Ich werde meine Rede zu Ende bringen.
– Das ist das Einzige, was Sie können: rumbrüllen und
stören, ohne einen einzigen sachlichen Vorschlag zu ma-
chen. Das ist die Opposition, wie sie sich heute darstellt!
Nichts anderes!
Aber glauben Sie nur nicht, dass Sie mit dieser Art, Er-
satzpolitik zu betreiben – denn zu Politik sind Sie nicht
fähig –, bei den Menschen auf Dauer ankommen.
Kurzfristig mag Ihnen das helfen, mittel- und langfristig
werden Sie mit dieser Art von Politik dort bleiben, wo Sie
hingehören, nämlich in der Opposition.
Ich denke, angesichts dessen, was wir an lösbaren Pro-
blemen haben – viele unserer Nachbarn und viele Länder
in der Welt würden uns um die Dimension der Probleme,
mit denen wir es zu tun haben, nun wahrlich beneiden, ob-
wohl ich diese Probleme keineswegs leicht nehmen will –,
seit Wochen ein Zerrbild dieses Landes zu zeichnen, egal
mit wessen Unterstützung, und diese Republik allen
Ernstes mit der Situation von Weimar zu vergleichen, wie
das immer wieder getan worden ist und getan wird, ist
falsch.
– Sie haben sich doch an diese Form von Verzeichnung
angehängt. Nichts anderes haben Sie getan. Lassen Sie
mich ein Wort dazu sagen: Gleichgültig, wer das macht,
gleichgültig, wer den Eindruck zu erwecken sucht, in die-
ser Republik hätten wir eine Situation, die auch nur
annähernd mit dem, was wir in Weimar leider erleben
mussten, vergleichbar ist, der handelt geschichtslos und
neben der Sache. Das gilt für alle, ob sie nun Glos oder
Lafontaine heißen.
Ich füge hinzu: Wer wie Sie und andere, die Ihnen hel-
fen, den demokratischen politischen Prozess als eine Art
Auseinandersetzung nicht zwischen Gegnern, sondern zwi-
schen Feinden betrachtet, wer dabei ist, statt öffentlicher
und offener, auch harter Auseinandersetzung innerstaatli-
che Feinderklärungen zu formulieren, der arbeitet gegen
einen dauerhaften politischen Prozess und nicht für ihn.
Das ist das Problem, in dem Sie gegenwärtig gefangen sind,
mit dem Sie sich auseinander setzen müssen, weil es in
der Republik sonst schief geht.
Niemand kritisiert harte und härteste Opposition, die
gelegentlich auch nicht vor persönlicher Herannahme
Halt machen kann; das weiß ich sehr wohl.
Aber was wir in den letzten Wochen erleben, meine Da-
men und Herren, ist ein Zerrbild unseres Landes, ge-
zeichnet aus politischem Opportunismus. Das ist Ihr Pro-
blem.
Ich sagte: Es besteht kein Zweifel, dass wir ökono-
mische und als Folge dessen auch politische Probleme
haben.
Es besteht aber auch kein Zweifel, dass dieses Land auf
der anderen Seite nach wie vor Wachstum hat und sich
nach wie vor in Europa sehen lassen kann. Sie sollten ein-
mal mithelfen, in Europa klar zu machen, was uns in
Deutschland von allen anderen europäischen Ländern,
auch was die ökonomische Situation, die ökonomischen
Probleme angeht, unterscheidet. Sie sollten mit uns zu-
sammen darauf hinweisen, dass wir allein durch Überka-
pazitäten in der Bauwirtschaft, deren Abbau notwendig
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 879
ist, jährlich 0,6 Prozent Wachstum real verlieren. Mit die-
ser Situation, meine Damen und Herren, hat kein anderes
Land in Europa und in der Welt fertig zu werden. Es ist
ein Zeichen für die Kraft und die Stärke der deutschen
Volkswirtschaft, dass das trotz allem in einer achtbaren
Weise gelingt. Auch das gehört in eine solche Debatte.
Ein Zweites. Der Finanzminister hat gestern zu Recht
darauf hingewiesen, was die Tatsache, dass wir die Ein-
heit ökonomisch zu bewältigen haben – politisch haben
wir sie ja Gott sei Dank bewältigt –, für die sozialen Si-
cherungssysteme und für die Ökonomie insgesamt be-
deutet. Der Finanzminister hat zu Recht darauf hingewie-
sen, dass die Lohnnebenkosten, die Ausgaben für die
sozialen Sicherungssysteme, etwa bei der Rente, um rund
2 Prozent niedriger sein könnten, wenn wir nicht als ein-
zige Nation der Welt diese gewaltige, aber natürlich auch
wunderbare Aufgabe zu schultern hätten, die wir mit dem
Glück der Einheit bekommen haben. Auch das gehört
doch in eine seriöse ökonomische Debatte.
Ich denke, vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass
deutlich wird, wie die Abfolge dessen ist, was wir kurz-
fristig und was wir mittel- und langfristig zu tun haben.
Worum geht es dabei? Es geht zunächst einmal darum,
dass der Haushalt, den wir heute samt Nachtragshaushalt
beraten, so betrachtet und beschlossen wird, wie es den
Notwendigkeiten des Landes entspricht. Wir haben deut-
lich zu machen, dass wir aufgrund ja nicht nur in Deutsch-
land bestehender Wachstumsschwäche, ja nicht nur in
Deutschland zurückgehender Steuereinnahmen für 2002
einen Fehlbetrag von rund 14 Milliarden Euro ausglei-
chen müssen und dass wir für 2003 mit einem solchen von
18,5 Milliarden Euro fertig werden müssen. Das ist die
Aufgabe, über die hier zu reden ist, über die bislang ja
nicht geredet worden ist.
Die Defizite, die sich da aufgetan haben, haben doch
nichts zu tun mit der Politik des einen oder anderen, son-
dern haben etwas zu tun mit einer europäischen, mit einer
weltweiten Wachstumsschwäche,
die natürlich Auswirkungen auf die Steuereinnahmen hat.
