wir das Anspruchsdenken des Versorgungsstaates
überwinden. Deswegen brauchen wir langfristig ange-
legte Reformen der sozialen Systeme und keine, die nur
bis morgen oder übermorgen reichen.
Gerade in schwierigen Situationen wissen wir, dass wir
eine Gesellschaft von sehr verantwortungsbewussten
Bürgerinnen und Bürgern sind. Darauf muss die Politik
bauen.
Um die Freiheit der Entscheidung und um Eigen-
verantwortung geht es auch in der Wirtschaft. Trotz der
Probleme in der Konjunktur kann man auch positive Bei-
spiele nennen: Nordex, Windkrafthersteller, zum Beispiel
verkündet in diesen Tagen einen Gewinnanstieg um
26 Prozent. Dies ist ein Unternehmen von vielen, das in
die Zukunft investiert und Zukunft hat.
Wenn die Grünen auch oft belächelt worden sind,
bleibt dennoch richtig: Öko schafft Arbeitsplätze und
schreibt schwarze Zahlen in dieser Republik. Das sollten
Sie sich einmal anschauen.
Wichtig ist, dass wir bei den wirtschaftlichen Rahmen-
bedingungen nicht reglementieren, sondern reformieren.
Dafür ist die Arbeitsmarktreform ein wirklich gutes Bei-
spiel. Das betrifft solche Dinge wie den Ladenschluss, der
– jenseits des Sonntags natürlich – gelockert werden muss.
Das betrifft die Entbürokratisierung derWirtschaft.
Der Bundeskanzler hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
sie mit großen Schritten vorangehen muss. Der Arbeits-
markt muss durchlässiger werden. Mit den Möglichkeiten
der Wahl zwischen Minijobs und Zeitarbeit, Selbststän-
digkeit und Weiterbildung, die wir schaffen, machen wir
endlich die Mauer zwischen dem überregulierten Markt
der Arbeitsplatzbesitzer, den riskanten Selbstständigen
und den Arbeitslosen durchlässig. Dafür wurde es höchs-
te Zeit.
Die Lohnnebenkosten müssen ohne Wenn und Aber
herunter, damit in Deutschland wieder in Arbeit investiert
wird.
Entscheidungsfreiheit ist aber auch ein Thema in der
Familienpolitik. Das war allen hier im Hause vor den
Wahlen relativ wichtig; ich erinnere mich gut. Was wir
machen, ist, Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder
und Ganztagsschulen auf den Weg zu bringen und damit
gerade für Frauen Entscheidungsfreiheit herzustellen,
wirklich zwischen Beruf und Familienarbeit wählen zu
können.
Eines aber muss auch klar sein: Eltern müssen in die-
sem Land selbst entscheiden können, wie sie ihre Kinder
betreuen lassen. Hier ist jetzt die Innovationsfreude der
Länder sehr gefragt. Ob das zum Beispiel in Form von
Gutscheinen oder anderem geschieht, ob man sich für eine
Tagesmutter, für die Kinderkrippe, für einen Waldkinder-
garten oder die Betreuung zu Hause entscheidet, das muss
dem Staat in Deutschland egal sein.
Das gilt auch für die Schulen. Eine Verbesserung der
Qualität erreicht man nun einmal nicht zentralistisch und
von oben herab, sondern indem jede Schule Entschei-
dungsfreiheit hat und in den Wettbewerb mit anderen tritt.
Wie wichtig es ist, dass wir in Deutschland ein Bildungs-
system haben, das innovativ ist, und wie sehr das eine
Frage der sozialen Verantwortung ist, das wissen wir. Ge-
rade deswegen muss es vielfältige Angebote und die Ei-
geninitiative von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und
natürlich von den Schülern selbst geben.
Die Reformbereitschaft ist so groß wie der Reform-
bedarf in unserem Land. Wir brauchen den Mut dazu. Rot-
Grün hat ihn.
Das gilt auch für die Außenpolitik. Im Gegensatz zu
Ihnen von der Opposition haben wir da eine sehr klare
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Haltung. Was heißt denn, wir hätten mit Kriegsangst
Wahlkampf gemacht? Immer noch hoffen wir – die Bun-
desregierung hat wirklich alles dazu getan –, dass es kei-
nen Angriff auf den Irak gibt. Wollen Sie denn wirklich je-
mandem weismachen, dass es sich dabei nicht um eine
reale Gefahr handelt? Wo leben Sie denn?
