Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul feierte am
21. November ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihr
nachträglich im Namen des Hauses sehr herzlich und
wünsche ihr alles Gute.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig Thiele, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Weniger Staat – we-
niger Steuern
– Drucksache 15/122 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Jürgen Koppelin, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP: Keine Erhöhung der Mehr-
wertsteuer
– Drucksache 15/123 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Beratung des Antrags der Bundesregierung: Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein-
satz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe
in Afghanistan auf Grundlage der Resolutionen 1386
vom 20. Dezember 2001, 1413 vom 23. Mai 2002 und
1444 vom 27. November 2002 des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen
– Drucksache 15/128 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
4. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Modula-
tion von Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen
Agrarpolitik und zur Änderung des GAK-Gesetzes
– Drucksache 15/108 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a bis 1 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest-
stellung des Bundeshaushaltsplans für das Haus-
haltsjahr 2003
– Drucksache 15/150 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest-
stellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan
für das Haushaltsjahr 2002
– Drucksache 15/149 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Bericht über den Stand und die voraussichtliche
Entwicklung der Finanzwirtschaft des Bundes
– Drucksache 15/151 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Außerdem rufe ich den Tagesordnungspunkt 2 sowie
die Zusatzpunkte 1 und 2 auf:
2. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau
von Steuervergünstigungen und Ausnahmere-
– Drucksache 15/119 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Weniger Staat – weniger Steuern
– Drucksache 15/122 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Jürgen Koppelin, Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer
– Drucksache 15/123 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Haushaltsberatungen heute im Anschluss an die Einbrin-
gung neun Stunden, am Mittwoch zehneinhalb Stunden und
am Donnerstag fünfeinhalb Stunden vorgesehen. – Dagegen
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Einbringung des Haushaltes hat der Bun-
desminister der Finanzen, Hans Eichel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Deutschland steht am Anfang des 21. Jahrhunderts vor
großen Herausforderungen: die deutsche Einheit zu ge-
stalten – wir sind auf halbem Wege; wir brauchen noch eine
halbe Generation; die Einheit zu vollenden haben wir uns
mit dem Solidarpakt II vorgenommen –, die europäische
Einheit mit zu gestalten, offensiv in den Binnenmarkt hin-
einzugehen – das wird eine Menge von Verhaltensänderun-
gen auch in unserem Lande erfordern –, die Situation
Deutschlands und vor allem die Situation der deutschen
Wirtschaft in einer globalisierten Welt zu stärken – dies al-
les vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft.
In der Mitte dieses Jahrhunderts wird sich die Zahl der
Älteren, die dann Rentenempfänger sein werden, im Ver-
hältnis zu der Zahl derer, die dann Beitragszahler sein
werden, verdoppelt haben. Dies wirft schwerwiegende
Fragen nach der Generationengerechtigkeit in unserer Ge-
sellschaft auf, die nicht einfach zu beantworten sind.
Deutschland braucht deshalb am Beginn des 21. Jahr-
hunderts tief greifende Reformen.Die Regierung Schröder
hat damit begonnen. Wir waren dabei erfolgreich.
– Meine Damen und Herren, man muss immer wieder da-
ran erinnern: Wenn Sie mit der Haushaltskonsolidierung
begonnen hätten, hätten wir heute eine Reihe von Proble-
men weniger.
Die Haushaltskonsolidierung können Sie an Zahlen
ablesen. 1999, als ich das Amt antrat, waren 21,4 Prozent
unserer Steuern für Zinsen zu zahlen. Wir sind im nächs-
ten Jahr bei 19 Prozent. Diese Differenz von 2,4 Prozent-
punkten ist der Konsolidierungsgewinn der letzten vier
Jahre. Er wurde mühselig erarbeitet, und zwar von uns
und nicht von Ihnen. Sie haben das nicht zuwege ge-
bracht.
Wir haben, entgegen der Mär, die Sie noch immer ver-
breiten, obwohl der Wahlkampf längst vorbei ist, auf der
Ausgabenseite konsolidiert. Der Bundeshaushalt 1998
hatte am Bruttoinlandsprodukt einen Anteil von 12,1 Pro-
zent. Der Bundeshaushalt des Jahres 2003 hat einen An-
teil von 11,3 Prozent. Das sind 0,8 Prozentpunkte bzw.
16 Milliarden Euro weniger. Das ist die Konsolidierung
auf der Ausgabenseite, die Sie nicht zuwege gebracht ha-
ben.
Der Staat spart bei sich selber. Im Bereich des öffentli-
chen Dienstes haben schon Sie damit begonnen – das will
ich an dieser Stelle gerne sagen – und wir haben das konse-
quent weitergeführt: 1998 hatten wir 314000 Beschäftigte
beim Bund, im Jahre 2002 noch 288000. Die Zahl der Be-
schäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes liegt im wie-
dervereinigten Deutschland also unter der Zahl, die die alte
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 735
Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung an Beschäftig-
ten aufzuweisen hatte. Das ist unser Konsolidierungserfolg.
Wir haben die entscheidende Rentenstrukturreform
gemacht: Neben die umlagefinanzierte Rente tritt die kapi-
talgedeckte Eigenvorsorge, die steuerlich gefördert wird.
Das war eine grundlegende Weichenstellung. Kein ande-
res großes Land auf dem Kontinent hat bisher eine solche
Rentenstrukturreform geschafft.
Bei allen Problemen, die wir in diesem Winter bekom-
men werden – ich komme noch darauf zu sprechen –, will
ich daran erinnern: Wir haben Arbeitslosigkeit abgebaut
und Beschäftigung aufgebaut.
– Sie wollen das alles vergessen. Lassen wir einmal die
Zahlen sprechen: Von 1994 auf 1998 ist die Zahl der Er-
werbstätigen in Deutschland, und zwar immer zum ersten
Halbjahr, um 106 000 gestiegen und von 1998 auf 2002
um 1,3Millionen. Das ist der Zugewinn an Beschäftigung
in unserer Regierungszeit.
Wir haben die Erwerbstätigenquote in Deutschland spür-
bar erhöht: Im Jahr 1994 lag sie bei 64,7 Prozent, im Jahr
1998 – damals haben wir die Regierung übernommen –
bei 63,9 Prozent und im vergangenen Jahr – das sind die
neuesten Zahlen – bei 65,7 Prozent. Das ist die Bilanz un-
serer Beschäftigungspolitik. Dass wir im Winter Proble-
me bekommen, weiß ich auch, aber man muss auch erken-
nen, dass wir weiter vorangekommen sind als Sie.
Wir sind durch die Wachstumsschwäche in 2001 und in
2002 zurückgeworfen worden. Aber wir als die größte
Volkswirtschaft in der Europäischen Union mit der stärks-
ten Exportverflechtung aller großen Volkswirtschaften in
der Europäischen Union sind durch die bisherige Wachs-
tumsschwäche der Weltwirtschaft besser hindurchge-
kommen als die beiden anderen großen Industrienationen
dieser Erde. Japan hatte 2001 minus 0,1 Prozent zu ver-
zeichnen, die USA– sie werden von Ihnen immer als Vor-
bild propagiert – plus 0,3 Prozent und Deutschland – die
Zahlen waren auch nicht gerade toll – plus 0,6 Prozent.
Das ist doppelt so viel wie die Vereinigten Staaten. Das ist
unsere Lage in der Weltwirtschaft.
Wir haben das im Bundeshaushalt im Jahr 2001 trotz
2 Prozent weniger Wachstum, als alle Institute vorausge-
sagt haben, mit einer Punktlandung verkraftet.
Die Probleme im vergangenen Jahr, die mir die Diskus-
sion um den blauen Brief im Frühjahr eingetragen haben,
waren nicht vom Bund gemacht; die Länderhaushalte sind
im vergangenen Jahr aus dem Ruder gelaufen. Das ist die
Wahrheit.
Im Jahr 2002 allerdings, im zweiten Jahr der Wachstums-
schwäche, konnten wir nichts mehr daran ändern, dass es
auch den Bundeshaushalt getroffen hat, und zwar, anders
als die Länderhaushalte, die nur auf der Einnahmeseite
getroffen sind, auf der Einnahmeseite wie auch, weil wir
für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme
verantwortlich sind, auf der Ausgabenseite.
Man muss deutlich sagen: Die Veränderungsrate beim
Defizit in Deutschland lag von 2001 auf 2002 bei 1 Prozent.
Ich vergleiche das mit dem, was 2001 in Europa war und
was 2002 nach den Prognosen der Europäischen Kom-
mission sein wird. Das Defizit ist um 1 Prozentpunkt von
2,8 auf 3,8 Prozent gestiegen. Dabei kommt heraus, dass
acht Länder in der Europäischen Union eine weitaus stär-
kere Zielverfehlung als Deutschland haben. Diese Länder
aber hatten günstigere Ausgangsbedingungen. Bei uns war
dies nicht der Fall. Das ist unser Problem. Das heißt, wir sind
bei der Konsolidierung in einer Phase erwischt worden, als
wir noch keinen ausgeglichenen Haushalt hatten. Das ist
größtenteils der „Erfolg“ Ihrer Politik in den 90er-Jahren.
Bei acht Ländern ist die Abweichung in der Wachstums-
abschwächung auf den Staatshaushalt zum Teil drama-
tisch stärker durchgeschlagen als bei uns: Luxemburg,
Schweden, Irland, Österreich, Großbritannien, Frank-
reich, Finnland und Dänemark. All diese Länder haben
eine stärkere Abweichung als wir. Ihr dauerndes Gerede,
wir seien das Schlusslicht in Europa, ist schlicht Unfug.
In diesem Winter wird die Arbeitslosigkeit, wie ich
fürchte, wieder deutlich über 4 Millionen steigen. Herr
Hundt sprach heute Morgen von 4,3 Millionen Arbeitslo-
sen. Aber auch dann gilt: Es sind 500 000Arbeitslose we-
niger als im Winter 1997/98, als Sie die Verantwortung
trugen. Das wollen wir nicht vergessen. Wir lassen es
auch nicht zu, dass es vergessen wird.
Das heißt nicht, dass man nicht alles dagegen tun muss.
Aber das heißt auch, alles dagegen zu tun, was Sie an
Falschmünzerei in die öffentliche Debatte in Deutschland
bringen. Mit uns nicht!
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
Auch wenn die Ausgangslage schwieriger geworden
ist, bleibt es dabei: 2006 wird es einen ausgeglichenen ge-
samtstaatlichen Bundeshaushalt geben.
2003 werden wir alle Anstrengungen unternehmen – un-
ser Konzept beweist dies –, um wieder unter die Defizit-
grenze von 3 Prozent zu kommen.
Sie und Ihre Landesregierungen werden daran gemessen
werden, ob Sie dazu Ihren Beitrag leisten. Dem werden
Sie nicht mehr lange ausweichen können.
Diesen Kurs einzuhalten – so schwierig das auch ist –
ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir
unserer Verpflichtung im Rahmen des europäischen
Stabilitäts- und Wachstumspaktes und für unsere ge-
meinsame Währung nachkommen. Damit geben wir der
Europäischen Zentralbank die Möglichkeit, mit der
Geldpolitik zum Wachstum beizutragen. Voraussetzung
dafür ist die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte.
Dies ist auch gegenüber unseren Kindern und Enkeln
angesichts einer alternden Gesellschaft unsere Verant-
wortung.
Der Weg freilich wird anstrengender. Der Nachtrags-
haushalt 2002 bringt – natürlich hat mir das keine Freude
gemacht – eine massive Erhöhung der Neuverschuldung
über das hinaus, was ich geplant hatte: von 21,1 auf
34,6Milliarden Euro. Im Rahmen von Art. 115 des Grund-
gesetzes liegt dem eine Störung des gesamtwirtschaft-
lichen Gleichgewichts zugrunde.
Es gibt keinen anderen vernünftigen Weg. Als sich die
Situation abzeichnete, wäre andernfalls ein Gegensteuern
in einem sich abflachenden Wirtschaftswachstum nur
noch durch das Stilllegen einer Reihe von Investitions-
vorhaben möglich gewesen. Ich kenne keinen Ökonomen
– Sie können noch nicht einmal bis zum Ende zuhören –,
insbesondere nicht unter denen, die intensiv am europä-
ischen Stabilitäts- und Wachstumspakt festhalten, wie
auch ich das tue, die das für eine vernünftige Alternative
gehalten hätten.
Hier gilt, dass die automatischen Stabilisatoren wir-
ken müssen. Das heißt, dass man in einer konjunkturel-
len Schwächephase die Mindereinnahmen, die sich
durch geringere Steuereinnahmen ergeben, und die
Mehrausgaben, die man für den Arbeitsmarkt braucht,
hinnehmen muss, um in der nächsten Aufschwungphase
umso konsequenter zu konsolidieren. Genau das machen
wir.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich einige Sätze zu der
unsäglichen Diskussion sagen, die heute Morgen in dem
von Herrn Altmaier geäußerten Vorwurf der Bilanzfäl-
schung gipfelte.
Ich weiß nicht, ob Ihnen noch bewusst ist, wohin Sie sich
mit einer solchen Verrohung der politischen Sprache in
diesem Land begeben.
Glauben Sie, dass es besser würde, wenn ich mit dem Be-
griff „Verleumder“ antworten würde?
Wer so die Politik in diesem Lande gestaltet, hat zwar
nicht dieselbe ökonomische Basis wie die Weimarer Re-
publik geschaffen, aber er hat einen fundamentalen Feh-
ler von Weimar wiederholt, nämlich sich selber, die poli-
tische Klasse insgesamt, kaputtzumachen. Das aber tun
Sie!
Hans Mommsen hat mit seinem Artikel in der „Süddeut-
schen Zeitung“ sehr Recht. Mir ist bekannt, dass es in
Ihren Reihen viele gibt, die das auch nicht in Ordnung fin-
den. Sie sollten langsam dafür sorgen, dass Sie sich in Ih-
rer Partei durchsetzen, meine Damen und Herren.
Es ist wirklich abenteuerlich. Alle Fakten werden mo-
natlich vom Bundesfinanzministerium veröffentlicht.
Der verehrte neue stellvertretende CDU/CSU-Vorsit-
zende, Herr Böhr,
forderte kürzlich eine gläserne Bundesregierung. Zu
diesem Zweck müssten vierteljährlich Einnahmen, Aus-
gaben und andere Daten veröffentlicht werden. Aber,
meine Damen und Herren, bereits seit August 2001 wird
auf meine Entscheidung hin monatlich veröffentlicht, wie
sich die Steuereinnahmen und Ausgaben entwickeln und
wie die Finanzierungssalden beim Bund und bei den Län-
dern aussehen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 737
Prognosen allerdings erstellen wir nur dreimal im Jahr
– dabei bleibt es auch, und zwar im Wahljahr wie in allen
anderen Jahren –, und zwar im Mai und November im Zu-
sammenhang mit den beiden Steuerschätzungen und im
Januar für den Jahreswirtschaftsbericht und das Stabilitäts-
programm.
Was Ihre negative Einschätzung angeht, gebe ich zu,
dass ich sie nicht in dem Maße teile, weil nämlich,
als wir im Frühjahr das Wachstum für 2002 auf drei Vier-
tel Prozent geschätzt haben, alle wirtschaftswissenschaft-
lichen Forschungsinstitute darüber lagen. Ich möchte
aus dem Frühjahrsgutachten der Forschungsinstitute zi-
tieren:
Das Bruttoinlandsprodukt wird im Jahresverlauf
2002 um 2 1/4 Prozent steigen, im Jahresdurchschnitt
wegen der niedrigen Ausgangsbasis jedoch nur um
0,9 Prozent.
Noch im August lagen fast alle Wirtschaftsforschungs-
institute über unseren Voraussagen: Ifo 0,7 Prozent, das
Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv 0,7 Prozent, das
Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung
0,6 bis 0,7 Prozent, das Institut für Weltwirtschaft 1,2 Pro-
zent. Das einzige Institut, das unter unseren Voraussagen
lag, war das DIWmit 0,6 Prozent. Aber auch das DIW ist
ausdrücklich von einer Beschleunigung in der zweiten
Jahreshälfte ausgegangen. Das Institut für Wirtschaftsfor-
schung Halle ist von 0,9 Prozent ausgegangen, der Inter-
nationale Währungsfonds ebenfalls von 0,9 Prozent, die
OECD von 0,7 Prozent, Deutsche Bank 1,2 Prozent,
Dresdner Bank 1 Prozent und wir sind von drei Viertel
Prozent ausgegangen. Dass es im Herbst zu einer drama-
tisch schnellen Abwärtsentwicklung gekommen ist, ist
wohl wahr. Aber auch das ist klar: Der deutsche Finanz-
minister kann nur dann feststellen: „Wir reißen die 3 Pro-
zent“, wenn es zweifelsfrei feststeht und er muss auch die
internationalen Konsequenzen eines solchen Schritts be-
denken.
Das würde sicherlich jeder tun, der dieses Amt innehat.
Für mich war hinsichtlich des Eingangs der tatsächli-
chen Steuern von September – denn das war der Abbruch
in 2001 – klar: Wenn wir 2002 unter den 3 Prozent hätten
bleiben wollen, hätten die Steuern deutlich über das Vor-
jahresergebnis hinausgehen müssen, wie im Oktober ge-
schehen. Im September war das allerdings nicht der Fall
und damit war kein Aufholen möglich.
Das, was Sie mit dem beabsichtigen, was sie jetzt ver-
anstalten, liegt klar auf der Hand, übrigens auch für die
Finanzminister aller Bundesländer. Der Untersuchungs-
ausschuss wird eine spannende Veranstaltung werden.
Denn Sie haben in der Opposition eine Doppelstrategie
verfolgt: Herr Merz hat immer gesagt, dass alles mies sei,
während Frau Merkel und Herr Stoiber für das Verkünden
der Wohltaten zuständig waren. Wenn das, was Sie in
Ihrem 100-Tage-Programm versprochen haben, tatsäch-
lich umgesetzt worden wäre, dann hätten im Vergleich zu
unseren Entscheidungen 21 Milliarden Euro zusätzlich
ausgegeben werden müssen. Das ist 1 Prozent vom Brut-
toinlandsprodukt. Frau Merkel, hat Ihnen denn Herr
Merz, als Sie drei Wochen vor der Bundestagswahl dieses
Programm vorgestellt haben, niemals aus seiner Sicht die
Lage der Staatsfinanzen dargestellt und Sie nicht darauf
hingewiesen, dass ein solches Programm zur Folge habe,
dass man die 3-Prozent-Grenze erheblich verfehlen
werde? Das ist doch eine spannende Frage.
Ich frage auch: Was hat denn der verehrte Kollege
Faltlhauser seinem Ministerpräsidenten über die Ent-
wicklung der Finanzlage gesagt oder hat er es ihm gar
nicht gesagt? Oder hat Herr Stoiber das, was Herr
Faltlhauser gesagt hat, nicht ernst genommen? Wenn ich
mir die Entwicklungsgeschichte des Untersuchungsaus-
schusses anschaue, dann kann ich nur sagen: Ich freue
mich auf ihn.
Frau Merkel, Sie hätten sich nicht ausgerechnet von Herrn
Koch – ich weiß, wovon ich rede –,
der seinen Wahlkampf in Hessen mit Schwarzgeld und ei-
ner unsäglichen Kampagne gewonnen hat,
einen solchen Untersuchungsausschuss einreden lassen
dürfen.
Verehrte Frau Koch
– Entschuldigung, das tut mir Leid –, sehr verehrte Frau
Merkel, es wird beabsichtigt, mit diesem Untersuchungs-
ausschuss nicht nur eine bestimmte Hauptwirkung, son-
dern auch gewisse Nebenwirkungen zu erzielen. Die be-
absichtigte Hauptwirkung soll natürlich sein, bis zum
2. Februar 2003 nicht sagen zu müssen, was Sie an unse-
rer Stelle täten, obwohl Sie das schon jetzt in den Regie-
rungen der unionsgeführten Bundesländer sagen müssten.
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
Es ist klar, dass nichts, was man jetzt tut, populär sein kann.
Deshalb kann man viele Menschen aufhetzen. Aber erst
dann, wenn sichtbar wird, was Sie machen wollen, wird es
richtig spannend. Sie wollen das, was Sie zu tun beabsich-
tigen, verschleiern und erst nach dem 2. Februar 2003
kundtun. Das ist die Wirklichkeit. Wir sagen dagegen, was
wir zu tun beabsichtigen.
Der Untersuchungsausschuss soll aber noch zwei Ne-
benwirkungen haben, die einkalkuliert sind. Sie wollen
– das ist die erste beabsichtigte Nebenwirkung – von den
Problemen der FDP ablenken; das verstehe ich. Aber die
zweite beabsichtigte Nebenwirkung, sehr verehrte Frau
Merkel, ist ein bisschen problematischer. Um die Fragen,
die ich Ihnen vorhin zu Ihrem Wahlprogramm gestellt
habe, zu beantworten, muss man nichts weiter tun, als sich
die mittelfristige Finanzplanung anzuschauen. Dann er-
kennt man, dass Ihr gesamtes Wahlprogramm und insbe-
sondere Ihr 100-Tage-Programm in den Zeitraum 2003
bis 2006 überhaupt nicht hineinpassen. Hat Ihnen das
Herr Merz auch nicht gesagt?
Es werden doch auch diesbezüglich entsprechende Fragen
im Untersuchungsausschuss gestellt werden. Vielleicht
wird auch Herr Koch gefragt werden, wie er das so ge-
nannte Familiengeld finanzieren wollte, zu dem er sich
positiv geäußert hat. Er wird dann vielleicht antworten,
dass er aus Loyalität zu seiner Parteivorsitzenden den Vor-
schlag zum Familiengeld unterstützt habe. Das wäre wirk-
lich die perfideste Art.
Als ich den Haushalt 2002 im Bundestag begründet
habe – das habe ich auch vor der Bundespressekonferenz
gesagt –, habe ich gesagt, dass er auf Kante genäht sei.
Aufgrund des zweiten Jahres mit schwachem Wirt-
schaftswachstum seien keine Reserven vorhanden. Wenn
die wirtschaftliche Entwicklung weiter negativ verlaufe,
dann werde das auf den Haushalt durchschlagen.
Ich habe von Anfang an gesagt – übrigens manchmal nicht
zur Freude meiner eigenen Parteikollegen –, dass dann
nichts mehr zu machen sei.
Verehrter Herr Merz, wir reden vielleicht auch noch ein-
mal über die Verantwortung, die Sie als Fraktionsvorsit-
zender hatten, und darüber, welche Anträge, die Ausga-
bensteigerungen zur Folge gehabt hätten, noch im Laufe
des Sommers des vergangenen Jahres eingebracht worden
sind.
Wir haben eine Haushaltssperre verhängt und haben
gesagt: Für die Finanzierung des Wiederaufbaus in den
von der Flutkatastrophe betroffenen Gebieten werden
keine neuen Schulden gemacht. Wir müssen vielmehr die
beabsichtigten Steuersenkungen verschieben. Das haben
wir drei Wochen vor der Bundestagswahl gesagt.
Hier lasse ich mir von Ihnen keinen einschenken. Es wird
zurückgeschossen; da können Sie sicher sein.
Angesichts zwei Jahre schwachen Wirtschaftswachs-
tums müssen wir den Haushalt 2003 auf eine neue Basis
stellen.
– Meine Damen und Herren, jetzt weiß ich, warum wir das
Programm zur Kinderbetreuung aufgelegt haben. – Für
den Haushalt 2003 und für die ganze Wahlperiode brau-
chen wir eine neue Grundlage, die in die Basis zwei Jahre
schwaches Wirtschaftswachstum in der Welt und bei uns
einbezieht. Des Weiteren sollten wir von einem niedrige-
ren Wachstum ausgehen. Deswegen habe ich das Durch-
schnittswachstum der letzten zehn Jahre zugrunde gelegt,
nämlich 1,5 Prozent. Dieses Wachstum kann natürlich be-
stritten werden. Aber wir liegen mit dieser Annahme mit-
ten im Prognosespektrum zwischen dem Sachverständi-
genrat mit 1 Prozent, dem Internationalen Währungsfonds
mit 1,75 Prozent und der OECD, die vor wenigen Tagen
unsere Prognose bestätigt hat.
Wir senken gegenüber dem Nachtragshaushalt 2002
die Nettokreditaufnahme um 15,7 Milliarden Euro auf
18,9 Milliarden Euro. Das ist eine riesige Kraftanstren-
gung, vergleichbar der, die wir 1999 bei der Einleitung
des Konsolidierungskurses unternommen haben. Das be-
stätigt, dass wir voll auf Kurs bleiben.
Die Ausgabenreduzierung gegenüber dem Nachtrags-
haushalt 2002 beträgt 1,8 Prozent bzw. 3,3 Prozent, wenn
man – das muss man wohl machen – den Hochwasserso-
lidaritätsfonds herausrechnet. Das sind real fast 5 Prozent
weniger Ausgaben als in diesem Jahr, meine Damen und
Herren. Zeigen Sie mir ein Land in Europa, das so konse-
quent den Konsolidierungskurs geht. Damit übererfüllt
der Bund seine Verpflichtungen, die er im Rahmen des na-
tionalen Stabilitätspaktes übernommen hat.
Der Hauptteil – das gehört zugegebenermaßen zu den
gegenwärtigen Kommunikationsproblemen – wird durch
Ausgabenkürzungen erbracht. Über diesen Teil redet in
der Öffentlichkeit fast niemand. Dass wir in dieser Situa-
tion mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes, zum Bei-
spiel einer schnelleren Vermittlung, keinen Zuschuss zur
Bundesanstalt für Arbeit leisten, bedeutet für alle Betei-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 739
ligten eine enorme Kraftanstrengung. Dass wir die Ar-
beitslosenhilfe um 2,5 Milliarden Euro kürzen, ist uns
nicht leicht gefallen, denn das bedeutet einen Eingriff in
Besitzstände von Leuten, die nicht viel haben. Wir haben
uns das sorgfältig angesehen und meinen, dass das ver-
tretbar ist. Aber, meine Damen und Herren, wer über die
Dienstwagenbesteuerung jammert, der sollte erst einmal
über die Situation der Arbeitslosenhilfeempfänger reden.
Es ist nicht in Ordnung, was sich in der politischen Dis-
kussion in diesem Lande abspielt.
Als Finanzminister sage ich übrigens ganz ausdrück-
lich: Diese Eingriffe werden nicht die einzigen sein, die
wir im sozialen Bereich vornehmen müssen. Denn die Al-
terung unserer Gesellschaft wird uns noch vor viele große
Aufgaben stellen. Aber, wer in solch einer Situation im-
mer nur auf die schwächsten Teile der Gesellschaft schaut
und nicht einen Moment lang darüber nachdenkt, welchen
Beitrag auch er leisten müsste, der ist in der politischen
Debatte aus meiner Sicht nicht auf der Seite derer, die sich
um einen sozialen Ausgleich bei diesem notwendigen
Modernisierungsprozess in unserer Gesellschaft be-
mühen.
Wir kürzen die Finanzhilfen weiter, und zwar nicht
nur – das ist auch eine spannende Debatte bei Ihnen – im
Bergbau. Es steht übrigens in der Koalitionsvereinbarung,
dass die Finanzhilfen auch nach Auslaufen der jetzigen
vertraglichen Regelung weiter heruntergefahren werden.
Wir kürzen auch, weil der Wohnungsmarkt etwas anderes
nicht mehr vernünftig erscheinen lässt, zum Beispiel im
Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Hier bekommen wir
jedoch von Ihnen wieder Vorwürfe gemacht. Die Bilanz
des Abbaus der Finanzhilfen, also der direkten Subven-
tionen, zeigt Folgendes: 1998 standen in Ihrem Haushalt
11,4 Milliarden Euro. In unserem Haushalt stehen für die-
ses Jahr 8,4 Milliarden Euro und für das nächste Jahr
7,8 Milliarden Euro. Das bedeutet eine Reduzierung der
Finanzhilfen, der direkten Subventionen, von 30 Prozent
im Laufe von fünf Jahren. So etwas haben Sie vorher nie
zuwege gebracht, meine Damen und Herren.
Aber wer über Subventionen redet, der soll nicht nur
über die Ausgabenseite reden. Dort sind nämlich die Sub-
ventionen untergebracht, die insbesondere diejenigen er-
halten, die überhaupt keine Steuern zahlen, weil ihr Ein-
kommen so niedrig ist. Das habe ich eben am Beispiel der
Arbeitslosenhilfe deutlich gemacht.
Wer über Subventionen redet, der muss in der Tat auch
über Vergünstigungen im Steuerrecht reden. Das haben
Sie übrigens in anderem Zusammenhang auch immer ge-
tan. Dort gibt es eine ganze Menge von Vergünstigungen
für diejenigen, die steuerpflichtig sind, aber nicht für die-
jenigen, die ein so niedriges Einkommen haben, dass sie
keine Steuern zahlen. Deshalb muss man sich diese Sub-
ventionen mit ansehen.
Ich beklage, dass die Debatte in Deutschland nur um
diesen Teil geführt wird, der übrigens bei der Reduzierung
der Neuverschuldung um 15,7 Milliarden Euro mit Ab-
stand den kleinsten Teil ausmacht, nämlich beim Bundes-
haushalt gerade etwas über 3 Milliarden Euro. Insgesamt
geht es um 5 Milliarden Euro, weil die Länder und Kom-
munen daran beteiligt sind.
Das geschieht übrigens trotz einer historisch niedrigen
Steuerquote. Damit wir uns richtig verstehen: Auch ich
will, dass die Staatsquote zurückgeführt wird. Ich will
aber eines klar machen: Die Staatsquote kann nur zurück-
geführt werden, indem man die Staatsverschuldung und
damit die Zinslast reduziert. Anderenfalls macht man den
Staat aktionsunfähig.
Das wollen wir jedenfalls nicht.
Wir haben es zurzeit wieder einmal fast mit einem Ver-
fall der Steuerbasis zu tun. Deswegen steht im Wahlpro-
gramm der Sozialdemokratie als eine von mehreren
Schwerpunktaufgaben der Steuerpolitik für diese Wahl-
periode die Befestigung der Steuerbasis. Ich bin mir ganz
sicher, dass Ihre Finanzminister das keinen Deut anders
sehen.
Erstens. Wir haben einen hohen Umsatzsteuerbetrug.
Ich habe mit den Ländern vor einem Jahr Maßnahmen da-
gegen verabredet, die wir dann hier beschlossen haben.
Ich kann nicht erkennen, dass – mit Ausnahme des größ-
ten deutschen Bundeslandes – die Länder die Maßnah-
men, die wir ihnen möglich gemacht haben, beherzt um-
setzen. Auf diesem Gebiet muss etwas geschehen, damit
der Umsatzsteuerbetrug in Deutschland wirklich bekämpft
wird.
Zweitens. Das Instrument Kontrollmitteilungen
kennt man in sehr vielen Ländern, und zwar gerade in den
großen, angelsächsischen Ländern. Dieses Instrument
– das ist der Trend – wird international üblich werden.
Warum? – Es gibt doch angesichts des Binnenmarktes und
der Globalisierung nur zwei Wege: Entweder einigt man
sich bei allen für die globalisierte Welt oder den Binnen-
markt wichtigen Steuern auf ein bestimmtes Steuersystem –
dafür gibt es die einfache Prognose, dass das noch Jahr-
zehnte dauern wird, wenn nicht noch länger; ich glaube
gar nicht, dass es dazu kommt – oder man sorgt dafür, dass
jedes Land für seine steuerpflichtigen Bürger seine Ein-
nahmen erhält. Das geht dann nur über Kontrollmitteilun-
gen. Das entspricht der Situation in der Europäischen
Union, in der wir uns einstimmig auf Kontrollmitteilun-
gen verständigt haben.
Ich will auch noch etwas zu der Frage Bankgeheimnis
sagen: Meine Damen und Herren, mich interessiert über-
haupt nicht – das sollte niemanden interessieren –, was auf
dem Konto eines Privatmannes vor sich geht.
Es gibt aber zwei Ausnahmen. Eine Ausnahme besteht
darin, wenn es um kriminelle Aktionen wie beispielsweise
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
Geldwäsche geht. Dazu haben wir eine Reihe von Geset-
zen verabschiedet. Ich hoffe, dass wir in diesem Punkt
keinen Streit haben.
Die zweite Ausnahme besteht darin, wenn es darum
geht, dem Finanzamt steuerpflichtige Vorgänge mitzutei-
len. Das ist nicht streitig in Amerika, das ist nicht streitig
in Großbritannien und das ist nicht streitig in Frankreich.
Warum sollte es in Deutschland streitig sein?
Außerdem muss jeder Lohnsteuerzahler sein Einkom-
men offen legen. Das heißt, bei ihm werden die Informa-
tionen zwangsweise offen gelegt. Das geschieht durch die
Gehalts- und Lohnabteilung bei den Unternehmen. Von
dort gehen diese Informationen dann an das Finanzamt.
Wo liegt also das Problem? – Ich kann es nicht erkennen.
Jetzt komme ich zu einem wichtigen Thema im Zu-
sammenhang mit der Spekulationssteuer: Das Bundes-
verfassungsgericht befasst sich damit, weil der Bundesfi-
nanzhof gesagt hat, diese Steuer werde praktisch nicht
vollzogen; 95 Prozent derer, die bei der Veräußerung von
Akten innerhalb eines Jahres Gewinne erzielten, gäben
diese nicht an. Deswegen – so die Argumentation des
Bundesfinanzhofes – ist diese Steuer verfassungswidrig,
weil sie praktisch nicht vollzogen wird.
Es gibt eine einfache Antwort: Dann erheben wir diese
Steuer, wie es in allen großen Ländern dieser Erde üblich
ist. Wie Sie wissen, haben wir – in unserem Steuerpaket
wird das deutlich – noch eine andere Konsequenz gezogen.
Darüber wird man noch diskutieren.
Ich komme zum Thema Körperschaftsteuer. Sie hat-
ten im Wahlkampf Recht, auch wenn Ihr Argument falsch
war: Ja, es kann nicht hingenommen werden, dass die Kör-
perschaftsteuer verfällt. Soweit es um die Ausschüttung
früherer Gewinne geht, ist das kein Problem; denn dieses
Geld fällt unter die Kapitalertragsteuer. Leider können mir,
dem Bundesfinanzminister, und den Finanzministern der
Länder selbst die sachverständigen Steuerschätzer – sie ar-
beiten übrigens nicht nur für die Institute der Bundesbank,
sondern auch für die Länder; sie alle sind neutral – erst von
Steuerschätzung zu Steuerschätzung mitteilen, ob und wie
viel Geld in die Kassen fließt. Erst sagen sie dann, man be-
komme Geld und anschließend teilen sie mit, man be-
komme doch keines. Angesichts dessen verliert man lang-
sam den Glauben an den Sinn dieser Veranstaltung.
Wir haben bereits in dem Bericht an den Finanzaus-
schuss des Bundestages in der vorigen Wahlperiode da-
rauf hingewiesen, dass Regelungsbedarf besteht. Diesen
Bedarf erfüllen wir jetzt. Das heißt mit einem einfachen
Satz – ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand
von Ihnen dem widersprechen will –: Ein Unternehmen,
das Gewinne macht, soll Steuern zahlen.
Es geht dabei überhaupt nicht um Steuern, deren Zahlung
ein Unternehmen in den Bankrott treibt.
Große Unternehmen haben mittlerweile beispielsweise
wunderbare Dokumentationen darüber – solche Doku-
mentationen werden grenzüberschreitend erstellt –, an
welcher Stelle eines Fließbandes eine Schraube fehlerhaft
befestigt worden ist. Wir müssen zum Beispiel über Ver-
rechnungspreise so gut Bescheid wissen, dass wir verhin-
dern können, dass in Deutschland entstandene Gewinne
von der einen auf die andere Seite, also vom Inland ins
Ausland, geschoben werden, weswegen der deutsche Fis-
kus das Nachsehen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
Sie das wollen. Das kann niemand wollen.
Sie haben im Wahlkampf entsprechende Forderungen er-
hoben. Wir sind auf Ihre Mitwirkung an dieser Stelle ge-
spannt.
Ich komme zum Thema Steuervergünstigungen. Zu-
allererst möchte ich eine Grundsatzbemerkung machen:
Ökonomisch gesehen besteht kein Unterschied zwischen
dem Abbau einer ausgabenseitigen Finanzhilfe und der
Verringerung einer Steuervergünstigung. In beiden Fällen
nimmt man jemandem Geld weg; es handelt sich – das ist
wahr – ökonomisch um denselben Sachverhalt. Wir müs-
sen uns darüber im Klaren sein, dass es sowohl auf der
Einnahmeseite als auch auf der Ausgabenseite Vergünsti-
gungen, zum Beispiel in Form von Subventionen, gibt.
An dieser Stelle setzen wir an, und zwar so, wie Sie es
immer gefordert haben: Steuervereinfachungen durch die
Reduktion der Anzahl von Ausnahmetatbeständen.
Was wir tun, wird sich übrigens weitestgehend erst im
Jahre 2004 auswirken, wenn es nämlich zur nächsten
Stufe der Steuersenkungen – Verbreiterung der Bemes-
sungsgrundlage und Senkung der Steuersätze – kommen
wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich nur auf wenige
Bereiche hinweisen. Stichwort Umsatzsteuer:Wenn man
der Forderung einiger Gruppen von Lobbyisten nachgibt
und den unteren Mehrwertsteuersatz ausdehnt, dann führt
das gewissermaßen zu einer Zerstörung der Umsatzsteuer.
In Deutschland ist das schon der Fall. Ich erinnere mich
an das, was Sie im vorigen Jahr und noch während dieses
Sommers im Zusammenhang mit Handwerkerrechnun-
gen versucht haben. Wir können den oberen Mehrwert-
steuersatz nur dann halten, wenn nicht alles Mögliche un-
ter den unteren Mehrwertsteuersatz fällt.
Der ursprüngliche Gedanke war sozial; denn Mehr-
wertsteuer zahlen auch diejenigen, deren Einkommen so
gering ist, dass sie keine Lohn- und Einkommensteuer
zahlen. Weil man nicht wollte, dass die niedrigen Ein-
kommen von der Mehrwertsteuer in gleichem Maße be-
troffen sind, hat man dafür gesorgt, dass der Erwerb von
Gütern, deren Konsum der Befriedigung von Grundbe-
dürfnissen dient, nur dem halben – inzwischen ist er ein
bisschen geringer – Mehrwertsteuersatz unterliegt. Auf
740
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 741
diesen Grundgedanken greifen wir zurück. Die sozialen
Grundbedürfnisse – die Grundnahrungsmittel, kulturelle
Grundbedürfnisse – sowie ab 2005 der öffentliche Perso-
nennah- und Fernverkehr
sollen unter den niedrigen Mehrwertsteuersatz fallen. Das
können Sie noch ändern. Ich bin sehr gespannt, wie Sie
auf unsere Politik reagieren. Ich kann niemandem erklä-
ren, wieso zum Beispiel Schnittblumen unter den niedri-
gen Mehrwertsteuersatz fallen, Babywindeln aber nicht.
Man sieht, was passiert – auch in unseren Reihen gab
es eine Diskussion darüber, Stichwort Zahntechniker –,
wenn man einen Bereich des Gesundheitswesens geson-
dert behandeln will. Den ganzen Sommer über hatten
Frau Kollegin Schmidt und ich eine Diskussion darüber,
ob auch die Medikamente unter den niedrigeren Mehr-
wertsteuersatz fallen sollten. Aber dann drängt einer
nach dem anderen hinein. Auch deswegen mussten die
Zahntechniker heraus, damit für die Gesundheitsreform
ein für alle Mal klar gemacht wird: Das Gesundheitssys-
tem hat kein Einnahmeproblem, es hat ein Ausgaben-
problem. Man braucht also nicht zusätzliche Einnahme-
quellen zu suchen, sondern muss im Gesundheitswesen
rationeller arbeiten und für Wettbewerb sorgen. Das ist
die Antwort.
Nun komme ich zu einer Steuersubvention, zur Eigen-
heimzulage. Ich weiß, das ist nicht einfach.
Aber, meine Damen und Herren, wie soll man – volks-
wirtschaftlich betrachtet – eigentlich jemandem erklären,
dass in einem Land, in dem im Osten erheblicher Woh-
nungsleerstand besteht und in dem in den meisten Regio-
nen der Wohnungsmarkt zumindest ausgeglichen ist – in
einigen wenigen ist der Wohnungsmarkt auch noch ange-
spannt, was dann regional beantwortet werden mag –,
Jahr für Jahr 10Milliarden Euro an Steuersubventionen in
den Wohnungsmarkt gehen? Wie wollen Sie das jeman-
dem erklären?
In Ostdeutschland nehmen wir bereits Geld in die Hand,
um Wohnungen abzureißen. Das hat die Qualität von
Agrarsubventionen: erst Produktion fördern und dann
Vernichtung.
Reden Sie doch nicht über die Steinkohlesubvention, die
systematisch abgebaut wird, wenn Sie nicht bereit sind,
bei der Änderung der Eigenheimzulage mitzumachen. Sie
haben volkswirtschaftlich kein einziges Argument.
Was wohl an dieser Stelle eine Rolle spielen kann – das
ist das positive Argument –: Wir fördern die Eigentums-
bildung. Wir fördern nicht den Neubau. Das bedeutet:
eine Förderung bitte nur bei denen, die es nötig haben, und
wo wir es uns leisten können. Das heißt: Familien mit
Kindern brauchen die Förderung, Familien ohne Kinder
aber nicht.
Ebenso klar ist es, dass der Altbau genauso gestellt sein
muss wie der Neubau. Wieso fördern wir den Neubau in
Gebieten mit hohem Wohnungsleerstand? Das macht kei-
nen Sinn. –
Das sind die Veränderungen.
Jetzt die andere Seite: Es bleibt bei allen Schwerpunkten,
die wir in der vergangenen Wahlperiode in unserer Haus-
halts- und Finanzpolitik gesetzt haben. Wir machen diese
Konsolidierungsanstrengungen doch auch und zuallererst,
damit unsere Haushalte zukunftsfähiger werden. Wir ma-
chen sie, damit wir weniger Zinsen zahlen müssen, aber
mehr investieren können. Die Investitionen im Haushalt
steigen von diesem auf das nächste Jahr von rund 25 auf
26,8 Milliarden Euro. Wir stoßen darüber hinaus weitere
Investitionen an.
Wir haben die historisch höchsten Verkehrsinvestitio-
nen, verstetigen diese und werden sie im Planungszeit-
raum weiter heraufsetzen.
Wir haben gegenüber Ihrer Regierungszeit die Ausga-
ben für den Bildungsbereich um fast 30 Prozent gestei-
gert, von 2002 auf 2003 wiederum um 3,7 Prozent.
Wir haben die Ausgaben für die Familien gewaltig er-
höht. Der Bundesbankvizepräsident Jürgen Stark liegt
schief, wenn er uns Vorwürfe macht, weil wir das Kinder-
geld systematisch erhöht haben. Das ist eine Zukunftsin-
vestition.
Wir gehen weiter bei der Ganztagsbetreuung und ha-
ben in diesen Haushalt eine Anlaufrate eingestellt; denn es
wird Zeit, dass wir bei der Kinderbetreuung den europä-
ischen Standard erreichen. Wir dürfen Frauen nicht vor
die Wahl zwischen Kindern und Beruf stellen. Wir müs-
sen es ihnen möglich machen, beides miteinander zu ver-
binden. Das ist es, was wir brauchen.
Wir setzen den Aufbau Ost auf hohem Niveau fort und
führen dieses Jahr zusätzlich das Stadtumbauprogramm
Ost ein.
Das ist unsere Haushaltspolitik: Sie ist nicht einfach,
aber zielgerichtet. Wir wollen, auch wenn es unter den ge-
gebenen Bedingungen mühselig ist, konsequent den Weg
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
der Konsolidierung unseres Haushaltes gehen, um
Deutschland zukunftsfähig zu machen.
Konsolidierung ist aber nicht nur eine Sache des Bun-
des. Konsolidierung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe
und unterliegt einer gesamtstaatlichen Verantwortung von
Bund, Ländern und Gemeinden sowie den sozialen Si-
cherungssystemen. Dabei trägt der Bund die größte Last.
Wer sich das noch einmal verdeutlichen will, braucht sich
nur den letzten Bericht des Bundesrechnungshofes anzu-
sehen. Es ist relativ offenkundig, wie sich der Anteil des
Bundes an den Steuern entwickelt hat, nämlich nach un-
ten, und wie sich der Anteil des Bundes an der Verschul-
dung entwickelt hat, nämlich gewaltig nach oben. Ich
kritisiere das gar nicht. Das waren die Lasten der Wieder-
vereinigung; das ist in Ordnung. Man muss aber wissen,
dass auch andere eine Verantwortung für die Konsolidie-
rung des Staatshaushaltes und dafür, dass wir unseren Ver-
pflichtungen im Rahmen des europäischen Stabilitäts-
und Wachstumspakts nachkommen, haben.
Ich bin froh darüber, dass wir es im März geschafft ha-
ben, im Finanzplanungsrat einen nationalen Stabilitäts-
pakt zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu
schließen. Ich unterstelle auch den guten Willen der Län-
der. Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Ich freue
mich darüber, dass es uns in der vergangenen Woche ge-
lungen ist, gemeinsam festzustellen: 2006 wollen wir ei-
nen ausgeglichenen gesamtstaatlichen Haushalt und 2003
wollen wir das Defizit wieder unter 3 Prozent senken.
Aber dazu muss auch jeder seinen Beitrag leisten.
Das Konzept, das wir auf dem Tisch gelegt haben, führt
dazu.
Es ist ein Konzept, das nicht nur den Bundeshaushalt ein-
bezieht. Denn wer sich auf den mühseligen Weg macht,
Steuervergünstigungen bei den Gemeinschaftsteuern ab-
zubauen, hat natürlich den positiven Nebenaspekt, damit
Ländern und Gemeinden ein Stück zu helfen. Ihre Klagen
über die Situation der Kommunalfinanzen sind nichts
wert, wenn Sie nicht bereit sind, an dieser Stelle mitzu-
wirken. So einfach ist das.
Wir werden sehen, welche eigenen Beiträge die Länder
und Gemeinden leisten. Ich sage ausdrücklich die Bereit-
schaft des Bundes zu, bei allen Vorschlägen, auch zu Bun-
desleistungsgesetzen – das wird politisch ausgefochten
werden –, mitzumachen, wenn sie vernünftig sind und
wenn es eine gemeinsame Position der Länder ist, um zu
weiteren Ausgabenreduzierungen zu kommen. Das wird
nämlich unsere gemeinsame Aufgabe sein.
Nur eines wird nicht funktionieren: Wir machen das
zugunsten der Länder und die B-Länder, jedenfalls in ih-
rer großen Mehrheit, sagen: Wir wollen den Gewinn dop-
pelt; erstens wollen wir Geld einsparen und zweitens die
anderen noch dafür beschimpfen, dass sie das für uns ma-
chen. – Das wird nicht laufen, sondern es geht nur so, dass
sie sich offen zu ihrer Verantwortung bekennen und klar
sagen: Dieses und jenes wollen wir in Bundesgesetzen
geändert haben. – Dann sind wir verhandlungsbereit. Es
geht ausdrücklich nur so; denn jeder muss seinen Beitrag
zur Gesamtverantwortung leisten.
Übrigens haben sich die Länder ausbedungen, 55 Pro-
zent des ab 2004 erlaubten Defizits machen zu können,
während dem Bund nur 45 Prozent verbleiben. Das ist für
uns ein harter Weg, weil unsere Ausgangslage
viel schlechter ist. Für den Bund ist das ein viel härterer
Konsolidierungspfad als für die Länder. Trotzdem habe
ich zugestimmt. Aber das heißt dann auch: Die Länder tra-
gen 55 Prozent der Verantwortung dafür, dass wir die
Maastricht-Kriterien einhalten. Diese Verantwortung
haben insbesondere Sie, weil Sie die Mehrheit im Bun-
desrat stellen.
Sie werden mir also nicht ausweichen können. Ich glaube
auch, dass Ihr Manöver, das vor dem 2. Februar nicht zu
sagen, nicht gelingen wird.
Wir bemühen uns um die Gemeindefinanzen und ha-
ben dazu die Reformkommission eingesetzt. Das ist ein
schwieriges Thema, weil ich sehr genau sehe, dass noch
immer zwei Züge direkt aufeinander zufahren, die zwar
beide dasselbe Ziel haben, nämlich die Kommunalfinan-
zen zu verbessern und damit die Kommunen unabhängi-
ger von Konjunkturschwankungen und investitionsfähi-
ger zu machen – was dringend erforderlich ist –, die aber
in verschiedene Richtungen fahren, weil die Kommunal-
politiker beider großen Parteien ganz überwiegend auf die
Revitalisierung der Gewerbesteuer setzen und die Wirt-
schaftsverbände auf das Gegenteil, nämlich die Abschaf-
fung. Da wird eine große Aufgabe auf uns zukommen, die
nur – das ist meine Prognose – in großem Einvernehmen
zwischen Kommunen und Wirtschaftsverbänden zu lösen
ist. Wenn ich mir die Situation in Bundestag und Bundes-
rat ansehe, wird jeder vor diese Frage gestellt werden.
Ich werde meinen Teil dazu beitragen, dass wir zusam-
menfinden. Deswegen bin ich auch vorsichtig, wenn es
darum geht, selbst eine Position zu beziehen – nicht weil
ich keine hätte, sondern weil ich glaube, dass es meine
Aufgabe ist, beide Positionen aufeinander zuzuführen.
Ich komme zum Hartz-Konzept. Der Übergang der
arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in die Jobcenter und
die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozial-
hilfe werden an dieser Stelle ein Stück – ich sage: nur ein
Stück – Entlastung der Kommunen bringen; denn ange-
sichts der Lage des Bundes darf es nicht zu einer Lasten-
verschiebung zwischen den Ebenen kommen. Auch hier
wird eine große Aufgabe auf uns zukommen: Wie defi-
nieren wir dann das Arbeitslosengeld II?
Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhang
gehört auch die Reform des Föderalismus. Ich will mit
aller Deutlichkeit sagen: Ich erhoffe mir davon auch ein
paar Effizienzgewinne. Wenn wir vielleicht, wie es sich
jedenfalls andeutet, bei einer Reihe von Mischaufgaben
und Mischfinanzierungen zur Entmischung kommen,
muss dadurch auch das staatliche Handeln effizienter wer-
den. Das muss sich für die Bürger auszahlen. Es kann
nicht einfach nur so sein, dass der Bund, wenn etwas auf
742
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 743
die Länder übergeht, das ganze Geld, möglichst noch dy-
namisiert, weitergibt, sondern es muss einen Effizienzge-
winn bei der Aufgabenerfüllung geben. Sonst macht das
Ganze doch keinen Sinn.
Ich will in diesem Zusammenhang noch auf folgenden
Punkt hinweisen: Wenn wir über die Reform des Födera-
lismus reden, dürfen wir nicht nur über die Übertragung
von Aufgaben auf die Länder reden. Es geht auch darum,
Deutschland europafähig zu machen. Das bedeutet: All
die Aufgaben, die heute im föderalen Staat bei den Län-
dern liegen, aber die für die Binnenmarktgesetzgebung re-
levant sind, müssen auf den Bund übertragen werden, und
zwar nicht, weil der Bund kompetenzhungrig ist, sondern
weil diese Aufgaben nach kurzer Zeit auf die europäische
Ebene übertragen werden.
Es ist ein Anachronismus, dass wir in Deutschland je
eine Börsenaufsicht in allen neun Börsenländern haben. Es
kann nur eine Börsenaufsicht in Deutschland geben. Künf-
tig werden wir auch in Europa mit einer Diskussion über
eine europäische Börsenaufsichtsstruktur konfrontiert wer-
den. In diese Richtung geht die Entwicklung. Auch das
muss bei der Reform des Föderalismus bedacht werden.
Ich sagte es bereits: Konsolidierung ist nicht nur eine
Aufgabe des gesamten Staates, sondern auch der sozialen
Sicherungssysteme. Wir haben bei der Rente einen großen
Schritt nach vorne gemacht, den noch kein anderes großes
kontinentaleuropäisches Land gemacht hat. Aber es liegen
noch große Aufgaben vor uns. Ich bin froh darüber, dass
die Bundesregierung, der Bundeskanzler und die Frau Mi-
nisterin angeregt haben, die Rürup-Kommission einzu-
setzen. Wir brauchen nämlich nicht nur eine Begrenzung,
sondern auch eine Senkung der Lohnnebenkosten und die
nachhaltige Sicherung unserer sozialen Systeme.
Der härteste Kampf wird gewiss im Gesundheitswesen
ausgetragen, weil es sich ausschließlich um einen Anbie-
termarkt handelt. Ich sage deswegen klipp und klar – ich
habe vorhin schon auf die Zahntechniker hingewiesen –:
Es gibt keine müde Steuermark für das Gesundheitswesen
in der Verfassung, in der es heute ist. Dort müssen die Ef-
fizienzreserven gehoben und die Qualität gesteigert wer-
den. Darum geht es und um nichts anderes.
Auch die Pflegeversicherung und die Rentenversiche-
rung werden ein Thema sein. Aber niemand muss deswe-
gen Angst haben. Es geht in dieser Situation, die durch
eine alternde Gesellschaft gekennzeichnet ist, darum, die
Verhältnisse zwischen den Generationen neu auszutarie-
ren und Generationengerechtigkeit auch in der Zukunft
walten zu lassen. Es geht darum, die Jungen nicht über-
zubelasten und die Alten nicht in Altersarmut zu treiben.
Das wird einer reichen Gesellschaft wie der deutschen
auch gelingen.
Es wird Zeit, dass auch ein paar andere Wahrheiten ge-
sagt werden. Nicht nur bei den Staatsschulden spielt das
Thema deutsche Einheit, die wir alle gerne gewollt ha-
ben,
eine Rolle. Es spielt auch für die Sozialsysteme eine
Rolle.
– Ja, sicher. Ich habe das die ganze Zeit gesagt. Wenn Sie
uns jetzt Vorwürfe machen, kann ich nur sagen: Hätten Sie
es anders finanziert!
– Nein, nie.
Ich will Ihnen sagen, was die deutsche Einheit für die
Sozialsysteme bedeutet. In den Sozialsystemen gibt es
einen West-Ost-Transfer von 27,9 Milliarden Euro. Die
Situation für die alte Bundesrepublik alleine sähe ganz an-
ders aus.
Ich sage das ganz ausdrücklich, um deutlich zu machen,
dass wir mindestens noch eine halbe Generation eine Auf-
gabe mit uns tragen, die wir nicht einfach abschütteln kön-
nen und – das sage ich für die Regierung und für die Ko-
alition – auch nicht abschütteln wollen.
Herr Rexrodt, suchen Sie jetzt nicht nach falschen Ar-
gumenten: Die größere Oppositionspartei in diesem
Hause hat unter anderem deswegen die Wahl im Osten
verloren, weil hinsichtlich des Risikostrukturausgleichs
der Versuch gemacht worden ist – lesen Sie einmal die
entsprechenden Reden im Bayerischen, im Baden-Würt-
tembergischen und im Hessischen Landtag nach –, die So-
lidarität in Deutschland aufzukündigen,
indem gesagt wurde: Wer eine niedrige Arbeitslosigkeit
hat, hat niedrige Sozialabgaben, und wer eine hohe Ar-
beitslosigkeit hat, hat hohe Sozialabgaben. – Das war ein
Programm zum Abriss Ost und nicht zum Aufbau Ost.
Unsere Position ist klar: Da wir an der innerdeutschen
Solidarität festhalten, wollen wir diese Lasten nicht weg-
definieren. Sie zu meistern ist Bestandteil der Aufgaben,
mit denen wir es zu tun haben.
Wir wollen ein Programm für Wachstum und Beschäf-
tigung auf den Weg bringen.
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
Zu den Lohnnebenkosten und zur Umsetzung der Be-
schlüsse der Hartz-Kommission habe ich eben schon etwas
gesagt. Die Umgestaltung der Arbeitslosenhilfe zu einem
Arbeitslosengeld II zum 1. Januar 2004 und die Vermitt-
lung durch Jobcenter werden uns noch große Anstrengun-
gen abverlangen. Aber eines wird kaum diskutiert: Es
steckt eine sehr positive Perspektive darin. Deswegen ist ja
der Kollege Clement so engagiert. Dies ist aber auch eine
Perspektive, die die Menschen fordert. Auch diesen Ge-
sichtspunkt sollte man auf keinen Fall verniedlichen.
Meine Damen und Herren, für diese Wahlperiode
bleibt es dabei: Wir senken die Steuern weiter.
– Wir sollten darüber in den beiden entsprechenden Jahren,
in 2004 und in 2005, sprechen. Dies steht ja im Gesetz.
– Doch, Herr Rexrodt, ich sage das. In 2004 und in 2005
werden Steuersenkungen erfolgen.
Mit Ihrem Lachen haben Sie Pech. Schauen Sie sich
einmal Ihre Wahlversprechen an! Die Union versprach
vor der Bundestagswahl zusätzliche Steuersenkungen, die
zu Einnahmeausfällen in Höhe von 30 Milliarden Euro
geführt hätten. Lachen Sie also über sich selber!
Für Existenzgründer, für Kleinstunternehmer, für die
Ich-AG wird es – Kollege Clement hat das angekündigt –
eine pauschale Besteuerung geben. Das ist nicht ganz
einfach, weil wir da eine regelrechte Systemumstellung
vornehmen. Aber das werden wir zusammen hinbekom-
men. Es wird beim Thema Entbürokratisierung einen
massiven Kampf geben,
beginnend bei den Existenzgründern und den Klein- und
Mittelbetrieben.
Zum Mittelstand.Auch hier ist der Winter – wer will
darum herumreden? – nicht einfach. Wer allerdings über
Insolvenzen spricht, der sollte auch über Neugründungen
sprechen. Auch in diesem Jahr werden wir deutlich mehr
neu gegründete als aufgegebene Betriebe haben,
wobei der größte Teil nicht wegen einer Insolvenz, son-
dern altershalber aufgegeben wird.
Wir haben eine Menge getan, um die Eigenkapitalbil-
dung des Mittelstandes zu erleichtern. Aufgrund unserer
Steuerreform ist inzwischen die obere Grenzsteuerbelas-
tung – 1998 lag sie bei 58 Prozent – auf 51 Prozent ge-
senkt worden. So etwas haben Sie in Ihrer Regierungszeit
nie zuwege gebracht.
Gerade durch die Intervention des Bundeskanzlers ist für
alle in der Welt klar geworden, dass wir, wenn es um die
Eigenkapitalrichtlinien der Banken geht, nicht zulassen,
dass die Finanzierung des deutschen Mittelstandes ver-
schlechtert wird. Wir haben das erreicht: Basel II bringt
keine Verschlechterungen, sondern eher Verbesserungen
für die Finanzierung des Mittelstandes.
Allerdings wird auch da zwischen guten und schlechten
Risiken unterschieden, was die Banken übrigens sowieso
getan hätten.
Im Rahmen des Hartz-Konzeptes gibt es das Pro-
gramm „Kapital für Arbeit“. Ich habe mich gestern er-
kundigt: Dieses Programm, das im November angelaufen
ist, ist bisher äußerst erfolgreich. Es gibt bereits mehr als
10 000Anfragen und erste Bewilligungen. Die KfW sagt:
Das Programm startet außerordentlich erfolgreich. – Auch
dies ist ein Beitrag dazu, die Eigenkapitalausstattung des
Mittelstandes zu verbessern.
Die Zusammenführung der Förderaktivitäten wird der
nächste Schritt sein.
Meine Damen und Herren, dies alles ist ein anstrengen-
des Programm für diese Wahlperiode. Wenn wir das alles
hinbekommen, konsolidieren wir den öffentlichen Haus-
halt wirklich. Es fordert uns alle. Bedenkenträgerei und ins-
besondere Besitzstandswahrung – in diesem Zusammen-
hang habe ich den Eindruck: je höher der Besitzstand, umso
härter der Kampf um die Wahrung –, das wird nicht gehen.
Was wir alle nicht brauchen, ist, Deutschland mies zu
machen.
