Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-
lege Kampeter, ich hätte mir schon ein bisschen mehr in-
tellektuelle Herausforderung gewünscht. Aber es hat nicht
sollen sein.
Wenn Sie hier wieder mit derselben Idee wie in den
letzten Jahren kommen – Wachstum setze sich so fort, wie
es sich in den 70er-Jahren in Westdeutschland einmal eta-
bliert habe, und dann sei alles in Ordnung –, sage ich Ih-
nen – übrigens Zitat Lambsdorff, der unverdächtig ist,
was Sympathien mit grüner Politik betrifft –: Die fetten
Jahre, Herr Kampeter, sind vorbei. Das heißt, Politik wird
in Zukunft in Deutschland nur derjenige machen können,
der in der Lage ist, bei geringeren Wachstumsmargen
trotzdem noch Staat zu machen, und zwar nicht auf Pump.
Sie werden sich jetzt überlegen, wie das mit den
Wachstumsmargen sein kann. Es ist ganz einfach. Ei-
gentlich müssten Sie mitbekommen haben, dass die Indus-
triegesellschaft – wenn nicht gänzlich, so doch zum
größeren Teil – jedes Jahr ein Stückchen mehr in eine
Gesellschaft übergeht, die vor allen Dingen auf Informa-
tionstechniken und Dienstleistungen beruht, auch perso-
nennahen Dienstleistungen, zum Beispiel Pflege, auch
auf solchen Berufen, in denen keine Wertschöpfung in
dem Sinne stattfindet, die aber trotzdem bezahlt werden
müssen.
Wenn Sie sich diese Berufe einmal vor Augen führen,
erkennen Sie zwei Tatsachen. Die eine ist: Die Wachs-
tumsmargen in diesen Branchen sind geringer, weil man
mit Menschen arbeitet und nicht mit Maschinenparks, die
man erneuern kann, um Produktionssprünge zu schaffen.
Das zweite Problem, das Sie erkennen, ist: Die Rolle der
Lohnnebenkosten nimmt deutlich zu, weil wir viel mehr
darauf angewiesen sind, Menschen in diesen Berufen zu
haben, die gut ausgebildet sind und die ihr Geld wert sein
wollen.
Das heißt, es gibt große Veränderungen in diesem
Land, die sich genau in diesen beiden Bereichen abspie-
len: auf der einen Seite weniger Wachstum, mit dem wir
auskommen und gut Staat machen müssen, und auf der
anderen Seite die wachsende Bedeutung der Lohnneben-
kosten.
Diesen neuen Herausforderungen stellen wir uns. Wir
stellen uns ihnen im Haushalt 2003 und stellen uns ihnen
mit unseren Entscheidungen.
Dass Sie die Notoperation 2002 jetzt ständig als Kurs-
wechsel zu diffamieren versuchen, ist eigentlich nur Ihrer
fehlgeleiteten Betrachtung geschuldet; denn Sie sind
nicht in der Lage, diese neuen Tatsachen einzuordnen.
Das Brechen mit althergebrachten Gewohnheiten ist ein
zäher Prozess. Ich erlebe die CDU/CSU im Moment stän-
dig in einem Kulturkampf, bei dem Versuch, das Alther-
gebrachte zu bewahren, weil Sie glauben, dazu seien Sie
verpflichtet, ohne zu sehen, wo die Zukunftschancen lie-
gen. Für mich sind Sie eine ganz altmodische Partei.
Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das bemerken. Frau
Merkel hat ja versucht, die CDU/CSU ein bisschen auf
Reformtempo zu bringen. Sie ist sofort von all den älteren
Herren ihrer Partei „eingesammelt“ worden. Sie bemer-
ken es wahrscheinlich nicht – weder Herr Kampeter noch
Frau Merkel noch sonst jemand –, aber die CDU/CSU
verpasst gerade den Anschluss. Sie halten sich mit Ihrem
inszenierten Oppositionstheater auf und verpassen den
Anschluss, was die Regelung für unsere Zukunft anbe-
langt. So einfach ist das.
Wir haben in den letzten vier Jahren versucht, Refor-
men in sehr vielen Bereichen zu machen, und haben fest-
gestellt, wie schwer und kompliziert es ist, neue Werte zu
prägen. Es geht nicht immer darum, einen Werteverfall zu
bejammern, wie Sie es immer tun. Es kann ja auch sein,
dass manche Werte aus gutem Grund nicht mehr so hoch
gehalten werden wie früher. Das ist kein Werteverfall, das
ist ein Wertewandel. Ich finde, dass uns in Deutschland ei-
nige Wertewandel zum Guten gereichen.
Dies zu unterstützen, diese Werteprägung vorzunehmen,
das haben wir in den letzten vier Jahren versucht und, wie
ich finde, auch in vielen Lebensbereichen geschafft. Dass
Ihnen das nicht passt, bemerke ich an Ihrem Rumgezicke.
Das heißt aber noch lange nicht, dass die Politik falsch ist.
Herr Solbes hat vor kurzem gesagt, den Deutschen
fehle es nicht an Geld, sie wollten es nur nicht ausgeben,
denn sie fürchteten sich vor der Zukunft. Und darin haben
Sie Ihre Aktie. Sie sprechen ständig davon, dass die Hälfte
der Wirtschaft Psychologie sei. Damit gebe ich Ihnen
Recht. Aber wer verbreitet seit Wochen immer nur Getöse
und irgendwelche Untergangsstimmung? Lassen Sie sich
das einmal von einer Partei sagen, die auch ihre Erfah-
rungen damit gemacht hat, was geschieht, wenn man ein
Anliegen übertreibt.
In den 80er-Jahren haben wir in unseren Reihen einige
Leute gehabt, die die ökologische Bedrohung zum Kata-
strophismus hochstilisiert haben. So etwas Ähnliches pas-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 913
siert Ihnen gerade. Sie verstehen den Wertewandel nicht
und halten ihn für Werteverfall. Sie predigen die zivilisa-
torische Katastrophe, die außer in Ihren Köpfen aber über-
haupt nicht stattfindet.