Meine Damen und Herren, wir sind darangegangen
und haben gefragt: Wie wird man mit dieser Situation fer-
tig? Der Finanzminister hat das gestern deutlich gemacht.
Es wäre bezogen auf den Haushalt 2002 doch falsch ge-
wesen, den Fehlbetrag, der aufgrund der Wachstums-
schwäche deutlich geworden ist, allein durch Streichun-
gen, wo auch immer, auszugleichen. In dieser Situation
im Jahr 2002 hätte man, wenn man es nur über Streichun-
gen versucht hätte, nirgendwo anders streichen können als
bei den Investitionen. Dass das aber konjunkturell das
Verkehrteste gewesen wäre, was wir hätten tun können,
liegt, denke ich, doch auf der Hand.
Also ging es für den Haushalt 2002 zunächst einmal da-
rum, kurzfristig und auf Zeit ein Defizit von über 3 Prozent
hinaus in Kauf zu nehmen, um nicht dort kürzen zu müs-
sen, wo es konjunkturschädlich geworden wäre. Ich denke,
das entspricht auch der Auffassung aller hier im Hohen
Hause. Das ist der Grund dafür, dass wir es in Kauf ge-
nommen haben, auch in dieser Situation die automatischen
Stabilisatoren wirken zu lassen und ein Defizit zwischen
3,7 und 3,8 Prozent in Kauf zu nehmen und dies auch ge-
genüber der Europäischen Kommission zu vertreten.
Bezogen auf den Haushalt 2003 haben wir durch die
Maßnahmen, die Ihnen bekannt sind, dafür gesorgt, dass
das Defizitziel, das wir in Europa vereinbart haben, wie-
der eingehalten werden kann. Ich bin ja sehr gespannt da-
rauf, welche Alternativen, bezogen auf dieses Problem, es
von der Union gibt,
wie Sie mit den Problemen fertig werden wollen, die auf-
grund der Wachstumsschwäche für den Finanzminister
und für die Regierung aufgetreten sind. Ich glaube nicht,
dass es zu dieser Politik eine vernünftige, eine konjunk-
turgerechte Alternative gibt.
Die Wachstumsschwäche, mit der wir es zu tun haben
– sie wurde übrigens von keinem wissenschaftlichen In-
stitut und keiner internationalen Institution prognosti-
ziert –, hat natürlich auch Auswirkungen auf die sozialen
Sicherungssysteme. Das ist doch gar keine Frage. Wir
haben das analysiert und haben gehandelt. Das ist der
Grund, warum wir gefragt haben: Was machen wir denn
zur Stabilisierung des Rentensystems, das durch die Kon-
junkturschwäche natürlich in Unordnung gebracht wor-
den war?
Wir haben gesagt – das ist Gegenstand unserer Gesetzge-
bung –: Wir können es verantworten, die Schwankungs-
reserve zu reduzieren, und wir können es verantworten,
die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben, weil wir nur
auf diese Weise sicherstellen konnten, die Möglichkeit zu
gewinnen, durchgreifende Veränderungen auf den Weg zu
bringen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Es geht bei den Maßnahmen, die jetzt auf den Weg ge-
bracht worden sind, um die Stabilisierung des Systems;
nicht, um es so zu lassen, wie es ist, sondern um die
Chance zu haben, ohne Verunsicherung der Betroffenen
– das sind sehr, sehr viele – die notwendigen Reformmaß-
nahmen einzuleiten.
Bezogen auf all diejenigen, die über die Beiträge dis-
kutieren, will ich nur sagen: Ohne die Maßnahmen, die Ih-
nen jetzt vorliegen und über die zu diskutieren ist, müsste
zum Beispiel der Rentenbeitrag auf knapp unter 20 Pro-
zent, auf exakt 19,9 Prozent, steigen. Mit diesen Maßnah-
men muss er das nicht. Das sage ich nur ganz nebenbei.
Ich weiß noch um die Zeit, in der wir über Renten-
beiträge von über 21 Prozent – jetzt reden Sie von zu ho-
hen Lohnnebenkosten; die müssen runter, keine Frage –
reden mussten.
Wir konnten sie nur senken, weil wir unsere Mehrheit im
Bundesrat seinerzeit nicht zur Blockade von Maßnahmen
benutzt, sondern der Mehrwertsteuererhöhung zuge-
stimmt haben. Das war doch der Tatbestand.
Das Gleiche gilt für die Gesundheitssicherungssys-
teme. Auch dabei geht es angesichts der Einnahmeaus-
fälle, die mit der konjunkturellen Entwicklung zu tun ha-
ben, zunächst einmal darum, dafür zu sorgen, dass die
weiter gehenden Reformmaßnahmen – sie müssen weiter
gehen – auf einer gesicherten Basis, die den Menschen
Vertrauen gibt, stattfinden können. Mit dem Paket, das
jetzt auf den Weg gebracht ist, wird der Grund bereitet.
Das ist die kurzfristige Aufgabe, vor der wir stehen und
die wir miteinander lösen werden.
Es geht – darauf kommt es mir an – bei diesen Geset-
zen, die wir in aller Schnelle, in hohem Tempo, auf den
Weg bringen mussten, um die Stabilisierung der sozialen
Sicherungssysteme, nicht mit dem Ziel, alles so zu lassen,
wie es ist, sondern mit dem Ziel, eine Basis für weiter
führende Reformen zu gewinnen. Ich werde darauf noch
zurückkommen.
– Nun warten Sie es doch einmal ab. Sie können es ja
kaum erwarten. Sie sind nun wirklich einer der größten
Schreihälse, die in dieses Parlament Einzug gehalten ha-
ben, Herr Kauder.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass die Gesetze,
die wir jetzt im Gesundheitswesen, bei der Rente und bei
der Konsolidierung des Haushalts auf den Weg bringen,
die Basis dafür bilden, die strukturellen Schwierigkeiten,
die sich in der konjunkturellen Krise besonders offenbart
haben, in Angriff zu nehmen. Ich beginne einmal bei dem,
was wir bei der Rente wollen und wollen müssen.