Wer sich mit deutschen Unternehmern im Ausland unter-
hält – ich habe das kürzlich auf dem G-20-Treffen im fer-
nen Indien erlebt –, dem begegnet nur noch Kopfschütteln
darüber, wie in Deutschland die Diskussion über Deutsch-
land geführt wird.
Was wir nicht brauchen – ich sage das mit allem Ernst und
allem Nachdruck –, ist die Verleumdung des politischen
Gegners.
– Fundamentalkritik ja, aber keine Verleumdung.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 745
Der Aufruf von Herrn Dr. Gerhardt – er ist nicht anwe-
send –, die Finanzämter lahm zu legen, ist wohl eine sehr
späte Reaktion auf ein Missverständnis der 68er; zu die-
ser Generation gehört ja auch er.
Ich glaube, niemand von Ihnen wäre darüber glücklich,
nicht einmal der Bund der Steuerzahler. Man muss sich
überlegen, was man in dieser Debatte sagt. Man gewinnt
den Eindruck, dass ein Teil der Menschen, die an dieser
Debatte als Lobbyisten teilnehmen – das gilt auch für
manche in der Politik –, nur eine Ausbildung gemacht ha-
ben, nämlich als Marktschreier. Das ist nicht gut für un-
sere gemeinsame Zukunft.
Was wir nicht brauchen können, wenn wir das Land
voranbringen wollen – das würde übrigens auch den Fö-
deralismus diskreditieren –, ist Dauerwahlkampf. Der
Bundeskanzler hat einen Vorschlag vieler anderer aufge-
griffen und in einem „Zeit“-Interview gesagt: Lasst uns
die Landtagswahlen zu zwei Wahlterminen zusammenle-
gen, eine Hälfte zusammen mit der Bundestagswahl, die
andere in der Mitte der Wahlperiode. So wird es bei-
spielsweise in den Vereinigten Staaten und in Schweden
gemacht.
Der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident hat heute
in einer Zeitung gesagt: Lasst sie uns zu einem Termin in
der Mitte zusammenlegen. Auch über diesen Vorschlag
kann man diskutieren, aber, meine Damen und Herren:
Lassen Sie es uns auch machen. Dauerwahlkampf ist
schädlich für die Reformfähigkeit der Republik.
Deutschland ist kein Jammertal. Deutschland hat große
Aufgaben vor sich, aber Deutschland ist ein starkes Land.
Glaubt jemand wirklich, dass unter den großen Ländern
Kontinentaleuropas ein Land die Wiedervereinigung so
geschafft hätte wie wir? Trotz der hohen Arbeitslosigkeit
in Ostdeutschland haben wir weniger Arbeitslose als
Frankreich oder Italien. Wir haben auch eine höhere Er-
werbsquote als der Durchschnitt der großen Länder in der
Europäischen Union.
Ich will jetzt auch die Argumente der anderen Seite
aufgreifen: Wir sind der Stabilitätsanker in der Union und
Deutschland ist Exportweltmeister mit ständig steigen-
dem Anteil. Wir haben das erste Mal seit der Wiederver-
einigung einen Leistungsbilanzüberschuss.
Nein, wir haben keinen Grund, die Debatte so zu
führen, wie Sie es aus parteitaktischen Gründen und man-
che Lobbyisten nur aus Lobbygründen tun. Alle Kritik
hört da auf, wo sie dem gemeinsamen Land schadet und
wider die Wahrheit ist.
Hilmar Kopper hat Recht: Deutschland ist eine Premi-
ummarke. Mit Sicherheit werden 90 Prozent der interna-
tionalen Wirtschaftsstandorte diese Qualität so schnell
nicht erreichen können.
Angesichts großer Herausforderungen und angesichts
unserer eigenen Stärke müssen wir die Zukunftsaufgaben
mit Mut anpacken. Wir brauchen Macher und nicht Mies-
macher.
Nach der Rede zur Einbringung des Haushaltes eröffne
ich jetzt die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege
Friedrich Merz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Herr Finanzminister, wer während Ihrer Rede und
vor allem während des Schlussbeifalls in die Gesichter
der Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion geschaut hat,
der hatte wahrscheinlich den gleichen Eindruck wie wir,
nämlich dass hier jemand mit dem Rücken an der Wand
steht und eine Rede gehalten hat, die eigentlich eine poli-
tische Geisterfahrt gewesen ist.
Herr Eichel, Sie haben während Ihrer Rede zweimal
die Verrohung der politischen Sitten in diesem Lande be-
klagt.
In der Tat gibt es Anlass, diese zu beklagen. Das aus Ihrem
Munde zu hören ist aber überraschend, um es zurückhal-
tend auszudrücken.
Eine Bundesregierung, die einen Wahlkampf mit Kriegs-
angst der Menschen betreibt
und gleichzeitig keine Skrupel hat, das gesamte außenpo-
litische Kapital dieser Bundesrepublik Deutschland aufs
Spiel zu setzen, um an der Macht zu bleiben, das ist die
falsche Seite, um von dieser Stelle aus von der Verrohung
der politischen Sitten in diesem Lande zu sprechen.
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Friedrich Merz
Herr Bundeskanzler, Sie beklagen sich in diesen Tagen
darüber, dass Sie Gegenstand der politischen Satire in
Deutschland werden. In der Tat hat die politische Satire
Konjunktur, weil sie von der politischen Realität jeden
Tag überboten wird.
Herr Bundeskanzler, in den ersten Jahren Ihrer Amtszeit
haben Sie diese Spaßgesellschaft durchaus gern in An-
spruch genommen. Jetzt schlägt die Spaßgesellschaft
zurück und Sie sind nicht mehr handelndes Subjekt, son-
dern Objekt der Spaßgesellschaft. Um es auf einen ganz
einfachen Nenner zu bringen: Wer als Bundeskanzler in
guten Zeiten zu Thomas Gottschalk geht, der taucht in
schlechten Zeiten bei Harald Schmidt wieder auf. So ein-
fach ist das, Herr Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister
ist offensichtlich hochgradig nervös wegen der Aussagen
vor dem Untersuchungsausschuss,
den wir in dieser Woche einsetzen werden.
– Herr Bundeskanzler, ich finde, das deutsche Parlament
hat Anspruch darauf, dass Sie in der Debatte über die Ein-
bringung des Bundeshaushalts 2003 hier anwesend blei-
ben.
Draußen hören und sehen uns viele Menschen zu. Sie ver-
folgen diese Debatte und werden sich ihr eigenes Urteil
darüber bilden, wie die Regierungsbank besetzt ist und
wie ernst die Bundesregierung die parlamentarische De-
batte über das Wichtigste der Republik nimmt.
Meine Damen und Herren, es wird Klage darüber ge-
führt, dass der Untersuchungsausschuss, den wir am Don-
nerstag hier einsetzen werden, unparlamentarisch sei und
dass dessen Einsetzung an den Notwendigkeiten vorbei-
gehe. Herr Finanzminister, ich möchte Sie dazu nur noch
einmal an das erinnern, was Sie vor der Wahl gesagt ha-
ben. Die letzte große finanzpolitische Debatte haben wir
am 12. September in diesem Hause geführt. Bei dieser
Gelegenheit haben Sie wörtlich gesagt:
Nach 21,1 Milliarden Euro in diesem Jahr bleibt es
bei der für 2003 geplanten Neuverschuldung in Höhe
von 15,5 Milliarden Euro. An diesem Wert werden
wir festhalten.
Ende des Zitats von Hans Eichel am 12. September.
Weniger als drei Monate später ist die Neuverschul-
dung durch den jetzt eingebrachten Nachtragshaushalt für
das laufende Haushaltsjahr nicht mehr bei 21,1Milliarden
Euro, sondern bei 34,6 Milliarden Euro,
und für das nächste Jahr sind es nicht 15,5 Milliarden Euro,
sondern mindestens 18,9 Milliarden Euro, die Sie schon
jetzt einplanen müssen, und zwar bei Zugrundelegung
außergewöhnlich optimistischer Daten für Konjunktur und
Arbeitsmarkt, die nach unserer gegenwärtigen Einschät-
zung im nächsten Jahr nicht zu erreichen sein werden.
Herr Eichel, da haben Sie zehn Tage vor der Bundes-
tagswahl von diesem Platz aus bewusst die Unwahrheit
gesagt.
Sie haben sich dann in einer ganzen Reihe von Fern-
sehsendungen geäußert. Drei Wochen vor der Wahl – wir
beide sind zusammen in der Sendung gewesen – haben
Sie gesagt: Wir machen keine Schulden. Das haben wir
immer klar gemacht. Wir weichen nicht in Schulden aus.
Tage später, fünf Tage vor der Wahl – und an dieser
Stelle wird es wirklich ernst mit unserer Auseinanderset-
zung –, wörtliches Zitat von Hans Eichel in der Wahlsen-
dung „Ihre Wahl 2002“: Ich bin sicher, wir kriegen keinen
blauen Brief aus Brüssel.
Herr Eichel, zu diesem Zeitpunkt war die Frist, zu der
Sie die Daten aus Deutschland nach Brüssel hätten mel-
den müssen, bereits um fast drei Wochen verstrichen. Sie
hätten die Daten am 1. September melden müssen. Sie ha-
ben es nicht getan. Ich sage Ihnen, warum Sie es nicht ge-
tan haben: Sie haben zu diesem Zeitpunkt – der Kollege
Metzger hat das in nicht zu überbietender Offenheit und
Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht – von den Beamten
Ihres Hauses, vom Statistischen Bundesamt, von den For-
schungsinstituten und von vielen anderen Beteiligten
längst gewusst, dass die 2,9 Prozent, die Sie gemeldet ha-
ben, mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Sie haben
gewusst, dass wir 3 Prozent deutlich überschreiten, und
Sie haben wahrheitswidrig die deutsche Öffentlichkeit
getäuscht. Das ist die Wahrheit!
Es ist im Grunde ganz einfach, Herr Eichel. Da Sie mit
der Autorität Ihres Amtes die deutsche Öffentlichkeit über
das getäuscht haben, was die Staatsfinanzen in Deutsch-
land wirklich ausmacht, und heute noch immer behaup-
ten, Sie hätten es zum damaligen Zeitpunkt nicht gewusst,
werden wir das in einem Parlamentarischen Untersu-
chungsausschuss aufklären. Dort können Sie das wieder-
holen und wir werden auch andere anhören. Aber dort sind
Sie, anders als an dieser Stelle, unter Strafandrohung zur
Wahrheit verpflichtet, Herr Eichel. Das ist der entschei-
dende Unterschied.
Nun lassen Sie uns, meine Damen und Herren, auf die
Haushaltsdaten zu sprechen kommen. Wir bekommen,
wenn auch mit abnehmender Intensität, noch immer die
Vorhaltung gemacht, alles, was Sie jetzt an Problemen
746
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 747
hätten, sei sozusagen der 16-jährigen Amtszeit einer frü-
heren Bundesregierung geschuldet.
Ich habe gerade über die Neuverschuldung gesprochen,
jetzt sage ich etwas zur Gesamtverschuldung. Ich habe
mir die Zahlen noch einmal genau angesehen. Sie haben
im Jahre 1998 eine Gesamtverschuldung des Bundes von
685 Milliarden Euro übernommen. Das war eine relativ
hohe Verschuldung, das ist wahr. Große Teile davon ha-
ben etwas mit der deutschen Einheit zu tun. Gut, dass Sie
das heute von diesem Platz aus einmal gesagt haben. Das
war lange überfällig.
Vier Jahre später liegt die Bundesschuld bei 725 Milliar-
den Euro. Ohne die UMTS-Lizenzerlöse von 50 Milliar-
den Euro läge sie bei 775 Milliarden Euro. Das sind fast
100 Milliarden Euro mehr, als Sie 1998 übernommen ha-
ben. Im Jahre 2003 wird die Verschuldung weiter anstei-
gen, nach Ihrer eigenen Finanzplanung mindestens auf
744 Milliarden Euro. Ohne UMTS-Lizenzerlöse lägen
wir bei fast 800 Milliarden Euro Verschuldung allein des
Bundes. Hören Sie bitte endlich auf, zu erzählen, dass Sie
die Gesamtverschuldung des Bundes senken. Sie steigt
weiter an, und zwar in unverantwortlicher Weise.
Nun beklagen Sie vor diesem Hintergrund nicht ohne
Anlass den Verfall der Steuerbasis. Ja, Herr Eichel, da-
mit haben Sie in der Tat Recht. Die Steuerbasis wird im-
mer schmaler und das hat im Wesentlichen damit zu tun,
dass Sie im Jahre 2000 eine Steuerreform gemacht haben,
vor der wir Sie gewarnt haben, bei der Sie sich aber über
alle Warnungen hinweggesetzt haben. Tatsache ist, dass
Sie seit dem Jahre 2001 einen massiven Einbruch der Kör-
perschaftsteuer zu verzeichnen haben, der eben nicht über
die Kapitalertragsteuer zurück in den Bundeshaushalt
fließt. Das ist rund ein Drittel; zwei Drittel fehlen den
Ländern und dem Bund auf Dauer.
Außerdem, Herr Eichel, hat Sie im Jahre 2000 niemand
dazu gezwungen, bereits versteuerte Unternehmens-
gewinne im Nachhinein zu entlasten. Wenn Sie es schon
gemacht haben, dann war es von nicht zu überbietender
Naivität, zu glauben, dass die Unternehmen, die solche
Eigenkapitalbestände haben, diese über einen Zeitraum
von 15 Jahren ausschütten und nicht sofort. Das war
schlicht und ergreifend naiv. Ich weiß nicht, ob Sie zu
Hause einen Hund haben, Herr Eichel. Aber wenn Sie ei-
nen haben, fahren Sie einmal am Wochenende nach
Hause, halten Sie ihm eine Wurst vor und sagen Sie ihm:
„Das ist jetzt für vier Wochen.“
So ähnlich haben Sie sich in der Steuerpolitik verhalten.
Es war von nicht zu überbietender Naivität, was Sie da ge-
macht haben.
Mit dem, was heute hier vorgelegt wird, wird ein wei-
terer Betrug am Wähler vorbereitet.
Ich will Ihnen dies anhand eines konkreten Details Ihres
Haushaltsplanentwurfs für das Jahr 2003 nachweisen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben vor etwa einem halben
Jahr von dieser Stelle aus versprochen, ein Programm zur
finanziellen Förderung der Ganztagsbetreuung in den
Schulen in Deutschland aufzulegen.
Vor der Wahl haben Sie viermal 1 Milliarde Euro für die
Schulen in Deutschland, beginnend mit dem Jahr 2003,
versprochen. In den Bundeshaushaltsplan des Jahres 2003
stellen Sie aber nicht 1 Milliarde Euro, sondern 300 Mil-
lionen Euro ein. Dies ist der erste Teil.
Der zweite Teil wird viel gravierender werden: Es be-
findet sich eine Verwaltungsvereinbarung mit den Län-
dern in Vorbereitung, die den Ländern nach der gegen-
wärtigen Planung – ich betone: gegenwärtig, sie ist nicht
abgeschlossen – nur erlauben soll, von diesen Zuschüssen
des Bundes neue Gebäude zu errichten.
Der Wunsch der Länder, davon etwa auch Bibliotheken fi-
nanzieren zu können, ist bisher von Ihnen abgelehnt wor-
den.
Was Sie hier machen, ist typisch für sozialdemokrati-
sche Politik: Beton statt Bücher, Suppenküchen statt Bi-
bliotheken. So kommt man in Deutschland in der Bil-
dungspolitik nicht weiter.
Sie stellen sich heute Morgen hier allen Ernstes hin und
sagen, dass die Politik der Steuersenkung der rot-grünen
Bundesregierung fortgesetzt werde. Wer das als Fernseh-
zuschauer oder als Zuhörer an den Radiogeräten mitbe-
kommen hat, muss dies angesichts der tatsächlichen Lage
in den Unternehmen und den privaten Haushalten gera-
dezu als blanken Hohn empfunden haben.
Gleichzeitig mit dieser Behauptung legen Sie hier ein
Steuergesetz vor. Sie haben es euphemistisch Steuer-
vergünstigungsabbaugesetz genannt. Wenn man Ihnen
zugehört hat, hat man zwischenzeitlich den Eindruck be-
kommen, dass jeder, der nicht 100 Prozent Steuern zahlt,
irgendwelche Subventionen bekommt. Dies ist ungefähr
Ihre Denkweise, die dahinter steckt. Sie legen ein Steuer-
vergünstigungsabbaugesetz vor, mit dem insgesamt
41 Steuererhöhungen verbunden sein sollen.
Herr Bundeskanzler, was hat sich eigentlich nach der
Wahl geändert? Sie haben vor der Wahl mehrfach – ich
könnte Ihnen reihenweise Zitate vortragen – gesagt und
Sie haben damals Recht gehabt: Dies ist nicht die Zeit für
Steuererhöhungen. Die konjunkturelle Lage der Bundesre-
publik Deutschland ist ungeeignet für Steuererhöhungen.
Friedrich Merz
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Friedrich Merz
– Was hat sich daran eigentlich mit dem 22. Septem-
ber 2002 geändert?
Wir haben heute einen Gesetzentwurf vorliegen, der mehr
als 40 Steuererhöhungen umfasst, und hier sitzt der
Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands, der nichts Besseres zu tun hat, als am letz-
ten Sonntag noch einmal anzukündigen, dass es im nächs-
ten Jahr fröhlich weitergeht. Was ist in diesem Land ei-
gentlich los?
Jetzt diskutiert die gesamte Republik über die Wieder-
einführung der Vermögensteuer.Herr Bundeskanzler, wie
ist eigentlich Ihre Meinung dazu? Vor zwei Jahren haben
Sie richtigerweise und klugerweise gesagt: Die Wiederein-
führung der Vermögensteuer werden wir Sozialdemokraten
nicht betreiben. – Was hat sich seitdem eigentlich geändert,
außer dass jetzt ganz offensichtlich – dies durchzieht sämt-
liche Gesetzgebungsverfahren, die wir hier beraten, wie ein
roter Faden – auf die Politik der Sozialdemokraten – weni-
ger der Grünen – von Teilen der deutschen Gewerkschaften
ein so dominanter Einfluss ausgeübt wird, dass ganz offen-
sichtlich die Resozialdemokratisierung der gesamten Wirt-
schaftspolitik auf der Tagesordnung steht? Ist es das, Herr
Bundeskanzler, was sich geändert hat?
Ich höre, dass Sie morgen hier eine längere Erklärung
abgeben wollen, dass Sie auch etwas zu all den Dingen,
die sich in den letzten Tagen zugetragen haben, sagen
möchten. Es wäre gut, wenn Sie auch zu diesem Thema
etwas sagen würden und diese unselige Debatte über die
Vermögensteuer in Deutschland möglichst schnell been-
den würden.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie noch Argumente zum
Thema Vermögensteuer brauchen – –
– Ich weiß, dass dies in Ihren Reihen ignoriert wird. Aber
was macht es eigentlich für einen Sinn, eine Vermögen-
steuer zu erheben, von der diejenigen, die sich damit be-
schäftigen, wissen müssten, dass sie von Beziehern unterer
Einkommen ohnehin nicht erhoben werden kann – darüber
darf kein Streit bestehen –, dass sie aber von den Bezie-
hern der obersten Einkommen in dieser Republik gar
nicht erhoben werden darf, weil deren Belastung durch
Einkommensteuer,
Solidaritätszuschlag und bei dem einen oder anderen noch
durch Kirchensteuer bereits bei über 50 Prozent liegt?
Wie wollen Sie, meine Damen und Herren von den Sozi-
aldemokraten, das den Menschen in Deutschland eigent-
lich erklären?
Wenn Sie ein Problem damit haben, das zu erklären,
dann fällt es Ihnen vielleicht leichter, einen Blick auf die
Betriebe in diesem Land zu richten. Wie wollen Sie den
Menschen in Deutschland eigentlich erklären, dass nach
Ihrem Konzept einer betrieblichen Vermögensteuer, das da
so langsam aus dem Nebel auftaucht, jenseits eines Frei-
betrages von 2,5 Millionen Euro – das ist kleiner Mittel-
stand; das sind nicht die Unternehmen der Großindustrie;
ein Betriebsvermögen von 2,5 Millionen Euro haben Sie
schon mit einem Betriebsgrundstück und ein paar Maschi-
nen; da ist man ganz schnell bei 2,5 Millionen Euro –
1 Prozent Vermögensteuer bezahlt werden muss, selbst
dann, wenn das Unternehmen keinen Gewinn abwirft,
selbst dann, wenn das Unternehmen tiefrote Zahlen
schreibt? Und bei solchen Debatten in Deutschland wun-
dern Sie sich noch darüber, dass die Stimmung in diesem
Land so ist, wie sie ist! Kein Land auf dieser Welt käme
auf die Idee, am Rande einer Rezession eine solche De-
batte zu führen, wie Sie sie hier führen. Herr Bundeskanz-
ler, beenden Sie dieses Schauspiel noch morgen, damit es
in diesem Land endlich wieder aufwärts gehen kann!
Ich mache Ihnen ohnehin zum Vorwurf, dass Sie of-
fenkundig kein Gespür für die psychologische Lage einer
Volkswirtschaft haben.
Man kann über vieles diskutieren, auch über viele Vor-
schläge, aber ein Land, das sich – ich sage es noch einmal –
am Rande einer Rezession befindet, kann doch nicht allen
Ernstes klaglos eine Regierung hinnehmen, die nichts
Besseres zu tun hat, als nach der Bundestagswahl wo-
chenlang nur über höhere Belastungen der Menschen in
diesem Land zu sprechen. Da kann man sich doch nicht
darüber wundern, dass die Stimmung so ist, wie sie ge-
genwärtig ist!
Sie täuschen die Menschen und die Menschen merken,
dass sie von dieser Regierung getäuscht werden, wenn Sie
über die Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge re-
den. Herr Eichel, auch Sie haben es eben von dieser Stelle
aus wieder getan.
Die Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge findet
doch nicht statt. Gestern hat die größte deutsche Ersatz-
krankenkasse beschlossen, dass die Beiträge zum 1. Ja-
nuar auf über 15 Prozent angehoben werden. Die Renten-
versicherungsbeiträge liegen doch nur deshalb noch
gerade eben unter 20 Prozent, weil Sie sie mit der Öko-
steuer künstlich heruntersubventionieren. In Wahrheit lä-
gen sie mittlerweile bei knapp 22 Prozent. Im Portemon-
naie der Arbeitnehmer und Betriebe macht sich alles das
bemerkbar, egal, was auf dem Etikett steht, ob „Sozial-
versicherungsbeitrag“ oder „Steuer“. Die Belastung der
Menschen hat einen historischen Höchststand in Deutsch-
land erreicht.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 749
Sie wissen, dass das so ist, Herr Eichel, und reden hier
trotzdem anders, also wider besseres Wissen.
Sie sprechen jetzt auch über die Dienstwagenbesteue-
rung.Meine Damen und Herren von den Sozialdemokra-
ten, das ist doch Ihr Wählerpotenzial! Es sind doch nicht
die Fahrer von Dienstwagen der S-Klasse, sondern es sind
die Außendienstmitarbeiter, die unselbstständigen Han-
delsvertreter, die Menschen, die einen Polo oder einen
Golf fahren, die jetzt 50 Prozent mehr Steuern für die pri-
vate Nutzung ihrer Fahrzeuge bezahlen sollen, also dafür,
dass sie nach einem 12- oder 14-Stunden-Tag abends mit
dem Dienstwagen privat nach Hause fahren dürfen. Be-
greifen Sie denn nicht, was Sie mit diesem Unfug für die
gesamte deutsche Automobilindustrie anrichten? Wann
waren Sie das letzte Mal in Hannover und haben mit dem
Vorstand von VW gesprochen?
Die müssten Ihnen, Herr Bundeskanzler, doch längst ge-
sagt haben, dass das wirtschaftspolitisch ein Ei ist, das Ih-
nen von denen, die das vorgeschlagen haben, ins Nest ge-
legt worden ist.
Jetzt reden Sie über die Wertzuwachssteuer bei Ak-
tien- und bei Grundstücksverkäufen. Natürlich ist es
wahr, dass es in vielen anderen Industrienationen eine so
genannte Capital-Gains-Besteuerung gibt. Aber dieses
Argument, Herr Eichel, können Sie nicht verwenden;
denn in den Ländern, in denen eine solche Steuer erhoben
wird, ist die Durchschnittsbelastung des Einkommens sig-
nifikant niedriger als in Deutschland. Deswegen werden
alle diejenigen, die abhauen können, schon angesichts der
Ankündigung, dass Sie so etwas einführen, mit ihrem
Wertpapierbesitz dieses Land verlassen und sie werden je-
denfalls bei dieser Bundesregierung nie wiederkommen,
weil selbst dann, wenn Sie die Steuer doch nicht ein-
führen, jedes Vertrauen zerstört ist und man nicht weiß, ob
das Thema in diesem Land nicht zwölf Monate später
wieder auf den Tisch kommt.
Dann haben Sie den Vorschlag gemacht, die Eigen-
heimzulage zu korrigieren. Man kann über das Thema re-
den – beim Altbaubestand insbesondere in den neuen Län-
dern gibt es durchaus Probleme –, aber stellen Sie bitte
nicht allen Ernstes die Behauptung auf, dass sich für Fa-
milien mit Kindern nichts ändert. Was Sie hier machen,
ist eine glatte Täuschung der Öffentlichkeit. Bei Altbau-
ten müssten diejenigen, die heute zwei Kinder haben,
mindestens acht Kinder haben, damit sich nichts ändert
– das kann man ja noch schaffen –; aber bei Neubauten
müssten diejenigen, die nicht schlechter gestellt werden
wollen, mindestens 46 Kinder haben.
Das bekommt keiner von uns in diesem Lande hin. Des-
halb bedeutet dieser Vorschlag eine Täuschung der Öf-
fentlichkeit.
Sie haben mit beredten Worten über die Ausnahmen bei
der Mehrwertsteuer gesprochen. Man kann, wie bei je-
der Steuerart, natürlich über Ausnahmen und niedrigere
Sätze nachdenken. Ich will Sie, Herr Bundeskanzler, aber
daran erinnern, dass Sie am 12. Oktober des Vorjahres –
das ist etwas länger als ein Jahr her – eine Betriebsver-
sammlung bei der Lufthansa in Frankfurt besucht und dort
vor laufenden Kameras öffentlich erklärt haben, dass Sie,
Gerhard Schröder, der Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland, dafür stehen, dass die deutsche Lufthansa
im internationalen Vergleich insbesondere ihren Wettbe-
werbern gegenüber durch Maßnahmen Ihrer Bundesre-
gierung nicht schlechter gestellt wird.
Ich stelle Ihnen die Frage: Warum lassen Sie zu, dass
jetzt für den gesamten Flugverkehr über dem Territorium
der Bundesrepublik Deutschland einschließlich der Luft-
hansa doch eine Ausnahme aufgestellt wird, indem Sie
das Mehrwertsteuerprivileg streichen? Man kann darüber
reden, aber wenn man solche Änderungen vornimmt,
dann müssen sie für alle in Europa gelten. Es darf keine
einseitige Belastung der größten deutschen Fluggesell-
schaft entstehen. Das ist eine Belastung, Herr Bundes-
kanzler, von der Sie noch vor einem Jahr ausdrücklich
auf dieser Betriebsversammlung gesagt haben, dass sie
mit Ihnen nicht entsteht. Warum steht sie nun in dem Ent-
wurf des Gesetzes, das wir heute hier in erster Lesung be-
raten?
Meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister
hat an dieser Stelle zum wiederholten Male etwas über
die Finanzen der Länder und Kommunen gesagt. Ich teile
seine Einschätzung: Die Länder und Kommunen befin-
den sich hinsichtlich ihrer Finanzen in einer außer-
gewöhnlich schwierigen Lage. Aber mit dem Verweis
darauf, dass 55 Prozent des Gesamthaushaltes Länder-
haushalte und kommunale Haushalte betreffen, kommen
Sie nicht durch. Die andere Seite der Medaille ist doch,
dass Länder und Gemeinden von der Gesetzgebung, die
der Bund macht, weitgehend abhängig sind. Die Länder
verfügen über keine nennenswerten eigenen Steuer-
quellen und sie haben praktisch keine eigenen Steuer-
hebemöglichkeiten; bis auf ganz geringfügige eigene
Steuereinnahmequellen geht es den Gemeinden ähnlich.
Sie sind abhängig von der Gesetzgebung des Bundes und
dieser Bundesregierung.
Damit sind wir an dem entscheidenden Punkt, der uns
trennt: Sie rufen uns hier und an anderer Stelle immer wie-
der dazu auf, wir sollten Alternativen vorlegen, wie die
Haushaltsprobleme gelöst werden können.
– Wenn Sie, meine Damen und Herren, nicht so laut da-
zwischenrufen würden, dann könnten Sie mich auch ver-
stehen. Ich sage Ihnen, welche Alternative besteht. Wir
begeben uns mit Ihnen nicht in einen Wettbewerb um die
Friedrich Merz
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Friedrich Merz
Frage, wer in diesem Land die Steuern am meisten erhöht.
Das werden wir nicht tun.
Die gegenwärtige Lage unserer Volkswirtschaft ist voll-
kommen ungeeignet für eine Debatte über Steuererhö-
hungen.
Das Gegenteil ist richtig. Wir müssen diesem Land und
insbesondere den mittelständischen Unternehmen wieder
eine Perspektive geben und Steuern senken. Davon, was
Sie über Steuersenkungen in den Jahren 2004 und 2005
gesagt haben, Herr Eichel, glaube ich Ihnen kein einziges
Wort, solange nicht das Jahr 2004 begonnen hat; denn Sie
haben mit den gleichen Worten von dieser Stelle aus und
auch schon in Bonn erklärt, dass eine Steuersatzsenkung
zum 1. Januar 2003 in Kraft treten soll.
Es musste nur ein Ereignis eintreten – das war die Flut –,
die Ihnen Alibi genug war, diese Steuersenkung auszuset-
zen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn Sie zu diesem Zeitpunkt
überhaupt noch im Amt sein sollten – über Ihre Ablösung
wird ja offen diskutiert –, dann wird Ihnen aus diesen Rei-
hen spätestens in der zweiten Jahreshälfte 2003 eine De-
batte aufgezwungen werden, dass nicht auch die Senkun-
gen für 2004 und 2005 außer Kraft gesetzt werden oder
gar nicht stattfinden. Ich glaube Ihnen kein Wort.
Das Entscheidende, Herr Eichel, ist doch, dass wir
endlich wieder zu Wachstum und Beschäftigung auf dem
ersten Arbeitsmarkt kommen müssen. Deswegen sage
ich Ihnen, was unser Vorschlag hierzu ist. Ich mache Ih-
nen das konkrete Angebot, dieses unselige Gesetz gegen
die Scheinselbstständigkeit noch vor dem Jahreswechsel
ersatzlos zu streichen. Sie haben dafür unsere uneinge-
schränkte Zustimmung. Machen Sie es!
Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen. So, wie
Sie mit den Hartz-Vorschlägen umgehen, geht das nicht.
Ich schlage Ihnen vor: Kehren Sie an dieser Stelle auch
beim Thema Zeitarbeit zu dem zurück, was Ihnen Hartz
vorgeschlagen hat! Wenn Sie das Konzept im Verhältnis
1 : 1 umsetzen, werden Sie nicht an unserem Widerstand
scheitern.
Ich schlage Ihnen des Weiteren vor, dass wir wenigstens
für ältere Arbeitslose in Deutschland eine intelligente Lö-
sung für die Änderung des Kündigungsschutzgesetzes
finden. Wir haben dazu konkrete Vorschläge gemacht.
Herr Bundeskanzler, Sie sprechen offensichtlich wie-
der mit einigen Unternehmens- und Verbandsvertretern –
mit den Gewerkschaftsvorsitzenden reden Sie ohnehin
täglich – und wollen das Bündnis für Arbeit wiederbele-
ben. Ich mache Ihnen den Vorschlag, diese Gespräche
dazu zu nutzen, betriebliche Bündnisse für Arbeit in
Deutschland einzuführen.
Das wäre ein Beitrag zu einer wirklichen Flexibilisierung
und Mobilisierung unseres Arbeitsmarkts.
Es wäre die Rückkehr zu Wachstum und Beschäftigung in
Deutschland.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie hier morgen eine wich-
tige Rede halten – das sagen jedenfalls Ihre Mitarbeiter
und Presseleute –, dann gibt es dafür Themen genug.
Deutschland braucht keine bessere Stimmung, sondern
eine bessere Politik. Wenn Sie wirklich eine bessere Poli-
tik wollen, dann müssen Sie morgen in weiten Teilen das
glatte Gegenteil von dem sagen, was Herr Eichel heute
Morgen hier erklärt hat.
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Poß von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Merz,
Sie haben mit dieser Rede deutlich gemacht, warum es für
das deutsche Volk ein Glück ist, dass Sie nach dem
22. September nicht Finanzminister der Bundesrepublik
Deutschland geworden sind.
Denn alle Eloquenz kann über Folgendes nicht hinweg-
täuschen: Auf die konkreten Fragen der Finanzpolitik, mit
denen wir es hier und heute zu tun haben, haben Sie nicht
eine einzige Antwort gegeben, Herr Merz.
Jeder, der Ihnen zuhören konnte, egal ob er CDU, SPD
oder Freie Demokraten gewählt hat, hat spüren können:
Ihre Rede war eine Erklärung der Hilflosigkeit.
750
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 751
Sie sind als Opposition in der Sache politisch noch immer
nicht konkurrenzfähig. Das ist die Situation.
Sie haben sich heute in der Sprache gemäßigt und mit
Blick auf den Bundeskanzler und den Bundesfinanzmi-
nister einige Jokes gemacht. In den letzten Wochen, Herr
Merz, haben Sie jedoch keine Gelegenheit ausgelassen,
um mit maßloser Sprache das Klima in diesem Lande zu
vergiften.
Sie sind auf den Bundesfinanzminister in einer ehrab-
schneidenden Art und Weise eingegangen. Sie haben ihn
angegriffen in der Absicht, ihn persönlich zu verletzen.
Sie haben ihn angegriffen, weil Sie eines wissen: Hans
Eichel hat etwas für diese Koalition erarbeitet, nämlich
dass sie für finanzielle Solidität steht. Dieses Markenzei-
chen besteht, obwohl wir durch die wirtschaftliche Ent-
wicklung zurückgeworfen wurden. Dass Sie das in politi-
scher Hinsicht schmerzt, haben wir in den vergangenen
Wochen und Monaten gespürt.
Der Unterschied zwischen Hans Eichel, der sachorien-
tiert auf die Probleme eingeht, und einem politischen
Feuilletonisten wie Ihnen wurde heute Morgen für jeden,
der die Diskussion aufmerksam verfolgt hat, sehr deut-
lich. Herr Eichel hat als Bundesfinanzminister etwas ge-
leistet. Er hat etwas durchgesetzt und erreicht. Dafür ge-
bührt ihm von uns allen großer Respekt.
Wenn ich mir Ihre Bilanz anschaue, Herr Merz, komme
ich zu dem Schluss, dass Sie mit Herrn Eichel ein persön-
liches Problem haben müssen. Ich kann mich an kein fi-
nanzpolitisches Gesetz erinnern, dem Sie hier oder im
Vermittlungsausschuss Ihren Stempel aufgedrückt hätten.
Ich kann mich an keine steuer- oder haushaltspolitische
Diskussion erinnern, in die Sie mit sachorientierten Pro-
blemlösungen gegangen wären. Was haben Sie eigentlich
bisher bewegt, Herr Merz? Außer blumigen Reden war da
nicht viel. Auch deshalb wurden Sie doch wohl von Frau
Merkel abgelöst.
Gerade zu diesem Zeitpunkt, zu dem Sie nicht mehr
Fraktionsvorsitzender sein dürfen und das Volk Sie nicht
zum Finanzminister gemacht hat, können Sie offensicht-
lich nur noch durch persönliche Ausfälle und Hetzereien
vor Ihrem Ego bestehen. Das lassen wir Ihnen nicht
durchgehen!
Die von uns vorgelegten Haushalts- und Steuergesetze,
die wir heute Morgen beraten, stellen eine angemessene
Antwort auf die derzeitige Lage dar. Wir packen die Pro-
bleme an und wollen dabei auch nicht vor unpopulären
Maßnahmen zurückschrecken. Diese Gesetze ordnen sich
in den Reformprozess ein, den wir seit 1998 verfolgen
und auch weiterhin Schritt für Schritt verfolgen werden.
Unsere politischen Ziele sind dabei, erstens nachhaltig
die Bedingungen für Wachstum und Beschäftigung zu ver-
bessern, damit der Kuchen wieder größer wird, zweitens
die Handlungsfähigkeit des Staates jetzt und für die Zu-
kunft sicherzustellen und drittens die sozialen Sicherungs-
systeme auf die Herausforderungen durch die demogra-
phische Entwicklung und durch die Veränderungen in der
Arbeitswelt einzustellen und sie so in ihrer Qualität auf
Dauer zu erhalten. Zu diesen politischen Herausforderun-
gen bietet die Opposition im Deutschen Bundestag nach
wie vor nichts. Herrn Merz‘ Rede war der Beleg dafür.
Es gibt nach wie vor keine ökonomisch und sozial ver-
tretbare Alternative zu den von uns vorgeschlagenen Ge-
setzen. Wenn Sie als Antwort auf die derzeitige wirt-
schaftliche Lage fast täglich die Senkung von Steuern und
Abgaben fordern – Herr Merz hat das zwar heute vermie-
den, aber Herr Böhr hat es am Wochenende in der „Bild
am Sonntag“ gemacht –, dann ignorieren Sie entschei-
dende Zusammenhänge und Realitäten. Bei allen Forde-
rungen nach weiteren umfassenden Steuersenkungen
wird ausgeblendet, dass die volkswirtschaftliche Steuer-
quote seit dem Jahr 2000 um 2 Prozentpunkte abgesenkt
worden ist und sich derzeit mit knapp 21 Prozent auf ei-
nem Tiefstand befindet.
Auch wenn die von uns vorgeschlagenen steuerpoliti-
schen Maßnahmen realisiert werden, wird die Steuer-
quote nur leicht ansteigen. In der gesamtwirtschaftlichen
Betrachtung ist nicht in erster Linie eine zu hohe Steuer-
belastung unser Problem, sondern eine leider immer noch
zu hohe Belastung durch die Lohnnebenkosten.
Des Weiteren ignorieren Union und FDP mit ihrer be-
ständigen Forderung nach weiteren Steuersenkungen,
dass diese nicht vom Himmel fallen, sondern finanziert
werden müssen. Das wird in der Öffentlichkeit – ich muss
das zugeben – leider noch immer nicht verstanden. Wenn
man Ihre Vorschläge umsetzen wollte – dazu müssten Sie
sich im Bundestag auch bekennen, und zwar CDU/CSU
wie auch die FDP–, ginge das nur durch eine weitere mas-
sive Ausweitung der Verschuldung von Bund, Ländern
und Kommunen, durch Kürzungen bei den öffentlichen
Investitionen oder durch massive Einschnitte in die So-
zialtransfers. Ich frage Sie von der CDU/CSU und der
FDP: Wollen Sie das? Ich sage Ihnen: Wir wollen das
nicht. Wir sind sicher, dass auch die Bürgerinnen und Bür-
ger genau das nicht wollen.
Je mehr den Bürgerinnen und Bürgern die Alternative
zu unserer Politik klar wird – dafür hat die Koalition
Joachim Poß
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Joachim Poß
natürlich zu sorgen; sie hat gegenüber den Bürgerinnen
und Bürgern eine Bringschuld, wenn es darum geht, die
Alternativen klar zu machen –, desto mehr werden sie das
verstehen und unterstützen, was wir derzeit zu tun beab-
sichtigen und was wir umsetzen werden. Die Alternativen
sind haargenau massiver Sozialabbau und/oder Rückkehr
in den Schuldenstaat. Das und nichts anderes ist der ge-
meinsame Kern der Vorschläge von Union und FDP, wenn
man sie jeder feuilletonistischen Äußerung und jedes
Wortnebels entkleidet, den Herr Merz und andere verur-
sachen.
Die FDP bekennt sich dabei eindeutig und offensiv
zum Sozialabbau. Auch Herr Merz tut das gelegentlich,
allerdings heute Morgen nicht. Die Positionen der Unions-
parteien sind insgesamt widerspruchsvoll und ver-
schwommen. Wenn die Union jedoch in den Mittelpunkt
ihrer Programme – Ihre Wahlprogramme sollen ja angeb-
lich noch gelten – eine schnelle und radikale Rückführung
der Staatsquote stellt, dann bedeutet das nichts anderes als
die Streichung von Investitionen auf allen Staatsebenen
und massiven Sozialabbau. Deswegen sage ich: Mit uns
wird es keine Steuersenkungspolitik auf Pump geben.
Es wäre ohne Zweifel auch für das nächste Jahr sehr
problematisch, jetzt ein gesamtstaatliches Defizit von
mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auszuwei-
sen. Auch wenn das immer wieder vorgeschlagen wird: Es
ist falsch, zu glauben, man könne in kurzer Frist aus den
im Bundeshaushalt eingestellten Mitteln für die Sozial-
ausgaben Milliardenbeträge zur Finanzierung aller mög-
lichen Zukunftsinvestitionen und Steuersenkungen quasi
herausschneiden, ohne dabei unser Alterssicherungssys-
tem, die Ausbildungsfinanzierung oder Leistungen wie
Wohngeld und Erziehungsgeld entscheidend abzubauen.
Deshalb – auch das sagen wir den Bürgerinnen und Bür-
gern klipp und klar – können derzeit keine zusätzlichen
Steuer- und Abgabensenkungen durchgeführt werden. Es
bleibt bei den Steuersenkungen zum 1. Januar 2004 und
zum 1. Januar 2005.
Die letzte Steuerschätzung hat noch einmal schmerz-
lich deutlich gemacht – das gilt auch für die Länder und
Kommunen –, wie instabil die Einnahmebasis der öffent-
lichen Haushalte ist. Kein Finanzminister und kein Käm-
merer, gleich welcher Partei, der seine Aufgabe ernst
nimmt und verantwortlich handeln will, kann das gut-
heißen und akzeptieren. Die öffentlichen Haushalte müs-
sen stärker planbar werden. Nur so ist die Finanzierung
der von den Bürgerinnen und Bürgern gewünschten öf-
fentlichen Leistungen sicherzustellen. So wichtig eine be-
ständige Aufgaben- und Ausgabenkritik ist – hieran müs-
sen sich auch in diesem Hause alle beteiligen – und so
wichtig das ständige Bemühen um einen sparsamen und
effizienten Mitteleinsatz ist, darf man nicht vergessen: Es
gehört zu den elementaren Pflichten aller für einen öf-
fentlichen Haushalt Verantwortlichen – ich betone: aller
Parteien –, vorhandene Defizite im Steuervollzug abzu-
bauen und zum Beispiel den Kampf gegen Steuerhinter-
ziehung und Steuerflucht auszuweiten und zu verstärken.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wer-
den von uns daran gemessen werden, ob Sie bereit sind,
den Kampf gegen Steuerhinterziehung zu führen.
Sie werden auch daran gemessen werden, ob Sie bereit
sind, nicht mehr vertretbare und nicht mehr finanzierbare
Vergünstigungen im Steuerrecht zu beschneiden oder zu
streichen, oder ob Sie sich wie bisher – das gilt nicht nur
für die FDP, sondern in sehr starkem Maße auch für die
CDU/CSU – als eine Summierung von Einzelklientelen
verstehen. Wir werden Sie außerdem daran messen, ob
Sie bereit sind, über geeignete Maßnahmen zu sprechen,
die auf eine gleichmäßigere und stetigere Besteuerung ab-
zielen. In der Vergangenheit gab es ja Ankündigungen
zum Beispiel vom Kollegen Merz, mit denen er deutlich
gemacht hat, dass dies auch sein Weg sein könne. Genau
das streben Bundesregierung und die sie tragenden Koa-
litionsfraktionen mit dem jetzt vorliegenden Entwurf
eines Steuervergünstigungsabbaugesetzes an. Dieses
Gesetz wird für mehr Steuerehrlichkeit und Steuergerech-
tigkeit sorgen. Die in diesem Gesetz enthaltenen Maß-
nahmen setzen bewusst bei den Gemeinschaftsteuern an,
um nicht nur den Bundeshaushalt, sondern auch die Haus-
halte der Länder und Kommunen in erheblichem Umfang
zu entlasten.
Es ist die Aufgabe der Entscheidungsträger aller im
Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und des Bun-
desrates, dafür zu sorgen, dass die mit diesem Gesetz ver-
bundenen unvermeidbaren Mehrbelastungen für einzelne
Gruppen in vertretbarer und sachgerechter Weise und
ohne zu große negative Nebeneffekte durchgeführt wer-
den. Deshalb – das sage ich im Hinblick auf einige Be-
merkungen, die Herr Merz vorgetragen hat – werden wir
sachbezogene Kritik an unseren Vorschlägen aufnehmen
und in die parlamentarischen Beratungen einbeziehen.
Natürlich werden wir den Interessierten und Betroffe-
nen im Gesetzgebungsprozess die Möglichkeit geben,
ihre Anliegen und Sichtweisen darzulegen. Im Rahmen
einer verantwortungsbewussten Haushalts- und Finanz-
politik muss allerdings darauf bestanden werden, dass der
Ertrag, der mit unserem Gesetz für mehr Steuerehrlichkeit
und Steuergerechtigkeit für den Bund, die Länder und die
Kommunen verbunden ist, nicht geschmälert wird. Die
Lage der öffentlichen Haushalte ist insgesamt so ernst,
dass mit rein parteitaktischen Überlegungen und mit den
Aufführungen einer Opposition, die ihren verlorenen
Wahlkampf offensichtlich immer noch weiterführt, end-
lich Schluss sein muss.
Diese Strategie wird scheitern. Die Unionsfraktion im
Deutschen Bundestag überschätzt ganz offensichtlich
ihren Einfluss und ihre Bedeutung, wenn sie meint, dass
sie die unionsgeführten Bundesländer aus purer Wahl-
kampftaktik zu einer kompromisslosen Ablehnung dieser
steuerpolitischen Vorschläge drücken kann. Es gibt ja
752
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 753
schon Andeutungen. Die unionsgeführten Länder kennen
ihre eigenen Interessen sehr genau und haben keine an-
dere Wahl, als sie zu verfolgen. Deshalb ist zu erwarten,
dass auch die unionsgeführten Bundesländer spätestens
nach den Wahlen am 2. Februar die Destruktionsstrategie
und die Verweigerungshaltung, die derzeit betrieben wird,
verlassen werden. Auch Stoiber und Koch können nicht
ständig polemisieren, blockieren und in maßloser Sprache
skandalisieren. Auch sie müssen dafür Sorge tragen, dass
die Einnahmebasis ihrer Länder gesichert wird und die
Defizite ihrer Haushalte nicht unbegrenzt nach oben
schnellen.
Zudem haben sich die Länder eindeutig dazu verpflich-
tet, gemeinsam mit dem Bund die Vorgaben im europä-
ischen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erfüllen.
Bund, Länder und Kommunen haben am letzten Mitt-
woch auf der Sitzung des Finanzplanungsrates ausdrück-
lich in dem Ziel übereingestimmt, im Jahre 2003 das ge-
samtstaatliche Defizit wieder unter 3 Prozent zu senken
und bis zum Jahre 2006 einen ausgeglichenen Staatshaus-
halt vorzulegen. Das heißt, jede öffentliche Körperschaft,
also neben dem Bund auch jedes Land mit seinen Kom-
munen, will ihren Beitrag zur Erreichung dieses gemein-
samen Ziels leisten. Vor diesem Hintergrund kann die Ver-
antwortung nicht nur bei Hans Eichel und auf der
Bundesebene abgeladen werden. Das ist vordergründige
Polemik und Wahlkampf und widerspricht der Rechts-
lage. Sie sind mit in der Verantwortung für unser Ge-
meinwesen, meine Damen und Herren.
Unsere Vorschläge in dem Finanzpaket bieten substan-
zielle Verbesserungen der finanziellen Situation aller Ge-
bietskörperschaften. Die Realisierung dieser Vorschläge
würde es auch den Ländern erheblich erleichtern, ihre Ver-
antwortung für die Einhaltung der deutschen Verpflichtun-
gen aus dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt
zu erfüllen. Deshalb, meine Damen und Herren von der
Union, wären Sie gerade im Interesse der unionsgeführten
Länder und Kommunen gut beraten, bereits im Deutschen
Bundestag konstruktiv an unserem Politikangebot mitzu-
arbeiten. Sie können nicht immer nur sagen, wie schlecht
alles in Deutschland ist. Sie können nicht von vornherein
jeden Vorschlag von uns ablehnen, zumal, wenn Sie
gleichzeitig – wie heute geschehen – keine eigenen Vor-
schläge vorlegen, wie man ganz konkret mit den Proble-
men in der Bundesrepublik Deutschland umgehen soll.
Mit einer solchen Haltung kommen Sie Ihrer Verantwor-
tung in der Steuer- und Haushaltspolitik nicht nach. Sie
gefährden zudem die Handlungsfähigkeit des Staates, und
zwar nicht nur auf der Bundesebene, sondern auch auf
Landes- und Kommunalebene.
Die heute in erster Lesung zu beratenden Haushaltsge-
setzentwürfe stellen angemessene Antworten auf die ak-
tuelle ökonomische und finanzielle Lage dar. Auch wenn
in diesem Jahr die Nettokreditaufnahme sehr hoch aus-
fällt: Es gibt in der derzeitigen konjunkturellen Lage
keine Alternative dazu, im Jahre 2002 die automatischen
Stabilisatoren wirken zu lassen.
In dem Entwurf für das Haushaltsjahr 2003 wird die
Nettokreditaufnahme wieder zurückgeführt, und zwar auf
den niedrigsten Stand seit der deutschen Wiedervereini-
gung. Wir hatten seit der deutschen Wiedervereinigung
keine Nettokreditaufnahme in der Größenordnung von
18,9 Milliarden Euro.
– Herr Austermann, Sie dürfen dabei nicht den Hinter-
grund vergessen, dass wir zwischen 1998 und 2002 nur
knapp die Hälfte der neuen Schulden gemacht haben, die
Sie zwischen 1994 und 1998 gemacht haben.
Wenn Herr Merz heute versucht, die falschen Wei-
chenstellungen, die bei der deutschen Einheit in ökono-
mischer, sozialer und finanzieller Hinsicht erfolgt sind,
auszublenden, täuscht er die deutsche Bevölkerung. Wir
werden noch lange an diesen falschen Weichenstellungen
in der Bundesrepublik Deutschland leiden.
Im Entwurf 2003 wird trotz aller Sparzwänge die
Struktur des Bundeshaushaltes weiter verbessert. Zu-
kunftsichernde Ausgaben für Bildung, Forschung und In-
frastruktur werden auf hohem Niveau gehalten und sogar
verstärkt. Die Investitionen übertreffen deutlich den Vor-
jahresansatz.
Auch dieser Etat steht unter der Überschrift „Kon-
solidieren, Gestalten, Erneuern“ und ordnet sich damit
in die lange Linie unserer erfolgreichen Finanzpolitik
ein. Die Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/
Die Grünen hält mit den heute vorgelegten Gesetzen
Kurs.
Das ist auch ein klares Signal an die Europäische Zen-
tralbank, dass Deutschland ihre Stabilitätsbemühungen
nicht unterlaufen wird und dass die Bundesregierung mit
ihrer Finanzpolitik daran mitwirken will, dass die EZB
Spielraum für eine wachstumsorientierte Zinspolitik ge-
winnt. Ich hoffe, es wird vielleicht im Laufe dieser Woche
Reaktionen darauf geben.
Ich bin ganz sicher, dass die Menschen nach dem Feld-
geschrei der letzten Wochen und Monate zunehmend
nachdenklich werden,
dass sich die Menschen in den nächsten Wochen und Mo-
naten von den Inhalten unserer Politik überzeugen lassen.
In dem Maße, in dem deutlich wird, dass nur durch eine
Politik, wie wir sie betreiben, der Grund für den Wieder-
aufschwung gelegt werden kann, werden die Menschen
auch wieder Vertrauen und Zuversicht fassen – auch wenn
die Opposition in diesem Hause aus reiner Partei- und
Wahltaktik weiter mit Obstruktion und Totalverweige-
rung fortfahren sollte.
Die Lage ist bei weitem nicht so schlecht wie die Stim-
mung!
Joachim Poß
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Joachim Poß
Sie werden sehen, schon bald wird die Stimmung ins
Positive umschlagen, und zwar nicht nur, Herr Rexrodt,
weil Weihnachten vor der Tür steht.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Rexrodt von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! In den letzten Wochen – auch heute wieder – hat es
verzweifelte, fast rührende Versuche gegeben, das De-
saster der Bundesfinanzen gewissermaßen als ein Winter-
tief oder Formtief darzustellen, in das jeder gute Sportler
einmal gerät. Man habe ja das Ziel fest vor den Augen und
man werde ein gutes Rennen laufen.
Damit sind wir wieder dabei, den Leuten Sand in die
Augen zu streuen. Seit geraumer Zeit sind wir Letzter
beim Wirtschaftswachstum; wir trotten den anderen in
Europa hinterher. Dann bemüht Herr Eichel, der in einer
bemerkenswerten Art und Weise die Rechnungen aufbe-
reitet hat, Japan, ein Land, das sich seit einem Jahrzehnt
in einer Strukturkrise befindet, und die USA für ein Jahr,
um das schlechte Wirtschaftswachstum in Deutschland zu
relativieren. Und weil das Wirtschaftswachstum so nied-
rig ist, gibt es in Europa nur noch vier andere Staaten, die
eine schlechtere Arbeitslosenquote aufweisen. Was die
Nettoneuverschuldung angeht, ist nur noch Portugal
schlechter als wir. Bei der Nettoneuverschuldung haben
wir über Jahre hinweg die Standards gesetzt und letztend-
lich den Stabilitätspakt durchgedrückt. Wir legen heute
aber Werte vor, die das gesamte Rennen infrage stellen.
Der Stabilitätspakt ist die Grundlage für einen starken
Euro, nach innen und nach außen. Wer da versagt, der ge-
fährdet die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, der
gefährdet Arbeitsplätze und letztlich die Grundlagen un-
seres Wohlstands.
Ich höre schon Herrn Clement und andere – auch Sie,
Herr Eichel, haben sich heute in diesem Sinne geäußert –,
wie sie sagen: Wir dürfen dieses Land nicht schlechtre-
den; wir müssen zusammenstehen. Solche Äußerungen
sind verständlich und nachvollziehbar. Aber damit, Herr
Clement, können wir die Wahrheiten, die ich eben vorge-
tragen habe, nicht aus der Welt schaffen. Haben uns die
Sozialdemokraten geschont, als wir den Zuwachs der
Neuverschuldung in den 90er-Jahren mit den Lasten der
Wiedervereinigung – im Übrigen ein wirklich triftiger
Grund – begründet haben? „Schuldenstaat“ und „Schul-
denkanzler“ haben Sie von den Bänken im Bundestag aus
gehöhnt, als ob die damalige Koalition fahrlässig oder so-
gar vorsätzlich gehandelt hätte. Heute benutzen Sie das-
selbe Vokabular, weil Sie mit Ihrer Finanzpolitik am Ende
sind, Herr Eichel.
Die gesamte Misere der bundesstaatlichen Finanzen
macht sich an zwei Tatbeständen fest.
Erstens. Die Verschuldung wird im Nachtragshaus-
halt 2002 und im Haushaltsentwurf 2003 geradezu explo-
sionsartig ausgeweitet. Ein solcher Druck entsteht nur,
wenn man etwas unter dem Deckel gehalten hat. Was un-
ter dem Deckel war, werden wir uns in den nächsten Wo-
chen anschauen.
Zweitens. Mitten in der Depression verschiebt die rot-
grüne Bundesregierung die seit langem versprochene
Steuerentlastung. Mehr noch: Sie sattelt bei den Steuern
drauf, wild und ungeordnet. Herr Müntefering hat mitt-
lerweile noch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ins
Spiel gebracht, die seit gestern wieder zur Vermögen-
steuer geworden ist. Die Wirtschaft steht Kopf. Jegliche
Kalkulierbarkeit der Belastungen, die auf unsere Unter-
nehmen zukommen, ist nicht mehr möglich.
Man kann sich über die Vergleichbarkeit mit Heinrich
Brünings Politik sicherlich streiten. Aber unbestritten ist
die Tatsache, dass wir eines machen: Deflationspolitik, und
zwar in Reinkultur. Was geschieht, ist das Gegenteil dessen,
was der von Ihnen oft so hoch geschätzte Ökonom John
Maynard Keynes vor Jahrzehnten erkannt hat: In der Re-
zession muss man Steuern senken und nicht erhöhen.
Die expansive Fiskalpolitik hilft Ihnen auch nicht wei-
ter: Die aufgenommenen Mittel fließen eben nicht in zu-
sätzliche Investitionen, sondern überwiegend in die
Transferausgaben, um Löcher zu stopfen. Einen Arbeits-
markteffekt hat das nicht.
Zur Rechtfertigung dieses ökonomischen Wahnsinns
haben Sie nichts anderes als den Hinweis anzuführen,
dass angeblich auch die gegenwärtige Opposition nichts
Besseres anzubieten hat. Das ist mehr als daneben.
Die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Diskussion
der letzten Jahre war davon geprägt, dass wir immer wie-
der eine Reformpolitik angeboten und vorgeschlagen ha-
ben, die auf eine Verbesserung der ökonomischen Rah-
menbedingungen ausgerichtet ist. Unsere Steuerreform
war klar durchgerechnet.
Die Realität ist dadurch geprägt, dass Reformen an
wichtigen Stellen versäumt und bestehende Mängel noch
verschärft wurden. Versäumt haben Sie die Reform im
Gesundheitswesen. Kontraproduktiv war über dreiein-
halb Jahre hinweg Ihre Arbeitsmarktpolitik.
Dann kamen im letzten halben Jahr die Hartz-Vorschläge.
Ein kleines Segment davon wollen Sie nun umsetzen. Der
Verfasser dieser Vorschläge wendet sich mit Grausen von
dem ab, was Sie da umsetzen wollen, Herr Clement.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 755
Ich gebe zu, dass die Reformen, die Sie gemacht haben
– bei Steuern und der Rente –, in die richtige Richtung ge-
hen. Sie haben diese Reformen aber so vermasselt, dass
sich der Mittelstand ausgegrenzt fühlt. Das ist die ei-
gentliche Ursache dafür, dass wir eine anhaltende Rezes-
sion in unserem Lande haben.
Verzagtheit hat sich breit gemacht. Nirgendwo besteht
mehr Glaube an die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Es
herrscht eine Stimmung, wie wir sie seit dem Zweiten
Weltkrieg nicht mehr beobachten konnten.
– Ich heize überhaupt nichts an. Ich beschreibe die Fak-
ten. Gehen Sie doch einmal im Lande umher und hören
Sie sich an, was die Leute sagen und denken, insbeson-
dere die Mittelständler. Das ist doch ein Faktum; das kann
man doch nicht vom Tisch wischen.
Machen Sie eine anständige Politik! Geben Sie den
Leuten wieder eine Zukunftsorientierung! Dann wird die
Stimmung in diesem Lande auch anders werden.
Auf der Ausgabenseite – das ist hier falsch dargestellt
worden –, Herr Eichel, haben Sie nie wirklich kürzen kön-
nen.
Sie haben Etatansätze gekürzt. Die Ausgaben bewegen
sich – das sind doch Ihre Angaben – in den nächsten Jah-
ren auf dem Niveau von rund 250 Milliarden Euro. Da
geht nichts herunter, das geht sogar ein Stück hoch. Das
Niveau ist nicht verändert worden.
– Herr Eichel, schauen Sie doch Ihre eigenen Zahlen an. –
Das hat seine Ursachen darin, dass Sie nie den Sozialbe-
reich haben reformieren können, so wie es schon aufgrund
der demographischen Entwicklung notwendig ist.
– Das ist ein gutes Stichwort.