In Wahrheit sind Sie es doch, die in dieser Frage seit
Monaten einen politischen Eiertanz vorführen: Mal sollen
wir aus Solidarität zum Angriff bereit sein und dann will
Stoiber die Überflugrechte nicht einräumen.
Was wir wollen und tun, das ist klar: keine Beteiligung an
einer Intervention im Irak; denn wir halten sie für falsch.
Was Sie wollen und tun, ist offensichtlich nicht klar. Bei
Ihnen geht es je nachdem, wie es gerade kommt und wie
es einem einfällt.
Herr Glos, dass wir unseren Verpflichtungen nach-
kommen, das ist ja wohl selbstverständlich. Dabei handelt
es sich um keine indirekte Beteiligung, sondern um Ver-
tragstreue.
Dass man Ihnen das hier erklären muss, das ist bizarr und
peinlich; aber ich tue es trotzdem.
Nun zu Ihrer Haltung zum EU-Beitritt der Türkei;
dazu ist heute Morgen schon einiges gesagt worden. Es
geht Ihnen doch gar nicht um die Türkei oder die EU. In
Wahrheit geht es um eine Neuauflage des ausländerfeind-
lichen Wahlkampfes in Hessen.
Sie halten an dem Bild der undemokratischen und unre-
formierbaren Türkei bzw. an dem des bäuerlich rückstän-
digen Türken fest. Schon wieder bauen Sie ein
Schreckensszenario auf, mit dem Sie dem Land und der
europäischen Einigung schaden. Das ist bizarr und das
werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Natürlich hat die Türkei noch einen langen Weg
zurückzulegen, aber wir können doch nicht die positiven
Prozesse, die gerade jetzt angestoßen worden sind, im An-
satz zerstören, indem wir einen Rückzieher in der Frage
des EU-Beitritts machen. Ich kann nur davor warnen,
schon wieder in Ihrer üblichen Spaltermanier Wahlkampf
auf Kosten von Minderheiten zu betreiben. Die Menschen
wollen die Hetze gegen Ausländer und Minderheiten in
diesem Land nicht. Sie erinnern sich noch gut an die
Schmutzkampagne zur letzten Landtagswahl in Hessen
und so etwas wollen sie nicht wieder erleben.
Hören Sie endlich auf, immer dann, wenn es Probleme
in der Wirtschaft und im Land gibt, diese auf die Schwa-
chen oder die Minderheiten, im Zweifelsfall sogar auf die
Ökologie zu schieben.
Das ist billig und das wissen Sie auch. Die wirtschaftliche
Lage im Land und das gesellschaftliche Klima hängen
eng zusammen.
Die Stammtischparolen Ihres Herrn Koch sind beides:
gefährlich für die Schwachen und gefährlich für die Wirt-
schaft, die alles andere braucht als ein Klima von Angst
und Repression.
An dieser Stelle lassen Sie mich eines sagen, was
mich in den letzten Monaten sehr umgetrieben hat. Paul
Spiegel ist als Vorsitzender des Zentralrates der Juden
wieder gewählt worden. Ich gratuliere ihm von dieser
Stelle aus sehr herzlich.
Kurz vor seiner Wahl hat er wiederholt, dass sich die Ju-
den allein gelassen fühlen in ihrem Kampf gegen den Anti-
semitismus in Deutschland. Meine Damen und Herren,
wenn das trotz aller Beteuerungen und Versuche so ist, dann
müssen wir uns tiefe Gedanken um die Situation in unserem
Land machen. Dann müssen wir energisch und sehr, sehr
klar sein! Darauf kommt es an – in der Politik, aber vor al-
lem bei den Kindern und Jugendlichen in den Schulen.
Immer mehr Jüdinnen und Juden entscheiden sich, in
Deutschland zu leben. Ich bin unendlich froh darüber und
deswegen ist es nur folgerichtig, dieser Entwicklung mit
einem Staatsvertrag Rechnung zu tragen, wie das der
Bundeskanzler getan hat. Wir alle müssen aber dafür sor-
gen, dass diejenigen, die sich für ein Leben in Deutsch-
land entschieden haben, diese Entscheidung niemals be-
reuen. Das ist eine Aufgabe für uns alle.