Ich erinnere noch die Zeit, in der hier über die Sicher-
heit der Renten geredet worden ist: Die einen hatten Un-
tertunnelungsvorschläge, die anderen sprachen von de-
mographischen Faktoren. Niemand in der damaligen Zeit
hat das eigentlich Notwendige getan – außer uns.
– Sie hatten doch 16 Jahre Zeit, um neben der umlagefi-
nanzierten Rente das Prinzip der Kapitaldeckung aufzu-
bauen. Sie haben das doch nie in Angriff genommen.
Sie wollen uns jetzt Belehrungen erteilen.
Ich habe noch im Ohr, was Nobbi Blüm immer zur Rente
gesagt hat – und das zu einem Zeitpunkt, als absehbar war,
dass eine Umlagefinanzierung allein nicht reichen würde.
Wir sind es doch gewesen, die neben die Säule Umlagefi-
nanzierung die Säule Kapitaldeckung gesetzt haben. Das
sind doch nicht Sie gewesen. Wollen Sie das alles verges-
sen machen?
Nur um deutlich zu machen, was mit diesem Reform-
schritt geleistet worden ist: Mit diesem Reformschritt ist
geleistet worden, dass zum Beispiel über die betriebliche
Altersversorgung inzwischen 18 Millionen Beschäftigte
zusammen mit ihren Tarifpartnern von dieser Möglichkeit
Gebrauch gemacht haben.
18 Millionen Beschäftigte haben über diesen Weg ein zu-
sätzliches Alterseinkommen zu erwarten. Das ist ein Rie-
senerfolg, der zu Ihrer Zeit nie möglich gewesen ist. Un-
sere Mehrheit hat diesen Schritt gemacht.
Die Versicherungswirtschaft sagt uns, in der zweiten
Säule seien bislang zwischen 2,5 und 3 Millionen Indivi-
dualverträge abgeschlossen worden. Man geht davon aus,
dass es bis Ende dieses Jahres 4 Millionen werden. Ange-
sichts der Tatsache, dass diese zweite Säule seit zwei Jah-
ren existiert, und angesichts der Tatsache, dass in 18 Mil-
lionen Fällen auf betrieblicher Ebene davon Gebrauch
gemacht worden ist und bis zum Jahresende nach den Er-
wartungen der Versicherer in 4 Millionen Fällen indivi-
duell davon Gebrauch gemacht wird, wird deutlich, dass
das ein wirklich stabilisierendes Element ist. Das ist eine
Erfolgsstory und nicht das Gegenteil dessen.
880
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 881
Ich rate nun wirklich dazu, sich das in Ruhe anzu-
schauen und die Entwicklung abzuwarten. Sie können
doch nicht erwarten, dass ein die umlagefinanzierte Rente
ergänzendes System schon in zwei Jahren seine volle
Wirksamkeit erlangt. Das können Sie doch nicht in zwei
Jahren erwarten. Angesichts dessen ist das, was erreicht
wurde, ein großartiger Fortschritt, der aufgrund eines ver-
änderten Altersaufbaus in unserer Gesellschaft dazu bei-
tragen wird, Alterssicherung wirklich zu machen und
nicht nur darüber zu reden.
Natürlich wird es Aufgabe der Kommission von Herrn
Rürup und anderen sein,
zu schauen: Wo muss man nachjustieren, was muss sowohl
bei der kapitalgedeckten als auch bei der umlagefinanzier-
ten Seite der Rente verändert werden?
Es ist doch keine Frage, dass das sein muss. Dafür gibt es
diese Kommission.
Vor einem aber will ich warnen – das sage ich auch an
den einen oder anderen in den eigenen Reihen gerichtet –:
Es ist manchmal sinnvoll, sich mit den Zahlen auseinander
zu setzen. Die Hälfte der Rentenempfänger, insbesondere
die Rentnerinnen, leben von einer Rente, die aus der ge-
setzlichen Versicherung folgt. Die Zahlbeträge, also das,
was cash auf den Tisch kommt, liegen bei Männern im
Durchschnitt bei etwas weniger als 1 000 Euro und bei
Frauen bei etwas mehr als 500 Euro.
Folgendes sage ich an alle, die es angeht: Bezogen auf
diese Zahlbeträge und diese Gruppe, die Hälfte der 17 bzw.
18 Millionen Rentnerinnen und Rentner, unter dem Stich-
wort „Generationengerechtigkeit“ darüber zu sprechen,
dass man hier noch kürzen müsste, das – das sage ich ganz
ehrlich – sollte man sich dreimal überlegen.
Natürlich wird die Kommission über Veränderungs-
notwendigkeiten in den übrigen Bereichen nachdenken
müssen – gar keine Frage. Aber ich bitte sehr darum, bei
allen Debatten darauf zu achten, dass dieser Kreis der Be-
troffenen ernst genommen wird. Es sind nämlich nicht
diejenigen, die mit dem goldenen Löffel im Mund gebo-
ren sind. Sie haben sich auch keinen erwerben können.
Die Gründe dafür liegen nicht in ihrem individuellen
Schicksal. Das gilt es zu berücksichtigen.
Wir sollten uns daher darauf verständigen – und zwar
sowohl bei der Kapitaldeckung als auch bei der Umlage-
finanzierung –, das besser zu machen, was verbessert wer-
den muss. Ich nenne einen konkreten Punkt: Einige Un-
ternehmen kritisieren, dass die Leute mit knapp über
55 Jahren in Rente gehen. Sie sagen, das ginge nicht mehr.
Das stimmt auch, meine Damen und Herren.
Aber diejenigen, die zum Beispiel schon mit 60 Jahren in
Rente gehen – wenn man die Invalidenrenten einbezieht,
ist das das reale Renteneintrittsalter –, haben, genau ge-
rechnet, bis zu 30 Prozent an Abschlägen hinzunehmen.
Über die Frage, ob man hier wirklich noch mehr, zum Bei-
spiel über die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters,
machen kann, muss man sehr sorgfältig und ernsthaft dis-
kutieren.