Dann haben Sie die Ökosteuer erfunden. Das war im-
mer schon eine Dreistigkeit insbesondere von den Grü-
nen. In Wirklichkeit sind die Beiträge zur Rentenversi-
cherung nicht gesenkt worden; vielmehr sind sie
gestiegen.
Das ist eine merkwürdige Steuer.
Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie
jetzt noch durch die weitere Erhöhung und durch den
Abbau dessen, was Sie Steuervergünstigungen nennen,
die energieintensiven Betriebe aus Deutschland vertrei-
ben wollen, dann wird auch unter umweltpolitischen
Aspekten eine noch magerere Bilanz entstehen. Wenn
Aluminium künftig nicht mehr im Rheinland, sondern in
Osteuropa oder der Dritten Welt geschmolzen wird, sieht
die Umweltbilanz in globaler Betrachtung verheerend
aus.
Die einzig Leidtragenden sind die deutschen Arbeit-
nehmer, die ihre Arbeitsplätze in großer Zahl verlieren,
und ist der Staat, der keine Steuern mehr erhält.
Ein altes und nunmehr wieder neues Argument wird zur
Begründung einer solchen kontraproduktiven Politik he-
rangezogen: Angeblich stimme die Lastenverteilung in
diesem Lande nicht.
Ich komme noch einmal auf John Maynard Keynes
zurück. Er hat zur Umverteilungspolitik einmal gesagt:
Es kommt darauf an, den Kuchen größer zu machen, den
es zu verteilen gilt, dann haben alle etwas davon. – Wer
anderes will, erzeugt lähmende Verteilungsdebatten und
Verdrossenheit. Er vernichtet Leistungsbereitschaft und
Risikofreude. Die Beispiele dafür gibt es zuhauf, in unse-
rem Land und anderswo.
Die heute vorgelegten Haushaltsgesetze sind Ausdruck
großer Hilflosigkeit. Diese Gesetze sind abzulehnen.
Wenn dies nicht gelänge, wäre es kein guter Tag für unser
Land.
Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir
schon Herrn Keynes bemühen, Herr Rexrodt, dann ma-
chen wir es doch bitte der Ordnung halber im Ganzen und
bemühen nicht nur den halben Keynes.
Sie haben nur den halben Keynes bemüht, indem Sie sag-
ten, man müsse natürlich in Rezessionsphasen Steuersen-
kungen anstreben. Die andere Hälfte, die Sie hier ver-
schwiegen haben, ist, dass man in guten Zeiten vorsorgen
muss, damit man etwas hat, was man in Rezessionszeiten
ausgeben kann, um Steuern abzusenken. Das haben Sie
versäumt.
Dr. Günter Rexrodt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Antje Hermenau
Das ist exakt das Problem, um das wir heute hier kreisen.
Wir haben einen Nachtragshaushalt für 2002 und einen
Entwurf für 2003. Wir müssen natürlich endlich damit an-
fangen, uns nicht immer nur einen Haushalt anzugucken,
sondern wir müssen die Geschichte berücksichtigen, um
zu sehen, wie es zu diesem Haushalt in einem konkreten
Jahr gekommen ist, und wir müssen uns fragen, was man
in der Zukunft unternehmen muss, um da wieder weg zu
kommen. Das wäre also eine überjährige Betrachtung.
Wir fordern von Beamten inzwischen, dass sie die Kos-
ten-Leistungs-Rechnung beherzigen. Daher sollten wir
im Parlament auch genauso modern diskutieren und nicht
immer nur auf ein Fiskaljahr gucken, sondern auch über
Ursachen, Wirkungen und Zukunftspläne diskutieren.
Gehen wir einmal in dieser Reihenfolge vor; jeder
nachfolgende Redner kann dieses Beispiel ja gern adap-
tieren. Die Strukturprobleme, mit denen wir uns zurzeit
herumquälen, sind eine Kollektivleistung. Das haben wir
alle miteinander gut hingekriegt. Natürlich erschöpft sich
die parlamentarische Debatte immer darin, dass wir uns
gegenseitig vorwerfen, wer am meisten Schuld daran hat,
dass etwas nicht gemacht worden ist. Das ist parlamenta-
rischer Debattenstil. Aber es gibt doch deshalb hier dau-
ernd emotionale Friktionen, weil keiner zugeben will,
woran er mitschuldig ist. Alle können sich hinter dieser
Kollektivschuld verstecken. Sie können hier Schuldzu-
weisungen machen; wir können welche zurückgeben. Je-
der hat etwas auf dem Kerbholz. Eigentlich ist es so, wenn
man den Haushalt und seine Entwicklung betrachtet: Kei-
ner gibt zu, dass wir uns in Deutschland über Jahre und
Jahrzehnte hinweg zu viel geleistet haben, dass es eben
nicht vernünftig war, sich von Lafontaine 1990 ins Bocks-
horn jagen und dann Waigel einfach alle erforderlichen
Maßnahmen zur deutschen Einheit über die Sozialsiche-
rungssysteme finanzieren zu lassen, nur weil Lafontaine
kurz vor der Wahl gesagt hat, dass Sie es über Steuerer-
höhungen machen würden.
Dasselbe Spielchen wird jetzt wieder abgezogen. Jetzt
sollen eben wir zu irgendwelchen Bekenntnissen ge-
zwungen werden, ohne vorher genau alles durchdacht und
hier diskutiert zu haben, und sogar ohne Ihre Einbezie-
hung. Auch das ist nicht sehr sinnvoll. Es geht eigentlich
immer nur um dieses parlamentarische Spielchen vor
Wahlen: Wir zwingen den anderen zu Aussagen, die nach-
her alle irgendwie nicht funktionieren, und damit haben
wir die Unregierbarkeit des Landes weiter sichergestellt.
Wenn es nicht immer diese Manöver gäbe, hätten wir es
geschafft, die Strukturreform eher anzupacken. Die
CDU/CSU hatte im Maastricht-Jahr 1997, als es mit dem
Haushalt ziemlich kompliziert war, eine Chance dazu. Im
Prinzip ist unser struktureller Reformbedarf auch da
schon deutlich geworden, denn der Rucksack unerledig-
ter Reformen, den wir mit uns herumschleppen, drückt
uns immer dann zu Boden, wenn wir in eine schwierige
Konjunkturphase kommen.
Genau das passiert jetzt wieder. Wir überschreiten das
Maastricht-Kriterium in diesem Jahr und kommen bei
3,8 Prozent an. Das ist wirklich sehr hoch. Maximal 3 Pro-
zent wären erlaubt. Aber wir kommen dahin mit ungefähr
2,5 Prozent strukturellem Rucksack, entstanden aus nicht
gemachten Reformen aus den letzten zwei Jahrzehnten.
Das alles ging schon vor der deutschen Einheit los. Das ist
unser eigentliches Problem. Mit einem so schweren Ruck-
sack kann man natürlich ziemlich schlecht steuern, wenn
man in konjunkturelle Stürme gerät. Deswegen sind für
uns nicht nur die Konjunkturprognosen für die nächsten
Jahre wichtig, sondern für uns ist es auch wichtig, endlich
die strukturellen Reformen anzugehen.
Das machen wir, entgegen dem, was Sie im Land auf Pla-
katen verbreiten, und entgegen Ihren Aufrufen zu De-
monstrationen. Deutschland hat sich wirklich verändert:
Die Christsozialen rufen zur Demo auf.
Aber unabhängig davon: Wir gehen die Reformen an.
Hartz wird umgesetzt. Sie dürfen sogar im Vermittlungs-
ausschuss die Nachbesserungen einbringen, die Sie für
unverzichtbar halten. Ich nehme an, es wird einen Kom-
promiss geben. Sie werden also mitgestalten und in dieser
einen Frage einmal Ihrer nationalen Verantwortung auch
in der Opposition gerecht werden können.
Mit der Rürup-Kommission ist der nächste Schritt
schon vorgezeichnet. Nicht umsonst hat es Streit um den
Kern ihrer Aufgabe gegeben. Kern der Aufgabe ist, taug-
liche Vorschläge, die kurzfristig umzusetzen sind, zur
Senkung der Lohnnebenkosten zu erarbeiten. Das ist der
Dreh- und Angelpunkt.
Wir sollten uns jetzt einmal angucken, was alles schon
erreicht worden ist. Wir haben mit den strukturellen Re-
formen ja schon begonnen. Ich nenne den Bürokratieab-
bau, der schon mehrmals erwähnt wurde. Ich nenne die
Anzahl der Beschäftigten beim Bund. Diese Zahl liegt in-
zwischen deutlich unter dem Beschäftigungsstand von
1989, also von vor der deutschen Einheit.
Oder sehen Sie sich an, dass sich in den letzten Jahren
die ausländischen Direktinvestitionen deutlich verbessert
haben, nachdem Sie in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre
ein Jahr nach dem anderen Tiefststände produziert haben.
Wir haben die Finanzhilfen des Bundes innerhalb von
fünf Jahren um über ein Drittel von 11,4 Milliarden auf
7,8 Milliarden gesenkt. Erzählen Sie uns doch nicht, dass
wir nicht gespart hätten. Natürlich haben wir das getan.
Der Punkt ist: Unsere Einsparungen waren eine sanfte
Annäherung unter anderen Voraussetzungen. Wir haben
756
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 757
gedacht, wir können das etwas langsamer und ruhiger an-
gehen. Seit dem 11. September des letzten Jahres hat sich
die Weltlage verändert. Die Weltkonjunktur zwingt uns,
mit dem Sparkurs schneller voranzuschreiten als bisher.
Wir hatten in der letzten Legislaturperiode eine zu sanfte
Gangart. Aber die Zielrichtung und die Maßnahmen ha-
ben gestimmt.
Was ich bei Ihnen von der Opposition vermisse, ist der
Respekt vor der Aufgabe, die ich hier beschreibe. Dieser
Respekt ist bei Ihnen überhaupt nicht zu erkennen. Sie er-
gehen sich hier in Inszenierungen irgendwelcher opposi-
tioneller Theater
und sind dabei der Meinung, dass es sich um eine seriöse
Meinungsbildung in diesem Land handelt. Ich habe vor-
hin schon davon gesprochen: Es gibt verletzten Stolz und
es gibt die Angst, eine kollektive Schuld mit einzugeste-
hen. Man versteckt sich gerne hinter anderen. Das ist al-
les richtig. Aber so behebt man das Problem nicht. Ir-
gendwann werden Ihnen die Menschen auf die Schliche
kommen. Sie werden merken, dass Sie nichts angeboten
haben.
Sie haben sich erdreistet, den netten, blassen Herrn
Wulff gestern seine zehn Punkte zur Reform des Arbeits-
marktes vortragen zu lassen, in denen nichts Neues stand.
Sie haben damit im Prinzip nur Ihre Verhandlungslinie für
den Vermittlungsausschuss zum Hartz-Konzept darge-
legt.
Und das nennen Sie ein Programm? Überlegen Sie sich
das einmal! Es hätte natürlich nicht so spektakulär ge-
klungen, wenn Sie gesagt hätten, dass es sich um Ihre Ver-
handlungslinie für den Vermittlungsausschuss handelt. Es
ist peinlich, wenn das die einzigen substanziellen Beiträge
der Opposition sind.
Ich habe nicht umsonst auf die Notwendigkeit von Struk-
turreformen hingewiesen. Ich will es plastischer darstellen:
Wir reden darüber, dass dieser Haushalt seit Jahren, eigent-
lich seit Jahrzehnten, dadurch belastet wird – die Belastun-
gen steigen jedes Jahr weiter an –, dass die Zinslasten und
die Ausgaben für die Alterssicherung, die inzwischen zum
großen Teil steuerfinanziert sind, einen immer stärkeren
Anteil am Bundeshaushalt haben. Es ist richtig: Auch wir
haben diesen Trend nicht umkehren können. Wir haben
ihn aber verlangsamt, indem wir die Einnahmen aus der
UMTS-Versteigerung zur Tilgung eingesetzt und dadurch
Zinsen eingespart haben. Wir haben versucht, günstige
Zinskonditionen auszuhandeln. Im Moment laufen einige
hochverzinsliche Kredite aus. Aber im Kern bleibt dieses
Problem bestehen und verschärft sich in den nächsten vier
Jahren noch. Das ist der entscheidende Punkt, den man
beachten muss, wenn Herr Austermann von Investitions-
quoten spricht.
Es wird uns aber nur gelingen, die Investitionen sub-
stanziell zu steigern – und nicht nur um 1 Milliarde Euro
wie im nächsten Jahr –, wenn wir den Anteil der Zinslast
und der Alterssicherungslast unter 50 Prozent drücken.
Dieser steinige Weg steht uns bevor. Wir kommen nicht
darum herum. Das ist eine neue Qualität, die nötig ist, um
den Sparkurs aus der letzten Legislaturperiode in eine
Kultur der Modernisierung zu überführen. Das ist jetzt
wichtig.
Ich habe es schon mehrmals gesagt: Es ist schlicht ein
Akt europäischer Solidarität – da hat Herr Rexrodt gar
nicht Unrecht –, dass wir uns darum bemühen, die Stabi-
lität des Euro und die Stärkung der Wirtschaftskraft der
Europäischen Union nicht daran scheitern zu lassen, dass
Deutschland seine Hausaufgaben nicht macht. Darin sind
wir uns einig; das ist überhaupt kein Streitpunkt, Herr
Rexrodt. Es ist aber sicherlich auch richtig, zu schauen,
wer wie einen Beitrag dazu leisten kann.
Dass wir das Maastricht-Kriterium um mindestens
0,8 Prozentpunkte verfehlt haben – eigentlich sollten wir
deutlich unter der 3-Prozent-Grenze liegen –, ist ebenfalls
eine Kollektivleistung. Die Länder haben sich nämlich
klammheimlich hinter dem Rücken von Hans Eichel ver-
steckt. Behaupten Sie jetzt nicht, das sei nicht so! Ich habe
mir die Haushalte der Länder Bayern und Hessen für die-
ses Jahr angeschaut. Ich unterstelle – ich habe das jeden-
falls gehört –, dass die Finanzverwaltung im Freistaat
Bayern fähig ist.
Wenn dem so ist, dann hätte die Finanzverwaltung des
Freistaates Bayern dem Finanzminister Faltlhauser be-
reits im August oder September sagen müssen: Herr
Faltlhauser, Sie müssen dringend eine Haushaltssperre
veranlassen, weil das Geld nicht reicht.
Theoretisch hätte das so sein müssen. Aber Herr
Faltlhauser hat erst am Nachmittag, als die Steuerschät-
zung bekannt wurde, eine Haushaltssperre erlassen. Das
heißt, er hat sich hinter Hans Eichel versteckt und hat sich
nicht getraut, im Wahlkampf Bescheid zu geben.
Dass der Kanzlerkandidat aus Bayern kam, könnte der
Grund sein – man wollte vielleicht nicht den Eindruck er-
wecken, auch in Bayern könnte etwas nicht klappen –,
dass man verhalten reagiert hat. Dafür habe ich Verständ-
nis. Es hat ja niemand vor der Wahl die Nichteinhaltung
des Maastricht-Kriteriums wie eine Monstranz vor sich
hergetragen, keiner! Sie auch nicht.
Antje Hermenau
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Antje Hermenau
Roland Koch aus Hessen ist der Regisseur für das Op-
positionstheater und hat inzwischen in der Bundestags-
fraktion der CDU/CSU mehr zu melden als die Vorsit-
zende.
Wenn ich mir den Haushalt von Hessen anschaue, dann
muss ich sagen: Der hat ja die Chuzpe gehabt, die Gele-
genheit zu nutzen und in seinem Haushalt eine mehr als
doppelt so hohe Neuverschuldung vorzunehmen, als ei-
gentlich geplant war. Auch er hat sich hinter Hans Eichel
versteckt und hat das alles – denn er hat im Februar Land-
tagswahl und muss daher im Jahre 2002 noch ein paar Sa-
chen auf die Reihe bringen – hinter dem Rücken von Hans
Eichel gemacht.
Diese Länderfürsten aber schicken ihre Finanzminister
schön in den Finanzplanungsrat, wo sie sich gegenseitig
versichern,
wie sehr sie sich alle anstrengen werden, die geplante
Neuverschuldung einzuhalten und das Maastricht-Krite-
rium nicht zu reißen, und dann gehen die Finanzminister
in ihre Länderlein zurück, verstecken sich klammheim-
lich hinter Hans Eichel und lassen ihn den Buhmann spie-
len. Das ist eine Taktik!
Ich habe davon gesprochen, dass wir strukturelle Re-
formen als einen zweiten Schritt, einen qualitativen
Sprung im Hinblick auf unsere Bemühungen in der letz-
ten Legislatur, die nicht falsch, sondern richtig gewesen
sind, angehen müssen. Sie haben die richtige Richtung ge-
habt. Wir haben vielleicht noch nicht die richtige Energie
besessen. Wir haben vielleicht zu sanft gespart; das will
ich gelten lassen. Aber in diesem Land nach vielen Jahren
überhaupt wieder eine Kultur des Sparens zu etablieren –
inzwischen gibt es sogar folgende Reklame: „Geiz ist
geil“; da hat sich doch in der Bevölkerung und, so hoffe
ich, endlich auch bei allen Politikern etwas geändert; man
sagt: Sparen macht Sinn –, das hat Rot-Grün in der letz-
ten Legislatur geschafft. Das ist der Punkt.
Der nächste qualitative Schritt wird sein, eine Kultur
der Modernisierung durchzusetzen, und zwar gegen jed-
weden Lobbyisten bzw. Oppositionspolitiker. Letztere
meinen nämlich, sie hätten nicht genug mitzubestimmen,
und haben die Sorge, dass ihre Stimme nicht gehört wird
und sie ihre Vorschläge nicht anbringen können.
Wenn Sie von der Opposition Ihre Vorschläge endlich
einmal vorbrächten, dann würden wir uns diese anhören.
Die Lage ist durchaus ernst. Wir sind für Ratschläge
dankbar. Aber Sie machen keine Vorschläge, sondern ver-
stecken sich und geben nicht zu, dass Sie in den Ländern
und zu der Zeit, in der wir noch nicht an der Regierung
waren, die derzeitige Misere mit verschuldet haben.
Wir haben diese Misere nicht sofort beenden können.
Das ist nämlich ein schweres Stück Arbeit. Da braucht
man sich nicht zu genieren. Vielmehr können wir stolz
sein und sagen: Wir haben uns angestrengt, aber nicht al-
les erreicht. Der Weg stimmte. Jetzt kommen die nächsten
Ziele.
Wenn es einen Rückschlag gibt, der, wie ich erklärt
habe, darauf beruht, dass man mit einem großen Rucksack
an strukturellen Versäumnissen und in einer konjunkturell
schwierigen Lage marschieren muss, dann meine ich:
Häme steht Ihnen auf keinen Fall zu.
Ich werde den weiteren Debattenverlauf mit Interesse
verfolgen. Vielleicht wird mein Vorschlag aufgenommen,
einmal darüber zu sprechen, was wir in Zukunft gemein-
sam beitragen und auf die Reihe bringen können. Wir
können natürlich weiter Vergangenheitsbewältigung be-
treiben, so wie Sie von der Opposition das die ganze Zeit
hier vorgeschlagen haben. Alle Ihre Reden bisher stellten
nur eine Vergangenheitsbewältigung dar. Sie bleiben da-
bei sogar emotional stehen und sind nicht in der Lage, zu
sagen: Jetzt müssen wir da durchmarschieren. – Jetzt
übernehmen auf einmal Sie die Rolle des Buhmanns, in-
dem Sie sagen: Die Konjunktur ist sehr schlecht. Man soll
nichts schönreden und nicht auf Optimismus machen.
Dabei hatten doch Sie den Optimismus, dass man die
deutsche Einheit aus der Portokasse bezahlen könnte.
Wer hatte denn den Optimismus, dass die Konjunktur auf-
grund der New-Market-Blase nach oben geht? Wer hat
solche optimistischen Aussagen immer verbreitet? Wenn
Sie sich davon jetzt völlig abkehren, haben entweder wir
es geschafft, dass Sie sich unserer Denkweise anpassen,
oder Sie spielen Theater; das kann natürlich auch sein.
Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kol-
legin Hermenau hat dazu aufgefordert, ihr bei ihren Re-
formvorschlägen zu folgen. Sie hat allerdings keine ge-
macht. Sie hat darauf verwiesen, dass Kommissionen
eingesetzt worden sind. Betrachtet man die Situation des
758
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 759
Bundeshaushalts, dann ist festzustellen: Die Haushalts-
und Finanzkrise Deutschlands besteht – auch nach ihrer
letzten Rede – nach wie vor und sie wird sich aufgrund
der Maßnahmen, die Rot-Grün getroffen hat, eher ver-
schlechtern.
Ich möchte konkrete Aussagen dazu machen, wie sich
aus unserer Sicht die Entwicklung verbessern lässt. Aller-
dings ist die Art und Weise, wie bisher – auch seitens des
Finanzministers – debattiert worden ist, nicht dazu geeig-
net, zu sagen: Jetzt fangen wir ganz neu an und vergessen
all das, was in der Vergangenheit stattgefunden hat.
Wir haben Ihnen 1998 die Regierung des Landes bei
3 Prozent Wachstum, einer drastisch sinkenden Arbeits-
losigkeit
und bei beschlossenen Reformen im Gesundheitsbereich,
bei der Rente und auf dem Arbeitsmarkt überlassen.
Das hat dazu geführt, dass die Krankenkassen Über-
schüsse erwirtschafteten und die Rente mit der Einbezie-
hung des demographischen Faktors auf sicherem Wege
war. Wir haben einen Weg eingeleitet, dessen Erfolge
Gerhard Schröder im Mai 1998 vorwegnehmen wollte, in-
dem er sagte, dies sei sein Aufschwung, weil sich alle
Leute auf das freuten, was nach der Wahl käme.
Das Ergebnis war: All das, was an positiven Ansätzen
erreicht worden ist, wurde zunichte gemacht. Die Belas-
tungen, die die Menschen zu tragen hatten – ich will das
Bild der Kollegin Hermenau aufnehmen: Der Rucksack
war 1998 leer –,
sind in dramatischer Weise vergrößert worden. Um Le-
gendenbildungen gar nicht erst zuzulassen: Die Kollegin
Hermenau hat zusammen mit dem Kollegen Metzger und
den übrigen Grünen Schmiere
bei den Entwicklungen der letzten vier Jahre gestanden.
Alle haben alles mitgemacht, jede einzelne Maßnahme ist
im Haushaltsausschuss beschlossen und von Ihnen abge-
nickt worden.
Ich möchte ein paar der Vokabeln aufnehmen, die be-
reits genannt worden sind. Wir debattieren heute über den
Nachtragshaushalt 2002. Man fragt sich: Warum ma-
chen wir kurz vor Jahresende einen Nachtragshaushalt?
Der Nachtragshaushalt ist erforderlich, weil der Bundes-
finanzminister zusätzliche Kredite in einer Größenord-
nung von mindestens 13,5 Milliarden Euro braucht. Das
hat sich in den letzten sechs Wochen herausgestellt, meint
er. Vorher hat er das nicht gewusst; denn sonst hätte er be-
reits im Juni, Juli oder August einen Nachtragshaushalts-
entwurf vorlegen müssen, wozu wir ihn auch aufgefordert
haben.
Das grundsätzliche Problem der Finanz- und Haus-
haltspolitik unter Hans Eichel ist, dass eine solche gestal-
tende Politik nicht gemacht wird. Jeder normale Mensch
hat gesehen, dass seit anderthalb Jahren die Zahl der Ar-
beitslosen strukturbereinigt steigt und das wirtschaftliche
Wachstum auf Null geht, dass es Warnungen der Sach-
verständigen gab – Herr Finanzminister, man muss nicht
nur die Sachverständigenprognosen für das Jahr lesen,
sondern auch die Ratschläge, die die Sachverständigen
geben, damit das Ganze ins Laufen kommt –, sodass für
jedermann erkennbar war, dass es mit der Finanzsituation
in Deutschland abwärts geht.
Weshalb hat denn, Herr Eichel, die EU-Kommission
im Januar dieses Jahres darauf hingewiesen, dass ein
blauer Brief droht? Mit welchen Maßnahmen haben Sie
dazu beigetragen, das zu verniedlichen und zu verdrän-
gen? Nach der Berichterstattung in den Medien vermute
ich, dass der Bundeskanzler Sie gezwungen hat, das zu
tun, da er nicht wollte, dass vor der Wahl offenkundig
wird, was Herr Metzger bestätigt hat, dass nämlich die Fi-
nanzpolitik gescheitert ist. Nichts anderes ist es doch,
wenn man dieMaastricht-Kriterien sowohl bei der Ge-
samtverschuldung als auch bei der Nettoneuverschuldung
überschreitet. Beide Ziele haben Sie gerissen.
Das war für jedermann erkennbar und Sie können nicht
erzählen, die Zahl der Existenzgründungen habe zuge-
nommen. Gehen Sie einmal in die Verwaltungsräte der
Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Aus-
gleichsbank. Da werden Sie erfahren, dass das Ganze ein-
gebrochen ist. Wenn sich Menschen nicht mehr in einem
neuen Betrieb verantwortlich fühlen wollen, wenn sie
keine Existenzgründungen vornehmen wollen, dann kann
man doch daraus den Schluss ziehen, dass ihnen das Ver-
trauen in die Zukunft fehlt.
Wenn das Vertrauen in die Zukunft fehlt und die Ar-
beitslosigkeit und die staatlichen Schulden zunehmen, lässt
das nur einen Schluss zu: Die Finanzsituation verschlech-
tert sich. Das führt zu der Schlussfolgerung, die wir schon
vor der Wahl gezogen haben.
Damit ganz deutlich wird, wer wem was gesagt hat,
füge ich hinzu: Wir haben an unsere Kollegen in der Haus-
haltsgruppe vor der Wahl ein kleines Heftchen verteilt.
Anfang Juli, als der erste Entwurf des Haushaltsplans für
das kommende Jahr vorgelegt wurde, haben wir darin ge-
schrieben:
Haushaltsentwurf 2003 ist geschönt und ohne Per-
spektive. Er basiert auf unrealistischen gesamtwirt-
schaftlichen Annahmen: Wachstum mit 2,5 Prozent
und Arbeitslosenzahl mit 3,82 Millionen angenom-
men. Totales Versagen von Rot-Grün bei Bekämp-
fung der Arbeitslosigkeit. ... Bei Wachstum und
Staatsdefizit hat Deutschland unter Rot-Grün die rote
Laterne erhalten und würde sie behalten. Deutliche
Risiken auf der Ausgabenseite und Einnahmeseite:
10 Milliarden Euro.
Das haben wir an alle unsere Wahlkämpfer verteilt. Je-
der konnte das nachlesen, angefangen vom Kanzlerkandi-
daten bis hin zu dem letzten Wahlkämpfer, der den Kolle-
gen geholfen hat. Jeder wusste es, jeder hätte es wissen
müssen, auch der Bundesfinanzminister. In einem „Stern“-
Artikel in der letzten Woche wurde unterstellt, dass wir
Dietrich Austermann
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dietrich Austermann
alles, was wir gewusst haben, von dem Staatssekretär
Overhaus aus dem Bundesministerium der Finanzen be-
kommen hätten. Auch der muss es dann ja gewusst haben,
und wenn der Staatssekretär es gewusst hat, dann muss es
auch der Minister gewusst haben.
Was uns in der Union von der Bundesregierung unter-
scheidet, ist, dass wir Fakten eins und eins zusammenge-
zählt, die Schlussfolgerungen daraus gezogen
und das den Bürgern gesagt haben. Der Finanzminister
hat gesagt, das sei unseriös, wir verhetzten die Leute, das
sei schwarze Meckerei, das alles sei unverantwortlich, ob-
wohl er genau gewusst hat, dass unsere Prognose richtig
ist. Das war unverantwortlich und das war Wahlbetrug.
Das rechtfertigt es, Herrn Eichel erneut aufzufordern:
Nehmen Sie Ihren Hut! Denn Sie haben im Amt versagt
wie kein anderer Finanzminister vor Ihnen in Deutsch-
land.
Mit einer derart schäbigen Bilanz würde sich kein ande-
rer Mensch an das Pult hier trauen und dann auch noch
versuchen, die Zahlen schönzureden.
Das geht übrigens noch weiter. Wenn gesagt wird, ein
Untersuchungsausschuss sei nicht sinnvoll, weil das ein
bereits abgeschlossener Vorgang sei, dann ist dem entge-
genzuhalten, dass weiter geschwindelt, getäuscht und ge-
tarnt wird. Ich habe hier den Monatsbericht 11/02 des
Bundesministeriums für Finanzen. Darin heißt es:
Aus dem derzeitigen Finanzierungssaldo von
44,6 Milliarden Euro und der rechnerisch ausgewie-
senen Nettokreditaufnahme können keine Rück-
schlüsse auf den weiteren Jahresverlauf gezogen
werden.
Inzwischen ist Dezember. Wir haben einen Finanzie-
rungssaldo von 44,6 Milliarden Euro und das Bundesmi-
nisterium für Finanzen verkündet nach draußen, daraus
könne man keine Schlüsse ziehen. Ich nenne Ihnen einen
Schluss: Die Steuereinnahmen werden in diesem Jahr un-
ter den Zahlen der Steuerschätzung liegen. Die Nettokre-
ditaufnahme wird in diesem Jahr deutlich über der An-
nahme liegen, die Sie im Nachtragshaushalt dafür
unterstellt haben. Auch diese beiden maßgeblichen Daten,
Herr Eichel, stimmen also nicht. Sie täten gut daran, das
in dieser Debatte noch gerade zu rücken, statt wieder zu
versuchen, das Parlament und damit auch die Bürger zu
täuschen.
Sie haben versucht, den Nachweis anzutreten, dass Sie
den Haushalt konsolidiert hätten. Konsolidierung heißt
aber doch, dass man sich darum bemüht, die Ausgaben
einzugrenzen. Schauen wir uns einmal die Ausgaben an.
Wenn wir dabei von 1998 ausgehen und das mit diesem
Jahr vergleichen, dann stellen wir fest, dass die Ausgaben
dramatisch zugenommen haben. Wenn die Ausgaben dra-
matisch zugenommen haben, dann kann doch nicht ge-
spart worden sein. Anderenfalls hätte man Geld übrig,
hätte vielleicht sogar etwas in einer Rücklage, wie es bei
mancher Gemeinde Gott sei Dank immer noch der Fall ist.
Es wird also nicht konsolidiert.
Um den Haushalt für dieses Jahr auszugleichen, er-
höhen Sie die Neuverschuldung.Auch das ist keine Kon-
solidierung. Eine um 13,5 Milliarden Euro höhere Neu-
verschuldung ist keine Konsolidierung.
Diese Maßnahme, die Sie beim Nachtragshaushalt tref-
fen – das ist der erste Teil der heutigen Debatte –, ist im
Übrigen falsch und auch nicht geeignet, die Verfassungs-
widrigkeit des Nachtragshaushalts zu beheben. Nach
Art. 115 des Grundgesetzes ist jeder Haushalt verfas-
sungswidrig, bei dem die Nettokreditaufnahme die Inves-
titionen übersteigt. Die neuen Schulden übersteigen die
Investitionen in diesem Jahr um mindestens 10Milliarden
Euro. Das bedeutet, dass der Haushalt verfassungswidrig
ist.
Es gibt davon eine Ausnahme, die ebenfalls in der Ver-
fassung geregelt ist. Danach ist das, was hier gemacht wird,
verfassungsrechtlich zulässig, wenn eine Störung des ge-
samtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt und – jetzt
kommt die entscheidende Voraussetzung – die Maßnahme
zur Behebung der Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts geeignet ist. Einfach 13,5 Milliarden Euro
an Krediten zusätzlich aufzunehmen ist jedoch nicht geeig-
net, eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge-
wichts aufzuheben; vielmehr wird diese Störung dadurch
geradezu verschärft, weil die Tatsache, dass sich der Staat
am Kapitalmarkt bedienen muss, dazu führt, dass die Zin-
sen in die Höhe gehen und die Wirtschaft noch mehr leidet.
– Selbstverständlich ist das genau so. Sie sollten sich
überlegen, in einen anderen Ausschuss zu gehen. Nach
der in Ihrem Zuruf zum Ausdruck kommenden Sachkunde
sind Sie jedenfalls für den Haushaltsausschuss nicht ge-
eignet.
Ich sage es noch einmal: Der Nachtragshaushalt ist ver-
fassungswidrig und der Haushalt für das Jahr 2003 ist auf
dem Weg dorthin. Wenn der Bundesfinanzminister sagt,
man habe richtige Maßnahmen eingeleitet und diese rich-
tigen Maßnahmen seien geeignet, die Situation zu ver-
bessern, dann frage ich – und das fragen die Bürger mit
uns –: Warum unterstellen Sie dann, völlig zu Recht, im
nächsten Jahr eine steigende Arbeitslosigkeit? Wenn Sie
eine steigende Arbeitslosigkeit unterstellen, wie können
Sie dann davon ausgehen, dass sich die Ausgaben für den
Arbeitsmarkt um 8Milliarden Euro drosseln lassen? In ei-
nem Jahr 8 Milliarden Euro weniger für den Arbeitsmarkt
auszugeben, das macht Hartz nicht möglich.
Das kann doch nur bedeuten, dass Sie den Kurs dieses
Jahres fortsetzen wollen und dass in den neuen Ländern
bei Ermessensleistungen drastisch gestrichen wird. Der
famose Herr Gerster – die Älteren werden sich noch an
ihn erinnern; er galt bei seiner Einführung ja als Wunder-
waffe; erst danach kam die Wunderwaffe Hartz; heute ist
760
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 761
von Gerster nichts mehr zu sehen und von Hartz nichts
mehr übrig – hatte gesagt, man müsse die ABM in den
neuen Bundesländern einmal etwas aufstocken, dann
könne man hinterher vielleicht wieder etwas wegnehmen.
In diesem Jahr sind bereits einige 100 Millionen Euro an
ABM-Mitteln in den neuen Bundesländern gespart wor-
den. Wenn das im nächsten Jahr fortgesetzt wird, geht die
Wirtschaft weiter runter und die Menschen dort gehen to-
tal auf dem Zahnfleisch.
Sie wollen aber bei den Arbeitsmarktmaßnahmen,
insbesondere bei Arbeitslosenhilfeempfängern, im nächs-
ten Jahr nicht nur einige Hundert Millionen, sondern
8 Milliarden Euro einsparen, damit Sie überhaupt den
Haushalt ausgleichen können und mit dem Zuschuss bei
der Bundesanstalt für Arbeit hinkommen. Es glaubt Ihnen
kein Mensch, dass das zu schaffen ist. Die Zahlen sind ge-
schönt. Sie werden auch im nächsten Jahr wieder einen
verfassungswidrigen Haushalt haben. Damit ist klar, dass
der Kurs nicht in Richtung Sparmaßnahmen und Verbes-
serung der Situation geht, sondern dass der Kurs in Rich-
tung mehr Verschuldung und verfassungswidrige Haus-
halte geht.
Das Entscheidende, was die Menschen von der Debatte
hier im Bundestag erwarten, ist eine Perspektive, die ih-
nen deutlich macht, dass das, was das Parlament beschäf-
tigt und beschließt, dazu beiträgt, die Krise, in der sich un-
ser Land befindet, zu überwinden. Manches von dem, was
auf der Regierungsbank stattfindet – das sagten viele Bür-
ger in den letzten 14 Tagen –, ist anarchisch. Die Krise
dieses Landes muss durch konkrete Entscheidungen be-
einflusst und überwunden werden.
Jetzt wird gesagt: Man konnte das ja nicht wissen. Das
mit den Steuereinnahmen im September kam auf einmal
wie ein Unwetter über uns. – Herr Eichel, auch diese Aus-
sage ist falsch und wird Ihnen im Untersuchungsaus-
schuss vorgehalten werden. Die Steuereinnahmen bis
September waren sauschlecht, aber im September waren
sie relativ günstig. Nun zu sagen, die Probleme gebe es,
weil die Daten aus dem September so schlecht waren, ist
nicht nur falsch, sondern auch noch gelogen. Werfen Sie
nicht diese Blendgranaten! Diese täuschen vielleicht die
Regierung, aber jedenfalls nicht die Menschen in unserem
Land.
Daneben haben Sie auch falsche Wachstumszahlen
genannt. Sie werden sich erinnern, Herr Eichel: Vor einem
Jahr – es war an einem Freitag, bei der dritten Lesung des
Haushalts für 2002 – haben Sie gesagt, in diesem Jahr
würden die Schulden sinken. Ich habe Ihnen seinerzeit
vorgehalten, dass das, was Sie für den Bundeshaushalt
dieses Jahres unterstellt haben, nämlich 1,25 Prozent
Wachstum, nicht stimmt. Das haben Sie bestritten, haben
es als „schwarze Kritik“ und „unseriös“ zurückgewiesen.
Am nächsten Tag haben wir festgestellt, dass Sie der EU
in einem Nebensatz ein Alternativszenario gemeldet ha-
ben, wobei deutlich wurde, dass Sie im Hinterkopf ganz
andere Zahlen hatten als die, welche Sie dem Parlament
vorgelegt haben. Ich glaube nicht einmal, Herr Eichel,
dass Sie das alles nicht gewusst haben. Ich sage: Sie ha-
ben es den Menschen nicht gesagt, Sie haben die Men-
schen angelogen. Sie haben es ihnen nicht gesagt und das
war das Unverantwortliche in der Situation damals.
Ich rate Ihnen, wenn Sie sich auf den Untersuchungs-
ausschuss vorbereiten, sich Ihre Rede vom 27. November
vorigen Jahres vorzunehmen. Ich rate Ihnen weiterhin,
Herr Eichel: Verweigern Sie Ihren Mitarbeitern nicht das
Aussagerecht; lassen Sie zu, dass alle, die in den Ministe-
rien sitzen, vom Staatssekretär über den Abteilungsleiter
bis zu wem auch immer, ihre Aussagen machen dürfen!
Kommen Sie nicht damit, Sie müssten Staatsgeheimnisse
schützen und daher könnten Sie den Leuten nicht die Aus-
sagegenehmigung erteilen. Sie alle müssen sagen, was sie
gewusst und was sie Ihnen vor der Wahl auf den Schreib-
tisch gelegt haben, Sie aber zur Seite gewischt haben.
Der entscheidende Punkt für den Untersuchungsaus-
schuss ist aus unserer Sicht – und insofern betrifft das die
Haushaltsberatung hier –: Ein Verfassungsorgan, die Bun-
desregierung, hat das Volk, den eigentlichen Souverän,
getäuscht. Dies ist qualitativ etwas anderes, als wenn Po-
litiker im Wahlkampf mal eben so etwas sagen. Nein, Sie
haben einen Eid auf die Verfassung geleistet, sich dafür
einzusetzen, dass die Mitarbeiter, die Ihnen unterstellt
sind, das tun, was in diesem Land getan werden muss. Sie
haben sie daran gehindert, das, was sie wissen und kön-
nen, an den Souverän, an die Bürger, zu bringen.
Hierin liegt das eigentliche verfassungsrechtliche Pro-
blem. Sie können doch nicht erwarten, dass wir Ihnen dies
durchgehen lassen. Von jedem Bürger verlangen wir, dass
er seiner Versicherung gegenüber ehrlich ist, dass er seine
Steuererklärung ehrlich abgibt. Dann aber soll es zugelas-
sen werden, dass diejenigen, die dafür verantwortlich
sind, wie kassiert wird und welche Gesetze gemacht wer-
den, die Menschen, von denen sie Ehrlichkeit erwarten,
schamlos belügen? Dies können wir Ihnen nicht durch-
lassen.
Ich möchte nun unsere Alternative aufzeigen: Wir wol-
len einen ehrlichen Kassensturz. Der Nachtragshaushalts-
entwurf und der Haushaltsentwurf 2003 sind noch kein
ehrlicher Kassensturz. Die Zahlen stimmen wieder nicht.
Alles, was wir machen müssen, steht unter einem Finanz-
vorbehalt;
alle neuen Entscheidungen stehen unter einem Finanz-
vorbehalt.
– Das ist alles richtig. Es stand übrigens auch in der Über-
schrift unseres Wahlprogramms.
Wir wollen eine Entriegelung des Arbeitsmarktes. Herr
Merz hat dazu einiges gesagt. Ich erinnere an das Drei-
Säulen-Modell und andere Maßnahmen.
Wir wollen erreichen, dass Genehmigungsverfahren
in Deutschland beschleunigt werden. Wenn die Zahl der
Dietrich Austermann
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dietrich Austermann
Anträge auf Wirtschaftsförderungsmaßnahmen im Wirt-
schaftsministerium unter Herrn Müller – die Älteren wer-
den sich auch an ihn noch erinnern – um 20 Prozent ge-
stiegen ist, ohne dass die Summe, die verteilt worden ist,
erhöht werden konnte, heißt dies doch: Die Bürokratie ist
ausgeweitet worden.
Wir wollen wirklich sparen. Wir haben zurzeit die teu-
erste Regierung aller Zeiten.
Man muss ins Internet schauen, um festzustellen, wel-
che neuen Staatssekretärsstellen und Abteilungsleiterstel-
len etwa im Forschungsministerium geplant sind. Es gab
noch nie eine Regierung, die so viele Mitglieder hatte wie
diese. Es gab noch nie eine, die so teuer war. Es gab auch
noch nie eine, die für die Menschen in diesem Land so viel
zu teuer war wie diese Regierung. Hier fängt das Sparen
nämlich an.
Wir müssen endlich den Umsatzsteuerbetrug bekämp-
fen. Wir müssen den Subventionsabbau einleiten. Dafür
stehen wir immer zur Verfügung. Das haben wir immer
gesagt. Es gehört zur Ehrlichkeit, zu sagen, dass der Sub-
ventionsabbau bei der Kohle – gegen Protest – von uns
eingeleitet worden ist. Sie haben die Menschen auf die
Straße gejagt – damals noch in Bonn –, als wir den Kohle-
kompromiss geschlossen haben.
1982/1983 hatten wir eine vergleichbare Situation. Wir
müssen die Investitionen stärken und nicht den Konsum
aufblähen. Sie jedoch senken die Investitionen.
Wenn Sie sich Ihren eigenen Entwurf ansehen, werden
Sie feststellen, dass die Forschungsinvestitionen im nächs-
ten Jahr sinken. Ich bitte Sie, sich noch einmal die letzte
Fassung Ihres Haushaltsentwurfes nach dem Kabinetts-
beschluss anzusehen: Die Forschungsausgaben sinken im
nächsten Jahr. Bereinigt um das, was für die Flutopfer ausge-
geben wird, sinken die Investitionen.
Flut ist übrigens ein gutes Stichwort. In der Antwort auf
meine Anfrage habe ich gelesen, dass Sie in diesem Jahr
2,5 Milliarden Euro für Fluthilfe gebunkert haben. Dieses
Geld wurde außerplanmäßig bereitgestellt. Diese 2,5 Mil-
liarden Euro sind beim Empfänger noch nicht angekom-
men, also müssen sie zur Seite gelegt worden sein. Warum
werden sie wohl zur Seite gelegt? – Damit man im nächs-
ten Jahr dieses Geld nicht aufnehmen muss. Sie – Herr
Eichel, Herr Overhaus – haben wieder getrickst. Sie versu-
chen ständig, das Parlament zu umgehen. Sie haben Aus-
gaben für die Flutopfer in Höhe von 2,5 Milliarden Euro,
ohne dies im Parlament zu diskutieren, als außerplan-
mäßige Ausgabe kurz vor der Wahl zur Seite gelegt, damit
Sie hier und da noch ein Geschenk verteilen können. Dies
hat etwas mit Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit zu
tun. Ich finde es unglaublich, was Sie dort machen.
Nächster Punkt: Wir werden Investitionen beschleuni-
gen und stärken. Sie beklagen die Situation der Ge-
meinden. Wer den Gemeinden ständig die Gewerbe-
steuerumlage erhöht, braucht sich nicht zu wundern, dass
die Gemeinden immer mehr Schulden machen und immer
mehr finanzielle Unterstützung von den Ländern brau-
chen.
Wir machen eine Steuersenkung.
Schauen Sie sich einmal die Empfehlung der Sachver-
ständigen, die 20 Punkte, an. Jeden dieser 20 Punkte wür-
den wir mit Ihnen sofort machen. Die Sachverständigen
haben aber auch gesagt: Wenn das, was Sie vorhaben, ge-
macht wird, wird es im nächsten Jahr noch ein halbes Pro-
zent weniger Wachstum, wird es also wieder ein Defizit
geben.
Manch einer sagt vielleicht: Ihr müsst doch denen jetzt
die Hand reichen, insbesondere im Bundesrat, und sie bei
den Maßnahmen, die sie treffen – das sind ein paar Steu-
ermaßnahmen –, unterstützen. – Dazu merke ich an: Die
zusätzliche Belastung der Steuerbürger und der Betriebe
am 1. Januar – deswegen bin ich für die Wahlen in Nie-
dersachsen wie in Hessen ganz zuversichtlich, Herr Kol-
lege; Mitte bis Ende Januar kommt nämlich die erste
Lohnabrechnung – durch das, was Sie beschlossen haben
und was Sie „Kürzung bei den Ausgaben“ nennen, macht
15 Milliarden Euro aus. Dazu kommt noch der höhere
Rentenversicherungsbeitrag. Dazu kommt noch der höhe-
re Krankenversicherungsbeitrag.
Wenn das, was Sie machen, falsch ist – die Sachverstän-
digen sagen, dass Steuererhöhungen zum gegenwärtigen
Zeitpunkt falsch sind –, dann muss es doch richtig sein,
das zu blockieren. Deswegen lehnen wir das ab. So ein-
fach ist das. Den Aufschwung schafft man nicht mit zu-
sätzlichen Belastungen, sondern nur dadurch, dass man
Bürger und Betriebe, und zwar auch die kleinen und mitt-
leren und nicht nur die großen, entlastet.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Walter Schöler, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Austermann, Sie sind sich wieder mal treu
geblieben. Sie zeichnen hier ein Zerrbild der Realität. Sie
operieren mit Halbwahrheiten. Das haben wir zum Bei-
spiel im Zusammenhang mit der Zahl der Existenzgrün-
dungen – sie liegt bei über 70 000 – gesehen. Sie erwäh-
nen nur diejenigen, die es aus den verschiedensten
Gründen, häufig aus persönlichen Gründen, nicht ge-
schafft haben, ihre Existenz zu erhalten. Sie kommen mit
alten Rezepten. Sie haben keinen einzigen neuen Vor-
schlag. Sie kritisieren die Regelungen, die zwischen Bund
762
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 763
und Ländern einvernehmlich getroffen worden sind, und
wollen davon ablenken, dass auch die CDU-geführten
Länder viele der Kompromisse, die Sie jetzt beklagen, in
der Vergangenheit mitgetragen haben.
Ich stelle fest: Finanzminister Eichel hat seit seinem
Amtsantritt einen konsequenten Konsolidierungskurs ge-
fahren. In erheblichem Maß wurden Ausgaben verringert
und wurde die Neuverschuldung zurückgeführt. Bereits
im Jahr 2001 hatten wir die Neuverschuldung mit
22,8 Milliarden Euro auf den niedrigsten Stand seit 1993
gesenkt. Unser Ziel bleibt unverändert – da mögen sie hier
sagen, was Sie wollen – der völlige Abbau der Neuver-
schuldung bis zum Jahr 2006.
Diese für die Bürger überzeugende Strategie solider
Staatsfinanzen war – das mag Ihnen nicht passen – auch
ein wichtiger Faktor für unseren Wahlsieg am 22. Sep-
tember. Wir wissen ganz genau: Die Haushalte 2002 und
2003 müssen die gesunkenen Steuereinnahmen und auch
die Mehrausgaben auf dem Arbeitsmarkt verkraften. Da-
mit stehen wir vor einer gewaltigen Aufgabe, die wir auf
ehrliche und überzeugende Weise bewältigen werden.
Es ist keine Frage: Die Haushaltslage ist derzeit ohne
Zweifel schwierig. Wenn Sie nun aber in fast blanker Wut
– wütend wahrscheinlich über sich selbst und über das
Wahlergebnis – und mit unerträglichen Wortschöpfungen
eine Hetzkampagne lostreten und behaupten, vor der
Wahl habe Eichel schon gewusst, was er heute weiß, so ist
das billiger Populismus. Im Übrigen: Mit all diesem Wis-
sen sind die Länderfinanzminister, die das Geld ja eintrei-
ben, vermutlich immer einen Tick früher dran gewesen.
Also: Rot-Grün hat keine Wahllüge und keinen Wahlbe-
trug zu verantworten. Die Wahrheit ist, dass vor dem
großen Steuertermin Ende September keine halbwegs
verlässliche Vorausschätzung möglich war; das wissen
Sie ganz genau. Lüge oder Betrug, wie Sie es immer nen-
nen, ist nicht gegeben. Im Gegenteil: Der Finanzminister
hat überhaupt keinen Zweifel daran gelassen – das hat er
heute Morgen noch einmal gesagt und bestätigt –, dass der
Haushalt auf Kante genäht war und dass es schwierig sein
würde, Einnahmeverschlechterungen aufzufangen.
Außerdem: Vor der Bundestagswahl erfolgte die Haus-
haltssperre durch den Finanzminister. Das haben Sie
offensichtlich schon vergessen. Diese Maßnahme von
Hans Eichel war verantwortungsbewusste Politik, im Ge-
gensatz zu dem, was sich einige Ihrer Länderfinanzminis-
ter erlaubt haben.
Mit dem Untersuchungsausschuss werden Sie ein Ei-
gentor schießen. Viel Spaß dabei! Ich hoffe, Sie haben
genügend Vergnügen. Wer so von der eigenen Wahlnie-
derlage und, wie sich heute Morgen wieder gezeigt hat,
von der eigenen Konzeptlosigkeit ablenken will, der er-
stürmt – das schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ Ihnen
treffend ins Stammbuch – den Gipfel der Lächerlich-
keit.
Wer einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu
einem Wahlkampfgericht degradieren will und damit ein
Recht für sich in Anspruch nimmt, das nur dem Wähler
zusteht, der wird in vier Jahren bei der nächsten Wahl wie-
derum scheitern.
Die Bürger sind im Übrigen nicht so dumm und so ver-
gesslich, wie Sie es gerne hätten. So fragte der „Stern“ in
der vorigen Woche, wer oder was die Hauptschuld an den
Finanzproblemen in Deutschland trage. Wie waren die
Antworten? – Am meisten genannt wurde der Faktor „zu
viel Bürokratie“ – darüber sind wir uns alle einig –, an
zweiter Stelle folgte die Nennung „Weltwirtschaftskrise“,
an dritter Stelle „Regierung Kohl“, an vierter Stelle „Wie-
dervereinigung“ und an fünfter Stelle – das ist sehr inter-
essant – „sture Interessenverbände“. Die Bürger wissen
also sehr wohl einzuschätzen, wo die Ursachen der Misere
liegen.
Der von Ihnen angestrebte Untersuchungsausschuss
wird belegen: Nicht wir, sondern Sie von der Union und
von der FDP sind die Wahlbetrüger.
Das war auch 1998 so – um das deutlich zu machen, muss
ich gar nicht die „blühenden Landschaften“ oder die
berühmte „Portokasse“ bemühen –, als Sie vor der dama-
ligen Bundestagswahl die Wähler mit einem völlig un-
seriösen, rechtswidrigen und unehrlichen Haushalt für 1999
getäuscht haben. Dieser Etat wies ein Loch von rund
30 Milliarden DM auf. Sie haben uns anschließend, als
wir das korrigierten, diffamiert, wir hätten diesen Haus-
halt ohne Not zunächst ausgeweitet. Nein, es waren die
waigelschen Tricksereien, die diese Maßnahmen erfordert
haben.
Im letzten Wahlkampf haben Sie die Wähler im Übri-
gen wieder betrogen. Ihre Versprechungen hätten bis zu
70 Milliarden Euro gekostet. Herr Stoiber ist mit diesen
Versprechungen durchs Land gezogen. Dabei wusste er
ganz genau, dass es dafür nicht den geringsten finanziel-
len Spielraum gab. Das nenne ich Betrug.
Wenn ich zum Beispiel an das von Ihnen versprochene
Familiengeld denke, dann fällt mir das in den letzten Ta-
gen ins Gespräch gekommene Überraschungsei ein. Ihre
Versprechen waren wohl Ihr Überraschungsei für den
Wahlkampf; Sie haben nur vergessen, welche Warnung
über den Inhalt zu lesen ist, nämlich: „nicht geeignet für
Kinder unter drei Jahren“. Daran hätten Sie denken sollen.
Als dann die veränderte Haushaltslage im Oktober ver-
lässlich absehbar war – es war wichtig, dass diese
Erkenntnisse verlässlich waren –, hat Rot-Grün sofort ge-
handelt. Der Finanzminister hat noch vor der Steuer-
schätzung einen Nachtragshaushalt für 2002 angekündigt
und die Koalition hat ein Maßnahmenpaket geschnürt, um
Mindereinnahmen für 2003 und die Folgejahre aufzu-
fangen und dabei zugleich Wachstum und Beschäftigung
zu stimulieren.
Der jetzt zu korrigierende Haushalt 2002 war grund-
ehrlich aufgestellt. Die Unterstellungen auch von Herrn
Austermann sind aus der Luft gegriffen; denn die Annah-
men zu Wachstum und Beschäftigung in diesem Haushalt
Walter Schöler
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Walter Schöler
deckten sich mit den Prognosen aller einschlägigen wis-
senschaftlichen Institute und Institutionen, die zusam-
mengefasst lauteten, man erwarte ein sich im Verlauf des
Jahres verstärkendes Wachstum.
Meine Damen und Herren, der Nachtragshaushalt ist
auch mit der Verfassung vereinbar.
Herr Austermann ist auf diesen Punkt eingegangen; des-
halb will auch ich diesem Punkt einige Ausführungen
widmen. Die Feststellung der grundsoliden Veranschla-
gung ist für mich wichtig; ich will im Folgenden einerseits
auf den Haushalt 2002 eingehen und andererseits den Ge-
gensatz zu Kohl und Waigel aufzeigen. Da so etwas ja be-
kanntlich schnell aus dem Gedächtnis gerät: 1996 und
1997 haben sie – Herr Austermann war dabei –, trotz un-
serer Warnung und der Rüge durch die Wissenschaft, die
Ausgaben für den Arbeitsmarkt massiv und erkennbar zu
niedrig veranschlagt. 1996 hat sich Waigel noch gerettet,
indem er am Parlament vorbei verfassungswidrig Rest-
kreditermächtigungen von 18,4 Milliarden DM zur Finan-
zierung einsetzte. 1997 bestand die gleiche Situation. Da-
mals kamen Kohl und Waigel an einem Nachtragshaushalt
allerdings nicht mehr vorbei, da wir wegen des Einsatzes
dieser Restkreditermächtigungen nach Karlsruhe gegan-
gen sind. Dabei überschritten Sie die Verfassungsgrenze
des Art. 115 des Grundgesetzes deutlich und mussten des-
halb wegen zuvor schon erkennbarer massiver falscher
Veranschlagungen die Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts feststellen, um nicht auf Grund zu laufen.
Die Situation für 2002 ist hingegen völlig anders; denn
Grundlage ist ein solider Haushaltsplan. Bei der Steuer-
schätzung im Mai herrschte hinsichtlich der Annahmen zur
wirtschaftlichen Entwicklung bei den Instituten weitge-
hend Einigkeit. Die Absenkungen durch die Maischätzung
wären im Haushalt 2002 durchaus zu verkraften gewesen.
Aber im Mai haben sich eben alle geirrt oder verschätzt und
sich anschließend korrigieren müssen. Nach der Novem-
berschätzung wird der Bund 8,5 Milliarden Euro weniger
Steuern einnehmen als geplant. Außerdem sind wegen der
– dazu parallel verlaufenden – unbefriedigenden Entwick-
lung auf dem Arbeitsmarkt 5 Milliarden Euro zusätzlich
aufzuwenden.
Diese 13,5 Milliarden Euro sind nun im Nachtrags-
haushalt ausgewiesen und werden durch eine erhöhte
Kreditaufnahme gedeckt. Damit steigt die Kreditauf-
nahme – ich muss hinzufügen: leider – auf 34,6 Milliar-
den Euro und liegt damit deutlich über den Investitionen
von 25 Milliarden Euro sowie deutlich jenseits der Ver-
fassungsgrenze. Deren Überschreitung setzt eben die
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vo-
raus. Das ist in diesem Jahr angesichts von circa
150 000 Arbeitslosen mehr und 200 000 Beschäftigten
weniger als geplant und prognostiziert ernsthaft der Fall.
Zudem liegt das reale Wachstum bei 0,5 Prozent statt, wie
zunächst geplant, bei 1,25 Prozent.
Nun gibt es gegen unsere Inanspruchnahme der Aus-
nahmeregelung zwei Vorwürfe. Der Sachverständigenrat
meint, die Feststellung dürfe nur erfolgen, wenn eine we-
sentlich größere Zielverfehlung als in den Jahren zuvor
gegeben sei. Dies sei 2002 nicht der Fall. Diese Argu-
mentation ist überhaupt nicht logisch. Richtig ist nämlich,
dass auch 2001 die Werte von Wachstum und Be-
schäftigung nicht zufrieden stellend waren. Aber durch
unsere Konsolidierungspolitik und durch die vorsichtige
Veranschlagung konnten wir dennoch deutlich unter der
von Art. 115 des Grundgesetzes vorgegebenen Grenze
bleiben. Will man uns also aus der soliden Politik 2001,
die die Probleme damals beherrschen konnte, in diesem
schwierigen Jahr 2002 einen Strick drehen? Sie wollen es
offensichtlich. Die wirtschaftliche Situation rechtfertigt
es, die Ausnahmeregelung in Anspruch zu nehmen. Die so
genannten automatischen Stabilisatoren wirken und wer-
den über zusätzliche Kredite finanziert.
Es ist eben in den Wortbeiträgen deutlich gemacht
worden: Eine Deckung der Lücke in dieser Höhe durch
Ausgabenkürzungen noch kurz vor Jahresschluss wäre
unvertretbar. Rechtsverpflichtungen binden uns. Inves-
titionsmaßnahmen sind auch angesichts der konjunkturel-
len Lage nicht einfach stillzulegen; das wissen Sie genau.
Das würde die Wirtschaft beschädigen. Darüber hinaus
würden sicherlich noch Konventionalstrafen drohen.
Die Vorgaben zu Art. 115 des Grundgesetzes hinsicht-
lich einer aktiven Bekämpfung der Wirtschafts-
schwäche werden ebenfalls erfüllt. Der Nachtrag 2002
kann nämlich nur in Verbindung mit den Folgejahren ge-
sehen werden. Diese zeigen eine klare Wachstums- und
Beschäftigungsstrategie auf. Ich nenne nur als Stichworte
die Reformen am Arbeitsmarkt und im Sozialsektor sowie
die zusätzlichen Stufen der Steuerreform, die 2004 und
2005 kommen werden. Das Geschrei über zu hohe Steuer-
und Abgabenbelastungen ist angesichts der harten Fakten
einfach absurd.
Manchmal hatte ich in Veranstaltungen den Eindruck,
dass die breite Masse der Bevölkerung permanent mit
ihren Dienstwagen privat unterwegs ist und nur damit be-
schäftigt ist, ihre Aktienpakete zu verschieben und gele-
gentlich einen Teil des Mietwohnbesitzes zu veräußern,
um dann zu klagen, dass auf diese Veräußerungsgewinne
plötzlich Steuern zu zahlen sind. Das ist eben nicht die
Wirklichkeit in Deutschland. Das ist nicht die Wirklich-
keit bei breiten Schichten der Bevölkerung, die diesen po-
pulistischen Äußerungen, Medienschlagzeilen folgen,
und meinen, sie seien betroffen.
Wir betreiben eine aktive Bekämpfung der Wirt-
schaftsschwäche. Das Geschrei, das wir in den letzten
Wochen gehört haben und das Sie bis zum 2. Februar 2003
anstimmen werden – ich vermute, danach wird es etwas
ruhiger werden –, wird den Fakten einfach nicht gerecht.
