Rede von
Dr.
Gerd
Müller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die internationale Ordnung hat sich in der ver-
gangenen Dekade dramatisch verändert. Wir befinden uns
hier in einer Grundsatzdebatte; es schauen auch viele
junge Menschen zu. In den letzten zwölf Jahren hat sich
viel Positives bewegt: die deutsche Wiedervereinigung,
der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Osterweite-
rung, die Freundschaft zu Russland. Das ist die eine Seite,
die nicht zuletzt durch die Politik von Helmut Kohl, der
Union in Deutschland und in Europa ein Stück weit be-
fördert wurde.
Die andere Seite, das sind natürlich der Krieg im ehe-
maligen Jugoslawien, neue Atommächte sowie die Be-
drohung durch Saddam Hussein und internationale Terro-
risten.
In der Vergangenheit gab es Grundpfeiler deutscher
Außenpolitik, die zwischen den Parteien unstrittig waren.
Ich erinnere mich daran, dass ich als junger Mensch gern
Debatten über dieses Thema im Fernsehen angeschaut
habe. Da kam ein Stück Konsens zum Tragen, der in
außenpolitischen Fragen dringend notwendig ist. Die In-
tegration Europas, die Freundschaft zu den Amerikanern,
die besondere Beziehung zu Frankreich, unsere verläss-
liche Rolle in der NATO und die besondere Verantwor-
tung gegenüber Israel, das sind Grundpfeiler. Es gilt, im-
mer wieder herauszustellen, dass auf diesem Gebiet ein
Konsens über die Parteigrenzen hinaus notwendig ist.
Es gibt kaum einen europäischen Staat, in dem es einen
Dissens über grundlegende außenpolitische Positionen
gibt. Wir haben es an dieser Stelle mit einen wirklichen
Knackpunkt in der Geschichte des Parlamentarismus in
Deutschland zu tun. Der Bundeskanzler und der Bundes-
außenminister haben diesen Grundkonsens aus niederen
innenpolitischen Motiven – sie wollten eine Wahl gewin-
nen – verlassen.
Der eingeschlagene deutsche Sonderweg – Deutsch-
land bewegt sich außerhalb der Vereinten Nationen, es
agiert ohne die EU-Partner und ohne den Konsens mit den
Franzosen – bedeutet in der Irak-Debatte einen Weg der
Unberechenbarkeit. Mit diesem Weg wurde die Verläss-
lichkeit Deutschlands in Europa und in der UN infrage ge-
stellt.
Es ist schon etwas anmutend, wenn ich zum Thema
Irak nur kurz reflektiere. Sie sagen jetzt, es sei ein Riesen-
erfolg, dass Saddam Hussein, der Massenvernichtungs-
waffen besitzt, bereit ist, die Inspektoren ins Land zu
lassen. Sie behaupten, man habe sehr viel bewegt. Wer hat
dies letztendlich bewegt? – Die Weltvölkergemeinschaft,
gestützt von der unnachgiebigen Haltung der UN, und
alle, die diese Drohkulisse aufgebaut haben! Wir alle hof-
fen, dass dies zum Frieden beiträgt. Sie haben sich außer-
halb der Weltvölkergemeinschaft gestellt. Herr Fischer, es
war schon ein Stück weit peinlich, dass im irakischen
Fernsehen auf die Freundschaft zwischen Schröder und
Saddam Hussein reflektiert wurde.
Saddam Hussein nahm auf die deutsche Rolle, auf den
deutschen Sonderweg Bezug.
– Die Argumente treffen offensichtlich.
Ich frage an dieser Stelle den deutschen Bundesaußen-
minister: Was ist aus Ihrer Initiative im Europäischen Rat,
die Entwicklung einer gemeinsamen Position zur UN-Re-
solution voranzutreiben, geworden? Herr Bundesaußen-
minister, wo sind Sie geblieben, als es darum ging, vor der
Abstimmung über diese lebenswichtige Frage den Kon-
sens mit Frankreich zu suchen?
Ab dem kommenden Jahr, wenn Deutschland Mitglied
des Sicherheitsrates ist, stellt sich die Frage, welche Rolle
Deutschland dort zukünftig spielen wird. Ich knüpfe an
das an, was Herr Gerhardt gesagt hat: Herr Bundesaußen-
minister, was passiert nach dem 8. Dezember? Welchen
Beitrag wird Deutschland zur Durchsetzung der UN-Re-
solutionen leisten? Darauf sind Sie uns eine Antwort
schuldig.
Sie bieten, was Afghanistan angeht, die Führungsrolle
Deutschlands an. Wir werden darüber noch gesondert dis-
kutieren. Man hat den Eindruck, dass es wegen der feh-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 4. Dezember 2002 935
lenden Bündnissolidarität in der Irak-Frage zu einem
Kompensationsgeschäft kommen soll. Sie bieten diese
Führungsrolle in einer schwierigen Sicherheitslage an.