Eines muss aber klar sein: Mit den Betrieben, die ihre
Personalprobleme über die Frühverrentung gelöst haben
und sich jetzt über das System beklagen und es als falsch
apostrophieren, muss man ein ernsthaftes Wort reden.
Im Bereich der Rente brauchen wir kurzfristig eine Sta-
bilisierung des Systems, damit wir auf der Basis des Ver-
trauens in das System – das betrifft die Kapitaldeckung –
weitermachen können. Wo es nötig ist, müssen wir büro-
kratischen Aufwand beseitigen. Wenn nötig, müssen wir
im Bereich der Umlagefinanzierung das auf den Weg brin-
gen, was uns von der Rürup-Kommission im Herbst des
nächsten Jahres vorgelegt wird. Diese Debatte in der Sa-
che zu führen ist vernünftig; die Menschen im Voraus zu
verunsichern ist unvernünftig, egal, wen es angeht.
Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Strukturen
auf dem Arbeitsmarkt aufbrechen müssen. Wir alle haben
viel zu lange damit gewartet; das ist keine Frage. Das will
ich durchaus selbstkritisch eingestehen. Aber die Umset-
zung des Hartz-Konzeptes gibt uns die einmalige Chance,
eine Regelung auf dem Arbeitsmarkt zu finden, die den
sozialen Sicherungsbedürfnissen auf der einen Seite und
den Erfordernissen einer globalisierten Wirtschaft auf der
anderen Seite Rechnung trägt.
Meine Damen und Herren, ich will ein paar Punkte he-
rausgreifen, die deutlich machen, worum es dabei geht.
Kernaufgabe ist es, Flexibilität bei der Zeit- und Leih-
arbeit zu erreichen. Wenn es richtig ist – es ist richtig –,
dass die niedrigere Arbeitslosigkeit in anderen Ländern,
etwa in den Niederlanden, aber auch in Großbritannien,
nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass dieses In-
strument dort sehr viel besser als bei uns genutzt wird,
dann ist folgerichtig, dass wir es besser nutzen müssen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Es stellt sich also nicht die Frage, ob wir es besser nutzen
müssen, sondern wie wir es nutzen.
Ich bin der Auffassung, dass das, was mit der Umset-
zung des Hartz-Konzeptes eingeleitet worden ist, richtig
ist. Wir sollten darauf vertrauen, aber auch drängen, dass
die Tarifparteien, die Zeitarbeitsverbände – es gibt einige,
die zusammengefasst werden – und die Gewerkschaften,
die sich bereits als Tarifgemeinschaft konstituiert haben,
wie vorgesehen am 18. Dezember beginnen –, vernünftige
tarifliche Regelungen, die flexibel sein müssen, für diesen
Bereich auszuarbeiten.
Ich lege wirklich Wert darauf, dass erkannt wird, dass
zum Beispiel die Gewerkschaften bereit sind, insbeson-
dere für die Problemgruppen am Arbeitsmarkt – die Lang-
zeitarbeitslosen, die Älteren und die geringer Qualifizier-
ten – Tarife auszuhandeln, die deutlich unter den
normalen Flächentarifen liegen und auch liegen müssen.
Lassen Sie uns doch diese Chance ergreifen! Lassen Sie
uns Druck ausüben, damit das geschieht! Die Betroffenen
sind dazu bereit.
Die Gewerkschaften wissen auch, dass wir bei den Ta-
rifverträgen – abhängig davon, wie lang die Leihzeit ist
und wie speziell die Aufgaben sind – auch über eine Ein-
arbeitungszeit über sechs Wochen hinaus reden müssen.
Ich hoffe, das wissen die Unternehmen auf der anderen
Seite auch.
Ich habe nicht nur die Hoffnung, sondern ich glaube, es
kann klappen, dass wir auf diese Weise einen Anteil an Zeit-
und Leiharbeit wie in anderen europäischen Ländern errei-
chen. Er liegt bei uns unter 1 Prozent, in den Niederlanden
bei mehr als 4 Prozent. Ich denke, dass wir alle miteinan-
der ein Interesse daran haben müssten, diese Chance nicht
verstreichen zu lassen, sondern sie offensiv zu nutzen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem sagen, was ins-
besondere den Mittelstand drückt. Darüber ist im Wahl-
kampf viel gestritten worden. Wir haben schon in dieser
Auseinandersetzung deutlich gemacht, was wir steuerpo-
litisch auf den Weg gebracht haben. Die faktische Ab-
schaffung der Gewerbeertragsteuer durch ihre Anre-
chenbarkeit auf die von den Personengesellschaften zu
zahlende Einkommensteuer hat sich der Mittelstand im-
mer gewünscht. Seine Verbände haben dies jedoch nie ge-
würdigt, obwohl es wirklich zu einer Besserstellung des
Mittelstands im System geführt hat.
Ich finde, dass die Politik einen Fehler macht, wenn sie
sich das, was sie auf den Weg gebracht hat und was
Deutschlands Wirtschaft wettbewerbsfähiger gemacht hat,
immer klein reden oder auch klein schreiben lässt.
Darüber hinaus ist klar: Es gibt ein zentrales Problem
des deutschen Mittelstands, der so wichtig ist für unser
Land. Das ist die Refinanzierung seiner wirtschaftlichen
Aufgaben in den Unternehmen.
Wir haben in diesem Zusammenhang eine lange Debatte
über Basel II geführt. All diejenigen in den Banken und
Sparkassen, die mit Hinweis auf Basel II eine restriktive
Kreditvergabe ausüben, täuschen. Sie täuschen in der Tat.
Wer sich die Ergebnisse von Basel II im Einzelnen an-
schaut, der wird finden, dass, bezogen auf die Refinanzie-
rung des deutschen Mittelstands, Basel II hilfreicher ist als
Basel I. Denn der deutsche Mittelstand refinanziert sich im
Unterschied zu dem in angelsächsischen Ländern nicht in
erster Linie über Eigenkapital, sondern über langfristige
Kredite –, das ist eine Besonderheit des deutschen Mittel-
stands. Darüber lässt sich ernsthaft nicht streiten. Das ist so.