Die Lage ist nicht rosig; das wissen wir. Aber sie ist viel
besser als Ihre Miesmacherstimmung.
Manchmal hat man den Eindruck: Wird den Egoismen
einer Gruppe nicht nachgegeben, Herr von Klaeden, wird
das Geplante sofort öffentlich verteufelt.
Fakt ist, wir haben in den vergangenen Jahren bei den
Netto- und Realeinkommen eine Trendwende geschaffen.
764
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 765
Von 1994 bis 1998 sanken sie pro Jahr um 1,5 Prozent.
Seit 1998 steigen sie im Jahresdurchschnitt um fast
1,2 Prozent an. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer Po-
litik damals und unserer Politik heute. Die Nettolöhne je
Arbeitnehmer lagen 2001 im Durchschnitt um real
534 Euro über dem Niveau des Jahres 1998.
Diese erfreuliche Trendumkehr ist vor allem eine Folge
der deutlichen Ausweitung des Grundfreibetrags – die ha-
ben Sie in dieser Form ja nicht geschafft –, der Absenkung
des Eingangssteuersatzes und der enormen Anhebung des
Kindergelds. Im Jahr 2002 setzt sich diese Entwicklung fort.
Damit komme ich wieder zur Steuerschätzung. Zuge-
geben, die Maischätzungen und nun erneut die Novem-
berschätzungen haben hohe Mindereinnahmen ausgewie-
sen. Daraus aber den Schluss zu ziehen oder den Eindruck
zu vermitteln, es handele sich um einen Absturz der Kon-
junktur, ist falsch. Abgestürzt sind in Wirklichkeit die
Steuereinnahmen, was mit der wirtschaftlichen Entwick-
lung nur zum Teil zu tun hat. Vielmehr haben sich offen-
sichtlich Verhaltensparameter der Bürger verändert und
sind Auswirkungen der einzelnen Schritte der Steuerre-
form unterschätzt worden.
Der Steuerrückgang ist für den Staat zwar bitter, für die
Bürger aber positiv. Denn 2002 steigt das Bruttoinlands-
produkt um 45 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr,
die Steuereinnahmen gingen aber um 7 Milliarden Euro
zurück. Irgendwo muss das Geld aber bleiben. Die Bürger
haben also auch 2002 – entgegen den verfälschenden Dar-
stellungen – deutlich mehr Geld in der Tasche als zuvor,
besser gesagt: mehr Geld auf ihren Konten. Entsprechend
geht auch die Steuerquote, die 1998 noch bei 22,1 Pro-
zent lag, auf 20,8 Prozent zurück – das ist der niedrigste
Wert in der Nachkriegsgeschichte – und sinkt die Abga-
benquote auf 38,2 Prozent. Das ist der niedrigste Wert seit
1970. Das sind klare Fakten, wie wir sie begrüßen!
Der Haushaltsentwurf 2003 zeigt: Der Bund trägt sei-
nen Anteil dazu bei, nach der nicht zu vermeidenden
Überschreitung der Maastricht-Defizitgrenze in 2002
künftig die 3-Prozent-Grenze wieder deutlich zu unter-
schreiten. Da mögen Sie unken, wie Sie wollen. Deshalb
sind Länder und Gemeinden – besonders die Länder –
aufgefordert, gemäß den Vereinbarungen im Finanzpla-
nungsrat auch ihren notwendigen Beitrag zu leisten und
die auf den Weg gebrachten Maßnahmen mitzutragen.
Dies wird nur gehen, wenn die Union den Bundesrat nicht
aus kurzsichtigen taktischen Gründen als Blockadeinstru-
ment missbraucht, wie Sie das offensichtlich vorhaben.
Der Finanzminister hat es geschafft, für 2003 einen
Entwurf mit einer Nettokreditaufnahme von nur 18,9Mil-
liarden Euro und damit der niedrigsten Neuverschuldung
seit der Wiedervereinigung vorzulegen. Dafür gebührt
ihm Dank und Anerkennung.
Nachhaltige Finanzpolitik, wie wir sie verstehen, er-
schöpft sich aber nicht allein in der Konsolidierung; viel-
mehr gestaltet sie gleichzeitig. Diesen Zweiklang spiegelt
der Entwurf 2003 deutlich wider. Hans Eichel hat heute
Morgen deutliche Worte zu den anstehenden Reformen
gefunden.
Mit der Umsetzung der Vorschläge der Kommission
„Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ gestalten wir
die größte Arbeitsmarktreform der Nachkriegsgeschichte.
Diese belebt den Arbeitsmarkt und verbessert auch nach-
haltig die Situation der Ausgaben und Einnahmen im Bun-
deshaushalt und bei der Bundesanstalt. Zukunftssichernde
Ausgaben für Familie, Bildung, Forschung und Infrastruk-
tur werden trotz der erheblichen konjunkturbedingten Haus-
haltsbelastungen auf hohem Niveau gehalten oder verstärkt.
Hinzu kommen Verbesserungen der Innovationsfähigkeit
der mittelständischen Wirtschaft und die Fortführung der
Agrarwende. Wenn man unter vier Augen mit den Vertretern
der Verbände spricht, hört sich das erfahrungsgemäß oft an-
ders an als in offiziellen Veranstaltungen.
Außerdem kommen – das betone ich ausdrücklich – in
den nächsten vier Jahren auch noch 4 Milliarden Euro zu-
sätzlich für 10 000 Ganztagsschulen hinzu.
Das Geld stellen wir bereit. Das ist ein Angebot an die
Länder. Das ist verantwortliche Politik. Ich sage dazu nur:
Versprochen und Wort gehalten!
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind
die Antwort auf die Frage nach neuen Konzepten heute
wieder schuldig geblieben; denn Sie haben keine. Die For-
derungen, die in dem Wulff-Papier, das gestern präsentiert
worden ist, erhoben werden, oder Ihre Forderungen, die Sie
teilweise den Wirtschaftsverbänden nachbeten, wie „Weg
mit der Mitbestimmung“, „Weg mit Flächentarifverträ-
gen“, „Weg mit dem Kündigungsschutz“, „Weg mit dem
Sonn- und Feiertagsschutz“, „Mehr Druck durch eine – ,un-
vertretbare‘ – große soziale Spreizung“ hin zur Grundver-
sorgung bei der Renten- und der Krankenversicherung und
zu Wahlleistungen nach Größe des Portemonnaies haben
wir lange genug gehört. Das ist nicht unser Verständnis des
verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgebots. Dafür haben
uns die Wählerinnen und Wähler am 22. September die-
ses Jahres nicht ihre Stimme gegeben.
Wir scheuen nicht die kritische Auseinandersetzung mit
Ihnen über den Haushalt. Wir laden Sie geradezu ein, Ihre
Vorschläge endlich einzubringen, auch wenn diese Einla-
dung offensichtlich vergeblich ist. Früher, als Sie regiert
haben, haben Sie den Menschen einmal vorgeworfen: Sie
klagen, aber auf hohem Niveau. Ich stelle heute fest: Sie
klagen, aber viel Niveau ist nicht mehr vorhanden.
Hans Eichel genießt unser Vertrauen. Deshalb werden
wir unseren Weg für Erneuerung, Gerechtigkeit und
Nachhaltigkeit gemeinsam mit ihm weitergehen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms, FDP-Fraktion.
Walter Schöler
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn man die Presseberichte liest, hat man den
Eindruck, dass in der Regierung und in den sie tragenden
Koalitionsfraktionen das Chaos ausgebrochen ist.
Sie widersprechen sich geradezu stündlich. Vor wenigen
Tagen fordert Herr Müntefering weitere Steuererhöhun-
gen. Er meint, dass die bisherigen noch nicht genug seien.
Wahrscheinlich hat er den Steuersong, den man dem Bun-
deskanzler in den Mund gelegt hat, ernst genommen. Er
will jetzt an unser Bestes, an unseren Zaster, ran –
als ob er nicht wüsste, dass der Staatsanteil am Volksein-
kommen schon heute bei 56 Prozent liegt, das heißt, dass
der Staat 56 Prozent dessen, was die Bürger erwirtschaf-
ten, für sich, für seine Bürokratie und insbesondere für die
unnötigen Ausgaben beansprucht, die die Bundesregie-
rung veranlasst hat. Herr Müntefering will noch mehr.
Was soll denn der Bürger denken, wenn der Bundeskanz-
ler an dem Tag, an dem von seiner Bundesregierung Vor-
schläge für 41 Steuererhöhungen im Parlament einge-
bracht werden, höhere Steuern ausschließt? Das ist doch
ein Skandal.
Die Grünen distanzieren sich zwar öffentlich davon, be-
schließen aber alles mit.
Diese Methode kennen wir ja seit langem. Gerade in der
Steuerpolitik haben Sie sich vier Jahre darin geübt. Frau
Scheel ist Vorreiterin dieser Politik. Diese wird jetzt fort-
gesetzt. In der Rentenpolitik steht uns gerade das Gleiche
bevor.
Ich möchte nur noch ein paar ökonomische Grundsätze
ansprechen, bei denen es sich um Binsenwahrheiten han-
delt, für die Sie nicht Ökonomie studiert haben müssen,
um sie zu verstehen. Wenn Sie ein höheres Steuerauf-
kommen erzielen wollen, dann müssen Sie diejenigen
stärken, die die Steuern erwirtschaften. Sie dürfen die Kuh
nicht schlachten, die Sie melken wollen. Aber genau das
tun Sie. Sie entziehen dem Wirtschaftskreislauf durch Ihre
Maßnahmen 25 Milliarden bis – ansteigend – 35 Milliar-
den Euro pro Jahr. Der entscheidende Fehler der Politik
von Hans Eichel ist: Er redet vom Sparen, aber er gibt
mehr aus.
Unter Sparen verstehe ich weniger ausgeben. Er will sei-
nen Haushalt über die Einnahmeseite sanieren, indem er
die Steuerbelastungen erhöht. Genau das ist falsch. Wenn
Sie wollen, dass die Bürger mehr Geld ausgeben, mehr
konsumieren und dass die Unternehmer mehr investieren,
dann müssen Sie sie entlasten, damit es in der Wirtschaft
besser läuft und Wirtschaftsdynamik entsteht. Nur dann
erhöhen sich die Steuereinnahmen.
Damit Sie uns nicht vorwerfen, wir legten keine Alter-
nativvorschläge vor, weise ich darauf hin: Wir haben
vor der Bundestagswahl ein detailliert ausgearbeitetes
Steuervereinfachungs-, Steuerreform- und Steuersen-
kungsprogrammmit einem Gesamtvolumen von 35Mil-
liarden Euro pro Jahr und auch entsprechende Finanzie-
rungsvorschläge vorgelegt.
Man mag nicht jedem einzelnen Vorschlag zustimmen.
Aber dann soll man andere Vorschläge machen. Wir je-
denfalls haben Vorschläge vorgelegt.
Es macht nur Sinn, steuerliche Ausnahmen, soweit es
welche sind – zum großen Teil handelt es sich um reine
Steuererhöhungen –, zu streichen, wenn dies in ein Steu-
erreformkonzept eingebaut wird, bei dem die Bürger
wissen, dass sie insgesamt steuerlich weniger belastet
werden. Das ist der entscheidende Unterschied.
Das ist genau die Philosophie der Steuerpolitik, die in
einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise betrieben werden
müsste.
Zweitens. Zur Haushaltssanierung: Selbstverständ-
lich müssen Sie den Haushalt sanieren, aber nur durch we-
niger Ausgaben. Sie müssen die Strukturen reformieren,
damit sie effizienter werden, damit Bürokratie abgebaut
werden kann, damit die Ausgaben gesenkt werden kön-
nen.
Erst dann entlasten Sie die Wirtschaft, erreichen Sie mehr
Steuereinnahmen und schließen Sie die Lücken im Haus-
halt. Ich sage Ihnen voraus: So, wie Sie es machen, wer-
den Sie erleben, dass die Lücken im Haushalt von Jahr zu
Jahr breiter werden und die Arbeitslosigkeit weiter an-
steigen wird, denn es gibt keine Incentives für mehr Be-
schäftigung.
Drittens. Der zentrale Wettbewerbsnachteil des Stand-
ortes Bundesrepublik Deutschland liegt doch darin, dass
die Produktionskosten in Deutschland zu hoch sind. Die
Produktionskosten setzen sich aus den Kosten für Arbeit
und für Kapital zusammen. Nachdem wir durch die hohen
Lohnzusatzkosten ohnehin die höchsten Arbeitskosten
der Welt haben, müsste es die Politik einer verantwor-
tungsbewussten Bundesregierung sein, bei den Lohnzu-
satzkosten zu Einsparungen zu kommen. Davon haben
766
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 767
Sie ja auch gesprochen. Herr Riester hat das immer ge-
wollt. Aber was ist das Ergebnis Ihrer Politik?
Die Beiträge für die Rentenversicherung steigen auf
19,5 Prozent. Sie hatten zugesagt, dass diese unter 19 Pro-
zent bleiben würden. Die Beiträge zu den Krankenversi-
cherungen steigen auf 15 Prozent und mehr an. Das ist
von Versicherung zu Versicherung unterschiedlich. Die
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung können nicht sin-
ken, sondern – im Gegenteil – die Arbeitslosenversiche-
rung beansprucht immer mehr Steuermittel, um am Leben
zu bleiben. Das ist genau das Gegenteil dessen, was not-
wendig ist. Die Arbeitskosten steigen, und Sie erreichen
damit steigende Arbeitslosigkeit, was wiederum die
Haushalte beansprucht.
Zu den Kapitalkosten – das ist wirklich phantas-
tisch –: Wenn die Arbeitskosten schon so hoch sind, müss-
ten wenigstens die Kapitalkosten niedrig sein, damit sich
Beschäftigung in Deutschland noch lohnt. Aber in Ihrem
Maßnahmenpaket werden auch die Kapitalkosten erhöht.
Es ist für mich völlig unverständlich, wie in einer solchen
Situation Herr Eichel in der europäischen Diskussion dem
Phantom von Kontrollmitteilungen nachlaufen kann. Sie
müssen sich das einmal praktisch vorstellen. In Europa
gibt es etwa 2,5 Milliarden Bankkonten. Nun soll eine
Bürokratie für Kontrollmitteilungen über diese Unzahl
von Bankkonten mit der Gefahr von unzähligen Namen-
verwechslungen aufgebaut werden. Das ist absurd. Es
gibt – das habe ich Herrn Eichel auch schon mehrfach ge-
sagt – ein ganz einfaches Mittel:
Sie müssen eine einfache Abgeltungssteuer mit einem
niedrigen Zinsniveau einführen, die an der Quelle, näm-
lich bei der Bank, erhoben wird.
Sie brauchen keine Kontrollmitteilungen, denn die
Steuer kann nicht umgangen werden. Das wäre ein Vor-
schlag, der in Europa verfolgt werden müsste. Die
Schweizer haben das der Europäischen Kommission er-
klärt. Die Mitglieder der Kommission sind jedoch nicht
zur Vernunft zu bringen, weil sie von ihren Vorurteilen
und Ideologien nicht abgehen können. Hinzu kommen
natürlich die Steuern auf den Gewinn von Aktien-, Im-
mobilien- und Investmentfondsanteilverkäufen, die Min-
destbesteuerung – das alles führt zur Erhöhung der Kapi-
talkosten – und schließlich die fatale Diskussion um die
Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Anspan-
nung der Erbschaftsteuer.Meine Damen und Herren, der
größte Skandal ist jedoch, wie Herr Steinbrück und Herr
Gabriel das begründen, nämlich zur Finanzierung der Bil-
dungspolitik.
Die beiden Herren und ihre Vorgänger, der Superminister
Clement und der Bundeskanzler Gerhard Schröder, haben
doch das Schlamassel der Bildungspolitik in Niedersach-
sen und Nordrhein-Westfalen selber angerichtet.
Und die Bürger sollen jetzt die Suppe auslöffeln.Wir ha-
ben uns international in den Tests der Schüler über alle
Maßen blamiert. Das gilt gerade für die Schüler aus die-
sen Ländern. Jetzt sagen Sie, damit das beseitigt werden
könne, solle der Bürger Vermögensteuer bezahlen. Diese
Begründung ist schon ein absoluter Skandal.
Wir haben in Hessen das Chaos in der Bildungspolitik,
das uns da Rot-Grün zurückgelassen hat, innerhalb von
vier Jahren beseitigt.
Wir haben 3 000 Lehrer eingestellt, ohne neue Steuern
einzuführen.
Diese Lehrereinstellungen haben dazu geführt, dass der
Unterrichtsausfall beseitigt worden ist. Das haben wir vor
der Wahl zugesagt, und das haben wir eingehalten.
Wir werden die Bildungsreform in Richtung auf mehr
Qualität nach der Landtagswahl fortsetzen.
In Niedersachsen haben die Sozialdemokraten genau
das Gegenteil getan. Der Steuerzahler aber soll jetzt die
Zeche bezahlen.
Es ist schon eine gewaltige Frechheit, was Sie uns da zu-
muten.
Hinzu kommen die Mindestbesteuerung und andere
völlig unangemessene Vorschläge. In der Summe kann man
sagen: Der Regierung fehlt einfach ein ordnungspoliti-
sches Konzept.
Ihr fehlt der ökonomische Sachverstand. Herr Eichel,
diesen Vorwurf muss ich Ihnen machen.
Ich will jetzt nicht auf die zusätzliche Besteuerung der
Immobilien eingehen, weil meine Redezeit zu Ende ist.
Ich will nur sagen: Ihre Ideologie sieht anscheinend so
aus, wie es einmal Ronald Reagan den Demokraten in den
USA vorgeworfen hat.
Ronald Reagan hat gesagt: Wenn sich in der Wirt-
schaft etwas bewegt, dann muss man es besteuern. Und
wenn sich immer noch etwas bewegt, dann muss man es
regulieren, bis es erdrosselt wird.
Und wenn sich dann nichts mehr bewegt, dann muss man
es wieder subventionieren. – Das ist Ihre Philosophie ei-
ner Ökonomie.
Dr. Hermann Otto Solms
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dr. Hermann Otto Solms
Das ist aber die Realisierung des demokratischen Sozia-
lismus in der westlichen Bundesrepublik, das ist sozusa-
gen die DDR ohne Honecker.
Das ist aber keine freie Marktwirtschaft. Für eine solche
Politik werden Sie uns nicht als Partner gewinnen können.
Wir werden dieser Politik widersprechen. Wir werden
dafür Sorge tragen, dass vieles von dem, was Sie vor-
schlagen, den Bundesrat nicht überstehen wird.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl
die Zahlen des Haushaltsentwurfes 2003 als auch erst
recht die des Nachtragshaushaltes und die Debatte haben
gezeigt, dass die Situation sehr ernst und nur äußerst
schwer zu meistern ist.
Das geben wir zu.
Ich finde es in Ordnung, wenn Sie uns als Opposition
angreifen. Aber dabei dürfen Sie es sich nicht zu leicht
machen. Ich möchte meine Wahrnehmung begründen,
dass Sie es sich zu leicht machen.
Herr Austermann und Herr Merz haben sich zwar nicht
nur – zum Arbeitsmarkt haben sie andere Vorstellungen
vorgetragen –, aber vorrangig mit Vergangenheitsbewäl-
tigung befasst. Natürlich haben sie auch viel als Begrün-
dung für den Untersuchungsausschuss angeführt.
Die Verwirklichung der Vorschläge der FDPwürde uns
dahin bringen – Herr Rexrodt hat auch nicht vermieden,
es auszusprechen –, jetzt im akuten Fall noch mehr Schul-
den zu machen. Das halte ich für völlig unangebracht.
Völlig unangemessen finde ich bei der Ernsthaftigkeit
der Lage, dass Sie, wenn der Finanzminister von dem
spricht, was wir in den letzten vier Jahren gemacht haben,
und wenn er auf die Steuersenkungen hinweist, in Hohn-
gelächter ausbrechen.
Es ist doch so, dass Sie, Herr Austermann – ich habe
das mit Interesse nachgelesen – ,noch in der Finanzde-
batte zum Koalitionsvertrag mit Worten wie Schlamperei
davon gesprochen haben, dass 50 Milliarden an Steuer-
einnahmen im Rahmen der Unternehmensteuerreform
verballert worden seien.
Sie machen es sich zu leicht. Auch Herr Merz bleibt unter
seinen finanzpolitischen Möglichkeiten, die er unbestrit-
ten hat, wenn er behauptet, das beruhe einzig und allein
auf handwerklichen Fehlern. Sie wissen genau, dass das
etwas mit der Konjunktur und mit Tarifsenkungen, die Sie
immer fordern, zu tun hat. Deshalb ist das, was Sie ma-
chen, unwahrhaftig. Das hat auch damit zu tun, was die
Kollegin Hermenau richtig gesagt hat: Sie bewegen sich
auf sehr dünnem Eis, wenn es darum geht, dass Ihnen die
Leute überhaupt noch glauben.
– Ja, die Umfragen sind für die Regierungsparteien im
Moment nicht gut; aber sie zeigen auch keine Begeis-
terung für die Opposition. Ich würde an Ihrer Stelle ein-
mal die Berichterstattung derjenigen Presseorgane sehr
genau lesen, die sicherlich nicht verdächtig sind, es Rot-
Grün leicht zu machen. In diesen Veröffentlichungen wird
klipp und klar geschrieben: So wie Sie sich verhalten, ver-
halten sich Verlierer, die ihre Wahlniederlage nicht ver-
kraftet haben.
Ihnen wird von unabhängiger Seite der Vorwurf gemacht,
das Problem im Grunde genommen zu verstärken. Auch
Sie haben mit der Vertrauenskrise im Grunde eine ganze
Menge zu tun. Ich will unseren Part nicht kleinreden,
wenn ich darauf hinweise, dass Sie die Glaubwürdigkeit
und die Ernsthaftigkeit der Politik infrage stellen. Herr
Austermann, das wird eindeutig auf Sie und auf Ihre Frak-
tion zurückfallen.
Ich will nicht davon sprechen, dass es Sinn macht, ein-
seitige Schuldzuweisungen vorzunehmen. Auch uns ist in
den letzten vier Jahren einiges nicht gelungen. Jetzt muss
man über die Richtung, die wir einschlagen, reden. Ich
möchte ganz deutlich sagen: Ich halte einseitige Schuld-
zuweisungen für lächerlich; aber Selbstzufriedenheit der
Opposition ist mindestens genauso lächerlich.
Herr Austermann, wie können Sie sich hierhin stellen
und behaupten, Sie hätten uns 1998 Wunderbares hinter-
lassen. Die Steuerquote, die Staatsquote, die Lohnneben-
kosten, das alles war 1998 höher als heute.
Nehmen Sie sich eigentlich selbst ernst, wenn Sie gegen
uns argumentieren? Wie Sie das tun, können Sie es kei-
nem glaubhaft machen.
Es ist ebenfalls regelrecht volksverdummend, wenn Herr
Merz wider sein Wissen sagt, er könne mit der Gesamt-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 769
verschuldung gegen Rot-Grün argumentieren. Der Auf-
wuchs der Gesamtverschuldung in der letzten Phase Ihrer
Regierungszeit lag mit 141 Milliarden Euro immer noch
weit über dem, was wir angehäuft haben. Das gilt selbst
dann, wenn man die UMTS-Erlöse weglässt.
–Das ist nicht wahr. Sie können das genauso mit der Netto-
kreditaufnahme begründen.
Wenn Sie also meinen, Sie hätten uns 1998 etwas Gutes
übergeben, dann ist dieses Urteil selbstgerecht. Ich will
Ihnen sagen: Sie können keinem Menschen in diesem
Land – wir, die Politiker der Regierung und der Regie-
rungskoalition, sind in dieser Hinsicht nicht so wichtig –
glaubhaft machen, dass unsere Haushaltsprobleme erst
seit vier Jahren bestehen. Die Menschen wissen, dass es
um viel ernstere und grundsätzlichere strukturelle Ände-
rungen geht.
Ich möchte noch auf eine Unehrlichkeit eingehen, die
mich besonders sorgt: die Unehrlichkeit in der Debatte
über steuergesetzliche Änderungen. Heutzutage – das be-
dauere ich sehr – ruft man in ein und demselben Atemzug
nach dem Abbau von Ausnahmetatbeständen, also
nach dem Schließen so genannter Schlupflöcher, und mo-
kiert sich darüber, dass wir mit diesem Gesetz unverzeih-
liche Steuererhöhungen vornähmen.
Dazu muss ich Ihnen einmal Folgendes sagen: In Ham-
burg, wo ich herkomme, ist Herr Uldall, ein geschätzter
Kollege von Ihnen, Wirtschaftssenator.
Er ist immer mit der Forderung nach einem radikalen Ab-
bau von Steuervergünstigungen angetreten. Wir müssen
uns doch fragen, ob wir ein einfaches und transparentes
Steuersystem wollen. Wenn auch Sie das wollten, dann
müssten Sie den Schneid haben zu sagen: Wir machen
diesen Abbau von Sondertatbeständen mit. Sie können
uns treiben, indem Sie fordern, die Tarife noch mehr zu
senken, als wir es 2004 und 2005 machen werden. Wenn
wir das täten, hätten wir es aber mit dem Problem eines
Haushaltsdefizits zu tun, das nicht mehr europaverträg-
lich ist.
Sie reden immer wieder Steuererhöhungen herbei. Das
führt auch dazu, dass wir eine sehr unwahrhaftige und
wirklich verlogene Steuerdebatte in Deutschland führen.
Ich bedauere das. Auch Sie wollten bei Steuervereinfa-
chungen mitmachen. Wir werden aber auch ohne Sie
dafür sorgen und wir werden den eingeschlagenen Weg
durchstehen.
Ich möchte etwas zur Struktur des Sparpakets sagen.
Entgegen unserem ersten Regierungsentwurf müssen wir
im Haushalt 2003 18 Milliarden Euro konsolidieren.
2,8 Milliarden Euro dieser 18 Milliarden Euro werden
durch den Abbau von Steuervergünstigungen eingespart.
3,4 Milliarden Euro, also ein relativ geringer Teil, werden
durch das Heraufsetzen der Nettoneuverschuldung – si-
cherlich kein schöner Vorgang – finanziert. 11 Milliar-
den Euro, also der allergrößte Teil, werden durch Ausga-
benbegrenzungen eingespart. Sie müssen zur Kenntnis
nehmen – wir werden das auch nach außen hin so vermit-
teln –, dass das ein sozial sehr ausgewogener Mix ist, der
uns vor allem im Hinblick auf die Struktur des Haushalts
voranbringen wird. Diese Maßgabe setzen wir uns selbst.
– Das hat nichts mit Glauben zu tun. Es ist vor allem wich-
tig, die Aufgabe ernst zu nehmen. Dieses Sparpaket ist
nicht verzichtbar.
Wenn Sie die Sätze von Herrn Solbes lesen, der sowohl
die Regierung als auch die Opposition ermahnt, nicht
nachzulassen bei diesen Sparbemühungen, dann müssen
Sie zugeben, dass er Recht hat. Leider ist hier eines von
Ihnen angedeutet bzw. angekündigt worden: Das größte
Risiko für eine vernünftige Haushalts- und Finanzpolitik
ist die CDU/CSU.
Ich will das Blockaderisiko auf der Länderseite ein-
mal in Milliarden betiteln: Das sind 1,5 Milliarden Euro
in 2003 und das wächst extrem auf 4,6 und 6,7 Milliar-
den Euro an, allein für den Bundeshaushalt in den Folge-
jahren. Die Länder, die auch ordentlich ächzen, hätten
eine Haushaltsverbesserung von 2 Milliarden Euro im
nächsten Jahr, wachsend auf 6,9 und 10 Milliarden Euro.
Man kann das alles verteufeln, wie die FDP es machen
will, indem sie sagt: Wir wollen nicht mehr Steuern ein-
nehmen. Ich sage Ihnen: Steuern einzutreiben ist aufgrund
einer besseren Effektivität sinnvoll und richtig. Sie müs-
sen sich vorstellen, was für Folgen es hat und was es für
die Weichenstellung des Haushalts 2004 bedeutet, wenn
Sie das nicht mitmachen. Ich möchte an dieser Stelle nicht
vergessen, dass wir ab 2004 und 2005 im Grundsatz eine
große Steuerreform machen, bei der es um weitgehende
Steuerentlastung über die Tarife geht. Ich wiederhole:
Wir wollen die Vereinfachung und ein Absenken der Ta-
rife. Eigentlich waren wir uns da einmal einig.
Ich komme jetzt abschließend noch kurz zum wichtigs-
ten Punkt und blicke in die Zukunft. Es ist so, dass ich ei-
nes in dieser Debatte insbesondere von der Oppositions-
seite vermisst habe. Ich glaube, das Hauptproblem in
unserem Haushalt liegt nicht auf der steuerlichen Seite.
Das Hauptproblem ist nicht, dass die Steuerquote zu hoch
wäre. Das Hauptproblem besteht vielmehr darin, dass wir
in der Vergangenheit nicht die Strukturreformen in den
Systemen der sozialen Sicherung vorgenommen haben,
die nötig sind; sie waren im Übrigen auch schon zu Ihrer
Zeit nötig. Hierüber und zum Thema Rente verlieren Sie
in dieser Debatte kein Wort, obwohl Sie – ich bin ja neu
Anja Hajduk
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Anja Hajduk
in diesem Hause – wissen müssten, dass die Alters-
sicherungskosten mit den Zinsen zusammen fast 60 Pro-
zent ausmachen. Wie können Sie über Verschuldungs-
und Rentenfragen so stetig innerhalb dieser ganzen
Stunde hinweggehen?
Das zeigt auch, dass Sie zu einer zukunftsweisenden,
ganz soliden Haushaltspolitik, gar Haushaltssanierung,
nicht imstande sind.
Liebe Opposition, ich fände es besser, wenn Sie uns mehr
antreiben würden, wenn Sie sich mehr Mühe mit dem
Blick nach vorn geben würden.
Mit Ihrem Blick voll konzentriert zurück in den Unter-
suchungsausschuss,mit dieser Nabelschau sind Sie keine
Alternative für irgendeine Übernahme von Regierungs-
verantwortung.
Ich verspreche Ihnen, wir machen die Strukturrefor-
men auch ohne Sie. Bei uns hat das die Überschrift: weg
vom Schuldenstaat – zur generationengerechten Finanz-
politik. Wir machen es, wie gesagt, auch ohne Sie, aber
vielleicht sind Sie in den nächsten Jahren irgendwie ein-
mal wieder an Deck.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Hajduk, ich gratuliere Ihnen recht herz-
lich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause und wünsche
Ihnen persönlich und politisch alles Gute für die Zukunft.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch,
fraktionslos.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich höre
es schon aus den ersten Reihen: Sie sagt jetzt wieder, dass
sie PDS-Abgeordnete ist. Ich kann diesen Zwischenruf
gleich aufnehmen. Herzlichen Dank.
In einem Brief schreibt mir ein PDS-Stadtrat über die
Situation in seiner Stadt:
Schulen und Schwimmbäder befinden sich in einem
miserablen Zustand. Bäder wurden reihenweise ge-
schlossen. Für weite Teile des ... Nordens mit zehn-
tausenden Einwohnern gibt es kein Hallenbad mehr.
Die ... Verkehrsbetriebe können nur noch durch
Quersubventionierung gehalten werden. Ein Teil der
Busfahrer wurde in eine besondere Gesellschaft ab-
geschoben, mit nur 80 Prozent des Tarifs. Buslinien
wurden eingestellt.
Na klar, werden Sie sich jetzt vielleicht sagen, der Os-
ten – 40 Jahre Misswirtschaft. Dieser Brief ist allerdings
nicht aus dem Osten, sondern von Hermann Dierkes, dem
Vorsitzenden der PDS-Ratsfraktion in Duisburg. Seit
Jahren wird in Duisburg so genanntes Tafelsilber abge-
stoßen, werden öffentliche Betriebe privatisiert, um Geld in
die Stadtkasse zu bekommen. Trotzdem reichen die Mittel
hinten und vorne nicht aus. Nun gut, könnte man sagen, es
gibt auch strukturschwache Regionen in den alten Bundes-
ländern oder, wie gerade von einem Herrn aus den hinteren
Reihen gesagt wurde, „verostete Gebiete“. Doch in Duis-
burg steht, wie Sie wissen, das Hauptwerk von Thyssen
Krupp Stahl und das von den Hüttenwerken Krupp Man-
nesmann – Deutschlands StahlstandortNummer eins also.
Dort entsteht fast die Hälfte der deutschen Stahlproduktion.
Die Schulen am Stahlstandort Nummer eins befinden
sich also in einem miserablen Zustand. Wie geht das zu-
sammen? Es geht zusammen, denn Thyssen Krupp Stahl
und Krupp Mannesmann zahlen fast keine Gewerbe-
steuer. Ich denke: Da stimmt doch etwas nicht. Die Steu-
erausfälle betreffen nicht nur einzelne Kommunen, sie
wirken sich flächendeckend aus.
Acht Bundesländer – das ist vorhin in der Debatte schon
gesagt worden – können keinen verfassungskonformen
Haushalt für das Jahr 2003 erarbeiten und jetzt trifft es
auch den Bund. Artikel 115 des Grundgesetzes ist hier
schon ausführlich erörtert worden. Die geplanten Neuver-
schuldungen sind höher als die öffentlichen Investitionen.
Die Medizin, die hierzulande empfohlen wird, sind dra-
stische Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben, in der
Regel bei den Sozialausgaben oder bei den Investitionen
oder bei beiden. Diese Politik wird seit vier Jahren betrie-
ben, allerdings mit nur recht wenig Erfolg. Vielleicht
muss man sich auch einmal nach anderen Medikamenten
umsehen, meine Damen und Herren von der Koalition.
Und vielleicht muss man in einer Situation, in der die
Bundesländer keinen verfassungskonformen Haushalt
mehr aufstellen können, auch überprüfen, ob denn diese
Verfassungsregelung noch der Wirklichkeit entspricht.
– Es ist immer so: Wenn man Ihnen einmal eine Anregung
zum Nachdenken gibt, Herr Kollege, haben Sie nichts an-
deres als dieses blöde stereotype „Da höre ich doch die
alte DDR trapsen“.
Vielleicht geht es auch mal ein bisschen origineller, ver-
ehrter Kollege von der SPD.
Meine Damen und Herren, falls Sie noch ein Weih-
nachtsgeschenk für Herrn Bundesminister Eichel suchen,
770
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 771
kann ich Ihnen das Buch „Die Schatten der Globalisie-
rung“ von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz empfehlen.
Ich darf mit Erlaubnis der Präsidentin zitieren:
Seit 60 Jahren vertritt kein seriöser Volkswirt mehr
die Meinung, dass eine Volkswirtschaft, die auf eine
Rezession zusteuert, einen ausgeglichenen Staats-
haushalt haben sollte.
Stiglitz berichtet in dem Buch „Die Schatten der Globali-
sierung“ von einer Kontroverse in der Clinton-Regierung
über die Einführung eines Zusatzartikels in der Verfas-
sung, der einen ausgeglichenen Haushalt fordert. Diese
Forderung des US-Finanzministeriums wird von Stiglitz
mit folgender Begründung abgelehnt – ich zitiere noch
einmal mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Mit der Verabschiedung des Verfassungszusatzes
hätte sich die Regierung von ihrer zentralen Verant-
wortung, der Gewährleistung von Vollbeschäftigung,
verabschiedet.
Ohne Frage kann man auch von den Amerikanern etwas
lernen. Leider ist es hierzulande üblich, sich immer die
falschen Sachen herauszusuchen. Wenn Sie an Amerika
denken, denken Sie an Billigjobs, an Flexibilität und Mo-
bilität. Warum schauen Sie sich nicht einmal diese Facet-
ten der Finanzpolitik der US-Regierung an?
Nun komme ich zum letzten Punkt: dem Stabilitätspakt
und der Europäischen Zentralbank. Herr Prodi sagte vor
einigen Wochen, der Stabiliätspakt sei dumm. Er wurde
dafür sehr gescholten. Er hat aber in vielem Recht. Es war
keine gute Idee, meine Damen und Herren von der CDU,
dass Herr Waigel diesem Stabilitätspakt zugestimmt hat,
denn er erinnert in der Tat wirklich eher an staatssozialis-
tische Vorgaben denn an eine flexible Marktwirtschaft.
Wir sehen jetzt, dass dieser Stabilitätspakt uns ein Korsett
vorgibt, das uns häufig die Luft zum Atmen nimmt. Eine
expansive Finanzpolitik ist mit diesem Pakt in Zeiten der
Rezession nicht möglich und das heißt Abschied nehmen
vom Ziel der Vollbeschäftigung.
Noch ein Wort zur EZB. Das Dilemma ist klar. Die In-
flation soll im Zaum gehalten werden. Doch wie funktio-
niert das? Die Inflationsraten liegen in Europa weit aus-
einander. Bei uns liegt die Rate bei 1,1 Prozent, in
Griechenland bei 3,9 Prozent, in Irland bei 4,6 Prozent. Es
ist klar, dass es fast unmöglich ist, dass 18 Geldpolitiker
bei dieser Situation eine gemeinsame Strategie finden, die
wirklich einschneidende Veränderungen bei den Zinssät-
zen bringen wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns in den nächs-
ten Wochen der Haushaltsberatungen mehr über die
Grundsätze von Finanzpolitik und weniger über soziale
Kürzungen zur vermeintlichen Sanierung des Haushalts
reden. Denn so wird das nicht funktionieren. Haushalt ist
kein Selbstzweck. Es muss um soziale Gerechtigkeit ge-
hen. Dies zu gewährleisten ist meiner Meinung nach die
Aufgabe des Staates und der sollten wir uns stellen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Bartholomäus Kalb,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Alle Fantasie, auch alle Böswilligkeit und Miss-
gunst, zu denen man vielleicht fähig sein könnte, hätten
nicht ausgereicht, um das vorhersagen zu können, was Sie
kurz nach der Wahl an Verwirrung, an Verunsicherung
und an Chaos in Deutschland angerichtet haben. Das
Schlimmste aber ist: Sie haben das Vertrauen der Bürger
missbraucht, das Vertrauen der Wirtschaft zerstört,
das Vertrauen der Anleger und Investoren verloren und
insbesondere auch das Vertrauen ausländischer Freunde
mit Füßen getreten.
Eine der Hauptursachen, wenn nicht die Hauptursache,
für die desolate Situation in Deutschland ist der Verlust
von Vertrauen und Glaubwürdigkeit, wie es das gegen-
über einer Regierung wohl bisher noch nie gegeben hat.
Dieses wird Ihnen jeden Tag in allen Medien immer wie-
der bescheinigt.
Renommierte Kommentatoren wie Helmut Maier-
Mannhart werfen Ihnen mittlerweile arglistige Wähler-
täuschung und Bürgerverdummung vor, beklagen aber
zudem ebenso wie die Sachverständigen die fehlende Per-
spektive. Wörtlich schreibt Maier-Mannhart in einem
Beitrag für die „Passauer Neue Presse“:
Dass man die Wähler arglistig getäuscht hat, ist aber
im Vergleich zu den nunmehr sichtbaren Problemen
das kleinere Übel. ... Was die Lage so desolat macht,
ist die Perspektivlosigkeit, mit der die Regierung
Schröder in ihre zweite Amtsperiode geht. Für nie-
manden ist ein Konzept erkennbar, wie die Struktur-
probleme als die eigentlichen Ursachen der Misere
angegangen werden sollen.
Was sollen die Menschen von all Ihren Aussagen hal-
ten, wenn sie vor der Wahl in nicht vorstellbarer Weise mit
der Unwahrheit bedient worden sind? Es ist ja ganz drol-
lig, wenn jetzt Herr Gabriel aus Niedersachsen, der ver-
mutlich Nachfolger von Hans Eichel wird,
in einem Redeschwall bei Frau Christansen kundtut, alle
hätten seit dem Frühsommer gewusst oder zumindest wis-
sen können, wie die tatsächliche Lage ist. Peinlich ist nur,
dass der Chefbuchhalter der Republik – zumindest sollte
er das sein –, Hans Eichel, noch in einem Interview für die
„Wirtschaftswoche“ vom 24. Oktober 2002 erklärt hat:
Dass wir mit 3 Prozent Neuverschuldung in diesem
Jahr nicht auskommen, weiß ich auch erst, seit die
Steuereingänge des Monats September vorliegen.
Dr. Gesine Lötzsch
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bartholomäus Kalb
So weit Eichel. Sie verstricken sich immer mehr in
Falschaussagen.
Im Übrigen war es eine psychologisch raffinierte Art,
die Herr Eichel an den Tag gelegt hat. Immer wenn ihn
Gesprächspartner mit den härtesten Fakten konfrontiert
haben, hat er all diese mit der Miene des Biedermannes
und einem leichten Anflug von Entrüstung mit der Be-
hauptung zurückgewiesen: Das ist schlicht falsch. So
auch in der Sendung von Frau Christiansen und in dem
vorhin erwähnten Interview in der „Wirtschaftswoche“.
Damit wurde jeder, der die Angaben der Regierung in
Zweifel zog, mit dem Etikett „unseriös“ versehen und in
eine bestimmte moralische Ecke gestellt.
Wir lassen uns nicht vorwerfen, wir hätten unsererseits
nicht rechtzeitig und umfassend auf die Probleme hinge-
wiesen. Ich verweise auf die Stellungnahmen der
CDU/CSU-Haushälter – Kollege Austermann hat das
schon vorgetragen –, in denen wir Ihnen schon im Früh-
sommer nachgewiesen haben, dass der seinerzeit vorge-
legte Haushaltsentwurf und das zugrunde gelegte Zahlen-
werk keiner Nachprüfung standhalten.
All diese Hinweise haben Sie mit Empörung zurückge-
wiesen.
Als beispielsweise Horst Seehofer vor der Wahl pro-
gnostiziert hat, dass die Rentenbeitragshöhe nicht zu hal-
ten sei, hat ihm Herr Riester, den heute kaum noch jemand
kennt, sofort das Wort im Munde herumgedreht und die
Behauptung aufgestellt, CDU und CSU wollten die Ren-
tenbeiträge erhöhen. Was ist daraus geworden?
Aber es geht nicht nur um die Zeit vor der Wahl 2002.
Wir nehmen für uns in Anspruch, frühzeitig auf die zu-
nehmenden Probleme unseres Landes – nicht zuletzt in-
folge von Globalisierung und der Veränderungen im Al-
tersaufbau – hingewiesen und notwendige Maßnahmen
eingeleitet zu haben. Wir haben die 1997 und 1998 be-
schlossenen Reformen in den Bereichen Steuern – diese
haben sie im Bundesrat blockiert –, Gesundheit und Rente
nicht aus Lust am Untergang beschlossen, sondern aus der
Überzeugung, dass nur mit tief greifenden Reformen und
strukturellen Veränderungen die Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands gesichert und die Lasten zwischen den Ge-
nerationen gerecht aufgeteilt werden können. Sie dagegen
haben so getan, als könnte sich Deutschland dem interna-
tionalen Wettbewerb entziehen. Sie haben seinerzeit nicht
zuletzt auch damit die Wahl gewonnen. Hierfür muss jetzt
bitter bezahlt werden.
Wenn jetzt häufig so getan wird, als hätten die Politiker
insgesamt die Probleme des Landes verniedlicht, lassen wir
das so nicht durchgehen. Wir haben immer wieder darauf
hingewiesen, dass wir im Hinblick auf die internationale
Wettbewerbsfähigkeit tief greifende Reformen in der
Steuer- und Sozialgesetzgebung für dringend notwendig
halten. Die strukturellen Probleme in unseren Sozialsyste-
men, insbesondere bei der Rente, werden nicht allein mit ei-
ner höheren Steuerfinanzierung zu lösen sein. Es ist meines
Erachtens falsch, wenn behauptet wird, die Lohnnebenkos-
ten wären ohne die Ökosteuer um den Betrag, der in diesem
Zusammenhang eingenommen wird, höher. Niemand hat
bis jetzt untersucht, wie viele Arbeitsplätze durch die Öko-
steuer vernichtet oder wie sehr zumindest die Schaffung
von neuen Arbeitsplätzen verhindert worden ist.
Niemand führt sich vor Augen, wie eng für einen großen
Teil der Bevölkerung, für viele kleine Leute die finanziel-
len Spielräume geworden sind und wie sehr deswegen die
Nachfrage eingebrochen ist.
Darüber hinaus muss gesehen werden, dass mittler-
weile, wenn wir alle gesetzlichen Rentenversicherungs-
systeme zusammennehmen, ein Betrag von rund 80 Milli-
arden Euro – das ist etwa ein Drittel des Bundeshaushaltes
und rund 40 Prozent der Rentenleistungen – über den Bun-
deshaushalt bereitgestellt wird. Die Beitragsbezogenheit
der Rente geht immer mehr verloren. Sie wird damit im-
mer mehr zur Staatsrente und von der Staatsrente ist der
Weg zur Einheitsrente nicht weit. Ich befürchte, dass sich
hier in den nächsten Jahren und Jahrzehnten schleichend
eine riesige Enteignung der Beitragszahler vollzieht.
Ich möchte auf die Frage eingehen, was wir alternativ
zu Ihrem Durchwursteln tun würden, wenn wir in der Ver-
antwortung wären. Wir würden das tun, was wir vor der
Wahl angekündigt haben.
Wir hätten das Scheinselbstständigengesetz bereits abge-
schafft. Wir hätten das 325-Euro-Gesetz nicht um eine
weitere verkorkste Variante bereichert, sondern im Be-
reich der Geringverdiener eine klare 400-Euro-Regelung
eingeführt. Wir würden das Betriebsverfassungs- und das
Mitbestimmungsrecht mittelstandsfreundlich ändern und
vor allen Dingen nicht nur von Vereinfachung sprechen,
sondern Bürokratie auch abbauen. Wir würden nicht, wie
es Herr Eichel vor einigen Wochen getan hat, ankündigen,
20 000 Steuervorschriften abzuschaffen, und gleichzeitig
jede Woche hier im Bundestag neue Verkomplizierungen
einbringen und beschließen.
In einem zweiten Schritt würden wir ebenso, wie vor
der Wahl angekündigt, umfassende Reformen des Steuer-
rechts, des Gesundheitswesens, der Rente, des Arbeits-
marktes, der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe bis hin
zu einer Gemeindefinanzreform gründlich und solide vor-
bereiten und dann nach eingehender Beratung entspre-
chend beschließen.
Wir würden mehr auf den Sachverstand innerhalb des
Bundestages und weniger auf den außerhalb des Bundes-
tages zurückgreifen.
Es ist ein Unding, dass der Bundestag einerseits wesent-
lich verkleinert und andererseits die Zahl der Entschei-
772
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 773
dungsträger durch die Einsetzung von immer mehr Kom-
missionen willkürlich ausgeweitet wird.
Es kann nicht angehen – das betrifft jeden Parlamenta-
rier –, dass, unterstützt durch den öffentlichen Druck, von
den Abgeordneten verlangt wird, sie sollten die Ergebnisse
der jeweiligen Kommissionen 1 : 1 umsetzen. Neuerdings
spricht der Generalsekretär der SPD sogar von 2 : 1.
– Herr Kollege Gerhardt, ich habe diese Rechnung nicht
ganz kapiert.
Natürlich ist es richtig, sich das Wissen von Sachver-
ständigen und Experten zu erschließen und in die Gesetz-
gebung einfließen zu lassen. Ich bin aber sehr wohl der
Meinung, dass es auf allen Seiten dieses Hauses durchaus
eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen gibt, die über
beachtliches Fachwissen verfügen und bereit sind, sich in
komplizierte Sachverhalte einzuarbeiten. Es kann auch
nicht schaden, wenn in die Gesetzgebungsarbeit Erfah-
rungen aus der Praxis und der Lebenswirklichkeit und der
gesunde Menschenverstand Eingang finden.
Im Übrigen müssen sich die Experten und Wissen-
schaftler nicht vor dem Bürger verantworten. Für all das,
was im Bundestag beschlossen wird und in die Gesetzge-
bung Eingang findet, müssen sich vielmehr die Abgeord-
neten dieses Parlamentes vor den Bürgern und in der Öf-
fentlichkeit verantworten. Die Entscheidungen des
Gesetzgebers dürfen nicht immer mehr zu einer
außerparlamentarischen Angelegenheit werden.
Wir müssen gründlich und solide über Gesetzentwürfe
und Vorlagen beraten und dürfen sie nicht einfach durch-
peitschen. Vieles von dem, was Ihnen die Medien entge-
genhalten, ist darauf zurückzuführen, dass Sie Ihre Vor-
schläge einfach durchpeitschen und keine soliden
Grundlagen, keine solide Datenlage haben und nicht wis-
sen, was die Ausschüsse letztlich beschließen.
Dass der Herr Finanzminister heute wieder wie bei der
Aussprache zur Regierungserklärung einfach mit falschen
Zahlen operiert und beispielsweise sagt, die Grenzsteuer-
belastung des Mittelstandes habe 1998 bei 69 Prozent ge-
legen – ich habe dazu eine schriftliche Anfrage gemacht
und Frau Hendricks musste mir bestätigen, dass die
Grenzsteuerbelastung 1998 nicht bei 69 Prozent, sondern
bei 57,99 Prozent gelegen hat; ich habe daraus groß-
zügigerweise 58 Prozent gemacht –, zeigt, dass es hier
vom Kern weg fehlt; den niederbayerischen Ausdruck, es
fehlt vom Bein weg, will ich hier nicht gebrauchen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller, SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! „Der Staat muss sicherstellen, dass jeder einen
seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Beitrag im
Rahmen einer gerechten und sinnvollen Besteuerung des
Einkommens aus Arbeit und Vermögen leistet.“ Das ha-
ben wir in unserem Wahlprogramm verkündet und daran
halten wir uns.
Wir haben in unserem Wahlprogramm auch angekün-
digt, dass wir Subventionen abbauen werden. Wir haben
immer gesagt, dass wir die Politik der Haushaltskonsoli-
dierung und der Entlastung der Bürger mit dem Abbau
von Sonderregelungen und Subventionen kombinieren
wollen. Darüber bestand nie ein Zweifel.
Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass uns das, was
wir jetzt mit dem Gesetzesvorhaben, das heute einge-
bracht wird, tun, Ihren Vorwurf, wir hätten die Wähler
getäuscht, einbringen kann. Wir haben nur das umgesetzt,
was wir während des Wahlkampfes angekündigt haben.
Die Bürger haben sich damit auch auseinander gesetzt.
Sie haben mehrheitlich diesen Weg gewählt. Das darf man
nicht beiseite schieben.
Dass es Sie ärgert, dass Sie mit Ihren Sprüchen nicht
durchgekommen sind, kann ich zwar verstehen, aber
trotzdem liegen Sie mit Ihrem Vorwurf, wir hätten ir-
gendjemanden getäuscht, völlig daneben.
Ich erinnere, was Herr Stoiber am 29. August während
der Debatte über die Entschädigung der Hochwasserge-
schädigten im Deutschen Bundestag angekündigt hat. Er
hat gesagt: Warum sollten wir die Entlastung der Bürger
um ein Jahr verschieben und die Stufe der Steuerreform,
die für 2003 vorgesehen war, auf 2004 verlegen? Das
könne man doch alles auch durch die Anhebung der
Verschuldung machen. Er hat dann den sagenhaften Satz
gesprochen:
Denn höhere Zinsen sind ein kleineres Übel als
höhere Steuern.
Das war das Konzept der Union und ich habe von Ihnen,
Herr Austermann, damals keinen Widerspruch dagegen
gehört.
Den Weg in die Verschuldung, den Ausweg, neue
Schulden zu machen, den Sie immer gewählt haben, so-
bald es schwierig wurde, den gehen wir nicht mit.
An diesem Konzept – Hans Eichel hat das immer die bei-
den Leitplanken genannt –, Haushaltskonsolidierung und
Entlastung der Bürger, aber auch Durchsetzung des Steu-
eranspruchs des Staates sowie – das muss man in einer
solchen konjunkturellen Situation allerdings tun – vo-
rübergehendes Wirkenlassen der automatischen Stabilisa-
toren, halten wir fest. Deswegen nehmen wir hin, dass die
Bartholomäus Kalb
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Jörg-Otto Spiller
Neuverschuldung in diesem Jahr höher sein wird, als ur-
sprünglich geplant.
Da Sie systematisch versuchen, die Bürger zu täu-
schen, möchte ich jetzt noch einmal darlegen, wie sich die
steuerliche Belastung für Normalbürger in Deutsch-
land selbst unter Einschluss der Sozialabgaben wirklich
entwickelt hat. Jeder, der vergleicht, wie es ihm 1998 er-
gangen ist und wie es ihm heute, 2002, geht,
kann daraus seine Schlüsse ziehen. Ich nehme als Beispiel
einen verheirateten Arbeitnehmer mit zwei Kindern. Dem
verblieben von seinem Bruttoeinkommen von 5 000 DM
im Jahre 1998 77,3 Prozent netto. Wenn man das in Euro
umrechnet,
um in das heutige Schema zu kommen, dann war es im
Jahre 1998 ein Bruttoeinkommen von 2 514 Euro, von
dem 1 944 Euro, 77,3 Prozent, verblieben. In diesem Jahr,
2002, hat der gleiche Arbeitnehmer unter Einbeziehung
der durchschnittlichen tariflichen Steigerungen
ein Bruttoeinkommen von 2 751 Euro, von dem ihm
2248 Euro, 81,7 Prozent, netto verbleiben.
Im Jahre 1998 blieben einem durchschnittlichen Arbeit-
nehmerhaushalt mit zwei Kindern also 77,3 Prozent netto
und im Jahre 2002 bei uns 81,7 Prozent.
Das haben die Leute wahrgenommen und Ihnen deswegen
kein Vertrauen geschenkt.
Was in dem Gesetzentwurf, der heute zur Debatte steht,
im Kern angekündigt wird, ist nicht eine Erhöhung von
Steuern,
sondern es ist die Anwendung des Rechts, die Durchset-
zung des Rechts.
– „Steuerterror“, sagt Herr Austermann.
Ich sage Ihnen einmal, was er damit meinen muss: Im
Jahre 2001 war das Aufkommen der Körperschaft-
steuer gleich null und das Gleiche gilt für das erste Halb-
jahr 2002,
obwohl die Erträge der Unternehmen insgesamt solide
waren. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir
Gestaltungsmöglichkeiten der Unternehmen einschrän-
ken, beispielsweise über Organschaften oder über den so
genannten Mantelkauf, bei dem Verluste einer anderen
Gesellschaft eingekauft werden, um eigene Gewinne vor
dem Finanzamt verschwinden zu lassen. Damit werden
wir erreichen, dass Unternehmen, die Gewinne machen,
auch Steuern zahlen.
– Dass Sie besonders naiv sind, weiß ich ja, aber Sie soll-
ten damit nicht den Betrieb des Deutschen Bundestages
aufhalten.
Dass sich ein Unternehmen vor dem Finanzamt sozu-
sagen arm rechnen kann, indem es Verluste aus früheren
Geschäftsjahren so in den Jahresabschluss des laufenden
Geschäftsjahres einbringt, dass nie eine Steuerpflicht ent-
steht, ist eine Manipulation, die man auf Dauer nicht hin-
nehmen kann. Deswegen schlagen wir vor, dass es eine
Mindestbesteuerung des Gewinns gibt und der Verlust-
vortrag
gestreckt wird.
– Lachen Sie nur. Das Schöne ist nämlich, dass die Fi-
nanzminister auch Ihrer Landesregierungen das
sehr interessant finden.
Wir haben einen zweiten Bereich im Gesetzentwurf:
die Mehrwertsteuer. Seit eh und je gilt der Grundsatz:
Den ermäßigten Mehrwertsteuersatz gibt es für Nah-
rungsmittel, für Verlagserzeugnisse und für den öffentli-
chen Personennahverkehr.
Bei einigen Dingen fragt man sich: Warum eigentlich?
Herr Eichel hat vorhin gefragt, warum beispielsweise Ba-
bywindeln mit dem vollen Mehrwertsteuersatz
und Schnittblumen mit dem halben Mehrwertsteuersatz
belegt werden. Sie müssten sich einmal erkundigen – ich
weiß nicht, ob Sie mit ihm noch reden –, wie Herr Uldall
das sieht. Der Grundsatz, dass man Steuern nicht durch
alle möglichen Sonderregelungen durchlöchert, schien in
diesem Hause eigentlich mehrheitsfähig zu sein. Aber ich
bemerke, es trifft nicht zu, dass alle Fraktionen dahinter-
stehen. Sie sind weiterhin dafür, dass man viele Ausnah-
774
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 775
men und Sonderregelungen einführt, je nachdem, wie es
passt.
Kommen wir zum Bereich der direkten Subventionen.
Wir haben immer gesagt, wir werden Subventionen auf
den Prüfstand stellen. Und das muss auch regelmäßig ge-
schehen.
Subventionen haben normalerweise für eine gewisse Zeit
ihre Berechtigung; aber dann gehören sie auf den Prüf-
stand.
Ein Beispiel dafür ist die Eigenheimzulage. Natürlich
ist es vernünftig, auch den Bau von Eigenheimen zu för-
dern. Aber das muss doch nicht heißen, dass man auf
Dauer, unabhängig von der Wohnungsmarktlage, unab-
hängig auch von den öffentlichen Kassen festlegt: Die Ge-
samtheit der Bürger verschuldet sich etwas mehr, damit
sich Häuslebauer nicht so stark verschulden müssen.
Dafür braucht man jeweils eine Begründung. Wir haben
uns entschieden, wir konzentrieren Eigenheimförderung
auf Familien mit Kindern. Das ist voll gerechtfertigt.
Es gibt noch einige solche Bereiche im Einkommen-
steuerrecht. Einer ist von einem Ihrer Redner genannt
worden: Firmenwagen.Als wäre es etwas besonders Ver-
werfliches, sich über die Besteuerung der privaten Nut-
zung von Firmenwagen zu unterhalten! Es geht um die
Besteuerung nur der privaten Nutzung eines Firmenwa-
gens.
Ich mache die derzeitige Regelung an einem Beispiel
deutlich. Ein Arbeitnehmer hat von seiner Firma
einen komfortablen Mittelklassewagen im Wert von
30 000 Euro zur Verfügung gestellt bekommen, den er un-
entgeltlich auch privat nutzen darf. Heute hat er monatlich
1 Prozent davon – das sind 300 Euro – als geldwerten Vor-
teil zu versteuern. Bei einem Grenzsteuersatz von 40 Pro-
zent – unterstellen wir einmal, es ist jemand, der ein bes-
seres Einkommen hat – heißt das, dass er 120 Euro im
Monat für einen komfortablen Mittelklassewagen zahlt,
der ihm voll zur Verfügung steht.
Jetzt vergleichen Sie dies einmal mit dem, was jemand
aus einem versteuerten Einkommen für ein gleichwerti-
ges Auto für private Zwecke aufwenden muss.
Das ist wesentlich mehr. Wenn wir diese Steuer also um
50 Prozent von 120 Euro auf 180 Euro anheben, ist das
immer noch eine wesentlich günstigere Behandlung, als
wenn das entsprechende Bruttoentgelt direkt als Arbeits-
einkommen ausgezahlt würde.
Letzter Punkt: Besteuerung von
Kapitalerträgen und Veräußerungsgewinnen. In
Deutschland besteht seit eh und je eine Steuerpflicht für
Kapitalerträge.
Es besteht auch seit langem eine Steuerpflicht für Ver-
äußerungsgewinne, die innerhalb gewisser Fristen erzielt
werden. Es besteht bloß ein deutlicher Mangel
bei der Durchsetzung des Rechts.
In Amerika ist es seit eh und je gang und gäbe,
dass Kapitalerträge steuerpflichtig sind. Auch findet kein
US-Bürger etwas Negatives daran, dass dem Finanzamt
mitgeteilt wird: Dies ist ein erfolgreicher Mensch, er hat
auch Kapitalerträge.