Wir haben dazu eine Vielzahl von Fragen gestellt, gerade
was den Verteidigungsbereich angeht, die Sie nicht beant-
wortet haben: Gibt es eine Exit-Strategie? Wie sollen im
Ernstfall 2 000 bis 5 000 Mann herausgeholt werden? Wo
ist das Gesamtkonzept für Afghanistan?
Herr Bundesaußenminister, Sie lassen sich feiern. Ih-
re Devise lautet: Wir gehen überall rein: Mazedonien,
Bosnien, Afghanistan.
Sagen Sie der deutschen Öffentlichkeit doch einmal,
wann wir wieder herausgehen. Welche politischen Initia-
tiven planen Sie, um politische Befriedung in diesen Re-
gionen herbeizuführen?
Jetzt komme ich auf die Türkei zu sprechen. Die Türkei
ist unser Freund und Partner in der NATO und in Europa.
Dennoch lehnen wir einen Beitritt der Türkei zur EU ab.
Michael Glos wurde heute früh vom Bundeskanzler zi-
tiert. Ich zitiere ihn aus demselben Artikel. Die Linie, die
Kontinuität unserer Argumentation ist klar:
Die Türkei hat noch einen langen Weg nach Europa. Ich zi-
tiere Michael Glos aus der „Welt“ vom 23. Oktober 1997:
Mit fast 70Millionen Einwohnern in der Türkei kann
angesichts des Entwicklungsabstands niemand heute
daran denken, zwischen Europa und Ankara Freizü-
gigkeit zu verwirklichen. Dies darf aber nicht bedeu-
ten, der Türkei ... die Tür ... zuzuschlagen.
Die Türkei muss als privilegierter Partner der Euro-
päischen Union behandelt werden. Die Zollunion
zwischen der EU und der Türkei seit dem 1. Januar
1996 weist hier den Weg.
Da hatte er 1997 Recht: Natürlich ist das der Weg. Wir
stellen uns in die Kontinuität, meine sehr verehrten Da-
men und Herren. Wir wollen den weiteren Ausbau privi-
legierter Sonderbeziehungen zur Türkei.
Wir müssen uns auch – lassen Sie mich das mit Blick auf
die Innenpolitik einflechten – um einen neuen Zugang, um
andere Wege der Integration und der Ansprache der türki-
schen Bevölkerung hier in Deutschland bemühen. Wir dür-
fen nicht das Signal senden, die türkischen Bürger in
Deutschland stünden abseits. Nein, wir wollen Sonderbe-
ziehungen zur Türkei und wir wollen den weiteren Ausbau.
Die Wirtschaftsleistung der Türkei liegt bei 22 Prozent
des EU-Durchschnitts, die Inflation beträgt 40 Prozent.
Es gibt dort 12 Millionen Bauern. Die EU-Kommission
hat gerade die Berechnung vorgelegt: Die Einbeziehung
der Türkei in die Strukturfonds und den Kohäsionsfonds
des jetzigen Systems würde 30 Milliarden Euro im Jahr
kosten.
Sehr geehrter Herr Außenminister, Sie haben in Nizza
und in Berlin ja nicht einmal die Voraussetzungen dafür
geschaffen, die zehn mittel- und osteuropäischen Staaten
zu integrieren.
Wie wollen wir unter diesen Voraussetzungen die Inte-
gration der Türkei schaffen? Das ist im Augenblick nicht
möglich.
Neue Strukturen der Zusammenarbeit sind notwendig;
ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort EWR
Osteuropa. Ich frage an dieser Stelle den Außenminister:
Könnte das nicht auch auf dem Balkan der zukünftige
Weg sein? Auch dort müssen wir doch entsprechende
Überlegungen anstellen. Wo ist Ihr Balkankonzept? Sol-
daten und Geld ja, aber wo bleibt die politische Perspek-
tive? Auch in Serbien, Bosnien, Mazedonien und Alba-
nien bieten Sie als Perspektive nur die EU-Mitgliedschaft,
wohl wissend, dass der Weg dorthin so nicht möglich ist.
Auch hier brauchen wir neben der Perspektive einer Voll-
mitgliedschaft neue Denkansätze und neue Strukturen.
Fragen über Fragen, Herr Bundesaußenminister. In Ih-
rer bekannten Überheblichkeit interessiert Sie das nicht.
Keine Antworten, keine Strategien, ein angeknackstes
deutsch-französisches Verhältnis, die Infragestellung der
Vereinten Nationen, die Verunsicherung in Israel – eine
verheerende Bilanz, ein hoher Preis für vier Jahre rot-
grüne Außenpolitik.
Danke schön.