Im Übrigen kann die aktuelle Krise im Mittelstand und
dessen Finanzierung gar nichts mit Basel II zu tun haben;
denn diese Neuregelung tritt erst 2006 in Kraft.
Auch an dieser Stelle erweist sich, dass Politik gelegent-
lich benutzt wird, um falsche Geschäftspolitik zu ka-
schieren. Das sollten wir auch deutlich sagen.
Was werden wir tun? Ich denke, zunächst einmal sind
die steuerlichen Maßnahmen, insbesondere die, die wir
im Zusammenhang mit der Anrechenbarkeit der Ge-
werbesteuer und mit der Wiedereinführung der Investiti-
onszulage durchgeführt haben, auf der Habenseite zu bu-
chen. Dort werden sie von denen, die fair mit dem, was
geleistet worden ist, umgehen, auch gebucht.
Lassen Sie mich ein Zweites sagen. Wir müssen mitei-
nander deutlich machen, dass sowohl die großen Geschäfts-
banken als auch die für diesen Zweck ehemals gegründeten
Sparkassen und sonstigen Selbsthilfeorganisationen des
Mittelstands ihre Geschäftspolitik so ändern müssen, dass
der Mittelstand ausreichend mit Kapital versorgt werden
kann. Dies zu verdeutlichen ist eine Aufgabe, die wir mit-
einander haben.
Das muss in erster Linie die Aufgabe der beteiligten
Banken und anderen Kapitalsammelstellen bleiben, ins-
besondere und nicht zuletzt der Sparkassen, die zu diesem
Zweck gegründet worden sind und mit diesem Zweck im
Übrigen auch massiv Werbung betreiben. Um das zu un-
terstützen, werden wir noch in diesem Jahr die Kredit-
anstalt für Wiederaufbau mit der Ausgleichsbank
zusammenlegen, um auf diese Weise für die Mittelstands-
finanzierung ein Rückgrat zu schaffen, das ebenso effi-
zient wie zureichend mit Kapital ausgestattet ist. Ich halte
das für notwendig.
Aber ich sage hier genauso klar: Das ist nicht der Er-
satz für die Aufgaben, die den Banken und den Sparkas-
sen gestellt werden, nämlich auch in Zukunft Geld auszu-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 883
leihen, damit wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet werden
kann. Das ist die Aufgabe, die die Verantwortlichen in den
Sparkassen und Banken haben und die nicht auf die Poli-
tik abgewälzt werden darf.
Das dritte große Thema, das wir behandeln müssen, be-
trifft die Entwicklung des Gesundheitssystems. Dazu
möchte ich einige wenige Bemerkungen machen. Ich
glaube, dass das, was wir zum Beispiel mit der Regelung
der Fallpauschalen in den Krankenhäusern begonnen ha-
ben, mehr Effizienz und mehr sorgsamen Umgang mit
dem zur Verfügung gestellten Geld bedeutet. Ich glaube,
dass das, was auf den Weg gebracht worden ist, nämlich
die Leistungserbringer zur sinnvollen Finanzierung und
zum sinnvollen Umgang mit den Ressourcen im System
anzuhalten, richtig ist und Unterstützung verdient.
Ich glaube, dass wir in Zukunft miteinander dafür sorgen
müssen, dass in dieses System mehr Markt einkehrt und
dass sich diejenigen, die sonst so sehr für mehr Markt sind,
als Leistungserbringer nicht hinter Institutionen verschan-
zen dürfen, wenn es zum Beispiel darum geht, dass auch
Krankenkassen Verträge mit denen aushandeln können und
sollen, die es besser und preiswerter machen als andere.
Wer hat denn etwas dagegen, wenn über Patienten-
quittungen transparent wird, was geleistet wurde und ab-
gerechnet wird, was mehr und was weniger nötig ist?
Wo steht eigentlich geschrieben, dass es in Deutschland
ehernes Gesetz sein muss, dass es Wettbewerb, wie es ihn
in den Drogerien gibt, bei den Apotheken mit Vorteilen für
die Konsumenten nicht geben darf? Nach meiner Kennt-
nis steht es geschrieben, aber nicht für die Ewigkeit. Des-
wegen kann und muss es geändert werden. Wir sind auf
dem Weg dorthin.
Ein Gesundheitssystem mit mehr Transparenz, mit
mehr Markt zu schaffen, auch dann, wenn die Leistungs-
erbringer nicht alles an Vorteilen wie bisher realisieren
können und deswegen ganz lautstark schreien, ist not-
wendig. Wir werden das tun. Seien Sie dessen sicher.
Eines ist klar: Wir werden auch auf der Seite derer, die
die Leistungen bekommen, das, was möglich ist, auf das
medizinisch Notwendige – aber dann für alle und nicht
nur für Teile der Gesellschaft – reduzieren müssen.
Auch das werden wir in Angriff nehmen. Machen Sie sich
darüber keine Sorgen.
Ich meine, es wird deutlich, dass wir kurzfristig für die
Stabilisierung der Systeme mithilfe der Gesetzgebungs-
maßnahmen sorgen müssen, die wir auf den Weg gebracht
haben und von denen wir hoffen, dass sie nicht aus par-
teipolitischen Egoismen heraus von der jeweiligen Mehr-
heit im Bundesrat angehalten werden. Das wäre fatal für
unser Land.
Ich hoffe, es ist allen deutlich geworden – nicht zuletzt
denen, die uns zuschauen –, dass das die Basis für weiter-
führendes Handeln und nicht der Ersatz für weitergehende
Reformen ist. So herum wird die Abfolge vernünftig: Erst
muss man die Grundlage dafür schaffen, dass man Refor-
men und Veränderungen ohne Angst für die Betroffenen
durchführen kann. Das ist die Abfolge, die in den Geset-
zen auf der einen Seite und den Strukturmaßnahmen auf
der anderen Seite sichtbar werden sollte. Vielleicht ist es
noch nicht ausreichend deutlich geworden. Das will ich
gern zugeben.