Vorhin hat Herr Solms gesagt, hiermit wäre ein uner-
träglicher Aufwand verbunden. Merkwürdigerweise geht
dies in Amerika schon seit langem hervorragend. Ich habe
auch noch nie gehört, dass die Kapitalmärkte in den USA
besonders schwach wären
und dass es dort überhaupt nicht funktioniert, dass bei-
spielsweise Kapital nicht einer produktiven Verwendung
zugeführt wird. Es funktioniert dort.
Den Einwand, der dann kommt, nämlich sie hätten an-
geblich – bei näherer Betrachtung ist dies so deutlich
nicht – eine niedrigere Gesamtsteuerbelastung, kann man
auch umdrehen: Professor Kirchhof argumentiert völlig
zu Recht, unsere Steuern seien in Deutschland auch des-
wegen höher als in Amerika, weil Kapitalerträge nicht
oder zumindest nicht zuverlässig erfasst würden.
Viele Bürger nehmen schon heute die Erträgnisaufstel-
lung ihrer Bank als Serviceleistung in Anspruch, wenn sie
ihre Steuererklärung machen. Die Masse der Bürger ist
steuerehrlich und gibt dies auch beim Finanzamt an, ohne
dass sich irgendjemand kontrolliert fühlt, wenn die Bank
eine Erträgnisaufstellung macht.
Es gibt aber eben auch Bürger, die nicht steuerehrlich
sind. Vor die stellen Sie sich, Herr Austermann
Jörg-Otto Spiller
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Jörg-Otto Spiller
und Herr Solms. Auf die Spitze getrieben hat dies Herr
Gerhardt. Herr Gerhardt, der Fraktionsvorsitzende der
FDP, hat sich nicht geschämt, in einer Diskussion zu er-
klären, er unterstütze den Vorschlag, Finanzbeamte mit
Telefonterror zu belästigen, um damit die Finanzverwal-
tung lahm zu legen. Herr Gerhardt sagte weiter: Zitat
Die Lahmlegung eines Finanzamtes ist der schönste
zivile Protest, den ich mir vorstellen kann.
Herr Kollege Spiller, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Solms?
Weil es Herr Solms ist, gestatte ich dies gern.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie so entgegenkom-
mend sind.
Würden Sie dann auch zur Kenntnis nehmen, dass un-
ser Vorschlag, nämlich die Zinsen im Quellensteuerab-
zugsverfahren zu versteuern, ein die Steuerehrlichkeit
verbessernder Vorschlag ist? Dies bedeutet, dass die Zin-
sen erst nach der Versteuerung ausgeschüttet werden, die
Steuern direkt von der Bank ans Finanzamt abgeführt
werden. Sie können dann auf jegliches Kontrollmittei-
lungsverfahren verzichten, haben also keinen bürokrati-
schen Aufwand, gleichwohl aber die Steuern zu 100 Pro-
zent abgeführt.
Wir haben derzeit ein System, das sich „Zinsabschlag“
nennt. Das funktioniert. Das ist das, was Sie beschrieben
haben. Das ist keine Abgeltungssteuer.
Das Problem dabei ist nur, dass das, was Sie beispiels-
weise aus Ihrer erfolgreichen Berufstätigkeit zu versteu-
ern haben, mit einem deutlich höheren Satz belastet wird
als die Erträge beispielsweise aus festverzinslichen Pa-
pieren oder auch Dividenden.
Ich weiß, dass es das auch in anderen Ländern gibt, aber
dass das ein unproblematischer Weg ist, kann ich nicht be-
stätigen.
Mich freut wenigstens,
dass Sie sich nicht hinter Ihren Fraktionsvorsitzenden
Gerhardt und seinen abenteuerlichen Vorschlag stellen.
Herr Gerhardt hat sich damit als Vertreter des Krawall-
liberalismus – neuerdings mit drei „l“ geschrieben – be-
kannt. Auch außerhalb der FDP, NRW, finde ich, ist der
Niedergang des deutschen Liberalismus ein Problem. Das
wäre in einer bürgerlichen Partei früher nicht möglich ge-
wesen.
Letzte Bemerkung. Sie haben sich hier heute, finde ich,
relativ zahm verhalten. Der Wirbel, den Sie in der Öffent-
lichkeit veranstaltet haben, war umso übler.
Eines kann ich Ihnen sagen – das ist in Ihrer ganzen Re-
aktion deutlich geworden –: Sie sind weit weg von dem,
was die Bundesländer, auch die von Ihnen geführten,
letzten Endes tun werden.
Ich bin sicher, dass die Finanzminister der Länder, die alle
ihre Probleme haben, die alle darauf achten, dass das
Steuerrecht nicht verwässert wird, Ihnen eine Abfuhr er-
teilen werden. Ich bin auf eine sachliche Diskussion im
Vermittlungsausschuss gespannt.
Nächster Redner in der Aussprache ist der Kollege
Dr. Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Was Sie als Koalition unter der Überschrift „Steuer-
vergünstigungsabbaugesetz“ vorgelegt haben, bedeutet
eine massive Steuererhöhung für Bürger und Unterneh-
men.
Herr Kollege Spiller, Sie haben gesagt, das sei ein Spar-
paket. Ich sage Ihnen: Das ist kein Sparpaket. Es handelt
sich um Steuererhöhungen.
Wenn Sie sich einmal die Briefe von Unternehmen,
Bürgern und Arbeitnehmern anschauen, die ja nicht nur
wir bekommen, sondern die auch Sie bekommen, dann
stellen Sie fest, dass darin die tiefe Verzweiflung und die
Verunsicherung der Menschen in unserem Land aufgrund
Ihrer Politik zum Ausdruck kommt. Ich darf Ihnen einmal
vorlesen, was ein Bürger dieses Landes, nämlich Herr
Gerhard Peters, Konzernbetriebsrat bei Hochtief, mir ge-
schrieben hat – vielleicht hören Sie ja ein bisschen auf die-
jenigen aus der Gewerkschaftsecke –:
Eine Steuerpolitik, die in der Rezession derartig kri-
senverschärfend wirkt, wird weitere Arbeitsplätze ...
vernichten. ... Das Engagement der Arbeitnehmer-
vertreter und die partnerschaftliche Haltung der Un-
ternehmensleitungen werden nun bestraft.
776
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 777
Das ist die Auffassung, die ein Konzernbetriebsrat über
Ihre Steuerpolitik zum Ausdruck bringt. Das ist kein Ge-
schrei und das sind keine populistischen Äußerungen,
sondern das ist die Meinung von Arbeitnehmervertretern
und Arbeitnehmern, die Sie angeblich vertreten wollen.
Hören Sie doch auf diese Leute!
Bauwirtschaft, Kfz-Bau, Immobilienwirtschaft, Wer-
bemittelhersteller, Floristen, landwirtschaftlicher Han-
del – gegen alle führt die Bundesregierung mit diesem
Steuergesetz einen Schlag. Der gesamte Mittelstand wird
durch dieses Steuergesetz erneut höher belastet.
Als rote Linie in diesem Gesetz haben Sie allein fis-
kalpolitische Zielsetzungen. Schauen Sie sich bitte einmal
an, wie unausgereift Ihr eigener Gesetzentwurf, den Sie,
Herr Spiller, gerade vertreten haben, ist. Ich nenne einmal
das Stichwort „Investmentfonds“. In dem Entwurf ist
eine Doppelbesteuerung vorgesehen. Gleichzeitig erklärt
das Bundesfinanzministerium: Wir werden diese Doppel-
besteuerung nicht machen. – Das heißt, zu dem Zeitpunkt,
zu dem hier die erste Lesung stattfindet, erklärt das Mi-
nisterium bereits, dass das geändert werden wird. Vor die-
sem Hintergrund müssen Sie sich einmal fragen: Welches
Vertrauen sollen Anleger in Deutschland haben, welches
Vertrauen sollen Menschen am Markt überhaupt noch ha-
ben, wenn ihnen das Finanzministerium schon bei der
Vorlage des Gesetzentwurfs erklärt, dass das so nicht
kommen wird? Wie soll man an diesem Finanzplatz über-
haupt noch investieren?
Meine Damen und Herren, Sie haben eine massive Ver-
unsicherung der Öffentlichkeit betrieben
und Sie betreiben sie weiterhin. Das kostet Arbeitsplätze
und das kostet Wachstum in diesem Land.
In Ihrem Katalog ist zum Beispiel die Abschaffung des
Lifo-Verfahrens vorgesehen. Das ist viel zu kompliziert,
als dass es die Menschen im Lande verstehen. Wenn Sie
das Lifo-Verfahren tatsächlich abschaffen, bedeutet das,
dass die Lagerhaltung nicht mehr in Lagerhäusern, son-
dern auf der Landstraße oder außerhalb Deutschlands
stattfindet. Die rot-grüne Regierung ist doch aber gerade
angetreten, die Lagerhaltung von den Straßen in die La-
gerhäuser zu bekommen und nicht noch mehr Lagerhal-
tung auf die Straßen zu bringen. Wenn Sie das, was Sie
verkünden, nämlich die Zahl der Transporte auf der Straße
zu verringern, tatsächlich ernst meinen, dann müssen Sie
den Punkt, der die Lifo-Verfahren betrifft, dringend aus
Ihrem Gesetzentwurf streichen.
Angesichts der Beispiele, die ich eben genannt habe,
hoffe ich, dass es in Ihren Fraktionen noch den einen oder
anderen Fachkundigen gibt, der in den Anhörungen zu
diesem Gesetzentwurf zuhören wird – es werden dazu si-
cherlich noch Anhörungen stattfinden –, dass die Mei-
nungen der Sachverständigen aufgegriffen werden und
dass das, was von der Regierungsseite vorgegeben ist,
nicht einfach mit dem Abstimmungshammer durchge-
bracht wird.
Herr Kollege Spiller, Sie haben gesagt, es gehe um
mehr soziale Gerechtigkeit. Sehen wir uns dazu einmal
die Wertzuwachssteuer bei Wertpapieren an. Der Bör-
senspekulant, der Tageshändler, der Daytrader, bekommt
durch diesen Gesetzentwurf eine Steuerentlastung von
200 Prozent. Für den, der heute an der Börse kauft und
morgen verkauft und dabei Gewinn macht, wird die Be-
steuerung um 200 Prozent gesenkt. Für denjenigen, der
als Anleger an die Börse geht und langfristig in Aktien,
Wertpapieren oder Investmentfonds anlegt, um Alterssi-
cherung zu betreiben, erhöhen Sie die Besteuerung mas-
siv, nämlich von null auf 15 Prozent. Können Sie mir er-
klären, warum ein Börsenspekulant von Ihnen entlastet
und für ihn ein neues Steuerschlupfloch geöffnet wird und
warum derjenige, der etwas für die Alterssicherung tut,
gleichzeitig von Ihnen massiv belastet wird? Was hat das
mit sozialer Gerechtigkeit, was hat das mit Ihrem Wahl-
programm zu tun?
Sie wollen die völlige Abschaffung des Bankgeheim-
nisses nach § 30 a der Abgabenordnung. Ich bin der Mei-
nung, dass es durchaus richtig ist, zu einer gleichmäßigen
Besteuerung auch bei Kapitalerträgen zu kommen. Wir
können es nicht zulassen, dass ein Teil der Menschen in
unserem Land bei der Steuer ehrlich ist und dass andere
keine Steuern zahlen. Aber die Gerichte sagen uns eben
nicht, dass es dafür notwendig ist, das Bankgeheimnis ab-
zuschaffen; man kann dieses Ziel, wie das eben andisku-
tiert wurde, mit einer Abgeltungsteuer erreichen und da-
bei das Bankgeheimnis in unserem Land bewahren.
Deshalb bin ich der Meinung: Hören Sie endlich damit
auf, mehr Bürokratie, mehr Schnüffelei und mehr Regu-
lierung einzuführen. Herr Eichel hat heute Morgen gesagt,
er wolle in diesem Staat entbürokratisieren. Tun Sie das,
was er gesagt hat. An dieser Stelle können wir entbüro-
kratisieren, indem wir zu einer Abgeltungsteuer überge-
hen und nicht zur Aufhebung des Bankgeheimnisses und
all diesen Kontrollmitteilungen.
Jetzt ein paar Worte zu dem Thema Finanztableau. Sie
haben an das Finanztableau eine ganze Menge Erwartun-
gen; denn es ist das eigentliche Ziel Ihres Gesetzes, die
Einnahmen zu verbessern. Ich behaupte, Sie kalkulieren
die Ausweichreaktionen, die die Menschen unternehmen
werden, wenn dieser Entwurf Gesetz wird, nicht ein. Die
Menschen werden sich nicht weiterhin so verhalten wie
bisher, sondern werden andere Verhaltensweisen an den
Tag legen. Dann werden die Einnahmen, Herr Finanzmi-
nister, die Sie in das Finanztableau geschrieben haben,
nicht in der Höhe hereinkommen.
Das will ich am Beispiel der Dienstwagenbesteue-
rung deutlich machen. Die Pauschale – das ist schon er-
wähnt worden – wird von 1 Prozent auf 1,5 Prozent pro
Monat steigen. Was werden die Menschen tun? – Sie wer-
den zum Teil mehr Fahrtenbücher führen – das bedeutet
Dr. Michael Meister
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dr. Michael Meister
mehr Bürokratie bei den betroffenen Menschen und mehr
Bürokratie bei der Finanzverwaltung – oder werden auf
kleinere Dienstwagen umsteigen. In beiden Fällen wird
Ihnen nicht mehr Geld zukommen. Sie werden in beiden
Fällen keine Mehreinnahmen haben. Im Gegenteil: Sie
schwächen die Konjunktur und gefährden Wachstum und
Arbeitsplätze. Das ist das Ergebnis Ihrer Finanzpolitik,
ohne dass Sie im Haushalt zu einer Konsolidierung kom-
men.
Erlauben Sie mir einen weiteren Hinweis. Diese Bun-
desregierung hat eine Kommission zur Gemeindefinanz-
reform eingesetzt. Wir alle warten mit Spannung auf die
Ergebnisse dieser Kommission. Dabei wird unter ande-
rem die Gewerbeertragsteuer angesprochen werden. Man
wird überlegen müssen, wie das in Zukunft zu realisieren
ist. Jetzt liegt uns das Steuervergünstigungsabbaugesetz
vor, in dem die gewerbesteuerliche Organschaft abge-
schafft wird. Was hat das mit einem konsistenten Entwurf
von Steuerpolitik zu tun, wenn man eine Kommission ein-
setzt und dann wenige Wochen, bevor das Ergebnis vor-
gelegt wird, ein Gesetz macht, das Pflöcke einschlägt und
Festlegungen trifft? Ich bin der Meinung, dass man, wenn
man Kommissionen ernst nimmt, in einem Gesetz nicht
schon Festlegungen treffen kann. Warten wir das Ergeb-
nis der Kommission ab und entscheiden wir dann auf
Grundlage des Berichts dieser Kommission.
Es geht hier auch um das Thema Steuerausfall bei der
Körperschaftsteuer; der Bundesfinanzminister und Herr
Spiller haben das bereits erwähnt. Bund, Länder wie auch
Kommunen haben das Problem, dass aufgrund der Unter-
nehmensteuerreform 2000 massive Steuerausfälle bei der
Körperschaftsteuer zu verzeichnen waren, bis hin zu dem
Phänomen, dass in diesem Jahr, wie übrigens auch im
letzten, Körperschaftsteuer ausgezahlt wird. Das ist die
Folge Ihrer Unternehmensteuerreform 2000. Wir können
sie für die Jahre 2001 und 2002 leider nicht mehr korri-
gieren. Diese Schäden in den Haushalten haben Sie ver-
ursacht. Diese sind nicht mehr korrigierbar.
Natürlich ist es richtig: Wir sprechen über die Zukunft
unseres Landes. Für die Zukunft müssen wir hier Korrek-
turen vornehmen. Aber, lieber Herr Spiller, ich glaube, es
ist vollkommen falsch, wenn Sie jetzt eine Mindestbe-
steuerung einführen und die Verlustvorträge für die Zu-
kunft beschränken wollen. Wir müssen an dieser Stelle
eine Lösung suchen, um das Problem mit dem Körper-
schaftsteueraufkommen in den Griff zu bekommen. Bitte
machen Sie hier aber keine neuen Regulierungen wie bei
der Mindeststeuer.
Der Bundesfinanzminister hat zu Recht auf die kleinen
und mittelständischen Unternehmen hingewiesen. Eine
Mindeststeuer und eine Beschränkung des Verlustvortrags
würde nicht nur die Kapitalgesellschaften treffen, sondern
auch den Mittelstand und die Familienunternehmen.
Das bedeutet, dass wir den kleinen und mittelständischen
Unternehmen Liquidität entziehen und die Eigenkapital-
basis im Gegensatz zu dem, was der Finanzminister vor-
getragen hat, nicht stärken, sondern schwächen. Deshalb
fehlt Ihrem Gesetz vor dem Hintergrund von Basel II eine
Mittelstandskomponente. Darüber muss man nachdenken
und eine Lösung suchen, damit die öffentlichen Haushalte
ohne negative Folgen für Wirtschaft und insbesondere für
den Mittelstand konsolidiert werden.
Herr Spiller, wenn Sie im Gegensatz zu dem, was Sie
hier vorgelegt haben, tatsächlich eine Steuerpolitik für
Wachstum und Beschäftigung formulieren würden, dann
fänden Sie uns als Partner an Ihrer Seite. Dann könnten
wir darüber reden, wie wir diese Politik gemeinsam reali-
sieren.Wir sind für eine echte Steuerreform und für Steuer-
vereinfachungen. Aber das Entscheidende ist, dass die
Verbindung zwischen Verbreiterung der Bemessungs-
grundlage und Senkung des Tarifverlaufs erhalten bleibt
und nicht aufgelöst wird. Was Sie machen, ist: Sie ver-
breitern ständig die Bemessungsgrundlage – dieser Fall
liegt hier wieder vor, das bedeutet Steuererhöhungen –
und die Absenkung des Tarifverlaufs wird immer weiter
in die Zukunft verschoben.
Wie meine Vorredner heute Morgen habe ich das Ge-
fühl, dass das Jahr 2004 für die nächste Stufe der Steuer-
reform zwar im Gesetz steht, dass aber das Vertrauen, dass
diese Steuersenkung tatsächlich 2004 zum Tragen
kommt, nicht vorhanden ist. Deshalb, Herr Poß, werden
wir uns bei den Fragen von Wachstum und Beschäftigung
sowie bei der Generierung eines ordnungspolitisch ver-
nünftigen Steuersystems in diesem Land sehr wohl kon-
struktiv beteiligen. Aber wir lassen uns nicht als Mehr-
heitsbeschaffer für Steuererhöhungen missbrauchen, wie
Sie sie gegenwärtig vorhaben.
Der Bemerkung Ihres Fraktionsvorsitzenden, Herrn
Müntefering, vom Wochenende, dass der Finanzierung
des Staates Priorität vor den Bedürfnissen der Menschen
eingeräumt werden soll, möchte ich entgegenhalten: Für
uns steht der Mensch im Mittelpunkt unserer Politikbe-
trachtung. Wir machen Politik für die Menschen in diesem
Land.
– Nein, Sie machen Politik für den Staat, Herr Poß. Das ha-
ben Sie auch geschrieben. Sie sollen aber Politik für die
Menschen in diesem Land machen. Dabei geht es nicht um
Parteienstreit, sondern um den Blickwinkel auf Politik.
Rot-Grün misstraut den Menschen in diesem Land. Sie
misstrauen der Eigenverantwortlichkeit. Bei einer Staats-
quote von nahezu 50 Prozent wollen Sie die Staatsquote
weiter erhöhen.
Sie misstrauen den Menschen auch bei der Zukunfts-
vorsorge für das Alter. Ich mache Ihnen das am Beispiel
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 779
der Eigenheimzulage deutlich. Wir haben Sie in den letz-
ten zwölf Monaten vor der Wahl mehrfach gefragt: Haben
Sie vor, die Eigenheimzulage abzubauen? Die Antwort
aus der Bundesregierung und aus den Koalitionsfraktio-
nen war: Wir werden die Eigenheimzulage nicht abbauen.
Das ist in von Ihnen veröffentlichten Pressemitteilungen
nachlesbar. Jetzt aber haben Sie die Eigenheimzulage ab-
gebaut. Was soll man dazu sagen? Was hat das mit Ehr-
lichkeit zu tun? Ich kann hier nicht allzu viel an Wahrheit
erkennen.
Ferner: Stellen Sie sich eine Familie mit zwei Kindern
vor. Sie haben geschrieben, Sie wollten mehr für die Fa-
milien tun. Gleichzeitig nehmen Sie mit dieser Entschei-
dung einer Familie mit zwei Kindern rund 12 000 Euro
weg. Was hat das mit Familienförderung zu tun?
Sie fordern eine Gleichbehandlung von Alt- und Neu-
bau. Natürlich kann man über die Frage der Behandlung
von Alt- und Neubauten diskutieren. Aber ich bitte darum,
sich daran zu erinnern, dass es in der letzten Wahlperiode
Ihre Koalition war, die den Vorkostenabzug beim Altbau
abgeschafft und damit zur Ungleichbehandlung von Alt-
und Neubau beigetragen hat.
Jetzt beklagen Sie diese Ungleichbehandlung und wollen
durch die Kürzung beim Neubau wieder Gleichbehand-
lung herstellen. Ihr Ziel ist nicht Gleichbehandlung. Ihr
Ziel ist die Einschränkung der Förderung des selbst ge-
nutzten Wohneigentums, weil Sie die Menschen nicht in
selbst genutztem Wohneigentum haben wollen.
Wenden wir uns einmal dem Thema Subventionsab-
bau zu, Herr Spiller. Sie geben an, dass Sie Subventionen
abbauen wollen. Legen Sie doch einmal Ihren Entwurf ei-
nes Steuervergünstigungsabbaugesetzes neben den Sub-
ventionsbericht der Bundesregierung und vergleichen
Sie, welche Positionen, die Sie abbauen wollen, tatsäch-
lich in dem Bericht auftauchen. Haben Sie einen falschen
Bericht veröffentlicht, weil die Positionen, zum Beispiel
bei der Umsatzsteuer, nicht aufgeführt waren? Haben Sie
einen falschen Bericht erstellt und das Parlament und die
Öffentlichkeit falsch informiert? Oder reden Sie über
Subventionen, die nach Ihrer Meinung keine Subventio-
nen sind, weil Sie sie im Subventionsbericht nicht aufge-
führt haben? Sie müssen sich für eine Variante entschei-
den. Man kann nicht über Subventionen reden, die man
selbst nicht als Subventionen bezeichnet hat.
Herr Präsident, gestatten Sie mir abschließend noch
eine Bemerkung zum Stichwort „Vermögensteuer“. In
diesem Zusammenhang wird angeführt: Die Reichen sol-
len endlich Steuern zahlen. – Nehmen wir als Beispiel
eine Familie mit zwei Kindern, die sich ein Häuschen baut
und ein paar Mark für das Alter spart. Irgendwann ziehen
die Kinder aus und ein Ehepartner verstirbt. Dann bleibt
ein Freibetrag von 300 000 Euro, der durch das Haus auf-
gebraucht wird. Für das, was für das Alter angespart wur-
de, soll künftig Vermögensteuer gezahlt werden. Mit Ih-
rer Vermögensteuer besteuern Sie aber nicht die Reichen
in diesem Land, sondern die Witwer und Witwen!
Den sozialen Kahlschlag, den Sie damit betreiben, wer-
den Sie mit uns nicht machen können.
Das Wort hat nun der Kollege Lothar Binding, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich
habe heute alle Debattenredner gehört und möchte des-
halb eingangs etwas zur Form der Urteilsbildung und zu
den Ankündigungen der Opposition sagen, dass man hier
und da – Herr Meister hat eben einige Vorschläge ange-
deutet – recht gut zusammenarbeiten könnte, wenn die
Regierung nur wollte.
Ich glaube aber, dass die Form der Urteilsbildung und der
Stil unseres Umgangs miteinander definiert, ob so etwas
möglich ist.
Ich nenne ein Beispiel: Wenn jemand sagt, da habe sich
jemand geirrt, meine ich, dass das in Ordnung ist. Auch
dass sich jemand getäuscht habe, darf man sagen. Auch
dass jemand nicht alle Hoffnungen und Befürchtungen
formuliert hat, darf gesagt werden. Darf man aber, weil je-
mand einen vielleicht klugen, vielleicht auch weniger klu-
gen Vorschlag gemacht hat, wie Frau Merkel sagen, er
habe perverse Auffassungen? Das wurde nicht von ir-
gendjemandem am Stammtisch nach dem fünften Bier ge-
sagt, sondern es ist heute im „Tagesspiegel“ zu lesen. Dort
war auch etwas von Wahnvorstellungen zu lesen. Darf
man das sagen und damit eine Basis zerstören, auf der Sie
eben noch ein Gesprächsangebot gemacht haben?
– Sehen Sie, Sie verstärken genau diese Ebene der Aus-
einandersetzung noch. Exakt das ist das Übel.
Jemand hat von einem „Amoklauf“ gesprochen oder
– was ich noch schlimmer fand – von einem Aufruf zum
Widerstand. Das klingt zwar modern, aber das Lahmlegen
von Finanzämtern bedeutet etwas anderes. Das ist die im-
plizierte Legalisierung und Belohnung im Urteil derjeni-
gen, die gar keine Steuern mehr zahlen. Das hat auch eine
Gerechtigkeitskomponente: Wenn niemand mehr Steuern
zahlt, haben tatsächlich alle das Gleiche gezahlt. Das
stimmt. Damit verhält es sich ähnlich wie mit der FDP-
Idee, wenn jeder an sich selber denke, sei auch an jeden
gedacht. Damit muss man aber sehr vorsichtig sein.
Dr. Michael Meister
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Lothar Binding
Es gibt aber auch eine Aufgabe der Opposition. Diese
Aufgabe besteht auf der einen Seite darin, Kritik an unse-
ren Konzepten zu formulieren, auf der anderen Seite ist
aber auch der kritische Vergleich der eigenen Konzepte mit
denen der Regierung anzustreben. Das funktioniert aber
nur dann, wenn man ein eigenes Konzept vorlegt. Wenn
man die eine Hälfte vollständig vergisst, dann hat man
seine Rolle als Opposition nicht seriös wahrgenommen.
Ich meine sogar, dass es noch schlimmer ist. Das Fehlen
eines eigenen Konzepts, kombiniert mit den eben erwähn-
ten Zitaten „perverse Auffassungen“, „Wahnvorstellungen“
und „Amoklauf“ – vorhin sprach sogar jemand, es war wohl
Herr Austermann, in einem Zwischenruf von „Steuerterror“,
und das angesichts dessen, wie das Wort „Terror“ gerade
zurzeit belegt ist –, zeigt, dass die Opposition Urteile fällt,
die sie früher oder später in ihrer Aufgabe der Wahrung
der Demokratie selber einholen.
Das ist eine große Gefahr.
Es gibt aber auch Wahrnehmungsunterschiede. Ich
zitiere noch einmal Herrn Austermann. Er hat behauptet,
1998 sei die Arbeitslosigkeit gesunken – wenn ich mich
richtig erinnere, lag die Zahl der Arbeitslosen damals trotz
ABM bei 4,8 Millionen – und das Wachstum habe bei
3 Prozent gelegen.
– Es geht nicht um Wahrnehmungsprobleme, sondern um
die Statistik. – Wenn ich mich nicht täusche, dann sind
3 Prozent mehr als 2 Prozent. Das Wachstum lag damals
bei 2 Prozent. Sie behaupten aber, dass es 3 Prozent ge-
wesen seien. Wenn ich Ihr Urteil reflexiv auf Sie an-
wende, dürfte ich dann das Wort „Lüge“ benutzen? Denn
Sie haben ja gerade in der jetzigen Debatte behauptet, das
Wachstum habe 1998 bei 3 Prozent gelegen. Es waren
aber, wie gesagt, nur 2 Prozent. Das war wahrscheinlich
nur ein „Wahrnehmungsunterschied“.
Sie haben des Weiteren sinngemäß gesagt, die Sozial-
kassen seien damals übervoll gewesen. Wenn ich mich
richtig erinnere, dann hatten wir damals Probleme mit der
Rentenversicherung, der Krankenversicherung, der Ar-
beitslosigkeit und der Staatsverschuldung.
Das sind vier „kleinere“ Probleme, die wir zwar noch
nicht gelöst haben. Aber wir haben uns auf den Weg ge-
macht, sie zu lösen.
Wir haben aber auch ein Definitionsproblem. Das be-
ginnt aus meiner Sicht beim Begriff des Mittelstandes.
Wenn die Kollegen von der CDU/CSU das Wort „Mittel-
stand“ benutzen, dann klingt das immer so, als ob sie den
Handwerker um die Ecke oder den Unternehmer, der viel-
leicht fünf oder zehn Angestellte hat, meinten. Die volks-
wirtschaftliche Definition geht aber davon aus, dass all
diejenigen Unternehmen zum Mittelstand gehören, die ei-
nen Umsatz von bis zu 50 Millionen Euro und bis zu
500 Mitarbeiter haben. Das ist die erste Definition. Die
zweite geht von den Personengesellschaften aus. Je nach-
dem, in welchem Kontext Sie über den Mittelstand disku-
tieren, benutzen Sie wahlweise einmal den einen und ein-
mal den anderen Begriff. Das kann man leicht erkennen.
Sie behaupten, wir hätten nicht dem Mittelstand, sondern
nur den Aktiengesellschaften und den GmbHs geholfen.
Sie vergessen dabei natürlich, die mittelständischen
GmbHs zu erwähnen; denn deren Steuerbelastung haben
wir auf 25 Prozent – das ist der Körperschaftsteuersatz –
gesenkt. Das ist eine wunderbare Sache. Deshalb haben
wir auch diesem Teil des Mittelstandes geholfen.
Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass wir der anderen
Mittelstandskomponente, den Personengesellschaften,
nicht geholfen hätten. Den Personengesellschaften haben
wir in der Tat nicht durch Steuersenkungen helfen kön-
nen; denn diese zahlen überhaupt keine Steuern. Der Ge-
winn einer Personengesellschaft – das ist vielleicht nicht
so bekannt – wird nicht besteuert, sondern – wie durch ein
Wunder – dem Einkommen des Anteilseigners zugerech-
net und als Einkommen versteuert. Die Einkommensteuer
haben wir definitiv gesenkt. Deshalb haben wir auch den
kleinen und mittleren Betrieben des Mittelstandes, die in
der Rechtsform der Personengesellschaft organisiert sind,
in erheblichem Maße geholfen.
Es ist also wichtig, die unterschiedlichen Definitionen
von „Mittelstand“ auseinander zu halten; denn nur dann
kann man den Wahrheitsgehalt einer Aussage überprüfen.
Wir haben mit Sicherheit aber auch ein Problem mit dem
Begriff der Subvention. Ein Kollege sagte vorhin, wenn er
für Subventionsabbau plädiere, dann habe er 120 Prozent
Zustimmung. Wenn aber jemand einen konkreten Vorschlag
zum Subventionsabbau macht, dann wird sich derjenige
– das wird niemanden hier verwundern – gegen den Abbau
der Subvention wehren, der von der Subvention bisher pro-
fitiert hat. Deshalb bekommen wir entsprechende Briefe.
Ich finde es auch in Ordnung, dass sich diejenigen beschwe-
ren, denen man die Subvention streicht. Diese vergessen
aber, dass jede Subvention, die ein Einzelner, eine Gruppe
oder eine Branche erhält, von allen Steuerzahlern finanziert
werden muss. Natürlich vermissen wir die Dankesbriefe der
Steuerzahler, wenn wir Subventionen streichen.
780
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 781
Auch die Senkung der Einkommensteuer und der Körper-
schaftsteuer muss von allen Steuerzahlern finanziert wer-
den, also auch von denjenigen, die jetzt auf Subventionen
verzichten müssen.
Herr Meister, unser Ansatz ist, die Bemessungsgrund-
lage zu verbreitern, die steuerlichen Ausnahmen – Jörg-
Otto Spiller hat ja alle aufgezählt – zu beseitigen und die
Steuersätze zu senken. Wenn Sie sich richtig erinnern,
dann müssen Sie zugeben, dass wir das auch erreicht ha-
ben; denn 25,9 Prozent Einkommensteuersatz sind mehr
als 15 Prozent. Momentan sind es 19 Prozent, ungerade.
Auch nach Ihrer Rechnung dürften 40 Prozent mehr sein
als 25 Prozent. Sie sehen also, dass die Steuersätze gesenkt
wurden und dass die Bemessungsgrundlage verbreitert
wurde. Das entspricht Ihrem Kompromissvorschlag. Er
steht aber schon im Gesetz. Das gilt auch für 2004 und
2005. Insofern ist das, was Sie vorschlagen, leider kein
neues Konzept. Das hätten wir gerne gehabt.
Man muss aber zugeben: Spurenelemente eines eige-
nen Konzepts hat heute Herr Merz vorgetragen. Er hat zu
Herrn Eichel hinübergesehen und gesagt: Ich mache Ih-
nen den Vorschlag ... – das korrigierte er gleich –, ich ma-
che Ihnen das Angebot, noch vor Jahresende über das
Scheinselbstständigengesetz zu sprechen. Anschließend
kamen noch vier Aspekte und er fasste zusammen: Ich
mache Ihnen den Vorschlag, darüber zu reden, eine intel-
ligente Lösung bei der Flexibilisierung zu finden. Als ob
für unsere Probleme das einzig mögliche Konzept sei, da-
rüber zu reden, die Flexibilisierung zu verbessern.
Als konkretes Beispiel nannte er den Kündigungsschutz.
Was bedeutet es jedoch im Ergebnis, Ihren Begriff „Kün-
digungsschutz“ mit Flexibilisierung zu kombinieren? –
Das bedeutet Abschaffung des Kündigungsschutzes.
Dann soll man das auch so benennen.
Im Rückblick und wenn man über Konsequenzen nach-
denkt, die man heute als Spätfolgen einer Politik, die vor
unserer Zeit liegt, zu ziehen hat, möchte ich auf Folgendes
hinweisen: In den 80er- und 90er-Jahren gab es Flexibilisie-
rung und keine Ökosteuer. Wir hatten weltwirtschaftliches
Wachstum. Die Inflationsrate war erträglich. Wir hatten mit
den Fördergebietsgesetzen ein Wahnsinnsprogramm. Die
Gewinnsteuern konnten ohne Ende weggestaltet werden.
Was ist in all dieser wunderschönen Landschaft passiert? –
Die Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung sind ge-
stiegen. Das aufzuräumen ist heute unsere Aufgabe. Ich
meine, ausgehend von dieser schwierigen Basis haben wir
schon einiges geleistet.
Jetzt komme ich auf einzelne Punkte zu sprechen, die,
wenn man Ihr Vokabular benutzen würde, vielleicht sozu-
sagen zum Grenzfall der Lüge hin definiert werden könn-
ten. Aber ich sage einmal: Das waren Irrtümer und viel-
leicht mangelnder Sachverstand. Der Kollege Merz sagte
heute, es habe ein Körperschaftsteuergeschenk gegeben.
Die versteuerten Unternehmensgewinne seien im Nach-
hinein entlastet worden in der Annahme, dass die EK 45
und die EK 40 auf 25 Prozent heruntergezogen würden.
Das entspricht aber nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist:
EK 45 und EK 40 gingen nur auf 30 Prozent zurück. Des-
halb hat Herr Merz an dieser Stelle – ich möchte es vor-
nehm sagen – nicht die Wahrheit erreicht.
– Das ist natürlich möglich. Wenn einer etwas nicht weiß,
werfe ich es ihm nicht vor. Deshalb habe ich gesagt: „Die
Wahrheit nicht erreicht.“ Dann bin ich auf der sicheren
Seite.
Dabei hat er vergessen, dass wir die Verlustvorträge, die
damals entstanden sind, in der letzten Legislaturperiode ver-
kraften mussten. Für die Zuschauer im Saal sage ich: Erst
wir haben damit aufgehört, dass nicht wie früher die Kör-
perschaftsteuer dem Staat nur geborgt wurde. Wenn eine
Aktiengesellschaft eine Körperschaftsteuer in den Steuer-
topf von Waigel gegeben hat, dann hat er diese ausgegeben
und ein paar Schulden gemacht. Hans Eichel musste die
Körperschaftsteuer einige Jahre später an die Anteilseigner
wieder auszahlen. Es war also eine geliehene Steuer. Das ist
heute nicht mehr so. Das ist eine ganz wichtige Sache.
Ich komme nun auf ein schönes, aber falsches Bild zu
sprechen. „Beton statt Bildung“ war ein wunderbares
Motto. Artikel 104 a des Grundgesetzes bezieht sich auf
investive Mittel. Das bedeutet eben nicht nur Beton – das
ist auch ein Wahrnehmungsunterschied –, sondern das
sind die Mittel für Bibliotheken und deren Einrichtungen,
sodass man sich vielleicht, wenn man den Begriff „Beton“
weit genug fasst, vorstellen muss, dass künftige Bücher
von Merz aus Beton sind.
Es wurde auch gesagt, die Steuerbelastung habe den
Höchststand erreicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass
die Steuerquote nach dem Urteil des Sachverständigenra-
tes so niedrig ist wie seit elf Jahren nicht mehr und die Ab-
gabenquote – ich nenne aus der Tabelle ein unverdächtiges
Datum – 1987 bei 38,8 Prozent lag. Heute liegt sie bei
38,5 Prozent. Nach meiner Einschätzung ist 38,8 Prozent
mehr als 38,5 Prozent.
Ein weiteres unverdächtiges Datum ist das Jahr 1995.
Herr Kollege, bevor Sie sich ganz in die Tabellen ver-
tiefen, möchte ich Sie an Ihre Redezeit erinnern, die be-
reits überschritten ist.
Dann sage ich nur noch die eine Zahl, aber nur um he-
rauszufinden, ob ich richtig, also näher bei der Wahrheit,
Lothar Binding
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Lothar Binding
liege. 1995 lag die Abgabenquote bei 41,2 Prozent. Das ist
meines Wissens auch mehr als 38,5 Prozent.
Mit Blick auf diese beiden Korrekturen der Aus-
führungen von Herrn Merz, die man durchaus bei den
Mittelstandsdarlehen hätte fortsetzen können, möchte ich
schließen und Sie, Herr Meister, bitten: Machen Sie Ernst
mit Ihrem Angebot einer neuen Sprache, einer neuen Mo-
ral, einer neuen ethischen Grundlage in der Finanzpolitik.
Dann kommen wir gut zusammen.
Weitere Wortmeldungen zu diesen Tagesordnungspunk-
ten liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/119, 15/122 und 15/123 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist anscheinend
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d sowie den
Zusatzpunkt 3 auf:
7. a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedoni-
schem Territorium zur weiteren Stabilisierung
des Friedensprozesses und zum Schutz von Be-
obachtern internationaler Organisationen im
Rahmen der weiteren Implementierung des
politischen Rahmenabkommens vom 13. August
2001 auf der Grundlage des Ersuchens des ma-
zedonischen Präsidenten Trajkovski vom 21. No-
vember 2002 und der Resolution 1371
des Sicherheitsrates derVereinten Nationen vom
26. September 2001
– Drucksache 15/127 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 18. Februar 2002 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Republik Polen über die
Zusammenarbeit der Polizeibehörden und der
Grenzschutzbehörden in den Grenzgebieten
– Drucksache 15/11 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 26. Juli 2001 zwischen der Bundes-
republik Deutschland und der Tschechischen
Republik über den Bau einer Grenzbrücke an
der gemeinsamen Staatsgrenze in Anbindung an
die Bundesstraße B 20 und die Staatsstraße I/26
– Drucksache 15/12 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurNeurege-
lung des internationalen Insolvenzrechts
– Drucksache 15/16 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz einer Inter-
nationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan auf Grundlage der Resolutionen
1386 vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002)
vom 23. Mai 2002 und 1444 vom 27. No-
vember 2002 des Sicherheitsrates derVereinten
Nationen
– Drucksache 15/128 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Gibt es dazu Einvernehmen? – Das ist offen-
sichtlich der Fall. Dann sind diese Überweisungen be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 a auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 1 zu Petitionen
– Drucksache 15/57 –
Wer für die Sammelübersicht auf Drucksache 15/57
stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die Sammelüber-
sicht 1 einstimmig angenommen.
782
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 783
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 2 zu Petitionen
– Drucksache 15/58 –
Wer stimmt der Sammelübersicht 2 zu Petitionen auf
Drucksache 15/58 zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Auch dies ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 3 zu Petitionen
– Drucksache 15/59 –
Wer stimmt der Sammelübersicht 3 zu Petitionen auf
Drucksache 15/59 zu? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Sie ist einstimmig angenommen.
Wir kommen dann zu Tagesordnungspunkt 8 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 4 zu Petitionen
– Drucksache 15/61 –
Wer stimmt für die Sammelübersicht 4 auf Drucksa-
che 15/61? – Möchte jemand gegen diese Übersicht stim-
men? – Enthaltungen? – Sie ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 5 zu Petitionen
– Drucksache 15/62 –
Wer stimmt für die Sammelübersicht 5 auf Drucksa-
che 15/62? – Gibt es Gegenstimmen? – Wer enthält sich? –
Dann ist diese Sammelübersicht 5 mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion sowie mit
einzelnen Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion gegen
den überwiegenden Teil der CDU/CSU-Fraktion be-
schlossen.
– Wenn das so ist, korrigieren wir das sofort im Protokoll.
Ich muss aber die Abstimmungsergebnisse so festhalten,
wie sie hier kundgetan wurden.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit auf. Zur Eröffnung der Aussprache erteile ich Bun-
desminister Jürgen Trittin das Wort.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Umwelt-
politik hat natürlich ebenfalls etwas mit Zahlen zu tun. Auch
das Umweltministerium ist in diesen schwierigen Zeiten
gehalten gewesen, Einsparungen zu erbringen. Sie kön-
nen dem heutigen Haushaltsentwurf entnehmen, dass das
Umweltministerium dies in vorbildlicher Art und Weise
leistet. Zwar ist die Masse der Umweltausgaben der Bun-
desregierung nicht im Haushalt des Bundesumweltminis-
teriums ausgewiesen, sondern diese Ausgaben verteilen
sich auf verschiedene Einzelpläne – der größte Batzen
entfällt wohl immer noch auf den Einzelplan des Kolle-
gen Clement –, aber das Umweltministerium hat, obwohl
auf diesen Einzelplan nur 0,2 Prozent des Gesamthaus-
haltes entfallen, immerhin 1,56 Prozent der globalen Min-
derausgabe erwirtschaftet. Nun könnte man sagen, wir
seien bei solchen Maßnahmen sehr bereitwillig. Schauen
wir also, was dabei herausgekommen ist.
Obwohl wir konsequent Konsolidierung betrieben ha-
ben, haben wir seit 1998 zum Beispiel die Ausgaben für
die Förderung von Umwelt- und Naturschutzverbän-
den, das heißt auch für das bürgerschaftliche Engage-
ment, um immerhin 71 Prozent steigern können. Obwohl
wir uns in einer Situation der Konsolidierung befunden
haben, haben wir so viel neue große Naturschutzprojekte
wie nie zuvor begonnen. Obwohl Einsparungen angesagt
sind, geben wir auch im nächsten Jahr gerade zum Erhalt
gesamtstaatlich repräsentativer Naturflächen in der Bun-
desrepublik Deutschland 18 Millionen Euro aus. Wir
kümmern uns also um das nationale Naturerbe. Ich sage
das in dieser Haushaltsdebatte vorweg, weil es in den ak-
tuellen Schwerpunktdebatten über Umweltpolitik viel-
fach vergessen wird.
Ich komme auf unsere Schwerpunkte in der nächsten
Zeit zu sprechen.
Erster Schwerpunkt. Wir wollen die fünf Punkte des Pa-
kets mit Maßnahmen zum vorbeugenden Hochwasser-
schutz umsetzen. Dazu ist es notwendig, dass das Geld,
das das Umweltministerium zum Beispiel für die Wieder-
herstellung von Auwäldern im Biosphärenreservat Mitt-
lere Elbe zur Verfügung hat, ebenso wie das Geld gesichert
wird, das wir benötigen, um in der Prignitz am „Bösen Ort“
Deiche zurückzuverlegen und natürliche Überschwem-
mungsflächen wiederherzustellen. Wir wollen dafür sor-
gen, dass der Magdeburger Domfelsen nicht abgefräst
wird. Wir werden dafür sorgen, dass das Stauwerk in Dö-
mitz nicht gebaut wird. Die dafür vorgesehenen Mittel
sollten – ich wünsche mir das – für die Herausnahme der
Unteren Havel aus dem Netz der Bundeswasserstraßen
noch vor 2006 verwendet werden, wie wir es uns ge-
meinsam vorgenommen haben.
Zweiter Schwerpunkt. Wir müssen den Prozess von
Kioto fortsetzen. Das gilt auch und gerade für die zweite
Verpflichtungsperiode, also für die Zeit bis zum Jahre
2012, das uns jetzt fern zu sein scheint. Wir haben – auch
als Signal an jene Länder, die bis heute noch keine Re-
duktionsverpflichtung eingegangen sind; ich rede hier
nicht nur von Industrieländern – ein ambitioniertes Ziel
für Europa festgelegt. Die Bundesrepublik Deutschland
will bis zum Jahre 2020 eine Reduktion um 40 Prozent er-
reichen, wenn Europa das Ziel einer Reduktion um
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Jürgen Trittin
30 Prozent erreicht. Eine Reduktion in Deutschland um
40 Prozent bedeutet für die Europäische Union bereits
eine Reduktion um 10 Prozent.
Ich will an dieser Stelle eines in aller Deutlichkeit sagen:
Es gibt viel Streit über die Frage, welches die richtigen In-
strumente beim Klimaschutz – ich nenne zum Beispiel den
Emissionshandel – sind. Gerade mit Blick auf Europa
möchte ich festhalten: Europa hat bis 1999 168,8 Mil-
lionen Tonnen CO2-Äquivalente eingespart. Das entspricht4 Prozent, also der Hälfte der Gesamtverpflichtung. Die
Bundesrepublik Deutschland allein hat dabei 224,2 Mil-
lionen Tonnen CO2-Äquivalente eingespart, mehr als dieEU insgesamt bis 1999.
Bei allem Streit über Instrumente will ich betonen: Die
Bundesrepublik Deutschland wäre zur Erreichung ihrer
Kioto-Verpflichtung nicht auf ein Instrument wie dem
Emissionshandel angewiesen. Aber eines sage ich auch
und insbesondere in Richtung unserer Wirtschaft: Gerade
weil wir Vorreiter gewesen sind und gerade weil die
frühen Reduktionen anerkannt werden, wird die deutsche
Volkswirtschaft vom Emissionshandel profitieren. Wo,
außer in der Bundesrepublik Deutschland, soll man Emis-
sionsrechte kaufen? Hier ist eingespart worden.
Dritter Schwerpunkt: Energiepolitik. Wir wollen den
Ausstieg aus der Atomenergie selbstverständlich fortset-
zen. Wir werden es nicht mit ansehen, dass jetzt in Europa
über die Europäische Kommission versucht wird, durch
das Bereitstellen zusätzlicher Mittel den Neubau von
Atomkraftwerken und über Nachrüstungen die Verlänge-
rung der Laufzeit vorhandener Atomkraftwerke herbeizu-
führen, nach dem Motto: Schafft ein, zwei, drei, viele Te-
melins! Das kann nicht unsere Politik sein.
Wir wollen die Politik des Ausbaus der erneuerbaren
Energien und der Stärkung der Energieeffizienz fortsetzen.
Wenn es ein Beispiel gibt, wo die Politik der Schaffung
neuer Arbeitsplätze mit der ökologischen Modernisierung
zusammengeht, dann ist es die Politik der erneuerbaren
Energien. Wir haben im Bereich der erneuerbaren Ener-
gien in den letzten Jahren ungefähr 70 000 neue Arbeits-
plätze entstehen lassen. Diesen Kurs wollen wir fortset-
zen. Wir werden in den nächsten Jahren Anlagen mit
500 Megawatt Leistung offshore installieren. Das geht
nur, wenn wir mit der Ausweisung von Schutzgebieten
wie von Vorranggebieten zügig vorankommen.
Wir wollen den Anteil erneuerbarer Energien bei der
Wärmenutzung durch die Verdopplung der Sonnenkol-
lektorfläche steigern. Für all dies – jetzt komme ich zum
Haushalt des BMU zurück – werden Sie künftig mit ei-
nem größeren Anteil des Umwelthaushaltes am Gesamt-
haushalt rechnen müssen, weil die Kompetenzen im Be-
reich erneuerbarer Energien dies erfordern.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen: Um-
weltschutz und Arbeitsplätze spielen auch in einem ande-
ren Bereich eine Rolle. Es geht auch darum, ob in
Deutschland mittelständische Brauereien, mittelständi-
sche Abfüller und Getränkefachhändler weiterhin eine
Zukunft haben oder ob sie von den Großen mittels Einweg
verdrängt werden.
Dass heute, fünf Jahre nachdem die Mehrwegquote erst-
mals unterschritten worden ist und acht Monate nachdem
wir der Industrie der Einwegseite zusätzliche Zeit zur
Umsetzung der Pfandpflicht eingeräumt hatten, gesagt
wird: „Wir sind aber nicht bereit“, haben diejenigen zu
verantworten, die mit einer blanken Spekulation auf einen
anderen Wahlausgang das Notwendige bei der Umset-
zung geltenden Rechtes versäumt haben.
Es geht bei der Umsetzung des Pflichtpfandes in
Deutschland auch darum, den 250 000 Beschäftigten in
den kleinen Brauereien, bei den mittelständischen Abfül-
lern und im Getränkefachhandel endlich Sicherheit in Be-
zug auf ihre Zukunft zu geben. In diesem Sinne freue ich
mich auf eine Debatte über den Umwelthaushalt.
Erster Redner in der Aussprache ist der Kollege
Dr. Paziorek, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer sich
die Entwicklung des Umwelthaushalts in den letzten Jah-
ren vor Augen hält und wer die Planungen für das Haus-
haltsjahr 2003 mit den Einzelplänen anderer Ressorts der
Bundesregierung vergleicht, der muss leider erkennen,
wie gering die Bedeutung des Umweltressorts in dieser
rot-grünen Koalition geworden ist. Umweltpolitik wird zu
einem bloßen Feigenblatt rot-grüner Politik degradiert.
Dieser Bedeutungsverlust verwundert nicht; denn der
rot-grünen Mehrheit ist nach dem Abarbeiten des so ge-
nannten Atomausstiegsgesetzes im umweltpolitischen
Bereich die Thematik ausgegangen. Der Haushaltsplan
für den Umweltbereich ist geprägt durch viele dunkle
Löcher. Entweder fehlen Ihnen die Zielvorstellungen oder
es fehlen Ihnen die für eine gute Umweltpolitik nötigen
Finanzmittel. Dieser Entwurf bringt die Umweltpolitik in
Deutschland nicht nach vorne. Dieser Entwurf ist letztlich
nichts anderes als ein Rückschritt für die Umweltpolitik
hier in Deutschland.
784
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 785
So soll zum Beispiel im nächsten Jahr der Haushalt des
BMU – der Minister ist ja verkürzt und knapp darauf ein-
gegangen, hat aber nicht die Gesamtzahlen genannt – um
16,3 Millionen Euro – das sind exakt 3 Prozent – gekürzt
werden. Natürlich werden Sie, Herr Minister, dann darauf
verweisen, dass ein Großteil dieser Kürzung durch Ein-
sparungen bei den Erkundungen im so genannten Endla-
gerbereich zustande kommen soll. Aber an dieser Stelle
muss doch schon gleich die Kritik ansetzen. Sie gehen zu
zögerlich an die Frage heran, wo in Deutschland ein End-
lager errichtet werden soll.
– Herr Müller, Ihr Wahlkreis Düsseldorf wäre vielleicht
genauso gut geeignet.
Sie haben selbst erklärt, dass Sie mit dem Standortbe-
stimmungsverfahren erst – man muss sich das einmal
vor Augen führen – im Jahre 2006 beginnen wollen, also
nach der nächsten Bundestagswahl. Was haben Sie sich in
dieser Frage eigentlich für die nächsten vier Jahre dieser
Legislaturperiode vorgenommen? Es ist doch offenkun-
dig: Sie wollen die Entscheidung über diese Standortfrage
höchstwahrscheinlich so lange politisch vor sich her-
schieben, bis Sie mit all den Problemen klargekommen
sind, die Sie in dieser Frage mit Ihrer Basis haben.
Wenn man das für richtig hält, dann ist man verant-
wortungslos. Deshalb sagen wir ganz deutlich: Hören Sie
auf, in der Frage des Endlagers alles zeitlich hinauszu-
schieben! Seien Sie verantwortungsbewusst und fangen
Sie so schnell wie möglich mit dem Prozess an! Auch
wenn man es für richtig hält, dass die Frage der Standort-
entscheidung gesellschaftlich breit diskutiert wird, ist kein
Grund zu erkennen, diesen Entscheidungsprozess erst
nach 2004 zu beginnen. Deshalb packen Sie es sofort an,
weichen Sie nicht aus und sehen Sie dafür auch die not-
wendigen Haushaltsmittel vor!
Dann sagen Sie: Ich will weitere 8 Millionen Euro ein-
sparen. Dazu werden – so steht es im Haushaltsplanent-
wurf – die Entscheidungen im Rahmen der Haushalts-
führung im Laufe dieses Haushaltsjahres getroffen werden.
Aber wo Sie die 8Millionen konkret einsparen wollen, sa-
gen Sie in diesem Haushaltsplan nicht. Warum tun Sie das
nicht? Ist diese Frage für das Parlament nicht interessant?
Wollen Sie angesichts der jetzt schon knappen Haushalts-
mittel im Umwelthaushalt eine Diskussion über eine wei-
tere Einsparung von 8 Millionen eventuell gar nicht hier
im Parlament führen? Nach welchen Prinzipien wollen
Sie kürzen? Das sind doch Fragen, die die umweltpoli-
tisch interessierte Öffentlichkeit stellt. Aber dafür gibt der
Entwurf dieses Haushaltsplanes keine Handhabe und das
ist aus unserer Sicht letztlich nicht zu verantworten.
Für alles, was in Grundsatzreden von Rot und Grün
großspurig als Modernisierung der Gesellschaft durch
Umweltpolitik angekündigt wird, findet sich hier im De-
tail gar nichts. Wenn Sie einige Haushaltsstellen vorse-
hen, dann ist die finanzielle Ausweisung so gering, dass
damit praktisch nichts bewirkt werden kann. Sie haben
letztlich auch gar keinen finanziellen Spielraum für eine
verantwortungsbewusste Umweltpolitik. Deshalb kann
man sagen: Sie haben kein inhaltliches Konzept, um die
Umweltpolitik voranzubringen, Sie haben auch nicht die
erforderlichen finanziellen Mittel vorgesehen, um da, wo
es wichtig ist, die Umweltpolitik zu erneuern, und wo Sie
etwas tun, ist es, wie zum Beispiel bei der Windkraft, zu
ineffektiv und zu teuer. Das ist der große Vorwurf, den
man Ihnen machen muss.
Es wird ja noch interessanter: Sie beschließen hier im
Bundestag ein Atomausstiegsgesetz und in Nordrhein-
Westfalen erteilt Ihr Parteifreund, der zuständige Minister
Michael Vesper, nach öffentlicher Ausschreibung für die
weitere Stromversorgung landeseigener Liegenschaften
einem Stromanbieter den Zuschlag, der auch Strom eines
französischen Atomstromproduzenten anbietet. Das
muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen:
Rot-Grün beschließt auf Bundesebene ein Ausstiegsgesetz
und in Nordrhein-Westfalen – das ist ein spezielles Thema
auch für Sie, Herr Kubatschka – wird durch Rot-Grün im
Zuge eine Lieferung von rund 1 Milliarde Kilowattstun-
den Atomstrom aus dem Ausland eingekauft, um jährlich
3,7 Millionen Euro einzusparen.
Diese Doppelzüngigkeit muss man sich wirklich einmal
vor Augen führen. Hier werden große Erfolge verkauft
und vor Ort wird eine Politik betrieben, bei der man sagt:
Aus finanziellen Gründen müssen wir jetzt die Vorteile
des Atomstroms in Kauf nehmen. Meine Damen und Her-
ren, das ist keine verantwortungsbewusste Umweltpolitik,
das ist Taktieren, nur um die eigene Basis zufrieden zu
stellen. So wird man in der Umweltpolitik auf Dauer nicht
erfolgreich sein können.
Der Minister hat gerade auch angesprochen, dass der
ganze Bereich der erneuerbaren Energien zukünftig in sei-
nen Aufgabenbereich fallen wird. Die Bereiche For-
schung und Entwicklung erneuerbarer Energieträger und
das Markteinführungsprogramm werden im BMU ange-
siedelt sein. So schön, so gut. Nun aber stellt sich die zen-
trale Frage: Wer bringt nach dem Wechsel der Zuständig-
keiten nun das Geld für neue Verwaltungsstrukturen und
für die Fördermittel auf? Dazu steht in einer Fußnote im
Haushaltsplanentwurf, dass die finanziellen Mittel für
diese neuen Aufgaben aus der Besteuerung der erneuer-
baren Energien stammen werden. Was soll denn dieser
Blödsinn? Erst besteuert man die erneuerbaren Energien,
die aus umweltpolitischen Gründen gar nicht besteuert
werden dürfen, und dann gibt man das dadurch verein-
nahmte Geld für neue und weitere erneuerbare Energien
aus.
Diejenigen, die sich gut und richtig verhalten, werden mit
einer Ökosteuer belegt, bekommen das Geld aber gar
Dr. Peter Paziorek
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dr. Peter Paziorek
nicht zurück, wie es nach dem Grundsatz der Anreizför-
derung eigentlich geschehen müsste; vielmehr wird das
Geld einfach an andere weitergegeben. Mit einer ökologi-
schen Sinnhaftigkeit hat diese Vorgehensweise überhaupt
nichts mehr zu tun.
Vielleicht unterstützen Sie das, weil dadurch Ihr schmaler
Bundeshaushalt zumindest an dieser Stelle um einige Mil-
lionen Euro aufgewertet wird. Aber dieses ökologisch be-
denkliche Geschäft bringt Sie als Umweltminister finanz-
politisch auch nicht weiter.
Sie haben im Bundeshaushalt, so sagt der schriftliche
Begleittext, 4,4 Milliarden Euro für Umweltschutzaus-
gaben veranschlagt. Mit 533 Millionen Euro – das sind
12,1 Prozent – ist der Bundesumweltminister bei der Fi-
nanzierung dieser Umweltaufgaben dabei. Es stellt sich
jetzt die spannende Frage: Wieso sind die finanziellen
Mittel für das BMU so gering veranschlagt? Wenn man
sich diese geringen finanziellen Mittel einmal vor Augen
führt, kommt man zu dem Ergebnis, dass Sie, Herr Bun-
desumweltminister, ein König ohne Reich sind.
Da hilft auch Ihr Hinweis nicht, Umweltschutz sei eine
Querschnittsaufgabe.
Natürlich ist Umweltschutz eine Querschnittsaufgabe.
Aber es stellt sich doch die Frage, Frau Hustedt: Warum
wird der Minister aus dem Teil der Umweltpolitik, der das
operative Geschäft beinhaltet, herausgehalten? Es stellt
sich auch die Frage, warum die rot-grüne Koalition den
Umweltpolitikern nicht genügend Spielraum gibt, obwohl
die Umweltpolitik angeblich doch so wichtig ist?
Man kann deshalb sagen: Der Umweltminister ist auf-
grund seines Haushaltes nicht in der Lage, tatsächlich
Schwerpunkte in der Umweltpolitik zu setzen. Man
muss auch deutlich sagen, dass die Tatsache, dass der fi-
nanzielle Spielraum für eine sachorientierte Umweltpoli-
tik nicht vorhanden ist, nur die eine Seite der Medaille ist.
Die andere Seite ist, dass Sie, Herr Minister, nicht die
Chance genutzt haben, mit inhaltlichen Konzepten so zu
überzeugen, dass eine Schwerpunktbildung im Haushalt
zugunsten der Umweltpolitik vorgenommen wurde. Das
ist genau der Punkt, Herr Umweltminister, den wir Ihnen
immer wieder vorhalten müssen.