Deswegen meine dringende Bitte: Es darf keinen
Wahlkampf geben auf Kosten von Minderheiten in die-
sem Land.
Frau Merkel weiß das im Grunde auch längst. Sie hat die
Müller-Kommission zur Zuwanderung unterstützt und ist
dann leider eingeknickt.
Sie hat eine innerparteiliche Programmdebatte angestoßen
und sofort wieder einkassiert. Die Programmdebatte liegt
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Katrin Dagmar Göring-Eckardt
wahrscheinlich in der Kammer des Schreckens der Union,
gut bewacht vom starken Roland.
Nun wird viel über die Stimmung in der Koalition ge-
redet und geschrieben. Ich sage Ihnen: Die Stimmung ist
gut.
Das sage ich Ihnen allen Ernstes.
Wir haben große Probleme in diesem Land zu schul-
tern und wir diskutieren über den richtigen Weg. Die Dis-
kussion über den richtigen Weg ist genau das, was Ihnen
fehlt. Das schweißt diese Koalition zusammen und darauf
kommt es in diesem Land an.
Noch nie gab es in einer wirtschaftlich angespannten
Situation derart klares Handeln im Sinne der Schwachen,
der Familien und der künftigen Generationen. Sie, Frau
Merkel, wissen noch nicht einmal, wohin die Reise gehen
soll, geschweige denn wie man am besten ankommt.
Stattdessen haben Sie zwei echte Revolutionäre an Ih-
rer Seite, den bekannten Frankfurter Straßenkämpfer
Frank Schirrmacher und den Altrevoluzzer Arnulf Baring.
Jetzt höre ich, da will sich auch Edmund Stoiber einrei-
hen. Ich stelle mir das lustig vor, wenn der Edmund vor
der Bayerischen Staatskanzlei im schwarzen Block neuen
Typs mitmarschiert. Vielleicht kriegt er dann doch noch
ein Lied oder wenigstens einen coolen Spruch nach dem
Motto: Stoiber läßt’s Regieren sein, kommt herunter, reiht
sich ein.
Wolfgang Gerhardt hilft auch mit. Die Lahmlegung ei-
nes Finanzamtes ist der schönste zivile Protest, sagte er.
Meine Güte, jetzt verstehe ich das endlich. Dass Sie Ihre
Parteikasse an den Regeln des Steuerrechts vorbei gefüllt
haben, ist in Wirklichkeit ein Akt zivilen Ungehorsams in
der Republik.
Ganze Finanzämter und Staatsanwaltschaften werden so
lahm gelegt und von der Arbeit abgehalten. Ich stelle mir
das jetzt einmal praktisch vor, Herr Gerhardt. Da lassen Sie
sich im zugegebenermaßen steuerfinanzierten Dienstwa-
gen vorfahren und ketten sich am Finanzamt in der Hei-
matstadt an. Diese Vorstellung ist einfach wunderbar.
Aber wahrscheinlich ist es richtig: Die FDP muss sich ir-
gendwie auf die außerparlamentarische Opposition vor-
bereiten. Da braucht man so etwas. Da macht man so et-
was. Tun Sie es bitte.
Im Land allerdings geht es um andere Dinge. Im Kern
geht es um Generationengerechtigkeit und Nachhaltig-
keit. Im Kern geht es um gerechte Teilhabe an Arbeit und
Bildung. Im Kern geht es um gerechte Globalisierung. Es
geht um Chancen. Es geht um Freiheit und es geht um Ver-
antwortung. Dafür wird diese Regierung arbeiten, vier
Jahre lang erfolgreich und mit dem notwendigen Mut für
Reformen.
Sie, Frau Merkel, sollten endlich aus der Schmuddel-
ecke kochscher Politik kommen. Beenden Sie den pri-
vaten Nachwahlkampf und kehren Sie zur Sachpolitik
zurück. Angesichts der Lage im Land ist das bitter nötig.
Wir handeln. Die Politik von Rot-Grün ist Politik mit Ver-
antwortung. Sie haben die Chance, mitzumachen oder zu
bleiben, wo Sie sind.
Vielen Dank.