In dieser Auseinandersetzung hier und heute soll auch
nicht in Vergessenheit geraten, was wir über die Neu-
justierung von Haushalt und sozialen Sicherungssys-
temen hinaus in dieser Legislaturperiode auf den Weg
bringen wollen, angefangen mit diesem Haushalt. Es ist
nämlich die zentrale Aufgabe, unser Bildungssystem so
einzurichten, dass es internationalen Anforderungen wie-
der gerechter wird, als das gegenwärtig der Fall ist.
Ich weiß sehr wohl um die Zuständigkeiten. Niemand
von uns will sie über Gebühr strapazieren. Dies ginge
auch nicht; das wissen wir. Aber es muss doch klar sein,
dass das, was wir gegenwärtig anbieten, nämlich in Zu-
sammenarbeit mit den Ländern für ein massives Auswei-
ten der Ganztagsbetreuung von Kindern zu sorgen – nach
unserer Vorstellung zunächst in Schulen, aber dann auch
in den Krippen und Horten –, ein vernünftiger Weg ist,
und zwar einer, der darüber hinaus die Defizite im Bil-
dungssystem beseitigen kann. Es gibt doch die Korrela-
tion zwischen mangelnder Betreuung insbesondere der
Kinder aus sozial schwachen Schichten einerseits und
Bildungsversagen andererseits.
Was wir machen, ist bildungspolitisch vernünftig. Unter
dem Gesichtspunkt der Teilhabe von Frauen am gesell-
schaftlichen Leben sowie an der Erwerbsarbeit ebenso
wie an der Nichterwerbsarbeit ist es allemal vernünftig.
Deswegen möchte ich, dass dieses Projekt in fairer Zu-
sammenarbeit mit den Ländern, die die Zuständigkeit be-
sitzen, so umgesetzt wird, dass sichtbar bleibt, dass hier
nicht Geld vom Bund für den Haushaltsausgleich gegeben
wird, sondern für die zentrale gesellschaftliche Aufgabe
dieses Jahrzehnts, die notwendigen Betreuungseinrich-
tungen zu schaffen, dass auch Frauen die Chance haben,
sich auf dem Arbeitsmarkt oder in anderen Bereichen
betätigen zu können.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem
Thema machen, das vorhin angesprochen worden ist und
auch Gegenstand des eingebrachten Antrages ist. Es geht
um das, was wir in Kopenhagen zu beschließen haben
werden. Ich denke, es besteht Einigkeit in diesem Hohen
Hause darüber, dass gerade wir Deutschen die Aufgabe
haben, in Kopenhagen dafür zu sorgen – zu erträglichen
materiellen Bedingungen, das ist keine Frage –, dass ein
historischer Beschluss über die Erweiterung der Euro-
päischen Union nach Osten zustande kommt. Dies ist un-
ser fester Wille. Dafür werden wir hart arbeiten, dessen
können Sie sicher sein. Ich denke, darüber besteht in die-
sem Hohen Hause auch kein Streit.
Über die Bedingungen im Einzelnen wird noch zu reden
sein. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die dänische
Präsidentschaft – wenn auch noch nicht in allen Punkten –
generell auf einem richtigen Weg ist und wir in Kopenha-
gen einen Erweiterungsbeschluss fassen können, der ers-
tens der historischen Bedeutung dieser Aufgabe gerecht
wird und zweitens die materiellen Ressourcen eines Netto-
zahlers wie Deutschland nicht über Gebühr beansprucht.
Zum Nulltarif – ich denke, das wissen wir alle – wird
dies nicht zu haben sein. Das muss auch nicht sein; denn
wir, die Deutschen, werden diejenigen sein, die in erster
Linie sowohl politisch als auch ökonomisch davon profi-
tieren werden. Wenn Sie sich die Präsenz deutscher Unter-
nehmen auf den Märkten, um die es dabei geht, ansehen,
stellen Sie fest, dass wir überall die Nummer eins oder die
Nummer zwei sind. Diese Situation wird nicht schlechter,
sondern besser werden, wenn die Integration dieser Län-
der in die Europäische Union fortgeschrittener ist.
Deswegen sage ich den Beschäftigten, auch denjenigen
jenseits der Grenzen, die Angst haben: Es ist nicht nötig,
Angst zu haben, weil in der Erweiterung der Europäischen
Union sowohl ökonomisch als auch für die Menschen auf
den Arbeitsmärkten mehr Chancen als Risiken liegen. Wir
werden die Chancen maximieren und die Risiken mini-
mieren. Das begreifen wir als unsere Aufgabe.
Es ist wahr: Wir werden in Kopenhagen auch über die
Frage der Aufnahme der Türkei reden müssen. Dies ist
hier angeklungen und wurde auch in dem Antrag, der ein-
gebracht worden ist, thematisiert. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, ich rate dringend, dieses Problem nicht
als ein Problem zu betrachten, mit dem man einem Kolle-
gen in einem Bundesland – in diesem Fall in Hessen – ein
billiges Wahlkampfthema gibt.
– Sie kriegen es gleich. Warten Sie einmal ab!
Ich bin gefragt worden, wie die deutsche Bundesregie-
rung in Kopenhagen mit diesem Problem umgehen wird.
Natürlich haben Sie Anspruch darauf, das zu erfahren.
Deswegen sage ich Ihnen das auch gern. Zwei Punkte sind
zu nennen:
Erstens. Natürlich werden wir in Kopenhagen eine sehr
eng abgestimmte Haltung, möglichst eine gemeinsame
Position mit Frankreich, vertreten. Ich habe das Vergnü-
gen, heute Abend den französischen Staatspräsidenten in
Berlin zu Gast zu haben. Ich habe viel mit Jacques Chirac
darüber geredet. Wir sind uns eigentlich einig darüber,
dass es Sinn macht, in Kopenhagen eine gemeinsame
französisch-deutsche Position zu vertreten. Ich will
nichts vorwegnehmen, was heute Abend mit dem Gast zu
besprechen sein wird. Aber ich denke schon, es gibt in die-
sem Haus keinen Streit darüber, dass es Sinn macht, in
dieser so wichtigen Frage eine gemeinsame Position von
Frankreich und Deutschland zu erarbeiten.