Umweltpolitik wird nicht einfacher, sondern langfris-
tig schwieriger. Die Bedeutung dauerhafter und langfris-
tig vorhandener Umweltprobleme wird in der öffentlichen
Wahrnehmung leider häufig unterschätzt. Es wird da-
rauf ankommen, dass die Umweltpolitik Mehrheiten mo-
bilisiert. Langfristig gesehen muss sich das Problem-
bewusstsein in der Gesellschaft verbessern, damit wir ei-
nen breiten gesellschaftlichen Konsens für die Lösung
umweltpolitischer Probleme bekommen.
Herr Umweltminister, Sie haben gerade in Ihrer Rede
einige Schwerpunkte angesprochen, zum Beispiel den Kli-
maschutz. Da wird sich während der Haushaltsberatungen
die Frage stellen, ob beispielsweise die im Haushaltsplan
vorgesehenen Mittel im Bereich der Gebäudesanierung
zur Bekämpfung des CO2-Ausstoßes ausreichend sind.Da werden wir die kritische Frage stellen, ob für die Maß-
nahmen zum Klimaschutz, die Sie so herausstellen, aus-
reichende Finanzmittel vorgesehen sind.
Sie haben die interessante Frage bezüglich der Instru-
mente gestellt, die sich neben der Frage der Finanzier-
barkeit ergibt. In diesem Zusammenhang haben Sie den
Emissionshandel angesprochen. Interessant ist aber, dass
Sie sich, Herr Minister, an keiner Stelle inhaltlich zu dem
geäußert haben, was Herr Clement vorgeschlagen hat. Wir
möchten gerne wissen: Stehen Sie zu dem Pool-Modell
von Wirtschaftsminister Clement oder haben Sie dazu
eine andere Meinung? Gibt es eine einheitliche Meinung
von Herrn Clement und Herrn Trittin oder gibt es sie
nicht? Sie sind der Frage gerade ausgewichen. In den Zei-
tungen kann man aber lesen, dass das Modell von Herrn
Clement bei der Europäischen Kommission nicht auf Un-
terstützung stößt. Der Umweltminister hat sich zu dem ak-
tuellen Streit hier nicht geäußert. Er hat nicht gesagt, ob
er sich auf die Seite von Clement schlägt oder nicht.
Herr Minister, ich muss Ihnen sagen, es reicht nicht
aus, ein Thema nur anzureißen. Sie müssen hier im Parla-
ment sagen, ob Sie für einen bestimmten Weg im Emis-
sionshandel sind oder nicht. Diese Antwort haben Sie
nicht gegeben. Das ist typisch für Ihr Taktieren: Sie reißen
Probleme nur an, führen sie aber nicht zur Lösung. Das
wird die Umweltpolitik auf Dauer beschädigen.
Herr Minister, Sie haben den vorbeugenden Hochwas-
serschutz angesprochen. Das liegt in Ihrer Kompetenz.
Sie haben darauf hingewiesen, dass man im Auen- und
im Flussbereich etwas unternehmen kann. Sie haben auf
die Mittel für den Naturschutz verwiesen. Jetzt wird es
aber spannend: Wollen Sie damit Gelder für den Natur-
schutz aus anderen Bereichen für diese Maßnahmen ab-
ziehen? Verstehen kann ich das. Denn der Minister hat
kurz vor der Bundestagswahl zu einer großen Konferenz
zum vorbeugenden Hochwasserschutz eingeladen. Wenn
man aber jetzt nach der Bundestagswahl in den Haus-
haltsplan schaut, stellt man fest, dass es keinen konkreten
Haushaltsposten für diesen Bereich gibt.
In Presseerklärungen werden Informationen verbreitet,
die besagen, dass man von 1998 bis 2001 auf Bundes-
ebene im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe 124 Mil-
lionen Euro für den vorbeugenden Hochwasserschutz
ausgegeben hat. Die Zahl muss man sich einmal auf der
Zunge zergehen lassen: in drei Jahren 124 Millionen Euro.
Allein Bayern hat in der letzten Zeit pro Haushaltsjahr im
Durchschnitt 115 Millionen Euro dafür ausgegeben. Das
ist eine reelle Umweltpolitik und das zeigt, wie finanziell
schwach Sie in diesem Bereich vertreten sind.
Zum EEG kann ich nur sagen, Herr Minister: Wir sind
gespannt auf die Novellierung. Wir sind nicht gegen Maß-
nahmen für die Förderung der erneuerbaren Energien.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 787
Aber wir sind gespannt, ob Sie es tatsächlich schaffen
werden, neue Schwerpunkte zu setzen. Sie – nicht Sie per-
sönlich, sondern die Regierung insgesamt – haben sich in
der letzten Legislaturperiode im Rahmen der Kürzung des
entsprechenden Programms gegen Biogas und Biomasse
ausgesprochen. Wir sind gespannt, wie Sie jetzt an eine
Novellierung herangehen.
Ich fasse zusammen: Mit diesem Haushalt des Bundes-
umweltministers wird die erfolglose Umweltpolitik von
Rot-Grün fortgesetzt. Auch dieser Haushalt zeigt keine in
sich geschlossene umweltpolitische Konzeption. Er ist in
Wirklichkeit ein Trauerspiel für die Umweltpolitik. Des-
halb kann dieser Haushaltsplan nicht die Unterstützung
der Union finden.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Ich erteile das Wort der Kollegin Elke Ferner, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Das, was Sie, Herr Kollege Paziorek, ausgeführt haben,
haben wir in den letzten Wochen seit der Bundestagswahl
und auch heute ständig gehört: Sie kritisieren, kritisieren,
kritisieren
und machen keinen einzigen Vorschlag dahin gehend, was
Sie anders machen möchten.
Sie haben sich wohl die Strategie ausgedacht, dass Mies-
machen besser ist als zu erklären, wie es nach Ihrer Auf-
fassung besser funktionieren könnte.
Wir haben in unserer Koalitionsvereinbarung die Leit-
linien unserer Politik in den nächsten vier Jahren festge-
legt. Sie stehen unter der Überschrift: „Erneuerung – Ge-
rechtigkeit – Nachhaltigkeit“. Die Unterschiede zwischen
uns und Ihnen sind nicht nur im Wahlkampf, sondern auch
in dieser Debatte deutlich geworden. Sie versuchen
zunächst einmal, alles schlechtzureden.
Dann greifen Sie, so wie gestern, in die Mottenkiste
zurück, aus der Sie ein paar Vorschläge herausholen.
Diese Vorschläge offenbaren eines: Wir wollen den So-
zialstaat erneuern; Sie wollen ihn demontieren.
– Ist der Abbau bzw. der Wegfall des Kündigungsschutzes
keine Demontage des Sozialstaates?
Im Hinblick auf Steuergerechtigkeit und Generatio-
nengerechtigkeit haben wir natürlich die Aufgabe, den
Staat auf eine solide Finanzierungsbasis zu stellen. Sie da-
gegen wollen den Staat ausplündern. Ihre ständigen For-
derungen nach einer Absenkung der Staatsquote zeigen
klar, wohin das führt: Sie wollen die staatlichen Ausgaben
zurückführen. Der Staat hat aber nach unserer Auffassung
ebenso wie im Umwelt- und Naturschutz
auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Bildung,
der Infrastruktur oder den Zukunftstechnologien, eine Da-
seinsfürsorge.
Im Übrigen haben Sie uns 1998 als Erbe einen kata-
strophalen Haushalt hinterlassen.
Wir sind jetzt gezwungen, ihn zu konsolidieren.
Das alles mögen Sie vielleicht nicht gerne hören. Das
sind nun aber die Tatsachen. Im Gegensatz zu Ihnen, die
Sie 16 Jahre lang regiert, 16 Jahre lang eine Erblastenarie
gesungen und dabei vergessen haben, was Sie selber zu
verantworten haben, regieren wir erst vier Jahre und sind
immer noch dabei, den Müll, den Sie hinterlassen haben,
aufzuräumen.
Wenn wir schon beim Müll sind: Sie haben im Zusam-
menhang mit der Verpackungsverordnung Krokodils-
tränen vergossen. Kurz zur Erinnerung: Die Verpackungs-
verordnung kam aus dem Hause Töpfer. Dieser gehört,
wenn ich recht informiert bin, immer noch Ihrer Partei an.
Wer sich jetzt darüber beklagt, dass vor zehn Jahren eine
Verpackungsverordnung verabschiedet worden ist, wobei
alle Zeit hatten, sich darauf einzustellen, und wer heute
Getränke immer noch in Einwegverpackungen verkauft,
also immer noch nicht in der Lage ist, die Mehrwegquote
entsprechend zu erhöhen, und jetzt sagt, das alles gehe
nicht, verhält sich ein Stück weit wie ein Heuchler. Denn
er hätte die ganzen Jahre über durchaus Zeit gehabt, sich
auf die neue Situation einzustellen.
Auf der einen Seite hier immer wieder darauf zu ver-
weisen, was alles nicht geht, und auf der anderen Seite
nicht zu sagen, wie es geht, das ist sicherlich nichts, was
die Bevölkerung vom Hocker haut.
– Natürlich! Wir haben in der Opposition im Gegensatz zu
Ihnen immer Alternativvorschläge gemacht. Deshalb sind
Sie 1998 abgelöst worden.
Dr. Peter Paziorek
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Elke Ferner
Herr Paziorek, Sie haben eben beklagt, dass sich die
Umweltpolitik nicht nur im Haushalt des Umweltmi-
nisters widerspiegelt. Was ist denn die Umweltpolitik an-
deres als eine Querschnittsaufgabe?
– Natürlich ist es das. Das bedeutet doch auch, dass das
Geld nicht in einem Bundesministerium gebündelt wer-
den kann, sondern dass sich jedes Ressort darum küm-
mern muss,
welche Auswirkungen eine Entscheidung auf die Umwelt
hat, und die entsprechenden Mittel zu veranschlagen hat.
Durch die Koalitionsvereinbarung werden die erneuer-
baren Energien dem Umwelthaushalt zugeschlagen. Das
müssen wir jetzt im parlamentarischen Verfahren haus-
haltstechnisch umsetzen und das werden wir auch tun.
Wir befinden uns heute in einer Situation, die besser sein
könnte, wenn Sie während Ihrer Regierungszeit nicht aus-
schließlich auf die Kernenergie gesetzt hätten und sich
schon wesentlich früher Gedanken über Energieein-
sparung und Energieeffizienzprogramme und vor allen
Dingen über die Förderung regenerativer Energien ge-
macht hätten.
Auf den kommunalen Ebenen ist sehr viel gemacht wor-
den, auf der Bundesebene haben Sie in Ihrer Regierungs-
zeit kaum etwas getan.
Wir haben im Umwelthaushalt einige Schwerpunkte
gesetzt. Wir haben beispielsweise das Pilotprojekt „In-
land“ entwickelt, bei dem es um die Förderung von Tech-
niken geht, die zwar noch nicht marktreif, aber schon aus
der Entwicklungsphase heraus sind. Ich höre, dass Sie da-
rüber diskutieren, diese Pilotprogramme möglicherweise
wieder zu kürzen oder sogar ganz abzuschaffen.
Ich verweise darauf, dass es über 20 Jahre hinweg gute
Programme von allen Regierungen gegeben hat und dass
insbesondere kleine und mittlere Unternehmen jetzt von
diesen Programmen profitieren. Das hat auch etwas mit
der Förderung des Mittelstandes und vor allen Dingen da-
mit zu tun, dass durch diese Förderprogramme Technolo-
gien und Techniken, die dazu geeignet sind, die bestehen-
den Umweltstandards zu übertreffen, schneller einer
Marktreife zugeführt werden können.
Wir haben außerdem im Umwelthaushalt die Mittel für
die Beratungshilfen für den Umweltschutz in Mittel- und
Osteuropa auf 2,24Millionen Euro erhöht. Gerade im Hin-
blick auf die EU-Osterweiterung ist es wichtig, den neuen
Beitrittsländern Hilfen und Beratungen anzubieten, damit
die Situation in diesen Ländern schneller bereinigt werden
kann, als das vielleicht ohne diese Hilfen der Fall wäre.
Wir haben seit der Regierungsübernahme 1998 die
Projektförderung für die Umwelt- und Naturschutz-
verbände kontinuierlich aufgestockt. Sie wird in diesem
Haushalt noch einmal um 7,1 Prozent höher sein und liegt
damit um 71 Prozent höher als 1998. Hier ist aus meiner
Sicht besonders hervorzuheben, dass der Schwerpunkt der
Förderung auf der Projektförderung liegt. Dafür werden
über 70 Prozent der Mittel ausgegeben, sodass konkrete
Projekte vor Ort mit Bundesmitteln gefördert werden. Das
ist praktischer, ganz realer Umweltschutz vor Ort.
Wir haben mit der Aarhus-Konvention eine stärkere
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei umweltrele-
vanten Vorhaben vorgesehen. Wir brauchen mehr Trans-
parenz, mehr Eigenverantwortung und mehr Beteiligung
der Bürgerinnen und Bürger in diesen Bereichen. Ich
glaube, auch das ist ein Punkt, in dem wir uns nachhaltig
unterscheiden: Sie haben in der Vergangenheit, wenn es
um die Beteiligungsrechte ging, immer versucht, diese
auf ein Niveau herunterzuführen, das mit einer modernen
Auseinandersetzung mit den Bürgerinnen und Bürgern
nichts zu tun hat.
Es ist richtig: Der Umwelthaushalt ist im Vergleich zu
anderen Haushalten klein. Aber der Schwerpunkt des
Bundes liegt auf der Entwicklung umweltpolitischer Leit-
linien und der Umweltgesetzgebung. Deren Umsetzung
und Finanzierung übernehmen zum größten Teil die Län-
der und nach dem Verursacherprinzip auch diejenigen, die
für Umweltbelastungen verantwortlich sind.
Man darf nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, indem
man die Umweltschutzausgaben eines Bundeslandes mit
den Umweltschutzausgaben des Bundes vergleicht. Im
Übrigen muss ich sagen: Da der Freistaat Bayern bis heute
am kompromisslosen Donauausbau festhält, ist es wahr-
scheinlich in diesem Land besonders notwendig, in den
vorbeugenden Hochwasserschutz zu investieren.
Zwar ist dieser Einzelplan verhältnismäßig gering aus-
gestattet, dafür beträgt aber der Investitionsanteil hier im-
merhin 40 Prozent.
Im Übrigen haben wir durch die Einführung der öko-
logischen Steuerreform in den letzten vier Jahren eine
Trendwende eingeleitet. Der Ressourcenverbrauch ist
entsprechend seinen Auswirkungen auf die Ökosysteme
teurer geworden und mit den zusätzlichen Einnahmen ha-
ben wir die Lohnnebenkosten gesenkt. Auch hier noch
einmal zur Erinnerung: Während Ihrer Regierungszeit ist
die Mineralölsteuer um mehr als 50 Pfennig erhöht wor-
den, ohne dass Sie auch nur einen müden Pfennig davon
zurückgegeben haben, weder zur Senkung der Lohnne-
benkosten noch zur Verbesserung des Umweltschutzes.
Auch hier werden also Unterschiede deutlich.
Außerdem haben wir die CO2-Minderungspro-gramme auch im Rahmen des Zukunftsinvestitionspro-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 789
gramms eingeführt. Wir fördern die regenerativen Ener-
gien. Im Rahmen dieser Förderung werden nicht nur Alt-
bauten und Heizungsanlagen modernisiert, sondern Pri-
vathaushalte und Unternehmen können damit auch ihre
Energiekosten reduzieren. Es werden kleinteilige Investi-
tionen angestoßen, die in erster Linie der lokalen und re-
gionalen Wirtschaft zugute kommen. Damit kommen wir
auch unseren Verpflichtungen zur CO2-Reduzierung ge-mäß dem Kioto-Protokoll nach.
Sie haben eben beklagt, dass die Mittel für das Pro-
gramm zur CO2-Minderung zu gering seien. Ich frage Sieim Gegenzug: Wie hoch waren sie denn zu Ihrer Regie-
rungszeit?
– Wenn ich mich richtig erinnere, dann haben wir das Zu-
kunftsinvestitionsprogramm auf den Weg gebracht und
haben überhaupt mehr Geld in die Hand genommen, um
die betreffenden Probleme besser anzugehen.
– Frau Homburger, Sie müssen sich schon entscheiden,
was Sie wollen. Sie wollen die Staatsquote senken, Sie
wollen mehr Schulden machen, jetzt wollen Sie wieder
einmal mehr Geld ausgeben.
Sie wissen schlicht nicht, was Sie wollen, und das werden
die Leute auch merken.
Lassen Sie mich abschließend sagen, dass das Prinzip
der Nachhaltigkeit eines der wichtigsten Prinzipien ist.
Wir werden – das haben wir schon in den letzten vier Jah-
ren getan und das werden wir weiterhin tun – all unsere
Entscheidungen auch daraufhin überprüfen, welche Aus-
wirkungen sie für die kommenden Generationen haben.
Umweltschutzinvestitionen lassen sich leider nicht immer
als Rendite in Euro und Cent beurteilen, aber mehr Le-
bensqualität und mehr Nachhaltigkeit bringen sie allemal.
In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratung zum Ein-
zelplan 16 in den Ausschüssen. Ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie
schon in den letzten Jahren ist auch der Einzelplan des
Bundesministeriums für Umwelt für das Jahr 2003 eine
einzige Enttäuschung. Das war nicht anders zu erwarten.
Sein Volumen sinkt um rund 3 Prozent und damit über-
proportional, wie wir hier schon gehört haben. Wenn man
das mit dem Umwelthaushalt des Jahres 1998 vergleicht,
dann stellt man fest, dass das eine Absenkung um unge-
fähr 14 Prozent ist. Das ist grüne Prioritätensetzung in der
Umweltpolitik!
Wir haben hier gehört, dass Umweltpolitik auch Ge-
setzgebung sei. Das ist sicherlich richtig. Es ist auch rich-
tig, dass nicht alles, was in der Umweltpolitik gemacht
wird, in diesem Haushalt steht. Gleichwohl muss man sa-
gen, dass die Koalitionsvereinbarung hinsichtlich der
Umweltpolitik gehaltlos ist. Das hat sich auch in der Re-
gierungserklärung des Bundeskanzlers gezeigt, in der das
Thema Umwelt überhaupt nicht vorkam.
Auch nach dem, Frau Kollegin Ferner, was Sie uns hier
über Dosenpfand, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, re-
generative Energien und Hochwasserschutz erzählt ha-
ben, muss ich feststellen, dass Sie das, was in der Koali-
tionsvereinbarung steht, mit dem Einzelplan bei weitem
unterboten haben. Offenbar ist Ihnen nicht bekannt, wie
die Lage wirklich ist.
In Wirklichkeit ist es zum Beispiel doch so, dass nicht Sie
damit angefangen haben, regenerative Energien zu för-
dern,
sondern wir waren diejenigen, die das Stromeinspei-
sungsgesetz gemacht haben. Das nur zur Klarstellung.
Atomausstieg und Ökosteuer, das ist der rote Faden,
der sich durch den Koalitionsvertrag zieht. Das sind Ihre
Anliegen. Da finde ich es schon bemerkenswert, Herr
Minister, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie
würden die erneuerbaren Energien weiter ausbauen, wei-
ter fördern. Das alles finde ich ja richtig. Wir haben ein ei-
genes, etwas anderes Modell zur Förderung erneuerbarer
Energien vorgelegt. Ich finde es richtig, erneuerbare Ener-
gien zu fördern. Aber es geht um die Glaubwürdigkeit der
Grünen an dieser Stelle. Angesichts dessen, was Herr
Vesper in NRWmacht, wo die regenerativen Energien ins
Hintertreffen geraten und man jetzt mit Atomstrom wei-
termacht, weil das günstiger ist, und angesichts der Tatsa-
che, dass viele grüne Bürgermeister genau aus diesen
Gründen Stromverträge entsprechend neu regeln, müssen
sich die Grünen fragen lassen, warum es diesen Wider-
spruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt. Das
müssen sie sich vorhalten lassen.
Es ist ja nett, was Sie im Fünfpunkteprogramm zum
Hochwasserschutz sagen. Wir werden Ihr weiteres Vorge-
hen intensiv verfolgen. Wir haben Sie schon lange aufge-
fordert, im Hochwasserschutz vorbeugend tätig zu wer-
den, auch länderübergreifend in Europa etwas zu tun und
mit den anderen Anrainerstaaten zusammenzuarbeiten.
Sie haben das Fünfpunkteprogramm in einer Konferenz
Elke Ferner
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Birgit Homburger
zitiert, die im September eiligst einberufen wurde, kurz
vor der Bundestagswahl, ohne ordentliche Vorbereitung.
Ihr eigenes Ministerium hat offen zugegeben, dass diese
Konferenz nicht ordentlich vorbereitet war.
Wir haben in dieser Woche vonseiten der FDP-Bun-
destagsfraktion eine Kleine Anfrage zu Fragen des Hoch-
wasserschutzes eingebracht. Wir sind gespannt, was Sie
uns darauf antworten werden. Wir sind gern bereit, Dinge
gemeinsam zu tun, wenn sie dadurch vernünftig vorange-
bracht werden.
Nun noch eine Bemerkung zum Thema Klima. Sie ha-
ben zu Recht den Emissionshandel, eines der zentralen
Themen, genannt. Aber an dieser Stelle ist Fehlanzeige,
das muss man einmal deutlich sagen. Sie haben in den
letzten vier Jahren nichts getan, um den Emissionshandel
in Deutschland einzuführen. Wir haben Sie dazu mehr-
fach aufgefordert und hier entsprechende Anträge einge-
bracht. Wir sind nach wie vor die einzige Fraktion im
Deutschen Bundestag, die einen Vorschlag erarbeitet hat,
wie man die deutsche Selbstverpflichtung in diesem Be-
reich mit dem europäischen Emissionshandel verknüpfen
könnte. Das alles haben Sie „verpennt“. Anfang Dezem-
ber wird darüber in Brüssel entschieden und wir werden
dumm aus der Wäsche gucken, weil die deutsche Bun-
desregierung nicht vorbereitet war und nicht Einfluss ge-
nommen hat, und die deutsche Wirtschaft ist dabei der
Leidtragende. So kann es nicht sein, Herr Minister!
Deswegen empfehle ich Ihnen dringend, sich den Antrag
der FDP-Bundestagsfraktion noch einmal anzuschauen,
um vielleicht auf dieser Basis einen Lösungsvorschlag zu
erarbeiten. Dann müssen Sie nicht bei Null anfangen, son-
dern können schon eine gewisse Vorarbeit nutzen. Wir stel-
len Ihnen das gern noch einmal zur Verfügung.
Herr Bundesumweltminister, hätten Sie, wie von der
FDPmehrfach gefordert und in den Deutschen Bundestag
eingebracht, rechtzeitig auch in Deutschland die Voraus-
setzungen für die Anerkennung von Clean Development
Mechanism, von CDM-Maßnahmen, geschaffen, hätten
auch die Deutschen günstige Emissionsrechte kaufen
können.
Da waren die Niederlande cleverer. Es war halt schon im-
mer etwas teurer, einen grünen Umweltminister zu haben.
Es fragt sich nur, meine Damen und Herren, ob wir uns
das weiter leisten können.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Horst Kubatschka, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Paziorek, Sie sagen, die Aufgabe der Op-
position sei Kritik. Da stimme ich zu. Aber die zweite
Aufgabe muss lauten: bessere Vorschläge.
Die kommen bisher nicht, die fehlen.
Solange Sie nicht bessere oder alternative Vorschläge ma-
chen, sind Sie für mich nicht einmal oppositionsfähig.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir führen mit
dem vorliegenden Haushalt 2003 den von uns in der ver-
gangenen Legislaturperiode erfolgreich begonnenen Kurs
der ökologischen Modernisierung unserer Industriegesell-
schaft fort. Das Bundesumweltministerium hat mit dieser
Legislaturperiode erstmals die vollständige Verantwortung
für die erneuerbaren Energien erhalten. Marktanreizpro-
gramm, 100000-Dächer-Photovoltaik-Programm, Erneuer-
bare-Energien-Gesetz und Energieforschung sind jetzt in
einem Ressort. Die Aufgabenverlagerung verlangt, den
Haushalt des BMU entsprechend zu erhöhen. Diese For-
derung ist im Koalitionsvertrag festgeschrieben und für
die SPD-Fraktion eine Selbstverständlichkeit. Dies er-
möglicht es, die erneuerbaren Energien noch enger mit
den Aufgabenfeldern Umwelt- und Klimaschutz im Rah-
men des Gesamtkonzepts einer nachhaltigen Entwicklung
zu verzahnen.
Wir wissen alle, dass neben Energiesparen und Ener-
gieeffizienz der Ausbau der erneuerbaren Energien als
dritte Säule notwendig ist, wenn wir eine nachhaltige
Energieversorgung in unserem Land verwirklichen wol-
len. Deshalb hat sich die Koalition das Verdoppelungs-
ziel auch erneut auf die Fahnen geschrieben und es präzi-
siert. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts wollen wir den
Anteil der erneuerbaren Energien an der Strom- und Pri-
märenergieversorgung auf jeweils mindestens 12,5 Pro-
zent bzw. 4,2 Prozent verdoppeln. 2010 kann nur eine
Zwischenstation sein. Langfristig wollen wir bis zur Mitte
des Jahrhunderts die Hälfte unseres Energiebedarfs aus
den erneuerbaren Energien decken. Dies ist ein Ziel, das
wir gemeinsam mit unseren Nachbarn und Partnern in der
Europäischen Union erreichen wollen, aber auch errei-
chen müssen. Wir wissen: Nur eine Energieversorgung
auf der Grundlage erneuerbarer Energien ist langfristig
nachhaltig und zukunftsfähig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen damit un-
sere zweifach erfolgreiche Politik fort. Warum zweifach
erfolgreich? Zum einen haben wir durch unsere enga-
gierte Politik enorme Zuwachsraten bei der Energieerzeu-
gung aus den erneuerbaren Energien erzielt. In den letz-
ten vier Jahren hat sich der Anteil der erneuerbaren
Energien an der Stromerzeugung um mehr als 50 Prozent
erhöht. Dadurch konnten 44 Millionen Tonnen Kohlendi-
oxid eingespart werden. Allein im Jahre 2001 ist durch die
erneuerbaren Energien mehr CO2 eingespart worden, alsdie Bewohner Berlins in einem Jahr verursachen. Dies
war also ein erheblicher Beitrag.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 791
Zugleich ist es uns gelungen, eine hochmoderne, zu-
kunftsfähige und überwiegend mittelständisch struktu-
rierte Wirtschaft aufzubauen, in der heute mehr als
130 000 Menschen beschäftigt sind. Während wir bis in
die 90er-Jahre hinein zwar in Forschung und Entwicklung
wissenschaftlich erstklassig waren, in puncto Umsetzung
aber weit hinter anderen Ländern zurücklagen, haben wir
in wenigen Jahren auch bei der praktischen Anwendung
der verschiedenen Technologien eine internationale Spit-
zenstellung erreicht. Heute ist Deutschland weltweit
führend bei der Erforschung und der Markteinführung, ist
Weltmeister bei der Windkraft- und Solarenergie. Dies
eröffnet hervorragende Exportchancen.
Erneuerbare Energien sind grundsätzlich global ein-
setzbar. Damit stellen sie ein Kontrastprogramm zur
Kernenergie dar. Die Produktion erfolgt oft dezentral.
Sinnvollerweise kann sie auch verbrauchernah durchge-
führt werden.
Ein weiterer Aspekt: Sie sind ein wichtiges Element
nachhaltiger Entwicklungspolitik. Ich begrüße und unter-
stütze damit ganz nachdrücklich die von Bundeskanzler
Gerhard Schröder auf der Johannesburg-Konferenz vor-
gestellte Initiative, in den kommenden fünf Jahren insge-
samt 500 Millionen Euro für Projekte zur Förderung er-
neuerbaren Energien in den Entwicklungsländern zur
Verfügung zu stellen.
Weitere 500 Millionen Euro – insgesamt sind es 1 Mil-
liarde Euro – werden wir für die Energieeffizienz auf-
bringen. Beides – Effizienz und erneuerbare Energien –
muss Hand in Hand gehen. Wir haben diese Initiative in
unsere Koalitionsvereinbarung aufgenommen und wer-
den sie auch unter schwierigen Haushaltsrahmenbedin-
gungen in guter Zusammenarbeit mit allen Ressorts so
rasch wie möglich umsetzen.
Der hohe Stellenwert der erneuerbaren Energien be-
legt: Der Haushalt des Bundesumweltministeriums ist ein
echter Zukunftshaushalt und zentraler Baustein im Kon-
zept der Nachhaltigkeit. Inzwischen folgen andere Länder
dieser Erfolgspolitik.
Wir werden den Ausstieg aus der Kernenergie kritisch
begleiten. Dabei ist eines sonnenklar: Kompromisse bei
der Sicherheit gibt es nicht. Mit dieser Erfolgspolitik beim
Dreiklang Energiesparen, Energieeffizienz und erneuer-
bare Energien werden wir in Deutschland auch den Be-
weis dafür erbringen, dass eine hoch entwickelte Indus-
triegesellschaft aus der Kernenergie aussteigen kann,
ohne dass die Wirtschaft Schaden nimmt. Das Gegenteil
ist der Fall: Wir fördern die Wirtschaft und schaffen
Arbeitsplätze auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit.
Zu den Konsequenzen dieser Ausstiegspolitik. Die Ko-
alition wird die staatliche Förderung der Entwicklung von
Nukleartechniken zur Stromerzeugung beenden. Die Ko-
alition wird aber die Forschung zur Erhöhung der Sicher-
heit vorhandener Reaktoren weiter unterstützen.
Noch einige Worte zu Euratom. Der Vertrag dazu
stammt aus einer Zeit, als man glaubte, die Energiepro-
bleme der Welt durch Kernenergie lösen zu können. Da-
mals herrschte eine unglaubliche Aufbruchstimmung. Die
Blütenträume der 50er- und 60er-Jahre sind aber ver-
welkt. Deswegen hat sich der Euratom-Vertrag überlebt.
Der Vertrag ist angesichts der tatsächlichen Verhältnisse
auf dem Energiemarkt und der energiepolitischen He-
rausforderungen ein Anachronismus. Wir wollen ihn in ei-
nen reinen Sicherheitsvertrag umwandeln. Wir treten im
Konvent dafür ein, Euratom und ihren im Dunkeln ausge-
kungelten Haushalt dem Parlament zu unterstellen.
Ich habe den Schwerpunkt Energiepolitik bewusst ge-
wählt. Energiepolitik ist der Kern unserer Politik der öko-
logischen Modernisierung. Für unsere Generation ist es
selbstverständlich, dass Energie zur Verfügung steht.
Über den Ausfall von Strom zum Beispiel zerbrechen wir
uns kaum den Kopf. Besonders ärgerlich wäre es, im
Fahrstuhl einen Stromausfall zu haben. Aber es ist auch
schwer vorstellbar, im Winter einen längeren Stromaus-
fall zu erleben; denn das bedeutete: Wir frieren und
gleichzeitig verdirbt das Gut in der Gefriertruhe.
Die Frage der Energie ist die Frage unserer Zivilisa-
tion, unserer Kultur. Unsere Zivilisation baut auf die si-
chere Versorgung mit Energie. Erst die technische und
versorgungsmäßige Lösung der Energiefragen hat unsere
Industriegesellschaft über Jahrhunderte entstehen lassen.
Deswegen müssen wir zukunftsfähige, nachhaltige Lö-
sungen der Energiefrage finden und umsetzen. Dieser
Prozess ist lang andauernd und kommt nicht zum Still-
stand. Mit unserer Energiepolitik haben wir diesen Pro-
zess eingeleitet. Wir schreiten da weiter voran.
Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, den entspre-
chenden Förderprogrammen und anderen Gesetzen haben
wir eine Erfolgsgeschichte geschrieben. Es waren die
ersten Schritte zu einem Umbau der Energieversorgung.
Leider hat sich die CDU/CSU an dieser Erfolgsgeschichte
nicht beteiligt. Sie haben eine wichtige Zukunftschance
verpasst.
Sie sind nicht oppositionsfähig,
weil Sie keine Antworten auf die Energiefragen haben.
Soweit Sie eine Antwort haben, ist es die Antwort des letz-
ten Jahrhunderts, die lautet: Kernenergie.
– Das ist Ihr Vorschlag! – Herr Paziorek, Sie weisen ja im-
mer wieder auf das Stromeinspeisungsgesetz hin. Das ist
ein Gesetz, das während Ihrer Regierungszeit vom Parla-
ment entwickelt worden ist. Das Parlament hat daran ge-
arbeitet. Ich sage: Auch das EEG ist eher ein Parlaments-
gesetz. Sie haben damals die Chance, die wir Anfang der
90er-Jahre genutzt haben, verpasst.
Horst Kubatschka
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Horst Kubatschka
Damit haben Sie auf diesem Gebiet versagt.
– Das freut mich. Dann werden wir ja demnächst hervor-
ragende Vorschläge bekommen. Wir werden sie umset-
zen, wenn sie vernünftig und machbar sind.
Mein Schwerpunkt war, wie gesagt, die nachhaltige
Energieversorgung. Sie ist eine Zukunftsaufgabe, die ei-
gentlich wir alle gemeinsam lösen müssen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Nächster Redner ist der Kollege Arnold Vaatz,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Kubatschka. Auch
Sie haben am Anfang Ihrer Rede das Scheinargument ge-
bracht, die Opposition wisse es nicht besser. Ich frage
mich, wie lange Sie den Menschen in Deutschland noch
weismachen zu können glauben, dass die Regierung des-
halb so schlecht regiere, weil die Opposition nicht genü-
gend Konzepte vorlege.
Diese Argumentation werden Sie nicht mehr länger
durchhalten.
– Nein, Sie versuchen tatsächlich, das so darzustellen.
Ich möchte auf eine spezifische Dimension der Politik
dieser Regierung eingehen, die besonders in Ostdeutsch-
land spürbar wird. Es zeigt sich, dass sich ein Sachverhalt
wie ein roter Faden durch die bisherigen Gesetze dieser
Regierung zieht, nämlich die asymmetrische Verteilung
der Belastungen, die eindeutig zulasten von Ostdeutsch-
land geht.
Ganz besonders gravierend, fatal und brutal ist das im
Bereich der Umweltpolitik.
Das möchte ich Ihnen kurz erklären. Wir reden nicht aus-
schließlich über den marginalen Haushalt, den Sie hier
vorgelegt haben, sondern noch über ganz andere Größen-
ordnungen wie zum Beispiel Ihr großes Unternehmen Öko-
steuer. Sie müssen sich vergegenwärtigen: Im Jahre 1990
hatten wir insgesamt über 130000 Beschäftigte in der
Braunkohlenindustrie. Es waren wirtschaftliche und ökolo-
gische Gründe, die uns dazu veranlasst haben, die Braun-
kohlenverstromung drastisch zurückzufahren. Ich weiß
nicht, ob Sie es einmal erlebt haben, einer solch großen An-
zahl von Beschäftigten, die Familien zu ernähren haben,
sagen zu müssen, dass ihr Arbeitsplatz in Kürze wegfallen
muss. Ich habe das viele Jahre lang machen müssen.
– Sie haben dazu 40 Jahre gebraucht. Damit haben Sie
keinen Beitrag geliefert. Wir mussten innerhalb von fünf
Jahren von 130 000 Beschäftigten auf unter 20 000 Be-
schäftigte kommen. Das ist die Situation mit all ihrer
Härte im mitteldeutschen Braunkohlenrevier.
Ein wichtiges Problem, das wir zu lösen hatten, war die
Umstellung der Heizungsträger. Durch diese Maß-
nahme ist uns tatsächlich eine drastische Reduzierung der
Menge der Luftschadstoffe gelungen. Der überwiegende
Teil der Heizungen in Ostdeutschland ist auf umwelt-
freundliche Energieträger umgestellt worden, insbeson-
dere auf Erdgas. Teilweise wurde die Umstellung auf
Erdgas gefördert,
teilweise ist es so weit gegangen, dass Baugenehmigun-
gen nur dann erteilt wurden, wenn die Haushalte bereit
waren, sich an die Leitungen anzuschließen. Dieses
Vorgehen haben wir ökologisch begründet.
Jetzt kommen Sie daher und erhöhen im Rahmen der
Ökosteuer die Steuer auf Erdgas um 200 Prozent. Nun
wäre das kein Problem zwischen Ost und West, wenn die
Haushalte in Ostdeutschland nicht überproportional mit
Erdgas beheizt würden. In Ostdeutschland gibt es – das ist
die Realität – alleine 3,4 Millionen Erdgasverbraucher,
davon 3,3 Millionen in privaten Haushalten. Das führt
zu einer Zusatzbelastung Ost von insgesamt 275 Mil-
lionen Euro. Das sind 20 Prozent der Belastungen aus
dem gesamten Gesetzentwurf. Wir haben also eine ein-
deutige Benachteiligung von Ostdeutschland.
Nun kommt das besonders Perfide. Sie wissen, wie der
Herr Bundeskanzler anlässlich der Flut durch Ost-
deutschland gezogen ist und versprochen hat, nach der
Flut solle es niemandem schlechter gehen.
Wissen Sie, wie dort die jetzige Situation ist?
30 000 Haushalte sind von der Flutkatastrophe betroffen.
– Das mache ich gerade. Aber Sie müssen es verstehen,
Frau Hustedt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 793
Zum großen Teil sind diese Häuser noch nicht wieder
bewohnbar. Nach wie vor wird das Mauerwerk getrock-
net; es muss auch weiterhin getrocknet werden. Nun raten
Sie einmal, was die bevorzugte Energieform ist, die zur
Trocknung dieser Haushalte dient? Natürlich nichts ande-
res als Erdgas. Hier zocken Sie diese Leute zusätzlich ab.
Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie auf diese Weise das
Umweltbewusstsein in Ostdeutschland in irgendeiner
Weise festigen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Diese
Rechnung wird auf keinen Fall aufgehen.
Herr Kollege Vaatz, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Röspel?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Vaatz, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass Sie sich, was die Erhöhung der Erdgasbe-
steuerung anbelangt, in der falschen Debatte befinden?
Bisher wurde Erdgas immer niedriger besteuert als zum
Beispiel Öl. Dieser Steuervorteil wurde aber nie an die
Verbraucher weitergegeben, weil Erdgasunternehmen
und Ölkonzerne einen gleichen Preis verlangt haben. Die-
ser Vorteil seitens der Unternehmen wird jetzt endlich
wieder abgeschafft. Das hat mit den Verbrauchern über-
haupt nichts zu tun.
Ich teile Ihre Meinung nicht, dass ich in der falschen
Debatte rede, Herr Kollege.
Traditionell werden die Auseinandersetzungen über den
Haushalt zu einer Grundsatzaussprache über den entspre-
chenden Politikbereich genutzt. Das und nichts anderes
tue ich.
Zu Ihrem zweiten Punkt sage ich Folgendes: Ich
stimme Ihnen zu, dass es eine Ungleichbehandlung zwi-
schen leichtem und schwerem Heizöl einerseits und Erd-
gas andererseits gibt. Ich stimme Ihnen auch zu, dass man
vielleicht langfristig Wege finden muss, um diese Un-
gleichbehandlung aufzuheben. Aber ich widerspreche
dem Automatismus, der offenbar Ihrem Denken zugrunde
liegt, dass es ausschließlich Anpassungen nach oben ge-
ben müsse, um Löcher zu stopfen. Außerdem müssen bei
solchen Anpassungsvorgängen disproportionale Wirkun-
gen, die strukturschwache Gebiete belasten, die mit er-
heblichen Subventionen an das Niveau der Bundesrepu-
blik Deutschland herangeführt werden sollen, vermieden
werden. Aber genau das tun Sie.
Diese Belastung betrifft nicht nur die Haushalte, sondern
auch die Industrie. Die Industrie muss insgesamt 120 Mil-
lionen Euro zusätzlich berappen. Das ist deshalb besonders
schwierig, weil wir in Ostdeutschland im herstellenden
Gewerbe seit einiger Zeit ein leichtes Wachstum ver-
spüren, das allerdings durch andere Wirtschaftszweige im
Saldo nicht erkennbar wird. Das Problem ist: Wenn wir im
herstellenden Gewerbe eine solche zusätzliche Belastung
zulassen, dann verantworten wir gleichzeitig, dass auch
dieses Wachstum zum Erliegen kommt und wir damit die-
sen leisen Konjunkturmotor Ost abwürgen.
Unterm Strich kann ich nur sagen: Das Umweltbewusst-
sein in Ostdeutschland wird bestraft. Derjenige, der eine
ökologisch sinnvolle Heizung eingebaut hat, kann sich
nicht dagegen wehren, dass er in besonderer Weise abge-
zockt wird. Das Resultat dieser disproportionalen Belas-
tung wird sein, dass die Kaufkraft in Ostdeutschland er-
neut leidet und die Konjunktur noch weiter geschwächt
wird. In Zukunft wird es dort noch mehr Pleiten und noch
mehr Abwanderung von Ostdeutschland nach West-
deutschland geben. All das haben Sie zu verantworten,
insbesondere durch Ihre verfehlte Ökopolitik.
Ich komme zu einem anderen Punkt. Der Herr Bundes-
umweltminister hat erfreulicherweise einige Bemerkun-
gen zum Thema Elbeausbau gemacht. Ich begrüße es,
dass er dazu Stellung genommen hat. Was aber jetzt statt-
findet, ist nicht die Überprüfung der Frage, ob sich be-
stimmte Ausbaumaßnahmen angesichts der überstande-
nen Flut wirklich als sinnvoll erweisen. Vielmehr schütten
Sie das Kind mit dem Bade aus. Sie treffen Vorkehrungen,
dass Schifffahrt auf der Elbe in Zukunft so nicht mehr
möglich sein wird, und unterlassen die Pflege des Status
quo. Die Konsequenz wird sein, dass früher oder später
enorme Mehraufwendungen erforderlich werden, um die
Schiffbarkeit der Elbe auf dem gegenwärtigen Niveau zu
halten.
Kein Politiker in Ostdeutschland hat jemals verlangt,
die Elbe zu kanalisieren oder mit Staustufen voll zu
packen.
Die Elbe ist nach wie vor einer der natürlichsten Flüsse in
Deutschland. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, statt
ständig Ihre vielleicht angesichts des Zustands von Mosel
und Rhein berechtigte Kritik anzubringen und diese un-
besehen, ohne Ortskenntnis und ohne den geringsten
Sachverstand auf die Elbe zu transponieren.
Arnold Vaatz
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Arnold Vaatz
Bei der Elbe ist des Weiteren nötig – ich bitte Sie, Herr
Bundesminister, das zu reflektieren –, die Fahrrinne zu
pflegen – das hat mit Hochwasser nichts zu tun –, sie vor
Versatz zu bewahren, Sohlschwellen zu legen, Randbuh-
nen zu pflegen und anderes. Dafür gibt es aber zurzeit
kein Geld. Das ist die Situation.
Nun ist die Elbeschifffahrt aber kein Hobby, das aus-
schließlich Sachsen betrifft.
Wenn wir die Erweiterung der Europäischen Union
wirklich angehen wollen, dann müssen wir bedenken,
dass die Tschechische Republik künftig unser EU-Partner
sein wird. Die Tschechische Republik ist ein Binnenland
und hat einen Anschluss an die Weltmeere, nämlich die
Elbe. Diese wird seit Jahrhunderten für diesen Zweck ge-
nutzt, und zwar ökologisch richtig. Als wirklich über-
zeugter Umweltschützer muss man nach meiner Auffas-
sung über jeden Container froh sein, der nicht auf der
Straße von Prag nach Hamburg transportiert wird, son-
dern auf der Elbe.
Was aber machen Sie? Sie reden irrsinniges Zeug zum
Thema Elbeausbau. Sie wollen den Leuten weismachen,
dass wir die Absicht hätten, die Elbe in einen Betonkanal
zu verwandeln, und verschaffen sich damit das Alibi, die
Elbe verkommen zu lassen. So kann es aber nicht laufen.
Bitte bekennen auch Sie sich zur Elbeschifffahrt und da-
mit zum ökologischen Sachverstand.
Es gibt eine größere Vereinigung von Handwerkskam-
mern, nämlich die Kammerunion Elbe/Oder – dabei han-
delt es sich um einen Zusammenschluss von 30 Industrie-
und Handelskammern aus Tschechien, Deutschland und
Polen –, die auf ihrer diesjährigen Generalversammlung
ihr blankes Entsetzen über Ihre Elbepolitik geäußert ha-
ben. Sie sind – besonders der Mittelstand – von der Elbe-
schifffahrt abhängig. Deshalb bitte ich Sie: Unterlassen
Sie Ihre Experimente mit der Elbe!
Ich erteile der Kollegin Eichstädt-Bohlig, BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-
ber Kollege Vaatz, wenn ausgerechnet Sie den naturnahen
Ausbau, die Pflege und den sorgfältigen Umgang mit der
Elbe als „verkommen“ beschreiben, stockt mir etwas der
Atem. Aber ich möchte ein Stück weit zu der Debatte
zurückkehren, die wir vorhin geführt haben; denn ich
meine, wir sollten bei der Ressortdebatte bleiben.
Ich muss als Erstes in Richtung von Herrn Paziorek
und Frau Homburger sowie zu Ihren beiden Fraktionen
sagen: Sie reden – mir fällt kein anderes Wort ein – mit ge-
spaltener Zunge.
Sie fordern als Fachpolitiker ständig mehr Geld für die
Umweltpolitik.
Ich habe vorhin genau zugehört, als Herr Merz und Herr
Austermann ihre Reden gehalten haben. Sie fordern prak-
tisch, dass wir sparen und gleichzeitig Steuergeschenke
machen sollen. Ich frage mich, wie das zusammenpassen
soll. Ich habe den Eindruck, dass Sie eine doppelbödige
Politik betreiben. Ihre Fachpolitiker fordern immer mehr
Geld, während Ihre Generalpolitiker uns klar machen
wollen, wie Umweltpolitik auch ohne mehr Geld betrie-
ben werden kann. Das passt doch nicht zusammen.
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt zu sprechen
kommen. Die Fachpolitiker wie Herr Paziorek und Frau
Homburger erklären uns – das ist wunderbar –, dass die
Umweltpolitik von Rot-Grün inhaltlich nicht perfekt sei.
Uns wird regelmäßig vorgeworfen, dass unsere Ökosteuer
nicht gut genug sei und dass die Energiewende nicht kon-
sequent genug betrieben werde. Das sind herrliche Sonn-
tagsreden. Aber wer steht dahinter? Ihre eigenen Fraktio-
nen stehen absolut nicht hinter dem, was Sie fordern. Sie
stimmen immer dagegen. In der letzten Legislaturperiode
sind praktisch alle unsere umwelt- und energiepolitischen
Initiativen – bei einigen haben Sie sich enthalten; nur we-
nigen haben Sie zugestimmt – von Ihren Fraktionen ab-
gelehnt worden. Im Prinzip sind Sie dagegen, obwohl
Herr Stoiber während des Wahlkampfes die Umweltpoli-
tik zur Chefsache erklärt hat. Wir wissen aber bisher ei-
gentlich nicht, ob Ihr Chef überhaupt etwas von Umwelt-
und Energiepolitik versteht; denn er hat sich bis heute
dazu nicht geäußert. Ihre Fadenscheinigkeit, die dadurch
offenbar wird, dass Sie Fachpolitiker vorschicken, sich
aber bei den eigentlich wichtigen Themen nicht engagie-
ren, halte ich für skandalös.
Die eigentliche Politik Ihrer Fraktion bedeutet nichts
anderes, als auf das Anspringen der Konjunktur zu war-
ten, gegen die Ökosteuer zu polemisieren und sich für de-
ren Abschaffung zu engagieren, obwohl Sie nicht wissen,
wie Sie die Sozialversicherungsbeiträge, insbesondere die
zur Rentenversicherung, finanzieren wollen. Gleichzeitig
fordern Sie die Senkung der Lohnnebenkosten. Des Wei-
teren wollen Sie mit der Einführung von Instrumenten zur
ökologischen Lenkung so lange warten, bis auch der
Letzte im europäischen Geleitzug mitmacht. Das alles
passt nicht zusammen. Wo sind eigentlich Ihre Vorschläge
für eine andere, aber machbare Umwelt- und Energie-
politik? Ich kenne sie bis heute nicht.
794
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 795
Sie sagen nichts dazu, und das in Zeiten, in denen Um-
weltkatastrophen in zunehmendem Maße auf uns zu-
kommen bzw. schon da sind. Die Lage ist wirklich dra-
matisch. Ich muss nur auf die Schiffs- und Ölkatastrophe,
die sich momentan vor Galizien abspielt, auf die Elbkata-
strophe, auf die Überschwemmungen in Oberitalien so-
wie auf die Erdrutsche und Muren in den Alpen verwei-
sen. Angesichts dessen wird die Umweltpolitik immer
wichtiger. Ich fordere deshalb die Opposition auf, an die-
ser Stelle endlich konstruktiv zu werden und als Erstes
wenigstens das anzuerkennen, was wir seit vier Jahren mit
großem Engagement gemacht haben und was wir mit
großer Entschlossenheit in den kommenden vier Jahren
vorantreiben werden, und zwar mit oder ohne Ihre Zu-
stimmung.
Eines ist klar: Wir haben Deutschland im Bereich des
Umweltschutzes weltweit zum Reformmotor gemacht.
Deutschland ist hier kein Schlusslicht, sondern Spitzen-
reiter beim Klimaschutz, bei der Energiewende und beim
Atomausstieg. Ich möchte in diesem Zusammenhang
noch einen Satz zu Ihnen, Herr Paziorek, sagen. Sie haben
sich beschwert, die Standorterkundungsverfahren würden
ja erst 2006 fortgesetzt werden.
Ich kann dazu nur sagen: Das stimmt nicht. Wir erarbei-
ten die Kriterien und werden ab 2003 – das ist nicht mehr
lang hin – in einen konstruktiven Dialog mit der Bevöl-
kerung über die Kriterien eintreten.
– Natürlich machen wir das zuerst ganz allgemein. Wir
werden es nicht wie Sie machen, nämlich auf autoritäre
Art und Weise einen Standort bestimmen und sich dann
wundern, wenn die Bevölkerung auf die Barrikaden geht.
Wir machen daraus ein transparentes und demokratisches
Verfahren.
Wir wissen sehr wohl, dass das ein schwieriger Prozess
ist. Aber Ihre Politik, wie Sie sie bei Gorleben und
Schacht Konrad betrieben haben, entspricht nicht unserer
Herangehensweise. Wir sind sehr froh, dass wir bei der
Lösung solcher Probleme mit der Bevölkerung anders
umgehen, als Sie meinen, dass wir es tun sollten.
Ich nenne noch andere Themen wie die Kraft-Wärme-
Kopplung, Energieeinsparung und Energieeffizienz,
nachwachsende Rohstoffe, Ökolandbau, gesunde Nah-
rungsmittel sowie die Verknüpfung von Landschafts- und
Naturschutz mit sanftem Tourismus und mit der Land-
wirtschaft in ganz neuer Form. All das haben wir auf den
Weg gebracht. Wir haben für eine Verbindung von Um-
weltschutz und Klimaschutz mit einer veränderten
Form der Wirtschaftspolitik gesorgt, die nicht die Um-
weltpolitik separiert, sondern Umwelt und Wirtschaft,
Umwelt und Arbeit sowie – last, not least – Umwelt und
Gesundheit konstruktiv zusammenführt.
Wir sind fest davon überzeugt: Mit dieser Form der
Modernisierung von Gesellschaft und Wirtschaft integrie-
ren wir die Umweltfragen in die anderen Ressorts. Damit
betreiben wir intelligente Politik und nicht einfach nur Po-
litik mit Geld, so wie Sie das ständig meinen machen
zu müssen. Wir integrieren Umweltpolitik in die Wirt-
schaftspolitik, in die Agrar- und Verbraucherschutzpoli-
tik, in das Bau- und Verkehrsressort und last, not least mit
unserer Strategie für Nachhaltigkeit auch in das Kanzler-
amt. Kommen Sie erst einmal dahin, nicht nur einzelne
Fachpolitiker vorzuschicken, sondern das Thema in Ihren
Fraktionen zu verankern. Das wünsche ich Ihnen.
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Christian Eberl
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Nachhaltigkeit ist einer der drei Begriffe, mit der
die jetzige Bundesregierung ihren Koalitionsvertrag über-
schrieben hat. In das Kapitel V, Umwelt, dessen Haushalt
wir heute diskutieren, wird mit den Worten eingeführt:
Das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung be-
stimmt unser Regierungshandeln.
In der Politik ist das Ziel der nachhaltigen Entwick-
lung erst in den letzten Jahren durch die internationalen
Konventionen in den Mittelpunkt des Handelns gerückt.
Als Forstwirt und Waldökologe und durch meine Arbeit in
der Vergangenheit im Bereich der Umweltkontrolle be-
schäftige ich mich mit der Nachhaltigkeit schon seit mei-
nem Studium. Aus dieser langjährigen Beschäftigung ist
mir bekannt, dass die Zielformulierung die eine und die
Kontrolle der Zielerreichung die andere Seite der gleichen
Medaille ist.
Entscheidend ist daher nicht die Frage, was Sie laut Ko-
alitionsvereinbarung tun wollen, sondern wie Sie es tun
wollen und wohin der Weg führt.
In der Koalitionvereinbarung steht:
Nachhaltige Entwicklung ist zentrales Ziel unserer
Reformpolitik.
Das ist eine qualitative Aussage, die jeder unterschreiben
kann. Wenn wir das aber quantitativ bewerten, also kon-
trollieren wollen, dann müssen wir das mithilfe so genann-
ter Indikatoren tun. Einfache Indikatoren sind zum Bei-
spiel die Haushaltszahlen. Die Haushaltszahlen 2002 bis
2003 zeigen uns, dass Ihr Haushalt um 3 Prozent sinkt.
Franziska Eichstädt-Bohlig
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dr. Christian Eberl
Dieser geht – Frau Homburger hat das vorhin betont – seit
1998 um 15 Prozent zurück.
– Eben, Quantität. Das ist genau das, was ich meine.
Wenn Sie, verehrte Frau Kollegin, diese nachhaltige
Entwicklung weiter fortschreiben – das können Sie gerne
tun –,
dann sind Sie in 30 Jahren mit Ihrer Umweltpolitik über-
flüssig, weil Sie dann kein Geld mehr im Haushalt haben
werden.
Das ist der entscheidende Punkt, weshalb Sie anhand von
Indikatoren auch kontrollieren müssen.
16,3 Millionen Euro beträgt die Kürzung und nicht,
wie Herr Trittin sagte, nur 8 Millionen Euro. Denn im
Haushaltsplan stehen noch 8 Millionen Euro an globaler
Minderausgabe.
Das ist Geld, das Sie einsparen wollen. Sie sagen aber
nicht, wo Sie es einsparen wollen, weil Sie es nicht wis-
sen.
Da Sie an der Regierung sind, erwarte ich von Ihnen klare
Aussagen, an welcher Stelle Sie Einsparungen vorneh-
men wollen.
Es gibt sicherlich Konsens zwischen allen Umweltpoliti-
kern im Deutschen Bundestag, egal welcher Partei sie an-
gehören, dass die Kürzungen im Umweltbereich wehtun.
Dass nun gerade die Grünen vor die Wähler treten und
diese Kürzungen als nachhaltige Entwicklung verkaufen
wollen,
muss ihnen besonders weh tun.
Ihre Politik in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass
die Bundesregierung jetzt nicht mehr, sondern weniger für
die Umwelt tut. In einzelnen Bereichen – Herr Trittin hat
das betont – tut sie mehr. Er hat gesagt, bei den Umwelt-
verbänden sei der Haushaltsansatz seit 1998 um 70 Pro-
zent gestiegen. Meine Damen und Herren, stellen Sie sich
einmal vor, die FDP hätte eine Klientelpolitik betrieben,
mit der sie eine Steigerung von 70 Prozent bei den Ver-
bänden verursacht hätte!
Wir wollen eine Politik, die nicht den Verbänden zu-
gute kommt, sondern den Menschen vor Ort.
Deswegen erwarten wir, dass Sie zum Beispiel etwas für
den Vertragsnaturschutz tun, Herr Trittin, nicht aber,
dass Sie bunte Papiere produzieren lassen.
Es geht darum, dass das Geld konkret bei denjenigen, die
vor Ort auf diesem Gebiet tätig sind, zum Beispiel den
Land- und Forstwirten, ankommt.
Ich muss leider zum Schluss kommen. – Wir als FDP
setzen in unserer Politik weiterhin auf das Kooperations-
prinzip. Wir machen keine Politik von oben. Wir wollen
Umwelt- und Naturschutzpolitik mit den Menschen, die
in unserem Land wohnen, durchführen. Dafür brauchen
wir auch Geld, und zwar das Geld, das Sie aus der Öko-
steuer im Namen der Umwelt einnehmen, aber an der
falschen Stelle wieder ausgeben.
Herzlichen Dank.
Herr Kollege Eberl, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede im Deutschen Bundestag.
Da das Präsidium die Qualität der Rede nicht zu beurtei-
len hat, haben Sie bitte Verständnis dafür, dass wir umso
sorgfältiger auf die Dauer der Reden achten müssen.
Als nächstem Redner erteile ich Herrn Dr. von
Weizsäcker von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Gestatten Sie mir nach diesem Austausch von Mei-
nungen und den Schilderungen der Grundlinien der Um-
weltpolitik durch den Herrn Minister ein paar Gedanken
zur langfristigen Perspektive.
Umweltpolitik ist heute notwendigerweise Langfrist-
politik. Zu Recht beklagen die Menschen in unserem
Land, dass der Politik der Sinn für die langfristige Orien-
tierung verloren gegangen ist.
Wenn vonseiten der Wirtschaft oder der Opposition
dies heute medienwirksam mit beklagt wird, dann wird
meistens nicht bedacht, dass es gerade die Wirtschaft und
manche ideologische Stimmen aus der Opposition sind,
die sich vehement für noch mehr Wettbewerb einsetzen.
Es ist aber doch eindeutig der globale Wettbewerb, der
uns in den letzten zehn Jahren die Luft zum Atmen für
langfristige Umweltpolitik genommen hat.
Langfristigkeit in den Zeiten der Globalisierung ist ge-
radezu zum Luxusgut geworden. Eben dies ist eine Kata-
796
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 797
strophe für die Umwelt. Wer nämlich kurzfristig dispo-
niert, der kann vom Markt belohnt werden. Wer langfris-
tig und ökologisch disponiert, eben nicht.
Die Medien verstärken auch noch diesen Trend. Was
älter als 24 Stunden ist, das ist für die heutigen Medien
schon Mittelalter. Im Sinne der heutigen Medien ist eine
gesunde Umwelt das Langweiligste von der Welt. Was
gibt es da zu berichten? Da transportiert man dann lieber
lautstark das Klagelied über den Verlust der Langzeitori-
entierung.
Auch Geld verdienen kann man übrigens mit einer ge-
sunden Umwelt nicht so gut. Wenn heute jemand mit Um-
welt Geld verdient, dann meistens, weil es der Umwelt
nicht gut geht oder weil mindestens Risiken erkennbar
werden. Dann kann man messen, steuern und regeln, man
kann sanieren, filtern und rezyklieren, man kann mit Auf-
lagen genehmigen und Risiken versichern.
Aber das war im Wesentlichen die Phase der klassi-
schen Umweltpolitik, als es der Umwelt so schlecht ging,
dass man all diese Maßnahmen ergreifen musste. Das war
die hohe Zeit der Umwelttechnik, vor 20 oder vor 30 Jah-
ren, in den neuen Bundesländern noch vor zehn Jahren.