– Auch nicht? Na gut, dann schauen wir mal weiter. Herr
Glos meint, keine gemeinsame Position von Deutschland
und Frankreich.
– Es wird jetzt langsam klar, was Sie eigentlich wollen.
Sie wollen nämlich nicht ein Problem lösen, sondern – das
scheint mir wirklich so zu sein, Herr Glos; das wird im-
mer deutlicher – ein Feuerchen anmachen.
Ich will die anderen Außenpolitiker über die Haltung
der deutschen Bundesregierung wenigstens informieren.
Ich bleibe dabei: Es macht Sinn, – die CDU/CSU-Frak-
tion kann das durch Frau Merkel nachher richtig stellen –,
eine abgestimmte Position zwischen Frankreich und
Deutschland zu erarbeiten. Herr Glos meint: nein; ich
meine: ja. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.
– Ich habe das verstanden. Sie können sich noch dazu
äußern.
Zweitens. Es sollte Einigkeit darüber bestehen, dass
wir ein großes, ein gemeinsames – ich sage: ein nationa-
les – deutsches Interesse daran haben, dass in der Türkei
die Kräfte unterstützt werden, die eine säkularisierte Tür-
kei im Sinne ihres Staatsgründers Atatürk wollen und
dafür auch einstehen, und dass diese Türkei nicht in den
islamischen Fundamentalismus abdriftet.
Es gibt auch keinen Streit darüber, dass wir ein nationales
Interesse daran haben, dass die Türkei eine immer enger
werdende Bindung an den Westen erfährt
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 885
und dass wir vor diesem Hintergrund auch ein gemeinsa-
mes Interesse daran haben, in der Politik gegenüber der
Türkei Kontinuität zu wahren. Dementsprechend werde
ich in Kopenhagen handeln.
Jetzt lese ich Ihnen einmal vor, auf welcher Basis ich
das tun werde. Ich zitiere – ich sage Ihnen gleich, wen –:
Ich habe in der Debatte auf zweierlei hingewiesen,
nämlich erstens darauf, dass wir, die Bundesrepublik
Deutschland, sehr damit einverstanden sind, dass die
Türkei in der Perspektive der Zukunft eine Chance
hat, der Europäischen Union beizutreten.
So Helmut Kohl in einer Pressekonferenz nach der Son-
dertagung des Europäischen Rats vom 20. und 21. No-
vember – nicht 1963, sondern 1997.
Das ist die Kontinuität, um die es geht. Die werde ich
wahren. Sie können sie verletzen, wenn Sie wollen.
– Herr Glos, derjenige, der das gesagt hat, war ein großer
Europäer. Er hat wohl gewusst, worüber er redet.
Jetzt zitiere ich einen nicht ganz so großen Europäer:
Bei der derzeit überaus lebhaften Debatte über die
Türkei sollten zwei Punkte nicht übersehen werden.
Erstens: Das Land strebt unverändert nach Vollmit-
gliedschaft in der Europäischen Union ... Was aber
soll uns Deutsche veranlassen, die Türkei auf diesem
Weg an vorderster Stelle zu unterstützen? Vieles
spricht dafür, nur wenig dagegen.
So Michael Glos am 23. Oktober 1997 in der „Welt“.
Das war damals in der „Welt“. Herr Glos, mir scheint, Sie
sind jetzt aus der Welt. Das ist das Problem, das Sie ha-
ben.
Damit wir sehen, auf welch löchrigem Boden Sie sich
mit Ihrem Antrag bewegen, zitiere ich einen noch „größe-
ren“ Außenpolitiker aus der CSU:
Es geht nicht an, dass ein wichtiges Brückenland
zwischen Europa und dem Nahen Osten und Zen-
tralasien an den Rand gedrückt und wie ein Aussät-
ziger behandelt wird.
Das ist noch Communis Opinio. Weiter heißt es:
Im EG-Assoziierungsabkommen vor nunmehr
30 Jahren war der Türkei bereits die volle EG-Mit-
gliedschaft in Aussicht gestellt worden. Diese zu-
mindest moralische, wenn nicht eigentlich sogar
rechtliche Verpflichtung sollten die Kollegen des Eu-
ropäischen Parlaments ... in ihrem Abstimmungsver-
halten im Auge behalten.
Diese Ausführungen in einer Presseerklärung der CSU-Lan-
desgruppe vom 17. März 1995 stammen von Christian
Schmidt, einem der großen Außenpolitiker Ihrer Fraktion.
Meine Damen und Herren, ich rate Ihnen dringend,
diesen Antrag, mit dem Sie die Bundesregierung auffor-
dern, etwas anderes zu tun, als Sie immer getan haben,
sang- und klanglos zurückzuziehen. Ich möchte Ihnen die
Blamage gerne ersparen.
Wenn Sie das nicht tun, besteht nicht mehr nur der Ver-
dacht, sondern die Gewissheit, dass Sie die Kontinuität in
der Außenpolitik nicht mehr wollen und dass Sie das Ver-
hältnis zur Türkei benutzen wollen, um Herrn Koch ein
billiges Wahlkampfmanöver zu erlauben. Sie müssen ver-
antworten, ob Sie sich auch dieses Mal wieder zwingen
lassen wollen wie damals mit dem Ausschuss unseligen
Angedenkens.
Darüber müssen Sie Auskunft geben. Es wird Ihnen,
meine Damen und Herren von der Opposition, nicht leicht
gemacht werden, mir nichts, dir nichts die Politik einfach
wegzuschieben, die nicht in Ihr Wahlkampfmanöver
passt. So leicht nicht, meine Damen und Herren von der
Opposition!
– So ist das, wenn man mit den Tatsachen allzu unhisto-
risch umgeht.
Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen.
Deutschland hat – das habe ich schon mehrfach deutlich
gemacht – hinsichtlich der Bekämpfung des internationa-
len Terrorismus und der Maßnahmen, die damit zusam-
menhängen, nun wirklich nicht den geringsten Grund, sein
Licht in irgendeiner Weise unter den Scheffel zu stellen.