Da war der Umweltschutz noch etwas Kurzfristiges. Es
ging um unmittelbare Gefahrenabwehr, es ging um Trink-
wasser, Badegewässer, die Luft zum Atmen, die Spiel-
plätze der Kinder, die giftigen Holzschutzmittel und um
unerträglichen Lärm. In dieser Zeit haben auch die Me-
dien noch richtig mitgemacht.
Wir können von Glück sagen, dass es unabhängig von
der Parteizugehörigkeit der jeweiligen Umweltminister in
diesen letzten 30 Jahren gelungen ist, die unmittelbaren
Gefahren abzuwenden. Insofern ist es eigentlich ein gutes
Zeichen, wenn wir es uns leisten können, die staatlichen
Ausgaben für den Umweltschutz zurückzufahren. Ich darf
auch Ihnen, lieber Herr Kollege Paziorek und lieber Herr
Kollege Eberl, sagen: Es ist nicht unbedingt ein schlech-
tes Zeichen für den Zustand der Umwelt, wenn dieser
Haushalt zurückgefahren werden kann.
– Ja, die trage ich gerade vor. Das ist doch eine sehr or-
dentliche Analyse.
Langfristig darf uns das natürlich noch nicht beruhi-
gen. Wir müssen uns mit denjenigen Gefahren vermehrt
auseinander setzen, die heute zum Teil schon sichtbar
sind – Frau Eichstädt-Bohlig hat die Unwetterkatastro-
phen angesprochen –, die zum größeren Teil aber noch
nicht sichtbar sind, etwa die Endlagerung von radioakti-
ven Abfällen, der Anstieg der Meeresspiegel, der Verlust
der biologischen Vielfalt durch versäumten Naturschutz
oder die ökologischen Langzeitrisiken der Agrargentech-
nik.
Über die langfristige Umweltpolitik, die notwendiger-
weise über die Dauer von Legislaturperioden und sogar
über die Dauer des Regierens von Regierungsbündnissen
hinausgeht, muss man folglich einen großen gesellschaft-
lichen Grundkonsens herstellen. Es tut nämlich nicht
gut, wenn eine langfristig angelegte Politik im Falle eines
Mehrheitswechsels in der Demokratie unterbrochen und
womöglich geändert wird. Für uns, die Mitglieder der Re-
gierungskoalition, bedeutet das, dass wir in vielen Punk-
ten auf die Opposition zugehen; aber es bedeutet natürlich
auch für Sie, dass Sie nicht um der Schlagzeilen willen
jede Mücke zum Elefanten machen und versuchen, immer
nur das Schlechte herauszupicken.
Worauf können wir uns denn vernünftigerweise einigen?
Diese langfristige Einigung kann in der Hauptsache eigent-
lich nur darin bestehen, dass wir so etwas wie eine öko-
logische Neuausrichtung des technischen Fortschritts
lernen. Das ist sehr wohl möglich. Wir können zum Bei-
spiel lernen, aus einer Kilowattstunde oder aus einem Fass
Öl mindestens viermal so viel Wohlstand, mindestens
viermal so viel Mobilität, mindestens viermal so viel be-
hagliche Raumwärme in unseren Häusern usw. herauszu-
holen, wie es heute der Fall ist, und zwar zusätzlich zum
Ausbau der Erneuerbare-Energien-Quellen.
Das mag 40 Jahre dauern; das sind zehn Legislaturpe-
rioden heutiger Länge. Das ist sicher mehr, als eine Partei
oder eine Koalition an der Regierung bleibt. Unabhängig
von den politischen Mehrheiten muss dann die Energie-
produktivität um 3 bis 4 Prozent pro Jahr gesteigert wer-
den. Das können unsere Enkel und die Nichtgeborenen
von unserer Generation verlangen.
Das ist übrigens in keiner Weise utopisch. Das Statisti-
sche Bundesamt hat erst vor ein paar Wochen neue Zahlen
vorgelegt, die besagen, dass die Energieproduktivität in
den letzten zehn Jahren jedes Jahr um 1,8 Prozent gestei-
gert worden ist. Es geht also im Grunde genommen nur
noch um eine Verdoppelung dessen, was ohnehin schon
passiert ist. Das ist sehr wohl zu leisten. Es wird aber nicht
stattfinden, wenn es der Politik nicht gelingt, einen lang-
fristigen Rahmen zu setzen, damit es sich für die Privat-
wirtschaft und natürlich auch für die öffentliche Hand
lohnt, sich an einem solchen Pfad auszurichten.
Frau Kollegin Ferner hat mit Recht schon darauf hinge-
wiesen, dass ein großer Teil der heutigen Umweltpolitik
gar nicht mehr im Umweltressort stattfindet, sondern in
vielen anderen Ressorts. Die ökologische Neuausrichtung
des technischen Fortschritts, also das, wovon ich hier spre-
che, macht natürlich nur einen Teil der Aufgaben des Um-
weltressorts aus. Das Technologieressort, das Verkehrsres-
sort, das Agrarressort, das Ressort für Entwicklungspolitik
und viele andere Ressorts haben damit ebenfalls zu tun.
Bei der Diskussion des Haushalts des Umweltministers
kommt es also darauf an, auch die Haushalte der anderen
Ressorts systematisch anzuschauen. Das tun wir auch.
Die ressortübergreifende Umweltpolitik ist natürlich
der Kern der nachhaltigen Entwicklung. Wir werden da-
rauf achten, dass diese Aufgabe nunmehr endlich auch auf
der parlamentarischen Ebene entschlossen angegangen
wird. Das ist ein Teil des Auftrags unserer Koalitionsver-
einbarung. Ich persönlich werde mich dafür einsetzen,
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
dass dieser Auftrag insbesondere vom Umweltausschuss
kompetent und wirksam wahrgenommen wird.
Besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten besteht
immer die Gefahr, dass das Nachhaltigkeitsdreieck
„Ökologie, Ökonomie und Soziales“ ohne die Ökologie
stattfindet. Wir müssen dafür sorgen, dass das Dreieck
auch ökologisch ausgewogen ist. Dafür müssen wir aber
die Konfrontation zwischen Ökologie und Ökonomie so
weit wie möglich überwinden. Das gelingt insbesondere
dann, wenn die Umweltpolitik noch wirtschafts- und so-
zialverträglicher wird.
Hier sehe ich zwei ganz unterschiedliche Baustellen.
Das ist erstens – das habe ich bereits gesagt – die lang-
fristige Neuausrichtung des technischen Fortschritts.
Zweitens ist das etwas ganz anderes: Wir brauchen eine
Entfrachtung der klassischen Umweltpolitik von einer für
die Wirtschaft unnötig teuren und in dieser Form auch gar
nicht mehr zeitgemäßen Bürokratie. Als es bei der Um-
weltpolitik noch um unmittelbare gesundheitliche Gefah-
renabwehr ging, zahlte man den Preis einer hohen Rege-
lungsdichte einigermaßen klaglos – alles andere hätte ja
zynisch ausgesehen. Heute aber, da die Emissionen der
klassischen gesundheitsbedenklichen Schadstoffe radikal
zurückgegangen sind, ist es mit Sicherheit möglich, bei
Genehmigungen von Anlagen wesentlich unbürokrati-
scher vorzugehen, als das früher der Fall war. So sind etwa
befristete Genehmigungen denkbar, bei denen die Behör-
den nicht mehr die Gewissheit suchen müssen, dass die
Anlage auf alle Zukunft sicher dasteht.
Danach ruft ja auch die Wirtschaft. Nur, wenn die Wirt-
schaft nach dieser Art von Deregulierung ruft, dann muss
sie wissen, dass auch das einen Preis hat, nämlich den
Preis einer verschärften Umwelthaftung.
Es ist vollkommen inkonsistent, wenn man nach Deregulie-
rung ruft, für die wir von der Regierungsseite sehr offen
sind, dann aber gleichzeitig Umwelthaftung radikal ablehnt.
Die Entfrachtung der Umweltregulierung darf schließlich
nicht zulasten der Umwelt gehen. Eine schlankere Rege-
lung der Zuständigkeit für Gewässerschutz zwischen EU,
Bund und Ländern schadet aber überhaupt nicht der Um-
welt, sondern nützt ihr.
Ich weiß mich mit den Handelnden sowohl in der Wirt-
schaft als auch in der Umwelt einig darin, dass wir eine
umwelt- und wirtschaftsverträgliche Deregulierung im
Laufe der nächsten drei oder vier Jahre gewaltig voran-
treiben können. Auch da sehe ich viele Gemeinsamkeiten
zwischen der heutigen Regierungsseite und der heutigen
Oppositionsseite.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Albrecht Feibel,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Auch ich will die Frage nach der intelligenten Poli-
tik stellen, die die Kollegin angesprochen hat. Es wäre si-
cherlich intelligente Politik, wenn wir eine effiziente
Umweltpolitik, die zudem noch nachhaltig sein will,
auch als gute Wirtschaftspolitik betrachten würden. Oder
umgekehrt ausgedrückt: Eine verantwortungsvolle Wirt-
schaftspolitik muss doch auch immer eine gute Umwelt-
politik sein. Das Ziel sollte in jedem Fall sein, dass wir ne-
ben der Umweltpolitik auch die Arbeitsplätze im Auge
haben.
Wenn ich da Bilanz ziehe, Frau Kollegin, dann muss ich
sagen: Bei der Aufgabe, Arbeitsplätze im Umweltbereich
zu schaffen, ist die Politik von Rot-Grün noch meilenweit
von einem Erfolg entfernt.
Ich will ferner sagen: Wir fordern nicht immer mehr
Geld. In dieser Debatte hat keiner von unseren Rednern
von der CDU/CSU mehr Geld gefordert.
Wir bewerten den Haushalt des Bundesumweltministers.
Wir betrachten seine tatsächliche Aufgabenstellung und
seine Zuständigkeit. Sie steht eigentlich im krassen Ge-
gensatz zu den Ansprüchen, die der Umweltminister im-
mer erhebt.
Er schmückt sich gern mit fremden Federn. Er verteilt
massenweise Ökosiegel und begeht damit reihenweise
Etikettenschwindel.
Krassestes Beispiel dafür ist die ökologische Steuerre-
form. Die so genannte Ökosteuer, die weder öko noch lo-
gisch ist, dient ausschließlich dazu, die Löcher in der Ren-
tenkasse und im Bundeshaushalt zu stopfen.
Sie wird ungerechterweise von allen Autofahrern an der
Tankstelle kassiert. Mit dieser Steuer werden keine öko-
logischen Projekte gefördert und wird kein neues ökolo-
gisches Verhalten bewirkt.
In Wirklichkeit verteuert die Ökosteuer nur deutsche Pro-
dukte, erschwert die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Unternehmen und vernichtet somit Arbeitsplätze.
Bis heute ist es Ihnen, Herr Minister, leider nicht gelun-
gen, eine echte Ökosteuer EU-weit gemeinsam mit Ihren
Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten durchzusetzen,
sodass die dramatische Wettbewerbsbenachteiligung un-
serer Wirtschaft abgebaut werden könnte. Der Steue-
rungseffekt Ihrer Ökosteuer liegt einzig und allein darin,
dass die Autos billigere Tankstellen ansteuern – insbeson-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 799
dere im Grenzraum wird im Ausland getankt – und – das
ist das Schlimme dabei – dass deutsche Unternehmen ihre
Betriebe dorthin verlagern, wo die Produktion durch
günstigere Energiekosten wettbewerbsfähiger wird. Des-
halb ist Ihre Ökosteuer ein ökologischer, ein umweltpoli-
tischer Flop.
Auch ihre Marktanreizprogramme für erneuerbare
Energien sollten Sie einmal kritisch überprüfen. Einer-
seits müssen finanzieller Aufwand und ökologischer Nut-
zen gegeneinander abgewogen werden, andererseits sollte
beispielsweise der Aufbau immer neuer Windkraftanla-
gen nicht dazu führen, dass unsere Landschaft so ver-
schandelt wird, dass sie für die Anwohner, aber auch für
die Touristen abstoßend wirkt.
Außerdem mussten wir kürzlich von Umweltschützern
hören, dass die bisher aufgebauten Windkrafträder jähr-
lich etwa 500 000 Vögel töten.
Ein Umweltminister, der auch für den Naturschutz zu-
ständig ist, müsste dieses Signal ernst nehmen und bei
ihm müssten die Alarmglocken läuten. Dass wir uns rich-
tig verstehen, meine Damen und Herren: Die CDU/CSU
ist selbstverständlich für die Nutzung der Windkraft, al-
lerdings muss die Frage erlaubt sein, ob es Sinn hat, mit-
hilfe überzogener Fördersätze solche Anlagen an jeder be-
liebigen Stelle zu errichten. Aber offensichtlich fehlt
Ihnen auch in diesem Bereich das nötige Augenmaß. Des-
halb meine Bitte, Herr Minister: Prüfen Sie doch einmal
landschaftsfreundlichere Alternativen zur Energieerzeu-
gung mit Windkrafträdern. Deren Förderung sollten Sie
ins Auge fassen.
Auch wenn Sie das hier immer wieder erwähnte so ge-
nannte Sparpaket – in Wirklichkeit ist es ein Steuerer-
höhungspaket – Ihres Kabinettskollegen Eichel betrach-
ten, müssten Ihnen die Tränen kommen. Ist Ihnen
eigentlich schon einmal aufgegangen, welches umwelt-
politische Desaster sich hier anbahnt? Ich nenne einige
Beispiele:
Jahrelang haben Sie für umweltfreundliche Energie-
nutzung geworben. Jetzt werden die Menschen zur Kasse
gebeten und enttäuscht. Das Gleiche gilt für Nacht-
speicheröfen.
Ich habe mich vorhin gewundert, dass ein Kollege auf die
50er- und 60er-Jahre Bezug genommen hat. Das war in
den 70er-Jahren, als die Genossen so richtig energiegläu-
big in Richtung Kernenergie geblickt haben.
Da haben die Menschen Nachtspeicheröfen gekauft
und sich darauf verlassen, dass Ihre Politik langfristig
nachhaltig ist. Die Menschen, die das gemacht haben, sind
heute die Betrogenen.
Ich nenne ferner die Holzabfäller die Sie ebenfalls
höher besteuern. Unter Holzabfällen kann sich ein Nor-
malbürger kaum etwas vorstellen. Dahinter verbergen
sich die so genannten Pellets, von der rot-grünen Regie-
rung als neuer Energieträger für die Zukunft bejubelt.
Auch wer sich darauf verlassen hat, zählt heute zu den
Dummen, weil er zusätzlich steuerlich belastet wird.
Dann noch ein Beispiel, das in die Advents- und Weih-
nachtszeit passt:
Sie wollen deutsche Weihnachtsbäume höher besteuern,
während die importierten ungeschoren bleiben.
Darüber können Sie lachen, aber aus Polen und Dänemark
importierte Weihnachtsbäume müssen über weite Strecken
transportiert werden, in der Regel mit LKWs. Wenn das
Ihr ökologisches Verständnis ist, dann weiß ich, warum
Sie den Menschen dieses Geschenk auch noch unter den
Weihnachtsbaum legen.
Der Minister hat offensichtlich im Kabinett nicht den not-
wendigen Mumm oder es ist ihm alles egal, wenn er das,
was Eichel bestimmt, so passieren lässt.
Nun noch kurz ein Blick auf den Einzelplan 16. Er lässt
eigentlich nur einen Schluss zu, nämlich dass Ihr Minis-
terium ganz wesentlich damit beschäftigt ist, sich selbst
zu verwalten.
Dieses Haus ist unter der rot-grünen Regierung zu einer
echten Sich-Selbstverwaltungsbehörde verkommen. Beleg
dafür ist die Tatsache, dass seit der Übernahme des Minis-
teriums durch Herrn Trittin der Verwaltungshaushalt
kontinuierlich gewachsen ist, während der Programm-
haushalt, also die Förderung von Umweltprogrammen
und Umweltaktivitäten, außerordentlich großen Schwan-
kungen unterliegt. Tendenziell geht diese Förderung nach
unten.
Unter der Bundesumweltministerin Merkel betrug der
Verwaltungshaushalt 175 Millionen Euro und der Pro-
grammhaushalt 194 Millionen Euro.
Heute beträgt der Verwaltungshaushalt, die globale Kür-
zung eingerechnet, 222 Millionen Euro. Demgegenüber
steht ein wesentlich niedrigerer Programmhaushalt.
Albrecht Feibel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Albrecht Feibel
Für den gesamten Einzelplan des Bundesumweltminis-
ters ist eine Absenkung um 3 Prozent gegenüber 2002 ge-
plant, während der Gesamthaushalt nur um 1,8 Prozent
abnehmen soll. Der Programmhaushalt wird sogar um
5 Prozent gekürzt. Das ist sicher kein Ausdruck der
Durchsetzungsfähigkeit eines Ministers für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit
und kein Zeichen einer Akzentsetzung für eine angeblich
nachhaltige Umweltpolitik.
Herr Minister, Sie schaffen es nicht einmal, im Kabinett
eine Reduzierung Ihres Einzelplans in der Größenordnung,
wie sie für den Gesamthaushalt vorgesehen ist, durchzu-
setzen.
Außerdem ist es mehr als bedauerlich, dass die meisten
Umweltprogramme federführend von anderen Ministe-
rien betreut werden. Dort werden die großen Summen
ausgegeben, die die Qualität der Umweltpolitik ausma-
chen. Der Minister redet immer sehr viel von Haushalts-
kompetenz, aber er hat sie im Grunde genommen nicht.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit
dieser rot-grünen Politik ein massiver Bedeutungsverlust
für das Umweltministerium verbunden ist.
Abschließend will ich noch ein besonders Problem an-
sprechen. Bürger, Organisationen und Verbände, die sich
größtenteils ehrenamtlich in den Dienst des Umwelt-
schutzes stellen, werden von Ihnen offensichtlich
zunächst einmal auf ihr politisches Wohlverhalten und auf
ihre politische Übereinstimmung mit bündnisgrüner Ideo-
logie überprüft, bevor eine Verbands- oder Projektförde-
rung gewährt wird.
Jüngstes Beispiel ist der Bund für Heimat und Umwelt,
– lachen Sie ruhig! –, der unter seinem Dach 3 Millionen
Mitglieder zählt. Ich denke, diese Zahl kann sich sehen
lassen.
Manche DGB-Gewerkschaft ist nicht so groß.
Der Bund für Heimat und Umwelt bekam im Jahr 2000
noch 184 576 Euro an institutioneller Förderung. 2001 ha-
ben Sie die Förderung auf 138 560 Euro zurückgeführt.
Bis zum Jahr 2005 wird die Förderung auf null zurückge-
führt.
Natürlich ist es richtig, die Frage zu stellen: Was ma-
chen die damit?
Aber diese Frage müssen Sie auch den Verbänden stellen,
die Ihnen besonders nahe stehen. Sie müssen überall kon-
trollieren, was mit dem Geld gemacht wird.
Wenn Sie das, was dieser Verband leistet, einmal ob-
jektiv, unvoreingenommen und unideologisch betrachten,
dann werden Sie feststellen, dass dort eine wichtige Ar-
beit geleistet wird. Ich habe aber den Eindruck, dass das
Wort „Heimat“ den Minister oder die rot-grüne Koalition
arg stört. Deshalb muss dieser Verband abgestraft werden.
Er ist offensichtlich nicht regierungskonform genug. Des-
halb verdient Ihr Vorgehen unsere Kritik.
Aber Kritik ist nicht nur in diesem Punkt, sondern all-
gemein, wie ich es dargelegt habe, angezeigt. Es gibt zu
viel Verwaltung und zu wenig Programm. Deshalb wer-
den wir den Einzelplan 16 ablehnen.
Nun hat Kollege Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grü-
nen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach diesem flammenden Plädoyer für die deutsche
Tanne, die wir alle natürlich lieben – wir alle sind hei-
matverbunden; in der Eifel haben wir viele Tannen und
bekommen Tannen aus dieser Region; soweit ich weiß,
geht auch nach den Steuergesetzen der Bundesregierung
alles in diesem Bereich geordnet weiter –, will ich auf die
Grundlagen der Umweltpolitik eingehen. Zunächst ein-
mal möchte ich bei dem ansetzen, was der Kollege
Paziorek gefragt bzw. der Kollege Eberl moniert hat: bei
der Zielsetzung und der Zielerreichung. Dabei will ich
kurz den Blick zurückwerfen, bevor ich nach vorn schaue.
Ich glaube, es gibt im Rückblick, aus der Perspektive
des Jahres 2002, kaum einen Bereich im Koalitionsver-
trag von 1998, wo das, was aufgeschrieben worden ist, so
umgesetzt worden ist wie im Umweltbereich. Wir haben
gesagt: Wir machen die ökologische Steuerreform. – Wir
haben sie gemacht. Wir haben gesagt: Wir machen den
Atomausstieg. – Wir haben ihn gemacht.
Wir haben gesagt: Wir fördern die erneuerbaren Energien. –
Wir haben es gemacht. Wir haben gesagt: Wir novellieren
das Bundesnaturschutzgesetz. –Wir haben es gemacht. Wir
haben gesagt: Wir entwickeln ein nationales Klima-
schutzprogramm. – Wir haben es gemacht. Das heißt, bei
uns sind Wort und Tat deckungsgleich. Bei Ihnen ist das mit-
nichten der Fall. Hier besteht ein gewaltiger Unterschied.
800
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 801
Manche Ziele haben wir uns planvoll gesetzt. Andere
sind gewissermaßen im Laufe der Legislaturperiode ent-
standen. Sie waren schon diffus vorhanden, sind aber
durch bestimmte Umstände in den Vordergrund gerückt.
Nehmen wir beispielsweise das Thema Agrarwende.
Natürlich hatten wir klare Vorstellungen davon, dass es in
diesem Bereich in eine andere, in eine naturverträgliche
Richtung gehen muss. Dies war am Anfang äußerst
schleppend; das gebe ich ohne weiteres zu. Als dann aber
die Probleme auftauchten, zum Beispiel BSE, MKS
usw. – Sie erinnern sich noch –, da hatten wir die not-
wendigen Konzepte parat und konnten mit der Agrar-
wende beginnen.
Zur Glaubwürdigkeit gehört eben, dass man die The-
men wirklich vorbereitet und man dann, wenn sie anste-
hen, gute Konzepte hat und sich nicht nur auf Kritik be-
schränkt, wie Sie das tun. Auch hier besteht ein gewaltiger
Unterschied.
Ein weiteres Beispiel ist die Flusspolitik. Hier war es
ganz ähnlich. Wer 1998 oder 1999 gesagt hätte, die Bun-
destagswahl 2002 wird möglicherweise durch die Frage,
wie wir mit unseren Flüssen umgehen, entschieden, der
hätte nur ein müdes Lächeln geerntet. Ich glaube, das ist
jedem klar.
Fakt ist aber, dass die Menschen, als das Thema im Au-
gust dieses Jahres aktuell wurde, erkannt haben: Die rot-
grüne Koalition hat schon bei der Donau und dann schritt-
weise bei der Elbe, der Saale usw. die Weichen in die
richtige Richtung gestellt und hat etwas für den Klima-
schutz getan. Das heißt, wir waren auf Themen vorberei-
tet, die nicht unbedingt oben auf der Agenda standen. Wir
haben unsere Hausaufgaben gemacht. Auch hier besteht
ein gewaltiger Unterschied. Es reicht nicht aus, nur zu kri-
tisieren. Man muss Konzepte anbieten. Das muss man von
der Opposition verlangen.
Genauso sieht es bei der Verpackungsverordnung
aus. Sie schwingen hier andauernd hin und her. Damals,
als die Themen BSE, MKS usw. aktuell wurden, haben
Sie die Diskussion angeführt. Ein Jahr später wollen Sie
in der Agrarpolitik eigentlich nichts ändern.
Die Dose ist ein typisches Beispiel hierfür. Ein Minis-
ter Ihrer Partei hat damals vernünftigerweise das Konzept
einer Verpackungsverordnung entwickelt. Sie wurde
1997 bzw. 1998 novelliert. Als es dann zum Schwur kam,
als sich die Mehrwegquote im freien Fall befand und wir
gefordert haben: „Jetzt müssen wir handeln“, da haben Sie
sich verabschiedet und gesagt: Lasst uns doch eine frei-
willige Selbstverpflichtung machen!
Das passt nicht zusammen. Zu einem glaubwürdigen
Handeln des Staates gehört es, zu sagen: Wir räumen der
Wirtschaft im Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflich-
tung ein, das selbst zu entscheiden. Aber wenn ihr die ge-
steckten Ziele systematisch unterschreitet – da sind wir
beim Monitoring –, dann verabschieden wir ein entspre-
chendes Gesetz. – So machen wir es jetzt.
Ich kann vor allen Dingen die Union im Hinblick auf
das Dosenpfand nur davor warnen, auf zivilen Ungehor-
sam zu setzen und bestimmte Praktiken zu kopieren.
Das ist der Weg, den wir nicht gehen können.
Ich will kurz den Blick nach vorne richten. Wir haben
bereits auf die Maßnahmen der letzten Legislaturperiode
hingewiesen; der Minister hat sie beschrieben. In dieser
Legislaturperiode geht es uns ganz klar um die Prinzipien
„Fortsetzung der Energiewende und der Agrarwende“.
Wir wollen auch die Verkehrswende etwas systematischer
angehen. Wir werden beim Bundesverkehrswegeplan se-
hen, wo Sie stehen. Sie werden immer nur mehr und mehr
fordern; da bin ich mir ganz sicher. Wir wollen den Kioto-
Prozess, die Kreislaufwirtschaft, die Flusspolitik und die
Flächenentsiegelung systematisch voranbringen. Das
sind unsere Ziele.
Es wurde hier seitens der Opposition gesagt, es seien
keine Arbeitsplätze geschaffen worden. Das ist natürlich
totaler Blödsinn. Im Bereich der erneuerbaren Energien
arbeiten heute 130 000 Menschen
und im Bereich der Altbausanierung 300 000 Menschen.
Sind das keine Arbeitsplätze? Ich bitte Sie; es ist doch Un-
fug, was Sie hier erzählen.
Sie müssten sich einmal gewissenhaft fragen: Warum
haben all jene, denen die Ökologie so sehr am Herzen liegt,
entweder aus Idealismus oder weil sie ihr strategisches Ge-
schäftsfeld betrifft, eine panische Angst davor gehabt, dass
am 22. September die Mehrheit hätte wechseln können?
Diese Frage sollten Sie sich einmal stellen. Sie werden
auch schnell die Antwort finden: weil Sie nichts anzubie-
ten haben. Das unterscheidet uns fundamental.
Herr Kollege Paziorek, ich erteile Ihnen das Wort zu ei-
ner Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte
kurz auf die Bemerkungen des Kollegen Loske eingehen,
der vieldeutig darauf hinwies, dass vielleicht aus Reihen
der Opposition ein ziviler Ungehorsam gegen diese Rege-
lung unterstützt werden könnte.
Dr. Reinhard Loske
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dr. Peter Paziorek
Um es klar und deutlich zu sagen: Herr Loske, das Bild ist
falsch. Auch wenn wir der Ansicht sind, dass heute im
Vergleich mit dem Dosenpfand bessere Instrumente exis-
tieren – Sie kennen meine persönliche Einlassung dazu;
ich bin ein Anhänger der Abgabe gewesen; denn sie hätte
einerseits die Dose verteuert, andererseits wäre sie ein un-
bürokratisches Instrument gewesen –, habe ich heute noch
in einem Pressegespräch erklärt, dass niemand davon aus-
gehen kann, dass die Union in dieser Frage interessierte
Kreise unterstützen wird, gegen geltendes Recht in der
Form vorzugehen, wie Sie es gerade als zivilen Ungehor-
sam bezeichnet haben. Das geht in einem Rechtsstaat
nicht.
Es stellt sich jetzt natürlich die Frage, dass sich der
Staat, verantwortliche Stellen, Ordnungsbehörden und
beteiligte Kreise unabhängig davon, wie heftig und viel-
leicht wie falsch in den letzten Wochen die Diskussion ge-
laufen ist, zusammensetzen müssen, um von den Barrika-
den herunterzukommen und einen Weg zu finden, der
unbürokratisch und rechtlich angemessen ab dem 1. Ja-
nuar beschritten werden kann.
Die Drohgebärden, die in den letzten Tagen noch mit
Blick auf die Kontrollmechanismen ausgesprochen wur-
den, sind falsch. Auch der zivile Ungehorsam wäre falsch.
Wir müssen jetzt eine Lösung finden, mit der wir das
Recht sauber umsetzen können. Alle Parlamentarier sind
zu einer solchen Haltung, die die Rechtsordnung akzep-
tiert, verpflichtet.
Kollege Loske, möchten Sie antworten? – Bitte schön.
Ich will nur darauf verweisen, dass das Inkraftsetzen
von Recht und Gesetz keine Drohgebärde ist.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Bildung und Forschung. Ich erteile
das Wort der Bundesministerin Edelgard Bulmahn.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Meine sehr geehrten Herren und Damen! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die weltweite Konjunkturentwick-
lung, die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt und
die notwendige Neujustierung der sozialen Sicherungssys-
teme stellen Herausforderungen dar, die in der Tat groß
sind. Die Panikmache und der Klamauk, die heute Mor-
gen hier von einigen betrieben worden sind, helfen dabei
sicherlich niemandem.
Die Menschen wollen nämlich keinen Klamauk und
auch kein Gejammer, sie wollen Taten sehen. Was unser
Land in einer solchen Situation braucht, ist ein vernünfti-
ges Konzept,
das an dem Ziel der Haushaltskonsolidierung festhält und
zugleich die notwendigen Strukturreformen auf gerechte
Art und Weise vorantreibt. Wir haben ein solches Konzept.
Wir gehen einen Weg, der Voraussetzungen für mehr
Innovation, wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeits-
plätze schafft. Ich frage Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition: Wo ist Ihr Konzept?
Wo setzen Sie die Schwerpunkte des Haushalts? Wo wol-
len Sie sparen? Wo sagen Sie: „Hier müssen wir zusätz-
lich investieren“?
Wollen Sie etwa bei den Ausbildungsplätzen im Osten
sparen? Ich habe gesagt: Nein, hier müssen wir einen
Schwerpunkt setzen, damit die Jugendlichen weiterhin
eine Ausbildungschance haben.
Bei uns, bei unserer Politik der vergangenen vier Jahre, sind
die Mittel für Bildung und Forschung gegenüber 1998,
Ihrem letzten Regierungsjahr, meine Herren und Damen
von der Opposition, um mehr als 25 Prozent gestiegen.
Damit haben wir in der letzten Legislaturperiode rund
3,1 Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung in-
vestiert als Sie, meine Herren und Damen der Opposition,
in den vier Jahren Ihrer letzten Legislaturperiode.
Dieses Geld ist gut angelegt; denn die Reformen, die wir
mit diesen Mitteln durchgeführt haben, greifen inzwischen.
Die Zahl der Studienanfänger ist heute so hoch wie nie.
Rechnet man nach den OECD-Kriterien, dann liegt die
Studienanfängerquote jetzt – das sind die neuesten Zah-
len – bei 35,6 Prozent. Damit nähern wir uns dem OECD-
Durchschnitt, den wir immer als Zielsetzung formuliert
haben. Zur Erinnerung: Im Jahre 1998 betrug die Quote
der Studienanfänger nur 27,7 Prozent.
802
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 803
Nach dem Kaputtsparen ist das neue BAföG endlich wie-
der eine Erfolgsgeschichte. Auch das ein Verdienst dieser
Bundesregierung.
Bereits im Jahre 2001 haben wir damit 91 000 jungen
Menschen mehr eine Chance auf qualifizierte Ausbildung
gegeben.
16 000 Fachkräfte mehr nutzten in diesem Jahr das von
uns reformierte Meister-BAföG für ihren beruflichen
Aufstieg. Dass das jetzt endlich wieder ein Renommee
hat, ist unser Verdienst.
Das ist nur sieben Monate nach der Reform eine Steige-
rung um mehr als 28 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Die Steigerung bei der Projektförderung im Forschungs-
bereich um mehr als 44 Prozent, die Strukturreformen, die
schwierig und hart, aber notwendig waren,
haben bei den Forschungsorganisationen die Innovati-
onskraft unseres Forschungsstandorts gesteigert.
Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen, die
aus dem Fachprogramm des BMBF unterstützt werden,
ist seit 1998 um knapp 60 Prozent gestiegen. Auch das
passierte in den letzten vier Jahren.
Auch bei den Inlandspatenten sprechen die Zahlen eine
deutliche Sprache. Die Zahl der Anmeldungen ist mit
52 600 um 10 Prozent höher als vor vier Jahren.
Gerade in der Bildungs- und Forschungspolitik sollte
man sich nicht allein mit Vorurteilen begnügen, sondern
Fakten zumindest zur Kenntnis nehmen.
– Dann kann man Alternativvorschläge machen, Herr
Rachel. Wenn Sie bessere Vorschläge haben, dann disku-
tieren wir auch gern darüber.
Meine sehr geehrten Herren und Damen, unser Kurs ist
eine Haushaltspolitik, in der Bildung und Forschung Pri-
orität behalten.
Diesen Kurs halten wir trotz der notwendigen Einschnitte,
die wir im Gesamthaushalt durchführen müssen, wozu die
Länder im Übrigen auch gezwungen sind.
Wir kürzen im Haushalt insgesamt, aber bei Bildung und
Forschung halten wir das Niveau, ja, steigern es sogar
leicht. Im nächsten Jahr stehen für Bildung und Forschung
insgesamt 9,1 Milliarden Euro zur Verfügung.
Trotzdem können wir nicht, wie gewohnt, an jeder Stelle
hohe Zuwächse zusichern. Deshalb gibt es zum Beispiel
bei der institutionellen Förderung in diesem Jahr eine
Nullrunde.
Das ist keine Kürzung, wie manche behaupten. – Das
halte ich nach den Steigerungen der letzten Jahre für ver-
tretbar, wenn es mir auch schwer fällt.
– Herr Rachel, darüber diskutiere ich gerne mit Ihnen; denn
nach unserer Auffassung muss die Forschungsförderung in
den neuen Bundesländern weiterhin gesteigert werden.
Wenn Sie, Herr Rachel, hier beantragen wollen, dass wir
die Forschungsförderung dort kürzen, dann lassen Sie uns
darüber ernsthaft diskutieren. Wenn Sie das wollen, legen
Sie einen klaren Antrag auf den Tisch,
aber satteln Sie nicht immer drauf, ohne zu sagen, an wel-
cher Stelle Sie dann kürzen wollen.
Wir kürzen bei der institutionellen Förderung nicht, son-
dern wir machen dort eine Nullrunde. Die Forschungsor-
ganisationen erhalten also genauso viel Mittel wie im
Jahre 2002. Es gibt hier also keine Kürzung
und wir werden die Forschungsförderung in den neuen
Bundesländern weiter steigern, weil wir das für unab-
dingbar und zwingend notwendig halten.
– Wenn Sie anderer Meinung sind, dann sagen Sie das
hier.
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Auch beim BAföG, meine sehr geehrten Herren und
Damen, beim Meister-BAföG oder der Nachwuchsförde-
rung kann und will ich nicht kürzen.
Denn wer kein Gold im Boden hat, der muss sich um das
Gold in den Köpfen kümmern. Wer das nicht will, der
muss das hier auf den Tisch legen und auch klar sagen.
Wer nicht auf das Wissen und das Können der Menschen
in unserem Land setzen will – ich will das –, der muss hier
eine andere Position vertreten.
Mit Geld allein – auch das will ich ausdrücklich sa-
gen – ist es dabei nicht getan; gefragt sind das Können, die
Kreativität derjenigen, die in den Bildungseinrichtungen
und den Forschungseinrichtungen arbeiten und Verant-
wortung tragen. Gute Bildung, eine gute Ausbildung sind
heute mehr denn je Eintrittskarten für die Welt von mor-
gen. Wir wollen deshalb nicht, dass diese Eintrittskarten
nach dem Einkommen oder nach dem Bildungsstand der
Eltern verteilt werden, wie es in Deutschland leider immer
noch viel zu sehr der Fall ist.
Das hat die PISA-Studie nachdrücklich offen gelegt.
Wir wollen ein Bildungssystem schaffen, das Qualität
und Chancengleichheit in den Mittelpunkt stellt, das zu-
gleich fördert und fordert. Das schlechte Abschneiden un-
serer Schulen bei der internationalen Vergleichsstudie
PISA hat uns gezeigt, dass wir damit nicht früh genug be-
ginnen können. Denn nur wenn wir unsere Kinder schon
im Grundschulalter ausreichend fördern, werden sie in
den Hochschulen gut ankommen.
Wir haben deshalb nicht lange nach Zuständigkeiten
gefragt, sondern bereits 2001 mit den Empfehlungen des
Forums Bildung entscheidende Weichen für die Erneue-
rung des Bildungssystems gestellt. Im Zentrum steht da-
bei die bessere und individuelle Förderung unserer Kin-
der. Fördern und Fordern ist dabei das Prinzip, das wir
dabei sozusagen als Überschrift über unsere Initiativen
gestellt haben. Wir wollen Schulen mit neuen pädagogi-
schen Konzepten, in denen die Fähigkeiten des einzelnen
Kindes wirklich optimal gefördert werden.
Deshalb wollen wir in den kommenden vier Jahren den
Aufbau von zusätzlichen Ganztagsschulen fördern. Da-
für stellt der Bund 4 Milliarden Euro bereit. Dabei geht es
um weit mehr als ein warmes Mittagessen und betreutes
Spielen am Nachmittag. Es geht nicht darum, den Eltern
die Erziehungsaufgabe abzunehmen, sondern es geht um
ein hochwertiges Bildungsangebot und um die bessere
Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Was wir in unseren Schulen beginnen, meine sehr ver-
ehrten Herren und Damen, müssen wir auch an unseren
Hochschulen fortsetzen. Studierende erwarten – meiner
Meinung nach zu Recht – dass sie auf einem hohen Ni-
veau schnell, praxisorientiert und international ausgebil-
det werden. Von diesem Ziel sind wir in Deutschland aber
noch ein Stück entfernt. Ich will nicht die Augen davor
schließen, wie es meine Vorgänger im Amt immer getan
haben, dass in Deutschland rund ein Drittel aller Studie-
renden ihr Studium abbrechen. Das darf nicht so bleiben.
Deshalb ist ein wichtiger Schwerpunkt meiner Arbeit
in den kommenden vier Jahren, gemeinsam mit den Län-
dern – denn nur so geht es – für mehr Qualität in Lehre
und Forschung zu sorgen. Wir brauchen eine bessere Be-
treuung, eine bessere Beratung unserer Studierenden. Wir
brauchen klar strukturierte Studiengänge und eine bessere
Berufsorientierung.
Die Bundesregierung wird den Ländern einen Pakt für
die Hochschulen anbieten. Kernpunkte sind dabei die
Verbesserung der Qualität des Studiums, mehr Transpa-
renz durch ein umfassendes Hochschulranking, die Ein-
führung eines gestuften Systems von Studienabschlüssen,
eine strukturierte Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses und eine stärkere internationale Ausrich-
tung unserer Hochschulen.
Eine moderne Berufsausbildung, meine sehr geehrten
Herren und Damen, bleibt ein Kernstück unserer Bil-
dungspolitik. Auch in Zukunft gilt: Jeder junge Mensch,
der lernen und arbeiten kann und will, soll einen Ausbil-
dungsplatz erhalten.
Die Bundesregierung hat im Übrigen ihre Hausaufgaben
gemacht. Wir haben zusammen mit den Sozialpartnern Be-
rufsbilder modernisiert, wir haben neue Berufe geschaffen
und wir stellen auch im Haushalt 2003 erhebliche Mittel
bereit, um Jugendliche in Ausbildung zu bringen.
Unser Berufsbildungssystem schneidet im internationa-
len Vergleich nach wie vor gut ab. Das soll auch so bleiben.
Wir werden deshalb nicht auf das PISA für unser Berufs-
bildungssystem warten, sondern wir setzen die begonnen
Reformen konsequent in den nächsten vier Jahren fort.
Unser Ziel ist es dabei, die duale berufliche Ausbildung
auch weiterhin zu stärken, für Jugendliche mit schlechte-
ren Startchancen neue Qualifikationswege zu eröffnen
und mehr Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen
zu schaffen. Dies werden wir mit der Weiterentwicklung
in der Weiterbildung verknüpfen, womit ich bereits in der
vergangenen Legislaturperiode begonnen habe.
Mit einem Kraftakt sondergleichen haben wir die
Forschung in den vergangen vier Jahren gestärkt. Wir ha-
ben neue Schwerpunkte gesetzt und das innovationsmüde
Klima der 90er-Jahre überwunden. Wir haben endlich
wieder Anschluss an die wichtigen, großen Industrielän-
der gefunden.
804
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 805
Die Projektförderung im Bereich der Forschung ist seit
1998 um 44 Prozent gesteigert worden. Bei den For-
schungsorganisationen haben wir Zuwächse realisiert. So
ist zum Beispiel der Bundesanteil bei der Mittelausstat-
tung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der
Max-Planck-Gesellschaft um rund 16 Prozent gestiegen.
Forschung für den Menschen, Forschung für Innova-
tion und wirtschaftliches Wachstum, Forschung für zu-
kunftssichere Arbeitsplätze – das sind unsere Ziele.
Deutschland nimmt bei der Aufklärung der genetischen
Ursachen weit verbreiteter Volkskrankheiten inzwischen
einen Spitzenplatz ein. Damit neue Forschungsergebnisse
künftig noch schneller den Weg in die Arztpraxen und da-
mit zu den Patienten finden, legen wir ein besonderes Ge-
wicht auf die enge Verzahnung von Grundlagenforschung
und klinischer Forschung.
Mit einem Gesamtkonzept „Lebenswissenschaften“
werden wir in den nächsten Jahren die Forschung im Be-
reich der Gesundheitsvorsorge stärken und die Entwick-
lung neuer Medikamente und Therapien vorantreiben.
Damit ermöglichen wir den notwendigen Qualitätssprung
in der medizinischen Versorgung.
Die wesentlichen Impulse für wirtschaftliches Wachs-
tum und neue Arbeitsplätze gehen von einer begrenzten
Anzahl von Technologien aus. Wir werden deshalb die
Forschungsförderung gerade dort konzentrieren, wo die
größte Veränderungsdynamik zu erwarten ist. Wir er-
schließen neue Wachstumsfelder durch die gezielte För-
derung der Bio- und Nanotechnologie. Wir fördern den
Ausbau der bestehenden Märkte in der Mikrosystem-
technik, in den optischen Technologien und in der Mate-
rialforschung. Wir stärken auch die Informations- und
Kommunikationstechnologien, denn sie sind Wachstums-
motoren für viele andere innovative Branchen.
Gerade in diesen wichtigen Zukunftsbranchen kann die
Bedeutung – dies sage ich noch einmal ausdrücklich –
kleiner und mittlerer Unternehmen gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Durch ihre Flexibilität, durch ihre
Fähigkeit, neue Ideen auch schnell umzusetzen, und
durch ihre Nähe zur akademischen Forschung sind sie oft
sehr produktive Ideenschmieden für neue Verfahren und
Produkte. Wir werden deshalb die Innovationsförderung
für KMUs weiter konsequent aufbauen.
Forschungsförderung ist auch Wirtschaftsförderung,
und zwar in einem erheblichen Maße. Dies gilt insbeson-
dere für die neuen Länder, wo gerade forschungs- und wis-
sensintensive Wirtschaftszweige eine noch zu geringe Be-
deutung haben. Wir reden nicht nur vom Aufbau Ost, wir
tun auch etwas dafür. Dies unterscheidet uns von Ihnen.
Allein die Mittel für die gezielte Förderung von Inno-
vationen in Ostdeutschland steigen im Jahre 2003 auf
rund 90 Millionen Euro. Dies sind 46 Prozent mehr als im
Vorjahr. Mit unseren Programmen „Inno-Regio“ und „In-
novative regionale Wachstumskerne“ legen wir einen
Schwerpunkt darauf, die Potenziale in den Hochschulen,
Forschungseinrichtungen und Unternehmen, aber auch in
den Verwaltungen und Länderministerien Ostdeutsch-
lands zusammenzubringen. Damit erschließen wir das ge-
samte Innovationspotenzial in einer Region und schaffen
so neue, zukunftssichere Arbeitsplätze. Dies ist unsere
Zielsetzung.
Bildung und Forschung entscheiden heute nicht nur
über die Zukunft des Einzelnen, sondern auch über die
Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft. Wer
diese Einsicht ernst nimmt, der darf nicht – wie Sie, meine
sehr geehrten Herren und Damen von der Opposition –
auf der einen Seite unbezahlbare Forderungen stellen und
auf der anderen Seite gleichzeitig ankündigen, im Bun-
desrat eine solide Finanzierung dieser Aufgaben zu ver-
hindern. Dies geht nicht. Das ist verantwortungslos.
Deshalb appelliere ich an Sie: Handeln Sie nicht wei-
ter nach dem Motto „destruktiv statt konstruktiv“.
Handeln Sie im Interesse für Bildung und Forschung und
damit im Interesse der Menschen in unserem Land.
Ich erteile der Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Herr Kollege Tauss, Sie sind neugierig wie immer. Ich
bin mir sicher, dass der Kollege Fischer Sie in Kürze auf-
klären wird.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Frau Ministerin Bulmahn hat eben die Auffor-
derung ausgesprochen: Handeln Sie im Interesse von For-
schung und Bildung! – Dazu kann ich Ihnen nur sagen,
Frau Ministerin: Tun Sie es doch bitte!
Wir debattieren heute einen Haushalt für Bildung und
Forschung, von dem eine entscheidende Weichenstellung
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dr. Maria Böhmer
für die Zukunft ausgehen muss. Wir werden diesen Haus-
halt sehr genau unter die Lupe nehmen, um zu sehen, ob
das, was Sie gesagt haben, auch zutrifft oder ob es sich
wieder um leere Versprechungen und Ankündigungen
handelt, die eine relativ kurze Halbwertszeit haben.
Sie haben immer wieder erklärt – ich habe das auch bei
der Debatte über die Regierungserklärung gehört –, dass
Kinder in Deutschland die besten Bildungschancen brau-
chen. Das ist so. Das unterschreiben wir voll. Nur: Sie
müssen Ihren Worten auch Taten folgen lassen. Mit voll-
mundigen Ankündigungen allein ist es nicht getan.
Sie haben heute davon gesprochen, dass Sie auf das
„Gold in den Köpfen“ setzen. Dazu muss ich sagen:
Schauen Sie auf die Ergebnisse von PISA! Schauen Sie in
die Ergebnisse für die unionsregierten Länder und in die
für die SPD-regierten Länder.
Wer achtet das Gold? Die SPD-regierten Länder sind zu
fünft am Ende der Skala, ob es Lesekompetenz, mathe-
matisches Verständnis oder naturwissenschaftliche Kennt-
nisse anbetrifft. Die Toppositionen haben die Bayern, die
Baden-Württemberger und die Sachsen inne. Da zeigt
sich, wer das Gold in den Köpfen wirklich achtet.
– Herr Tauss, auch wenn ich Ihnen das noch einmal er-
klären würde, würden Sie es nicht verstehen. Sie hängen
immer noch den alten Ideologien an.
Seit den Entwicklungen im Zuge von 1968 und der seiner-
zeitigen Bildungsreform müssen Kinder in Deutschland
diesen Unterschied ertragen: SPD-Ideologie und Gewerk-
schaftsideologie auf der einen Seite,
Bildung in den unionsregierten Ländern auf der anderen
Seite.
Das zeigt: Die Bildungschancen in Deutschland sind un-
gleich verteilt. Bei der Frage, ob man wirklich gute Start-
chancen hat, kommt es darauf an, wo man wohnt.
– Man kann natürlich immer selektiv wahrnehmen. Sehen
Sie sich einmal an, wo Schleswig-Holstein bei PISA lan-
det! Sie werden feststellen, im unteren Drittel.
Sehr geehrte Frau Ministerin Bulmahn, vor der Bun-
destagswahl haben Sie den Menschen etwas versprochen,
das inzwischen Schnee von gestern ist. Noch am 18. Juni
haben Sie gesagt: Die Bundesregierung setzt weiterhin
auf die konsequente Steigerung der Bildungs- und For-
schungsausgaben in diesem Land. – Vor der Wahl haben
Sie eine Steigerung Ihrer Haushaltsmittel um 2,5 Prozent
und zusätzliche Gelder für den Aufbau von Ganztags-
schulen in Deutschland verkündet.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Deligöz?
Aber gern. Natürlich.
Frau Böhmer, leider ist meine Meldung etwas zu spät
bemerkt worden. – Ich möchte ganz kurz auf Ihr Beispiel
von Bayern zurückkommen.
Ist Ihnen bekannt, dass Bayern die höchste Schulab-
brecherquote hat, die höchste Hauptschulabgängerquote
hat, bei den Migranten, die keine Ausbildung machen
bzw. ohne Ausbildung in den Beruf hineingehen, die
höchste Quote hat?
Ist Ihnen bekannt, dass Bayern für Kinder, auch für be-
nachteiligte Kinder, die, wie Sie selber zugeben, auf eine
gewisse Qualität und auf einen gewissen Standard der Be-
treuung angewiesen sind, die wenigsten Angebote vor-
hält,
dass es auch die wenigsten Ganztagsschulen bietet, näm-
lich 24 an der Zahl, davon drei in öffentlicher Hand? Ist
Ihnen das bekannt und wie nehmen Sie dazu Stellung?
Frau Deligöz, Sie wollen sicherlich hören, was ich Ih-
nen antworte. Seien Sie doch so freundlich und bleiben
Sie stehen – damit das auch für die Redezeit klar ist!
Natürlich haben wir auch aus Bayern differenzierte Er-
gebnisse. Mir sind die unterschiedlichen Betreuungsan-
gebote gut bekannt. Wenn Sie den Blick nur auf die An-
gebote von Ganztagsschulen in Bayern lenken, dann
machen Sie es sich zu leicht, weil sie übersehen, dass es
dort sehr wohl andere Angebote gibt, zum Beispiel im
Hortbereich, und dass die Bayern bei den Bildungsab-
schlüssen insgesamt die besten Ergebnisse vorweisen.
Ich würde jedem Kind in Deutschland wünschen, dass es
in Bayern die Schule besuchen kann und nicht in Nieder-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 807
sachsen oder Nordrhein-Westfalen. Es ist klar, wo die
Chancen für Kinder am besten sind.
Ich muss an dieser Stelle auf das zu sprechen kommen,
was im Haushalt gemacht worden ist, damit hier keine
Märchenstunde veranstaltet wird. Das, was nach der Wahl
geschehen ist, stimmt nicht mit dem überein, was vor der
Wahl angekündigt worden ist.
Die Steigerung im Haushalt für Bildung und Forschung
beträgt ganze 0,17 Prozent, nicht mehr. Das entspricht
noch nicht einmal der Teuerungsrate.
– Da hat der Kollege Rachel Recht.
Auf der anderen Seite steht Ihre Ankündigung, 4 Mil-
liarden Euro für Ganztagsschulen in Deutschland zur
Verfügung zu stellen. Am Anfang hieß es noch, es gebe
1 Milliarde Euro pro Jahr, jetzt heißt es, im nächsten Jahr
gebe es 300 Millionen Euro. Sie haben immer gesagt,
Ganztagsschulen sollen dazu beitragen, dass Kinder indi-
viduell gefördert werden, dass soziales Lernen voran-
schreitet und dass so eine Verbesserung im Bildungswe-
sen erreicht wird. Das sind wichtige Ziele.
– In diesen Zielen sind wir uns einig.
Doch was beinhaltet eigentlich der Entwurf der Verwal-
tungsvereinbarung? Im Entwurf vom 6. September – das
war wohlgemerkt noch vor der Wahl; es ist beachtlich,
wie Sie vorgearbeitet haben – steht: Finanzhilfen des Bun-
des – für die Länder, für den Aufbau von 10 000 Ganz-
tagsschulen – werden gewährt für notwendige Renovie-
rungsarbeiten, Umbau-, Ausbau- und Neubaumaßnahmen
einschließlich der Erstausstattung. Ich frage mich: Wie
soll mit dem Streichen von Wänden, mit dem Renovieren
von Räumen eine individuelle Förderung von Kindern ge-
lingen?
Dafür brauchen Sie keine Steine oder, wie Herr Merz
heute Morgen gesagt hat, Beton; Sie brauchen Lehrkräfte
und Betreuungskräfte für den Nachmittag. Mit Ihrem Pro-
gramm wird kein einziger Lehrer in Deutschland für
Ganztagsschulen eingestellt.
Es ist richtig, dass die Kultusministerin Hohlmeier aus
Bayern darauf hingewiesen hat: Wir brauchen kein Geld,
um Schulen umzubauen, sondern um geeignete Betreuer
für die Nachmittage zu bezahlen. – Darin liegt vielleicht
der Schlüssel des Problems. Hier werden Finanzmittel an
die falsche Stelle geleitet. Was hier aufgelegt wird, ist kein
Förderprogramm für Ganztagsschulen, sondern ein neues
Schulbauprogramm. Auch das ist eine Täuschung – weil
es mit dem Anspruch verbunden wird, individuelle För-
derung und soziales Lernen zu verbessern. Man muss die
Wahrheit sagen und muss das tun, was man ankündigt.
Frau Kollegin Böhmer, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Tauss?
Ja, natürlich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Böhmer, habe ich Sie richtig verstanden,
dass Sie die Bundesregierung bitten, den Ländern pädago-
gische Konzepte für die Ganztagsschule vorzulegen?
Sind die Länder Bayern oder Baden-Württemberg bereit,
mit uns in Verhandlungen darüber einzutreten und – ent-
gegen der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland –
entsprechende Konzepte für Personalförderung und Be-
treuung in Berlin erarbeiten zu lassen? Das ist, wenn ich
Sie erinnern darf, das Gegenteil dessen, was Sie uns vor
der Wahl vorgeworfen haben. Da nämlich haben Sie ge-
sagt, es gehe nicht an, dass wir mit den Ländern Ge-
spräche darüber führen. Sie vorzuführen und ihnen solche
Kritik zuzumuten, dürfte nicht sein, weil nämlich die Län-
der zuständig seien. Wie verträgt sich das mit dem, was
Sie uns hier vorgetragen haben?
Herr Tauss, ich darf Ihnen das Kompliment machen,
dass Sie den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Es ist
völlig richtig: Der Bund darf sich nicht in die Angelegen-
heiten der Länder mischen, was die Ausgestaltung der
Schulen und die pädagogischen Konzepte angeht. Daran
werden wir festhalten; denn wir wollen keinen Zentralis-
mus und keine Nivellierung.
Aber, Herr Tauss, der Irrtum, den Sie begehen, liegt
schon im Finanzierungsansatz. Wo keine Aufgabe ist,
können Sie auch keine Finanzmittel zur Verfügung stel-
len. Sie müssen einen anderen Weg gehen. Diesen ande-
ren Weg haben Ihnen die Kultusminister der Länder auf-
gewiesen. Wir sind bereit, ihn gemeinsam zu gehen.
Rechnen Sie Ihre 4 Milliarden Euro einmal auf die
Länder um. Das sind Almosen,
wenn das auf die Länder und ihre Schulen verteilt wird.
Diese Summe ist – das sage ich ganz bewusst –, lediglich
eine Anschubfinanzierung. Die Schulträger, die Länder und
die Kommunen, bleiben so auf den Hauptkosten sitzen.
Diese Hauptkosten sind Personalkosten und Unterhaltskos-
ten. Sie müssen zu einer soliden Finanzierung kommen.
Dr. Maria Böhmer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dr. Maria Böhmer
Hier ist auch der Bund gefordert. Sie dürfen einen fairen
Anteil an der Umsatzsteuer an die Länder weitergeben, da-
mit die Länder in eigener Hoheit – das entspricht der Ver-
fassung – Ganztagsschulen aufbauen können, die diesen
Namen wirklich verdienen. Schließlich kann es nicht nur
darum gehen, dass die Schultore länger geöffnet sind.
– Lieber Herr Tauss, Sie kennen die Verfassung so gut wie
ich.
All das, was Sie hier tun, riecht eindeutig nach dem Ver-
such der Zentralisierung. Die Ministerin persönlich hat
dies in der „FAZ“ vom 20. Oktober dieses Jahres gesagt
– ich zitiere –:
Wir müssen auf lange Sicht wegkommen von dem
Modell, dass für die Grundschulen die Kommunen,
für die weiterführenden Schulen die Länder und für
die Hochschulen auch der Bund zuständig ist.
Was bedeutet das anderes, als dass der Bund endlich die
Kompetenzen für den Bereich von Schule und Bildung
an sich ziehen will? Er hat immer wieder versucht, Hand
an den Hochschulbereich zu legen. Wir werden das nicht
mitmachen. Wir sind für Wettbewerb und wollen am Fö-
deralismus festhalten; denn es geht um die Zukunfts-
chancen unserer Kinder in diesem Land.
Beim Thema bessere Bildung für Kinder hören wir im-
mer wieder, dass es notwendig ist, mehr Zeit aufzuwen-
den. Das wird immer als die Begründung für Ganztags-
schulen angeführt. Dazu muss ich sagen: Zeit ist ein
Faktor, aber Zeit ist nicht der entscheidende Faktor, Frau
Ministerin. Sie können die doppelte Zahl von schlechten
Unterrichtseinheiten anordnen. Dann würde mehr Zeit
aufgewendet, aber Sie hätten kein besseres Ergebnis.
Es kommt doch darauf an, dass die Qualität von Bil-
dung und Erziehung gesteigert wird. Dies erreichen Sie
nicht allein mit einem Zeitfaktor. Dies erreichen Sie, in-
dem Sie Bildungsstandards festlegen. Bitte machen Sie
das aber nicht zentral vom Bund aus, sondern das werden
die Länder gemeinsam machen. Sie brauchen Leistungs-
vergleiche. Sie müssen Ihrem Prinzip „Fordern und För-
dern“ auch Geltung verschaffen, und zwar nicht nur bei
den Leistungsschwachen. Sie brauchen das genauso für
die Leistungsstarken. Damit müssen wir aber früher an-
setzen, nämlich in der Grundschule und im Kindergarten.
Wir müssen die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz stär-
ken. Das ist der Weg für eine bessere Zukunft für unsere
Kinder. Wer glaubt, dass dies allein Ganztagsschulen leis-
ten können, der ist auf dem Holzweg.
Dass diese Behauptung nicht aus der Luft gegriffen ist,
kann ich Ihnen beweisen. Der Blick nach Nordrhein-
Westfalen reicht dazu; denn in Nordrhein-Westfalen ha-
ben wir bekanntermaßen die meisten Ganztagsschulen.
Das sind überwiegend Gesamtschulen, weil man den
Eltern das Gesamtschulmodell nur so attraktiv machen
konnte. Wenn wir Ihrer Logik folgen würden, dann
müsste die Gleichung „Gesamtschule gleich Ganztags-
schule gleich bessere Bildung“ zutreffen. Wenn ich mir
aber anschaue, wie Nordrhein-Westfalen bei der PISA-
Studie abgeschnitten hat, dann ist dieser Anspruch mit-
nichten erreicht. Nordrhein-Westfalen mit seinen vielen
Ganztagsschulen hat nicht den Spitzenplatz, sondern es
gehört zu den Sitzenbleibern unter den Ländern. Deshalb
brauchen wir einen anderen Ansatz für bessere Bildung in
Deutschland.
Bei allem, was ich Ihnen gesagt habe, ist klar, dass es
viel Geld kostet. Aber die unionsregierten Länder haben
sich, wenn es sich um Investitionen in Bildung handelt,
entsprechenden Forderungen nie verschlossen. Aber jetzt
lerne ich, dass auch auf die SPD Verlass ist.
– Das merke ich. Ich wusste, Sie würden eine neue Geld-
quelle finden, und Sie haben sie gefunden: Es ist die Ver-
mögensteuer. Die Ministerpräsidenten von Niedersachsen
und Nordrhein-Westfalen, Gabriel und Steinbrück, wol-
len die Vermögensteuer dadurch schmackhaft machen, in-
dem sie die gesamten Einnahmen für Bildung ausgeben
wollen. Das ist nachzulesen.