Der Außenminister und ich haben auf dem Petersberg
deutlich gemacht, dass wir alleine in diesem Jahr für den
Einsatz in Afghanistan und den Wiederaufbau dieses Lan-
des 650 Millionen Euro ausgeben. Ich kenne nicht viele
Länder, die sich in ähnlicher Weise engagieren. Deswegen
hat Deutschland keinen Grund, sich Vorwürfe machen zu
lassen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
sollten nicht die Stichworte liefern, dass uns Vorwürfe ge-
macht werden können.
Wir sind auf dem Balkan präsent. Sie haben zu Recht
darauf hingewiesen, dass das unser gemeinsamer Wille
war. Ich betone: Sie haben Enduring Freedom nicht zuge-
stimmt, aber aus anderen Gründen als dem Inhalt. Da-
rüber besteht kein Streit. Diesen Willen haben Sie, wie ich
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002
Bundeskanzler Gerhard Schröder
denke, dadurch bewiesen, dass Sie, als es um die Verlän-
gerung ging, mit an Bord waren.
Was wir auf dem Balkan und in Afghanistan im Rah-
men von Enduring Freedom tun, kostet uns im Jahr
2 Milliarden Euro. Das ist mehr, als jede andere Bundes-
regierung bisher aufwenden musste und aufgewendet hat.
Niemand in der internationalen Politik, mit Ausnahme der
Opposition im deutschen Parlament, macht Deutschland
den Vorwurf mangelnden Engagements bei der Wahrneh-
mung seiner internationalen Pflichten. Sie sollten das sein
lassen. Sie zerstören auf diese Weise den wohl verdienten
Ruf dieses Landes.
Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Irak-Reso-
lution 1441 etwas anders interpretieren als Sie, nämlich
als die Chance, durch die Inspektoren zu erfahren, was in
dem Land wirklich ist. Daraus werden wir die Konse-
quenzen ziehen, und zwar friedlich und ohne Krieg.
Das steht im Mittelpunkt unserer Politik. Darauf wollen
wir hinarbeiten.
Es gibt unterschiedliche Einschätzungen darüber, was
jetzt im Irak vor sich geht, welche Bewegungsmöglich-
keiten die Inspektoren haben und welche nicht. Wir soll-
ten es in dieser Frage mit Kofi Annan halten, der als Ers-
ter informiert wird und die Informationen an diejenigen,
die sie angehen, weitergibt. Gegenwärtig jedenfalls – ich
äußere mich sehr zurückhaltend – sieht es Gott sei Dank
so aus, als könnte es gelingen, das Ziel einer Entwaffnung
und der Vernichtung von Massenvernichtungswaffen – das
sage ich ganz bewusst – friedlich zu erreichen. Das hoffe
ich jedenfalls sehr. Ich führe keine theoretischen Debatten
darüber, was passiert, wenn dies nicht der Fall sein wird;
denn vor Self-fulfilling Prophecy habe ich doch aus-
drücklich zu warnen.
Wir haben deutlich gemacht, wo wir stehen und was wir
zu leisten imstande und bereit sind. Das habe ich den Frak-
tionsvorsitzenden und auch öffentlich gesagt. Das habe ich
hier in aller Deutlichkeit zu unterstreichen. Dabei bleibt es;
dem ist nichts hinzuzufügen. Dass wir im Einklang mit un-
seren Gesetzen und unseren materiellen Möglichkeiten al-
les tun, um die Sicherheit des Staates Israel und seiner
Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, gehört im Übri-
gen zu den guten Kontinuitäten deutscher Außenpolitik.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass wir schnell han-
deln mussten, um zur Stabilisierung des Haushalts – dazu
hat der Finanzminister gestern Richtiges und Wichtiges
gesagt – und der sozialen Sicherungssysteme beizutragen,
nicht mit dem Ziel, alles so zu lassen, wie es ist, sondern
mit dem Ziel, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswe-
sen und bei der Rente dort einzugreifen, wo es nötig ist,
aber mit der gebotenen Vorsicht und der sozialen Sensibi-
lität, weil es um Menschen geht, die eine Lebensleistung
erbracht haben. Sie darf man nicht ungestraft irgendwel-
chen Debatten aussetzen.
Bei diesen Gesetzen geht es um die kurzfristige Stabi-
lisierung mit dem Ziel, mittel- und langfristig jene struk-
turellen Probleme zu lösen, die nicht nur mit der Kon-
junktur zu tun haben, sondern auch mit der damals nicht
von allen kritisierten Finanzierung der deutschen Ein-
heit über die sozialen Sicherungssysteme. In der Krise
und bei Veränderungen im Altersaufbau unserer Gesell-
schaft werden diese strukturellen Mängel besonders deut-
lich. Sie müssen nun angegangen werden, und zwar auf
einer Basis, die den Menschen keine Angst macht, son-
dern ihnen Hoffnung gibt. Wir werden diese Aufgabe be-
wältigen. Seien Sie dessen sicher!
Weil wir sehr genau die Tatsache kennen, dass wir in der
zweiten Kammer, im Bundesrat, auf die Zusammenarbeit
mit der Opposition angewiesen sind, möchten wir die Op-
position auffordern, in den Punkten, in denen es keinen po-
litischen Streit gibt oder wo man ihn überwinden kann, im
Interesse des Landes und im Sinne einer Koalition der Ver-
nünftigen sachlich und fair mitzuarbeiten. Wir erwarten
nicht, dass nun harte Kritik von der Tagesordnung ver-
schwindet, bitten aber darum, dass jede Form der persön-
lichen Diffamierung in den Hintergrund tritt. Im Übrigen
glauben wir daran, dass wir unsere Aufgabe, die uns am
22. September 2002 übertragen wurde, mit aller Kraft aus-
füllen werden, dass aber ebenso die Opposition nicht nur
die Pflicht zur Kritik, sondern auch die Pflicht zur Verant-
wortung hat. Auch diese haben Sie wahrzunehmen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.