Dieses Argumentationsmuster ist nicht neu. Wer erin-
nert sich nicht an die Rechtfertigung zur Einführung der
Ökosteuer? Es wurde versichert, dass die Mittel für Öko-
logie und vor allen Dingen zur Absenkung der Renten-
beiträge verwandt werden. Sie kennen das Ergebnis. Im
Jahr 2001 sind nur 36 Prozent der Ökosteuereinnahmen in
die Rentenkasse geflossen. Im Jahr 2002 waren es 52 Pro-
zent. Der Rest ist in den Haushaltslöchern des Bundes
versickert.
Das würde mit den Einnahmen aus der Vermögensteuer
und deren Verwendung für den Bildungsbereich nicht an-
ders aussehen. Deshalb kann ich Sie nur auffordern, von
solchen Irrwegen abzulassen. Bringen Sie nicht solche
unsinnigen Vorschläge ein, die die Bürger nur unnötig be-
lasten!
Angesichts Ihrer Äußerung „Bildung und Forschung
haben Priorität“ lohnt es sich, den Blick auf die jüngsten
Entscheidungen zu richten. Wir haben heute eine Presse-
konferenz der Max-Planck-Gesellschaft verfolgen kön-
nen. Es ist schon bemerkenswert, dass auch das, was
den Spitzenorganisationen der deutschen Forschung
– dazu zählen die Max-Planck-Gesellschaft genauso wie
die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Helmholtz-
808
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 809
Gemeinschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft – vor der
Wahl versprochen wurde, nämlich eine Erhöhung der
Haushaltsmittel, nach der Wahl nicht mehr gilt. Vielmehr
ist ihnen kurzfristig mitgeteilt worden, dass es eine Null-
runde geben wird,
und das kurz vor Ende des Haushaltsjahrs, sodass sie bei
der Planung des nächsten Jahres in größte Schwierigkei-
ten geraten.
Das hat rechnerisch durchaus Auswirkungen, Frau Mi-
nisterin. Die DFG rechnet mit einem Minus von 43 Milli-
onen Euro im nächsten Jahr, das Max-Planck-Institut
mit einem Minus von 28 Millionen Euro, die Helmholtz-
Gemeinschaft mit einem Minus von 25 bis 30 Milli-
onen Euro. Bei der Fraunhofer-Gesellschaft kommen
weitere Kürzungen hinzu. Für die Deutsche Forschungs-
gemeinschaft etwa bedeutet das, dass 2 000 Nachwuchs-
wissenschaftler nicht mehr gefördert werden können. Da-
mit schneiden Sie denen, die für die Zukunft unseres
Landes wichtige Ideen entwickeln wollen und mit Kraft
und all ihrer Leistungsbereitschaft und Begabung in die
Forschung investieren, die Wurzeln ab. Sie setzen ihnen
den Stuhl vor die Tür. Das bedeutet Forschung real bei Ih-
nen. Fördern und Nachwuchswissenschaftler besser be-
dienen? Dazu kann ich mit Professor Winnacker nur fest-
stellen: Ein großer Teil unserer jungen Elite steht vor dem
Nichts. Das aber geht nicht an.
Deshalb appelliere ich nachdrücklich an Sie: Kehren
Sie von diesen Nullrunden für die jeweiligen Spitzenor-
ganisationen ab! Sorgen Sie im Gespräch mit den Ländern
– in Kürze stehen noch einmal Gespräche an – dafür, dass
die getroffenen Vereinbarungen von Ihrer Seite auch ein-
gehalten werden
und dass damit die für unser Land entscheidende For-
schung, nämlich die Spitzenforschung genauso wie die
Forschung im Bereich der Zukunftstechnologien, erhalten
bleibt!
Auch in diesem Bereich nehmen Sie weitere Kürzungen
vor.
Ich empfehle Ihnen einen Blick in den Haushaltsplan.
Schauen Sie sich einmal an, wie hoch die Ausgaben für
gewisse Materialien des Ministeriums und für bestimmte
Werbeetats sind!
Ich bin mir sicher, dass Sie fündig werden. Sie könnten so
der Forschung in Deutschland etwas erhalten, das uns al-
len zugute kommt, nämlich die internationale Wett-
bewerbsfähigkeit. Die Förderung von Bildung und For-
schung ist gerade in schlechten Zeiten kein Luxus; in die-
sen Zeiten ist sie ein Muss.
Ich erteile dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Frau Dr. Böhmer, ich habe Sie in der Stammzellen-
debatte als überlegt und differenziert urteilend kennen ge-
lernt. Wie platt und parteiideologisch Sie heute aber über
die Bildungspolitik gesprochen haben, hat mich sehr er-
staunt.
Bildung, Forschung und Technologie – darin stimme
ich Ihnen völlig zu – gehören zu den wichtigsten Grund-
lagen der Zukunftsvorsorge. Hier haben wir – im Gegen-
satz zu Ihnen – in den vergangenen Jahren immer wieder
wichtige Akzente gesetzt. Wir werden dies trotz der
schwierigen Haushaltslage auch in dieser Legislaturpe-
riode tun.
Unter Berücksichtigung der Mittel für die Ganztagsschu-
len steigen die Mittel des BMBF um 3,7 Prozent an. An-
gesichts der schwierigen Haushaltslage ist dies eine ein-
deutige Prioritätensetzung.
2003 wird als Reaktion auf die PISA-Studie ein
Schwerpunkt auf die Bildung gelegt werden. Folglich
werden sich die Aufwüchse bei der Forschung auf den
Zeitraum 2004 bis 2006 konzentrieren. Erinnern wir uns
an das Jahr 2000: Auch damals musste der Forschungs-
haushalt seinen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung er-
bringen. Dennoch hatten wir am Ende der Legislaturpe-
riode eine Bilanz vorzuweisen, von der unsere Vorgänger
eigentlich nur träumen konnten.
Das wird sich in dieser Legislaturperiode wiederholen.
Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, werden wir darauf
hinarbeiten, bis 2010 3 Prozent des deutschen Bruttoin-
landsprodukts in Forschung und Entwicklung zu investie-
ren. Ich unterstütze die Forderung, die Forschungsmittel
deutlich zu erhöhen. Kritisch betrachte ich jedoch die
Tendenz mancher Forschungslobbyisten, sich in die
Reihe der reinen Besitzstandswahrer einzuordnen.
Wer sich etwa für die Kernfusionsforschung einsetzt,
wirft mit beiden Händen das Geld zum Fenster hinaus,
Dr. Maria Böhmer
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Hans-Josef Fell
Geld, das in anderen Forschungsbereichen dringend für
die Zukunftsvorsorge benötigt wird.
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass auch in
anderen Ressorts Forschung stattfindet. So sind zum Bei-
spiel im Entwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft
und Arbeit die Forschungs- und Technologietitel zumeist
deutlich angestiegen. Wolfgang Clement zeigt sich we-
sentlich zukunftsbewusster als sein Vorgänger. Dies ist ein
wichtiger Fortschritt.
Etwas aus dem Rahmen fällt lediglich die Kürzung der
Mittel für die Forschung im Bereich der erneuerbaren
Energien. Wir werden in den Fraktionen daran arbeiten,
dass mehr Mittel für Energieforschung in das Umweltres-
sort kommen. Dann können wir im Umweltministerium
genauso gute Nachrichten verkünden wie schon jetzt im
Verbraucherschutzministerium: Ministerin Künast hat die
Mittel für die Forschungsförderung im Bereich der nach-
wachsenden Rohstoffe gleich um 23 Prozent angehoben.
Rot-Grün steht also weiterhin für eine Verstärkung der
Forschung.
Liebe Frau Kollegin Flach, ich bitte Sie, Herrn
Gerhardt endlich ins Gewissen zu reden. Er rief dieser
Tage zum Steuerboykott auf. Ein solcher Boykott wäre
doch eigentlich das Ende der Bildungs- und Forschungs-
förderung. Wo soll denn dann das Geld herkommen? Ärger
über den politischen Gegner sollte niemals dazu führen,
dass die Zukunft unseres Landes aufs Spiel gesetzt wird.
Die steuerpolitische Bankrotterklärung einer angeschla-
genen FDP darf nicht den Bankrott des Staates nach sich
ziehen.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Union, Sie ma-
chen es leider nicht wesentlich besser. Der Ärger über die
verlorene Wahl brachte alle Dämme zum Brechen. Hyste-
rie, Demagogie und Zweckpessimismus sind Ihre Mittel,
um der gewählten Bundesregierung zu schaden. Aber Sie
schaden vor allem unserem Land. Man sagt, 50 Prozent der
Wirtschaftspolitik seien Psychologie. Ihre Therapievor-
schläge sind aber Katastrophenszenarien und Blockadepo-
litik. Damit verhindern Sie Investitionen und Innovationen.
Ich möchte den Leiter des Frankfurter Zukunfts-
instituts,Matthias Horx, zitieren:
Wir sind in einer reichen Gesellschaft mit großen
Wohlstandsreserven, mit Erfinderreichtum und un-
ternehmerischer Praxis.
In seinem aktuellen Manifest wider den Ungeist der Pa-
nikmache kritisiert er Teile der Medien, Politiker wie Sie
und Lobbyisten und ruft auf, endlich mit dem Jammern
Schluss zu machen.
Ich bitte Sie: Übernehmen Sie Verantwortung für dieses
Land! Auch die Opposition trägt Verantwortung. Verges-
sen Sie das nicht!
Lassen Sie mich im Folgenden einige Themen anspre-
chen, die wichtig für unsere Forschungspolitik sind. Rot-
Grün hat in der letzten Legislaturperiode die Mittel für
Technikfolgenabschätzung mehr als verdoppelt. Dieses
hohe Niveau halten wir trotz der schwierigen Haushalts-
lage. Davon können diejenigen, die für die Technik-
folgenabschätzung im schwarz-gelb regierten Baden-
Württemberg zuständig sind, nur träumen.
Dort interessiert man sich mittlerweile einen Teufel für
eine verantwortliche Forschungs- und Technologiepolitik
und dreht der Akademie für Technikfolgenabschätzung
den Hahn zu. Wir werden weitere Schwerpunkte setzen.
Aus Zeitgründen kann ich darauf nicht mehr eingehen.
Wir werden ein Energieforschungsprogramm auf den
Weg bringen, das eindeutig Priorität auf erneuerbare
Energien und Energieeinsparungen legen wird. Aus der
Entwicklung neuer Atomreaktoren waren wir bereits in
der letzten Legislaturperiode ausgestiegen. Jetzt widmen
wir unsere Aufmerksamkeit der Kernfusion. Leider spie-
gelt sich diese politische Vorgabe noch nicht in der Pro-
grammplanung der Helmholtz-Gemeinschaft wider. Ich
bedauere sehr, dass es dem BMWF noch nicht gelungen
ist, alte Strukturen aufzubrechen und die gemeinsame
Zielsetzung einer Umsteuerung in der Energieforschung
durchzusetzen. Ich betrachte dies als Aufforderung an die
Regierungsfraktionen, sich hier noch mehr zu engagieren.
Auch in der Biotechnologie wird im Wesentlichen der
hohe Ansatz der letzten Jahre gehalten. Auch hier gilt es
vor allem, politische Akzente zu setzen. In der letzten Le-
gislaturperiode hatten wir gemeinsam erreicht, das Töten
von Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen zu ver-
hindern. Die Ereignisse der letzten Tage haben gezeigt,
dass auch das Klonen von Menschen durch die Politik
verhindert werden muss. Wir werden diesem Thema
große Aufmerksamkeit widmen.
Umso wichtiger ist es, der Bioethik im Parlament eine ei-
gene Plattform im Rahmen einer Enquete-Kommission zu
geben.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, sich ge-
meinsam mit uns für die Einrichtung der Enquete-Kom-
mission einzusetzen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Christoph Hartmann
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Diese Bundesregierung lebt auf ei-
nem anderen Stern.
Sie wollen uns weismachen, dass es überall bergauf geht,
und zwar auch in der Bildungspolitik. Ich frage mich,
warum dann die Stimmung so schlecht ist und uns die
UNICEF letzte Woche erklärt hat, dass die Qualität des
Bildungssystems dramatisch gesunken ist.
Rot-Grün wird schriftlich attestiert, dass sie für eine
Zweiklassengesellschaft in der Bildungspolitik verant-
wortlich sind. An die Adresse dieser Bundesregierung
sage ich: Wenn gute Bildung in Deutschland vom Geld-
beutel der Betroffenen abhängt, dann ist das gerade für
diese Bundesregierung ein Armutszeugnis, meine sehr
verehrten Damen und Herren.
Von einem ganzheitlichen Ansatz in der Bildungspolitik
kann ebenfalls keine Rede sein. Es geht Ihnen ja auch
nicht um die Verbesserung der Bildungspolitik in
Deutschland, sondern um die Lufthoheit über die Kinder-
betten, wie Ihr Generalsekretär das zutiefst totalitäre
Staatsverständnis Ihrer Fraktion beschrieben hat.
Ihre Bildungspolitik ist durch drei Merkmale gekenn-
zeichnet, nämlich durch Unterfinanzierung, durch das
Sichherumdrücken um wichtige Reformen und durch
falsche Konzepte.
Der Stellenwert, den Sie der Bildung einräumen, ist de-
saströs. Der Anteil der Bildungsausgaben an den öffent-
lichen Haushalten liegt mit 9,7 Prozent weit unter dem
Durchschnitt von 12,7 Prozent der OECD-Länder. Und
Sie senken ihn weiter.
Um ein Beispiel zu nennen: allein 4,5 Prozent minus beim
computer- und netzgestützten Lernen.
Sie machen genau das Gegenteil von dem, was notwendig
wäre. Aber das, meine sehr verehrten Damen und Herren,
sind wir schon gewohnt. Das ist schließlich das Marken-
zeichen dieser Regierungspolitik.
Viele Reformen packen Sie nicht an: keine Spur von Ent-
bürokratisierung der Bildung, keine Spur von einer Re-
form der Lehrerausbildung,
keine Spur von einer Hochschulreform, die die Attrakti-
vität der deutschen Hochschulen erhöht, damit endlich
auch in Deutschland 45 Prozent eines Altersjahrgangs ein
Studium aufnehmen, wie es in den OECD-Ländern im
Durchschnitt der Fall ist
– auf das Saarland komme ich jetzt zu sprechen, Herr Kol-
lege Tauss –, und keine Spur von strategischen Investitio-
nen, die zum Beispiel durch den Abbau von Kohlesub-
ventionen finanziert werden könnten, was gerade ich als
Saarländer richtig fände.
Auf den Feldern, auf denen Sie sich nicht vor Reformen
drücken, sind Ihre Konzepte fehlerhaft. Beispielsweise ist
Ihr 4-Milliarden-Euro-Programm für Ganztagsschulen
eine Mogelpackung.
Nur Baumaßnahmen sollen finanziert werden. Mit den
viel bedeutsameren Personalkosten werden die von Ihnen
gebeutelten Länder und Kommunen allein gelassen.
Als Abgeordneter eines Bundeslandes, das finanziell weiß
Gott nicht auf Rosen gebettet ist, kann ich nur sagen: Ihr
Ganztagsschulkonzept können sich nur finanzkräftige
Bundesländer leisten. Arme Bundesländer werden von den
Folgekosten Ihrer unausgegorenen Politik erschlagen.
Ihr Konzept führt zu einem Ausbau von Schulen zu
Kinderaufbewahrungsstationen,
in denen man den Kindern mittags Suppe verabreicht und
wo sie nachmittags mithilfe der Oma aufbewahrt werden.
Meine Fraktion fordert dagegen in einem ersten Schritt
eine gut ausgestattete Ganztagsschule pro zehntausend
Schüler mit einem sinnvollen, pädagogisch fundierten
Konzept.
Hans-Josef Fell
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Christoph Hartmann
Wir brauchen Geld nicht nur für Gebäude, sondern auch
für mehr Lehrer. Diesen Weg müssten wir gehen.
Stocken Sie also den Bildungsetat auf, gehen Sie end-
lich die längst überfälligen Reformen an. Bessern Sie Ihre
Konzepte nach. Dann tun Sie endlich etwas für die Men-
schen in diesem Lande.
Als neuer bildungspolitischer Sprecher der FDP-Bun-
destagsfraktion
versichere ich Ihnen: Wir werden nicht nur kritisieren
oder Fundamentalopposition betreiben, sondern kon-
struktiv mit eigenen Vorschlägen an der Reform des Bil-
dungswesens mitarbeiten.
Übrigens: Wer am lautesten schreit, hat nicht am meis-
ten Recht.
Vielen Dank.
Kollege Hartmann, zu Ihrer ersten Rede im Plenum des
Deutschen Bundestages meine und unsere herzliche Gra-
tulation.
Nun erteile ich der Kollegin Ulla Burchardt von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Nach dem, was man jetzt gehört hat, kann man nur
sagen: Dieses Land hätte eine bessere, eine qualifiziertere
Opposition verdient.
Angesichts dieser oppositionellen Kraftmeierei, der
kleinkarierten ideologisch gefärbten Kritik und der Ka-
tastrophenszenarien, die Sie hier an die Wand gemalt ha-
ben, ist es wohl an der Zeit, dass man einmal wieder den
Gesamtzusammenhang für eine bildungs- und forschungs-
politische Debatte herstellt.
Es dürfte sich auch bis zu Ihnen herumgesprochen ha-
ben, dass sich unser Land wie alle hochentwickelten Staa-
ten im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesell-
schaft befindet. Deshalb ist es die zentrale Aufgabe der
Politik, diesen Übergang und die Rahmenbedingungen zu
gestalten.
Das, meine Damen und Herren, und nichts anderes
– auch nicht irgendwelche Wunschvorstellungen – ist die
Messlatte, an der sich die Regierungspolitik messen las-
sen muss, an der sich aber auch Konzepte der Opposition
messen lassen müssen. Nur habe ich solche Konzepte bis-
lang leider nicht gehört.
All denen von CDU/CSU und FDP, die 2002 oder 1998
in den Bundestag gekommen sind, sei gesagt: Ihre Frak-
tionen und Parteien hatten vorher schon Regierungsver-
antwortung. Bei all dem, was Sie heute an Kritik dazu vor-
tragen, wo möglicherweise nicht genug vorhanden ist,
müssen Sie sich auch an dem letzten Bundeshaushalt, den
Sie zu verantworten hatten, messen lassen. Die Gnade des
späten Bundestagseintritts hilft Ihnen, Frau Kollegin
Flach, und allen anderen an dieser Stelle nicht weiter.
Was sind die Herausforderungen der globalen Wis-
sensgesellschaft und damit die Aufgaben für Bildungs-
und Forschungspolitik? Wissen – die Produktion, Vertei-
lung und Anwendung von Wissen – wird immer mehr zum
Hauptfaktor für Zuwächse in der Wertschöpfung und in
der Beschäftigung. Deshalb sind die Ausgaben für Bil-
dung und Forschung prioritäre Zukunftsinvestitionen.
Diesem Sachverhalt tragen wir mit dem vorliegenden
Bundeshaushalt Rechnung.
Die Zahlen sprechen eine ganz deutliche Sprache. Da-
ran kann man überhaupt nicht herumdeuteln. Der Haus-
haltsansatz 2003 liegt um gut 25 Prozent über dem von
1998. Es handelt sich um den höchsten Etat für Bildung
und Forschung in der Geschichte der Bundesrepublik.
– Das mag Ihnen nicht passen, ist aber trotzdem richtig.
Die Zwischenrufe verstehe ich auch nur als Ausdruck ei-
nes Neidkomplexes.
Aber Geld ist nicht alles. Es kommt ebenso darauf an,
im Hochschulbereich wie in der Forschungsförderung
Strukturen aufzubrechen. Wir haben damit begonnen, die
richtigen Schwerpunkte zu setzen. Wir haben im Bil-
dungsbereich beispielsweise mit der Dienstrechtsreform
begonnen, mit der Einführung von Bachelor- und Mas-
ter-Studiengängen.
Die in der Bildungspolitik gesetzten Schwerpunkte bilden
sich nach wie vor in Etatsteigerungen ab, zum Beispiel in
der exorbitanten Förderung von Juniorprofessuren, der
Zukunftsinitiative Hochschule und dem gleichbleibend
hohen Niveau beim Hochschulbau, beim BAföG und
beim Meister-BAföG.
812
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 813
In der Forschungsförderung bleiben die Zukunftsfel-
der, die wir gesetzt haben, Schwerpunkte, zum Beispiel
das Programm Inno-Regio, Forschung für Nachhaltigkeit,
Gesundheitsforschung, Biotechnologie, IuK-Technolo-
gie. Die Gelder dafür liegen deutlich über dem Niveau
von 1998.
Natürlich hätte man sich auch Aufwüchse bei den Groß-
forschungseinrichtungen wünschen können; aber man
muss konstatieren, das gerade die in den Jahren rot-grüner
Regierungspolitik jährliche Mittelaufwüchse von 3 Prozent
und mehr zu verbuchen hatten. Das ist eine gewaltige Leis-
tung gewesen. Davon haben die Großforschungseinrich-
tungen in Ihrer Regierungszeit doch nur geträumt.
Was macht die globalisierte Wissensgesellschaft
noch aus? Angesichts der zunehmenden Internationalisie-
rung und Europäisierung von Wirtschaft und Politik war
eine entsprechende Orientierung und Vernetzung von Bil-
dung und Forschung überfällig. Das Bundesministerium
hat vielfältige Initiativen ergriffen, die fortgesetzt werden.
Wir haben mittlerweile eine Leitbildfunktion in der EU.
Daher geht ein herzlicher Dank an die Ministerin, die dies
zu ihrem ganz persönlichen Anliegen gemacht hat.
Das entscheidende Merkmal der Wissensgesellschaft
ist der rapide zunehmende Bedarf an gut ausgebildeten,
hoch qualifizierten Fachkräften. Dieser Bedarf nimmt zu.
Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung
droht in wenigen Jahren ein akuter Fachkräftemangel.
Er führt bereits heute in einigen Branchen und Unterneh-
men zu Engpässen.
Vor diesem Hintergrund kann es sich unser Land über-
haupt nicht leisten, Potenziale brachliegen zu lassen.
Vielmehr kann es nur darauf ankommen, alle mit allen
Mitteln zu fördern. Der Streit, Frau Böhmer und alle an-
deren, ob Breiten- oder Spitzenförderung wichtiger ist, ist
doch nun wirklich ein Streit um des Kaisers Bart,
der in das letzte und vorletzte Jahrhundert gehört.
Sie sind das erste Mal bei einer Forschungsdebatte da-
bei, genauso wie der FDP-Kollege. Vielleicht sollte man
den Stoff der letzten Sitzung jedes Mal wiederholen. Ihr
wirklich überhaupt nicht zielführendes Vorgehen „Haust
du mein Bundesland, haue ich dein Bundesland“ ist wirk-
lich das Allerletzte, was wir in der Bundesrepublik ge-
brauchen können.
Niemand, auch kein einzelnes Bundesland, hat die Pa-
tentlösung. Ich möchte einmal den PISA-Koordinator
Schleicher zitieren. Er hat gesagt:
Tatsache ist doch, dass weder CDU- noch SPD-re-
gierte Länder im internationalen Bildungswettbe-
werb mithalten können.
Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis!
Wir haben es getan und die Konsequenzen daraus gezo-
gen.
Wenn Ihnen die Aussagen des international renom-
mierten Experten Schleicher nicht reichen, dann schauen
Sie sich doch einmal das Bildungskonzept des Baden-
Württembergischen Industrie- und Handelskammer-
tages an, der einen Paradigmenwechsel fordert. Eine sei-
ner ganz zentralen Begründungen dafür, dass dieser
Paradigmenwechsel nötig ist, lautet: Die Prämisse, dass
das gegliederte Schulsystem den anderen, einzügigen
Schulformen überlegen sei, habe sich als falsch erwiesen.
Dort sprechen doch nun wirklich keine sozialdemokra-
tischen Kampftruppen. Machen Sie sich ein bisschen kun-
diger und benutzen Sie nicht nur die PC-Versatzstücke
von Ihren Fraktionsreferenten!
Es war alternativlos und richtig, Chancengleichheit
zum Leitbild unserer Bildungspolitik zu machen. Man
kann es sich allein aus wirtschaftlichen Gründen nicht
mehr leisten, dass die soziale Herkunft oder das Ge-
schlecht über die Lebenschancen von Menschen ent-
scheidet. Das ist unter den Vorgängerregierungen in der
Vergangenheit leider ignoriert worden. Deshalb haben wir
heute den traurigen Zustand zu beklagen, dass die Bun-
desrepublik so weit abgeschlagen ist. Dieser Zustand ist
nicht in den letzten Tagen vom Himmel gefallen.
Fakt ist, dass in der Bundesrepublik zu viele junge
Menschen nicht ausreichend gefördert werden und von
weiterführender Bildung ausgeschlossen sind. Nach
OECD-Studien machen zu viele die Erfahrung des
Scheiterns, was für den Einzelnen und die Gesellschaft
fatale Konsequenzen hat. Pro Jahr brechen 80 000 das
Studium und 150 000 ihre Lehre ab; 80 000 verlassen die
Schule ohne jeglichen Abschluss, und zwar in allen Län-
dern. Das sind 310 000 zu viel. Es ist ein großes Problem,
diese Menschen ohne qualifizierte Ausbildung in den Ar-
beitsmarkt zu integrieren.
Wer das ändern will, der muss auf eine konsequente
Form des Bildungswesens hinarbeiten. Die OECD-Stu-
dien, meine liebe Frau Böhmer und alle anderen, zeigen
doch ganz deutlich, was ein zeitgemäßes, leistungsfähiges
Bildungssystem ausmacht: Es beginnt mit der Förderung
Ulla Burchardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Ulla Burchardt
im Vorschulalter, trennt in der Schullaufbahn nicht nach
Kopf- und Handarbeitern, hat durchlässige Bildungs-
gänge und gewährleistet lebenslanges Lernen.
Wenn Sie behaupten, es sei unsere Aufgabe gewesen,
genau dafür zu sorgen, dann entgegne ich Ihnen: Gehen
Sie einmal zur KMK, lieber junger Kollege, und bean-
tragen Sie doch, dass wir die Verantwortung dafür über-
nehmen. Wir würden das gerne tun.
Wir können feststellen: In unserem bundespolitischen
Verantwortungsbereich haben wir das Überfällige und
Notwendige in Angriff genommen. Wir haben mit dem
JUMP-Programm Hunderttausenden von jungen Men-
schen wieder eine Einstiegsperspektive gegeben.
Das Programm wird weitergeführt. Wir haben mit dem
Meister-BAföG die Selbstständigkeit gefördert.
Wir haben mit der BAföG-Reform nicht nur sozial
Schwächeren wieder eine Chance gegeben, sondern die
Quote der Studienanfänger auf 35 Prozent erhöht, die un-
ter Ihrer Regierungszeit doch fernab zurückgelegen hat.
– Ich kann doch nichts dazu, Frau Flach, dass Sie heute
nicht reden dürfen. Ich würde jetzt aber gerne weiterre-
den.
Mit dem Programm „Chancengleichheit für Frauen in
Bildung und Forschung“ haben wir nachweislich deren
Anteil in Wissenschaft und Forschung erhöht. Diesen
Haushaltstitel, Kollegin Reiche – weil Sie sich sehr enga-
giert für die Frauenförderung in der Union einsetzen –,
gab es unter Ihrer Regierungszeit nicht. Auch das ist ein
Zeichen fehlenden Problembewusstseins.
Wir haben mit der Qualitätssicherung in derWeiter-
bildung begonnen. Sie wird mit dem Hartz-Konzept wei-
tergeführt.
Wir führen sie auch im Bereich des BMBF fort; neue Aus-
bildungsberufe in zukunftsfähigen Bereichen sind zu er-
wähnen. Wir packen außerdem die überfällige Reform
der beruflichen Bildung an.
Schließlich setzen wir viel Energie und Geld dafür ein,
mit dem Programm „Bildung und Betreuung“ Chan-
cengleichheit und Leistung zu fördern und damit den
eklatanten Rückstand Deutschlands aufzuholen.
Nur mit Polemik, liebe Kollegin Böhmer, kann man die
Lage wirklich nicht verbessern.
Zum einen kann ich Ihnen mitteilen, dass Sie offensicht-
lich aus irgendeinem falschen Papier zitiert haben, was
die Verwaltungsvereinbarung für Ganztagsschulen
angeht.
Es gibt an dieser Stelle keinen Entwurf, der mit der Bun-
desregierung abgestimmt ist. Das müssten Sie noch ein-
mal nachlesen. Ansonsten ist die Alternative – nach allem,
was Sie gesagt haben –, überhaupt nichts zu tun und alles
so zu belassen, wie es ist.
Das wäre in dieser Republik tatsächlich unverantwortlich.
Wir haben mit unserer Bilanz gezeigt, dass wir mit
dem, was wir uns vorgenommen haben, und mit diesem
Bundeshaushalt die Herausforderungen der globalen Wis-
sensgesellschaft angenommen und die notwendigen Re-
formschritte eingeleitet haben. Wir werden diesen Weg im
Interesse unseres Landes konsequent fortsetzen.
Weil wieder einmal PISAund die Folgestudien Gegen-
stand der Debatte sind, lassen Sie mich dazu und auch zu
den Konsequenzen einige Anmerkungen machen. Die
Konsequenzen liegen auf der Hand, wenn man die Stu-
dien selber gründlich gelesen hat und wenn man sich mit
den Verantwortlichen dieser Studien ein bisschen intensi-
ver darüber unterhalten hat, wie denn die Hintergründe
und Zusammenhänge in den Ländern aussehen, die wirk-
lich zu den Besten gehören. Dann kommt man zum Bei-
spiel zu folgender Erkenntnis: Von den Besten zu lernen
heißt zuallererst, alte Rituale aufzugeben und sich unideo-
logisch an Fakten zu orientieren. In den leistungsstarken
Ländern gab es bei der Renovierung des Bildungssystems
keine politische Blockbildung, sondern pragmatische
Zusammenarbeit bei der Problemlösung.
Was Deutschland fehlt, so Andreas Schleicher, Koor-
dinator der OECD-Studien, sind langfristige Ziele, und
deshalb geschehe nichts, was nicht kurzfristig erreichbar
wäre. Deshalb wird auch die derzeitige Debatte in der
KMK über Bildungsstandards mit ausgesprochener Skep-
sis gesehen; denn wenn es nur darum geht – manches aus
der Vereinbarung lässt darauf schließen –, die alten Prü-
fungsanforderungen zu vereinheitlichen, sozusagen ob-
jektivierte Selektionsmechanismen zu erfinden, dann ist
das ein Weg, der in die Sackgasse führt.
Von den PISA-Besten lernen heißt, dass Sie Bildungs-
standards nicht als Selektionsmechanismus für Schüler
814
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 815
verstehen, sondern als Bildungsziele und als Evalua-
tionsinstrument für die Schule und für die Bildungspo-
litik. Das ist der Weg, den Bundesbildungsministerin
Bulmahn eingeschlagen hat. Es kann auch nicht angehen,
dass für die Evaluation die verantwortlich sind, die vorher
die Kriterien festgelegt haben. In den guten PISA-Staaten
machen das unabhängige Einrichtungen. Ich habe aber
den Eindruck, da sind Bund und Länder auf dem richtigen
Wege.
Was Deutschland fehlt – ich zitiere noch einmal
Andreas Schleicher –,
ist eine Debatte darüber, wie unser Bildungssystem im
Jahre 2010 oder 2020 aussehen sollte. Diese Debatte,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, darf
man – bei aller hohen Wertschätzung des Föderalismus
und bei all dem, was auch in der Kultusbürokratie an
Fähigkeiten und Kompetenzen vorhanden ist – nicht al-
lein der Kultusbürokratie überlassen. Diese Debatte über
die Zukunft des gesamten Bildungswesens in der Bun-
desrepublik – vom frühen Alter bis wirklich hin zum le-
benslangen Lernen – ist eine Debatte, die meiner Meinung
nach qualifiziert im Deutschen Bundestag geführt werden
müsste. Hier und nirgendwo anders gäbe es mit einer
Enquetekommission „Bildung in der Wissensgesell-
schaft“ das geeignete Forum, über nationale Zukunftsfra-
gen zu diskutieren,
unter Einbeziehung aller Akteure, und das sind nicht nur
die Länder, sondern auch die Kommunen als Schulträger,
Wissenschaftler, Unternehmer, Eltern- und Schülervertre-
ter und, nicht zu vergessen, die vielen Träger der berufli-
chen und der Weiterbildung.
Ich denke, meine Damen und Herren, im Jahre 1 nach
PISA ist es endlich an der Zeit, den dreißigjährigen Bil-
dungskrieg zu beenden. Das erwartet das geneigte Publi-
kum von uns allen. Nur so ist es möglich – andere haben
es vorgemacht –, den großen Wurf in der Bildungspolitik
zu landen. Wir sind zu konstruktiver Kooperation bereit.
Ich erteile das Wort Kollegin Katherina Reiche,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verspro-
chen – gebrochen!
Unter diese Überschrift gehört auch der Haushalt für Bil-
dung und Forschung 2003.
Noch im September, wenige Tage vor der Bundestags-
wahl, hat die Bundesregierung hier im Deutschen Bun-
destag ihren ersten Haushalt für 2003 eingebracht. Die
Ausgaben für Bildung und Forschung sollten demnach
um 2,6 Prozent steigen.
Jetzt, zwei Monate später, ist davon keine Rede mehr. Der
aktuelle Entwurf, über den wir heute debattieren, sieht de
facto keinerlei Steigerungen vor. Wenn man zum Beispiel
die sachfremden Kosten für die Sanierung des ehemaligen
Bonner Abgeordnetenhochhauses unberücksichtigt lässt,
gibt es für Bildung und Forschung sogar weniger als 2002.
Versprochen – gebrochen! Dennoch rechnet uns die Mi-
nisterin nun eine Steigerung von 3,7 Prozent vor. Nur steht
die gar nicht in ihrem eigenen Haushalt.
Sie berücksichtigen dabei die Mittel für Ihr Schulbaupro-
gramm, die in die allgemeinen Finanzausgaben beim Fi-
nanzminister eingestellt sind.
Hinzu kommt die globale Minderausgabe. 340 Milli-
onen Euro waren es, 200 Millionen Euro haben Sie bereits
verteilt, bleiben 140 Millionen Euro, die Sie noch vertei-
len müssen. Ich bin gespannt darauf, wie Sie das tun wol-
len.
Das Projekt Ganztagsschule – ich sage: Schulbaupro-
gramm – wird von Ihnen nun als Wundermedizin gegen
die insbesondere in den SPD-geführten Ländern deutlich
gewordenen PISA-Defizite angeführt.
Frau Ministerin Bulmahn erklärt heute in der „Welt“:
PISA hat uns den Spiegel vorgehalten. – Nein, PISA hat
nicht uns den Spiegel vorgehalten, sondern Ihnen, den
SPD-geführten Ländern.
Sie können es einfach nicht ertragen, dass die von CDU
und CSU geführten Bundesländer seit Jahren eine bessere
Bildungspolitik gemacht haben. Das ist die Wahrheit.
Sie haben den Ländern einen noch nicht einmal ausge-
reiften Vorschlag für eine Verwaltungsvereinbarung
übersandt. Das, was von meiner Kollegin Böhmer vorge-
stellt wurde, ist lediglich ein Entwurf. Die Finanzierung
ist nicht gesichert, es soll kofinanziert werden. Aber in ei-
nem Punkt haben Sie sich bereits ganz klar geäußert: An
den Schulen sollen Hinweistafeln angebracht werden, auf
denen steht „Vom Bund geförderte Ganztagsschule“,
Ulla Burchardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Katherina Reiche
vielleicht mit Bild der Ministerin oder des Bundeskanz-
lers. Wenn das das Einzige ist, wo Sie konkret werden, ist
das wirklich wenig.
Es bleibt dabei: Der Bund finanziert die Suppenküchen
und die Länder müssen die Suppe auslöffeln, die Sie ih-
nen einbrocken. Zu Recht achten Länder wie Baden-
Württemberg, Bayern und Sachsen sorgsam darauf, dass
sie nicht über den Hebel der aktuellen Bundespolitik, wie
von Frau Burchardt vorgeschlagen, mit dem sozialdemo-
kratischen unteren Mittelmaß infiziert werden.
Ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn die Länder,
übrigens auch die SPD-geführten, sich sehr zögerlich ver-
halten,
denn sie haben für die Folgekosten für Personal- und
Sachausgaben aufzukommen.
Wir setzen auf eine bedarfs- und kindgerechte Ganz-
tagsbetreuung. Wir wollen die Wahlfreiheit für Fami-
lien, damit die Eltern Familie und Beruf besser miteinan-
der vereinbaren können.
Wir brauchen eine Vielfalt an qualitativ hochwertigen Be-
treuungsangeboten. Aber durch Ihre Steuer- und Finanzpo-
litik, meine Damen und Herren von der Koalition, stehen
die Länder finanziell mit dem Rücken zur Wand. Trotzdem
investieren Länder wie Hessen und Bayern weiterhin in
Bildung, übrigens gerade auch im Ganztagsbereich.
Als nationale Antwort auf PISA ist das von Ihnen vor-
geschlagene Schulbauprogramm -– mehr ist es nicht – un-
geeignet.
Die Herausforderung, vor die uns PISA stellt, lautet: qua-
litativ besserer Unterricht und besser ausgebildete und
motivierte Lehrer.
Ich nenne die Fakten zum Einzelplan 30: Er sieht dra-
matische Kürzungen, vor allem in der Forschung, vor.
Sowohl bei der Projektförderung als auch bei den For-
schungseinrichtungen gehen die Ansätze drastisch
zurück: Bei allen Zukunftstechnologien, der Biotechnolo-
gie, der molekularen Medizin, der Informationstechnolo-
gie, der Nanotechnologie und der nationalen Weltraum-
forschung, wird massiv, nämlich um 4,5 Prozent, gekürzt.
Gerade in der Biotechnologie und in der molekularen Me-
dizin sind allerdings weitere Anstrengungen vonnöten. In
beiden Forschungsfeldern bleibt der neue Haushalt um
5 bzw. 10 Millionen Euro hinter dem von der Bundesre-
gierung selbst festgestellten Bedarf zurück. Versprochen
– gebrochen!
Frau Burchardt, es sind dramatische Kürzungen vorge-
sehen, die zulasten des Umweltschutzes gehen: Im Be-
reich Mobilität und Verkehr ist ein Minus von 11 Prozent
und bei Projekten der globalen Umweltforschung ein Mi-
nus von 8 Prozent vorgesehen. Versprochen – gebrochen!
Der Ansatz für naturwissenschaftliche Grundlagenfor-
schung geht sogar um 12 Prozent zurück.
Wie will die Bundesregierung die Empfehlungen des Wis-
senschaftsrates zur Anschaffung neuer Großgeräte für die
Grundlagenforschung umsetzen? Ich sehe dafür keinerlei
Vorsorge im Haushalt. Versprochen – gebrochen!
Die neuen Länder haben Sie offensichtlich vollstän-
dig abgeschrieben. Die Förderung der innovativen regio-
nalen Wachstumskerne in den neuen Ländern geht gegen-
über 2002 um 4,5 Prozent zurück.
Für den Inno-Regio-Wettbewerb waren vor drei Monaten
noch 80Millionen Euro vorgesehen; jetzt sind es nur noch
65 Millionen Euro.
Das Ausbildungsplatzsonderprogramm für die neuen
Länder geht um 12 Prozent zurück, obwohl in den neuen
Ländern immer noch 55 000 junge Menschen einen Aus-
bildungsplatz suchen.
Gerade für die neuen Länder wäre eine Strategie zur
Förderung des Mittelstandes erforderlich. Tatsache ist,
dass die kleinen und mittleren Unternehmen unter einer
Flut verschiedener Förderprogramme ersticken, die vom
Wirtschaftsministerium und vom Forschungsministerium
unkoordiniert angeboten werden.
Bei den institutionell geförderten Forschungsorgani-
sationen gibt es ebenfalls massive Einschnitte. Frau
Bulmahn, noch im Juni haben Sie mit Bund und Ländern
Zuwachsraten zwischen 3 und 3,5 Prozent einvernehm-
lich vereinbart.
816
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 817
Die Max-Planck-Gesellschaft muss gegenüber dem be-
schlossenen Wachstum nun ein Minus von 3,5 Prozent
verkraften. Die Tarifsteigerungen und die Inflationsrate
müssen auch noch ausgeglichen werden. Der Präsident,
Professor Gruss, hat bereits angekündigt, dass er wohl
20 Abteilungen, wenn nicht sogar ein ganzes Institut
schließen muss. Versprochen – gebrochen!
Großforschungseinrichtungen, die gerade dabei sind,
den von der Bundesregierung selbst vorgeschlagenen Re-
formprozess umzusetzen, sind von den Einsparungen
ebenfalls betroffen. Die Helmholtz-Gemeinschaft rech-
net mit notwendigen Einsparungen in Höhe von 25 bis
30 Millionen Euro. In der kommenden Woche will die
HGF die ersten positiv evaluierten Projektverbünde aus
der Programmsteuerung bewilligen. Betroffen sind insbe-
sondere Projekte in der Gesundheits-, Verkehrs- und Welt-
raumforschung. Es ist ein völlig falsches Signal, wenn ge-
rade bei diesen Projekten Einschnitte vorgenommen
werden. Die nur mühsam erreichte Akzeptanz der gesam-
ten Programmsteuerung wird damit konterkariert.
Die Fraunhofer-Gesellschaft erhält 2,3 Prozent weni-
ger als in diesem Jahr, obwohl sie das Heinrich-Hertz-In-
stitut mit zu finanzieren hat.
Der neue Präsident, Professor Bullinger, hat im Sommer
angemahnt, die versprochene Steigerung um 5 Prozent zu
realisieren. Auch hier gilt: Versprochen – gebrochen!
Auch die DFG muss mit dem gleichen Betrag auskom-
men, den sie 2002 zur Verfügung hatte. Das bedeutet Min-
derausgaben in Höhe von 43Millionen Euro, die aufgrund
von Tarifteuerungen eingespart werden müssen. Der
DFG-Präsident Winnacker hat gesagt, dass eine Reihe
von Sonderforschungsbereichen eingespart werden
müsse. Die Fertigstellung der Diplom- und Doktorarbei-
ten von 2 000 Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nach-
wuchswissenschaftlern ist mangels finanzieller Mittel un-
gewiss; sie werden wahrscheinlich nicht fertig gestellt.
Frau Kollegin Reiche, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Tauss?
Ja, Herr Kollege Tauss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe schon so oft geredet. Sie regen sich dann im-
mer auf. Heute wollte ich Ihnen das einmal ersparen. Aber
ganz kann ich das nicht tun. Denn ein bisschen Wahrheit
und Klarheit gehört zu dem, was wir vortragen.
Frau Kollegin Reiche, Sie haben den Zustand beklagt.
Es gibt niemand, der mehr bedauert als ich, dass wir in
diesem Jahr auch bei den Forschungseinrichtungen nicht
das tun können, was wir gerne wollen.
Aber nachdem Sie Zahlen vorgetragen haben, will ich Sie
fragen, ob Ihnen auch die folgenden Zahlen bekannt sind:
Die DFG – Deutsche Forschungsgemeinschaft – erhielt
1998 noch 561 Millionen Euro; 2003 werden es 707 Mil-
lionen Euro sein.
Die MPG erhielt 1998 noch 401 Millionen Euro; jetzt
werden es 467Millionen Euro sein. Die FhG erhielt zu Ih-
rer Zeit 286 Millionen Euro; jetzt sind es – ohne Investi-
tionsmittel, die aus einem anderen Ministeriumsbereich
kommen und allein in meinem Wahlkreis in diesem Jahr
und in den nächsten Jahren 50 Millionen Euro betragen –
320 Millionen Euro.
Ich könnte das fortsetzen.
Wie kommen Sie eigentlich dazu, hier von gebroche-
nen Versprechen zu reden? Sie können doch nicht einmal
Zahlen lesen. Oder haben Sie auch ein PISA-Problem?
Das ist meine Frage.
Ich sage Ihnen, was Ihr Problem ist, Herr Tauss. Sie
von der Koalition und auch die Bundesregierung denken
in optimistischer Schätzung
in Zeiträumen von Legislaturperioden. Forschung muss
aber länger denken und planen. UMTS lässt grüßen.
Sie haben es bislang nicht verstanden, ein umfassendes
Konzept vorzulegen,
eine langfristige Planung für die Forschungseinrichtun-
gen darzulegen.
Ich habe gerade ausgeführt, dass die Helmholtz-Ge-
meinschaft bereits Projekte bewilligt hat, deren Mittel
jetzt gestrichen werden.
Diese Forschungseinrichtungen wissen nicht, wie sie mit
diesen Kürzungen klarkommen sollen.
Herr Tauss, noch einmal: Forschung braucht langen
Atem,
Katherina Reiche
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Katherina Reiche
Fünf- bzw. Zehnjahresrhythmen. Genau das machen Sie
nicht. Sie kürzen.
Das bringt mich dazu, Sie einmal zu fragen, was unsere
ausländischen Partner, zum Beispiel die Vereinigten Staa-
ten, gemacht haben. Am 20. November, am Tag der Haus-
haltsentscheidung im deutschen Kabinett Schröder, hat
der amerikanische Kongress beschlossen, die Mittel für
die National Science Foundation, also das Pendant der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, für die nächsten
fünf Jahre zu verdoppeln. Das nenne ich nachhaltige und
strategisch vernünftige Forschungspolitik.
Die Bundesregierung setzt mit den beschlossenen
Haushaltskürzungen in Bildung und Forschung die Zu-
kunftsfähigkeit Deutschlands aufs Spiel. Wo sind denn die
beschlossenen Prioritäten, die Sie noch in Ihrer Regie-
rungserklärung angemahnt haben?
Sie kürzen mal eben alles gleichermaßen. Zum Beispiel in
der Biotechnologie und der molekularen Medizin sind
größere Anstrengungen geboten, wenn wir international
mithalten wollen.
Angesichts der Einschnitte bei den Forschungsausga-
ben wird der wissenschaftliche Nachwuchs in den Hoch-
schulen stecken bleiben. Durch Ihre Finanz-, Steuer- und
Forschungspolitik setzen Sie die Freiheit von Forschung
und Lehre aufs Spiel. Anstatt zu flexibilisieren, setzen Sie
immer mehr auf Reglementierung und auf Staat. Auch
für ausländische Nachwuchswissenschaftler, von Frau
Bulmahn heftig umworben, wird Deutschland immer un-
attraktiver.
Der sich anbahnende Fachkräftemangel wird so nicht
aufgehalten werden.
Im Jahr 2004 werden die Kürzungen noch dramati-
scher sein, weil dann die auf drei Jahre befristeten UMTS-
Mittel wegfallen werden. So viel, Herr Tauss, zur lang-
fristigen Planung.
Statt einer Verstetigung der Fördermittel droht in den ent-
scheidenden Bereichen wie der Genomforschung und
auch der Ostförderung ein massiver Einbruch.
Forschung und Innovation brauchen – ich sage es noch
einmal – einen langen Atem. Sie haben das bis heute nicht
realisiert.
Kollegin Reiche, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ih-
res Parlamentarischen Geschäftsführers von Klaeden?
Ja.
Frau Kollegin Reiche, ich frage vor dem Hintergrund
der Fragen des Kollegen Tauss, wie Sie die Presseer-
klärung der Max-Planck-Gesellschaft vom 3. Dezember
beurteilen, in der es heißt:
Nach einer Reihe von Jahren, in denen die staat-
lichen Zuschüsse deutlich unter dem Finanzbedarf
der Max-Planck-Gesellschaft lagen,
sind jetzt – bei der für 2003 angekündigten Null-
runde und den ungünstigen Finanzperspektiven für
die Folgejahre – strukturelle Konsolidierungsmaß-
nahmen wie die Schließung von mindestens 20 In-
stitutsabteilungen unvermeidlich. Selbst neue wis-
senschaftliche Initiativen können nicht wie geplant
verwirklicht werden ...
Das unterstreicht genau das, was ich gesagt habe.
2000 Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchs-
wissenschaftler müssen darum bangen, ihre Diplomarbeit
oder ihre Doktorarbeit an den Instituten durchführen zu
können.
Das wird den Fachkräftemangel in Deutschland verschär-
fen. Das wird dazu führen, dass noch mehr deutsche Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler Deutschland den
Rücken kehren.
Aus den lautstarken Ankündigungen ist bei Ihnen
nichts geworden. Der Rotstift regiert, und das insbeson-
dere bei der Forschungspolitik. Statt sich gerade in wirt-
schaftlich schwierigen Zeiten antizyklisch zu verhalten
und in die Zukunft zu investieren, sägt die Bundesregie-
rung mit panischer Hektik und Fantasielosigkeit an unse-
rer wichtigsten Ressource, an der Bildung.
Kollegin Reiche, gestatten Sie noch eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Röspel?
818
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 819
Jetzt nicht mehr, sonst werden wir mit der Debatte
heute nicht mehr fertig. Ich glaube, die nächsten Kollegen
warten.
Das ist ein richtiger Gesichtspunkt.
Aber Sie können auch – das möchte ich zum Schluss
sagen – ein Versprechen halten. Das ist das Versprechen
gegenüber Ihren Gefolgsleuten. Obwohl für 2003 weniger
Geld für Bildung und Forschung zur Verfügung steht und
die Aufgaben insgesamt nicht zunehmen, wird der Ver-
waltungsapparat des Ministeriums aufgebläht.
Zwei zusätzliche Abteilungen und ein zusätzlicher beam-
teter Staatssekretär werden installiert.
Wozu? Gibt es neue Zuständigkeiten? Nein. Es geht aus-
schließlich um Versorgungsposten für SPD-Mitglieder,
die der Steuerzahler finanzieren soll.
Das ist das völlig falsche Signal in Zeiten leerer Kassen
und geht zulasten von Bildung und Forschung.
Ich erteile das Wort der Kollegin Grietje Bettin, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Reiche, auch Sie sollten jenseits der par-
teipolitischen Grenzen im Interesse der Zukunft unseres
Landes die Fakten, die dem Bildungsetat zugrunde liegen,
zur Kenntnis nehmen.
Ich möchte auf Ihre platten Aussagen nicht weiter einge-
hen;
denn Sie haben nicht einen konstruktiven Beitrag geleis-
tet, der uns in der Bildungspolitik auch nur einen Schritt
weiterbringen würde.
Ich möchte hier und heute nicht das wiederholen, was
wir tagtäglich bezüglich der Finanzsituation unseres Lan-
des in der Presse lesen müssen. Doch gerade in den Haus-
haltsberatungen spiegelt sich die schwierige wirtschaftli-
che Gesamtlage wider. Es gibt zwar auch im Haushalt des
Bildungs- und Forschungsministeriums an einigen Stellen
geringfügige Kürzungen, aber trotzdem – das ist uns nicht
erst seit den Ergebnissen der PISA-Studie ein besonderes
Anliegen – finden Aufstockungen in zentralen bildungs-
politischen Teilbereichen statt: beim BAföG – das wurde
schon mehrfach angesprochen –, bei der Unterstützung
der Juniorprofessur, beim so genannten Inno-Regio, dem
Sonderprogramm zur Förderung innovativer Regionen in
den neuen Ländern, und bei der Förderung der Chancen-
gleichheit für Frauen.
Eine weitere konkrete Maßnahme, die wohl uns allen
am Herzen liegt, ist die Sanierung des Erfurter Gutenberg-
Gymnasiums nach dem schrecklichen Amoklauf im ver-
gangenen April.
Insgesamt werden nach dem heute vorliegenden Haus-
haltsentwurf die Mittel des Bundesministeriums für Bil-
dung und Forschung ansteigen. Zusammen mit den Inves-
titionen für die Ganztagsschulen, die im Haushaltsplan des
Kanzleramtes stehen, werden die Mittel für Bildung und
Forschung im kommenden Jahr auf 8,7 Milliarden Euro
erhöht.
Die Schaffung von 10 000 zusätzlichen Ganztags-
schulen ist das zentrale Projekt der nächsten Legislatur-
periode im Bildungssektor. Trotz leerer Kassen werden
wir dieses Projekt verwirklichen. Dabei sind wir natürlich
auf die Bereitschaft und Mitwirkung der Länder angewie-
sen; denn aus nachvollziehbaren Gründen wollen wir
nicht, dass die zusätzlichen Milliarden des Bundes in den
allgemeinen Haushalten versickern.
Kollegin Bettin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rachel?
Nein, ich möchte meine Ausführungen zu Ende führen.
– Es bringt nichts, mit Ihnen zu diskutieren. Das haben
alle Ihre Wortbeiträge gezeigt. Ich denke, auf diesem Ni-
veau sollten wir nicht fortfahren.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Grietje Bettin
Wir haben genug Probleme, bei deren Lösung wir uns
auch über die Parteigrenzen hinweg verständigen sollten.
Wenn Sie dazu nicht bereit sind, weiß ich nicht, wie das
im Interesse unserer Kinder ausgehen soll.
Wir wollen Ganztagsschulen, die nicht nur verwahren,
sondern auch den pädagogischen Herausforderungen ge-
recht werden können. Die Konzepte dafür müssen schleu-
nigst in enger Kooperation von Bund und Ländern ent-
wickelt werden.
Nun noch ein paar Worte zu den anderen für uns Grüne
besonders wichtigen Teilbereichen. Das Erste ist die
Chancengleichheit. Gleiche Chancen beispielsweise für
Männer und Frauen können nicht einfach so von oben ver-
ordnet werden. Allerdings zeigt die bisherige Erfahrung
auch, dass eine solche Chancengleichheit längst nicht über-
all mit entsprechendem Nachdruck durchgesetzt wird.
Dies gilt bedauerlicherweise auch für den Bereich von Bil-
dung und Wissenschaft. Trotz breiter gesellschaftlicher
Debatten und massiver politischer Anstrengungen ist das
Bild der Frau in der Wissenschaft immer noch traurig. Nur
6 Prozent der C-4-Professuren sind von Frauen besetzt,
und dies, obwohl 53 Prozent der Erstsemester Frauen sind.
Von Qualifikationsstufe zu Qualifikationsstufe nimmt der
Anteil von Frauen rapide ab. Ein wichtiger Beitrag zur Än-
derung dieses Zustands ist die Einführung der Juniorpro-
fessur, die hoffentlich in vermehrtem Maße auch von
Frauen in Anspruch genommen wird. Im Bundeshaushalt
werden in unterschiedlichen Programmen knapp 21,5Mil-
lionen Euro direkt für die Verwirklichung der Chancen-
gleichheit von Frauen zur Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine höchst erfreuli-
che Entwicklung ist in einem anderen zentralen Bereich
erkennbar. Das von uns neu konzipierte BAföG-Modell
zeigt deutliche Erfolge. Seit der Reform erhalten wesent-
lich mehr Studierende wesentlich höhere Fördersätze.
Deshalb steigen auch hier die veranschlagten Mittel im
Jahre 2003.
Ein weiterer Einzelposten ist besonders wichtig, näm-
lich das so genannte Sonderprogramm zur Förderung in-
novativer Regionen in den neuen Ländern. Es begreift
Forschung und Wissenschaft als Grundlage für Wirt-
schaftswachstum und schafft damit neue Arbeitsplätze.
Auch hier werden die Mittel massiv aufgestockt.
Gleiches gilt für die Maßnahmen im Rahmen des Zu-
kunftsinvestitionsprogramms. Darunter fällt ein aus me-
dienpolitischer Sicht interessantes Zukunftsprojekt, die so
genannte Notebook-Universität. An verschiedenen
Hochschulen werden die Studierenden in Verbindung mit
dem Aufbau drahtloser Netze zur Funkübertragung in Hör-
säle und Aufenthaltsräume mit mobilen Computern ausge-
stattet. Dabei wollen wir die Studierenden auf keinen Fall
von ihren Bemühungen ablenken oder einfach nur den
Rechnerpool der Universitäten erweitern; vielmehr wollen
wir neue didaktische Lehrkonzepte testen und interaktive
Lernprozesse ermöglichen. Allerdings gibt es, insbeson-
dere bezogen auf die didaktischen Konzepte und die da-
raus resultierenden Lernerfolge, noch recht viel For-
schungsbedarf. Insgesamt erfährt die sozial- und geistes-
wissenschaftliche Forschung im Bildungshaushalt daher
auch im Jahre 2003 eine weitere Mittelerhöhung.
Mit dem Haushalt 2003 wollen wir hinsichtlich unserer
konkreten bildungspolitischen Ziele in der Zukunft weiter
vorankommen. Dies bedeutet erstens, weiterhin mehr
Geld für Bildung und Forschung auszugeben, zweitens
mehr erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen in al-
len Bildungsstufen, drittens mehr Generationengerechtig-
keit durch gezielte Nachwuchsförderung. Viertens setzen
wir uns für eine weitere Demokratisierung der Hochschu-
len und insbesondere für eine stärkere Transparenz in den
Hochschulen ein. Fünftens streben wir eine größere
Weltoffenheit und Internationalität sowie einen professio-
nellen Umgang damit an unseren Schulen und Hochschu-
len an.
Dies sind die wichtigsten Rahmenbedingungen, durch
die die gleichen Chancen für alle in einer gerechten und
flexiblen Bildungslandschaft sichergestellt werden sollen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort der Kollegin Cornelia Pieper von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Sie,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
vor der Bundestagswahl das erste Mal über den Haushalt
2003 gesprochen haben, haben Sie nicht nur dieses Hohe
Haus, sondern auch die Wähler getäuscht. Und das wuss-
ten Sie ganz genau.
Von einem neuen Rekordhaushalt für Bildung und For-
schung von 8,6 Milliarden Euro war damals die Rede. Ich
frage Sie: Was ist davon geblieben?
Nach der Steuerlüge nun also die Lüge bezüglich des
Haushalts für Bildung und Forschung.
Wir decken diese Lüge auf, meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition.
Herr Tauss, reden wir doch einmal Klartext. Wir reden
hier nicht über den Bundeshaushalt
820
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 821
der damaligen CDU/CSU-FDP-Koalition, sondern wir
reden über Ihren Haushalt und wir reden über die Glaub-
würdigkeit Ihrer Politik und der Politik Ihrer Ministerin.
Wenn noch am 17. Juni dieses Jahres eine Vereinbarung
der Bund-Länder-Kommission mit der Deutschen For-
schungsgemeinschaft und mit den anderen Wissen-
schaftsgemeinschaften getroffen worden ist, in der klar
festgelegt worden ist, dass es eine Steigerung für den Be-
reich Wissenschaft und Forschung, für die Deutsche For-
schungsgemeinschaft, für die anderen Wissenschaftsge-
meinschaften geben soll, und die Ministerin diesen
Vertrag in der letzten Woche aufkündigt, obwohl sie doch
im Sommer schon genau wusste, wie die Haushaltslage
aussieht,
dann bezeichne ich das ganz klar als Lüge in der Bil-
dungs- und Forschungspolitik.
Sie haben die Menschen in diesem Land betrogen.
Sie hören das nicht gern, ich weiß das.
Frau Kollegin Pieper, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Tauss?
Nein, ich möchte mit den Fakten fortsetzen. Herr Tauss
führt hier rein rhetorische Diskussionen, die uns nicht
weiterbringen.
Meine Damen und Herren, noch in der Kabinettsvor-
lage hat Frau Ministerin Bulmahn an den Steigerungs-
raten der BLK festgehalten. Das ist unseriös, Frau Minis-
terin, und Sie machen sich damit auch unglaubwürdig. Sie
wussten doch schon zu diesem Zeitpunkt besser, dass Sie
mit dem Rotstift an Ihren Haushalt herangehen müssen.
Davon zeugen unter anderem auch die globalen Minder-
ausgaben in Höhe von 345 Millionen Euro, die Sie dann
um 200 Millionen Euro gekürzt haben und damit auch in
Ihrem Haushalt sparen mussten. Aber was sollen diese
Spielchen, Frau Ministerin? Das ist nicht glaubwürdig.
Letztendlich mussten Sie den Herren Winnacker, Gruss,
Kröll, Bullinger und Henke verkünden, dass das Ganze
eine Luftbuchung war und dass sie keinen Euro zur Fi-
nanzierung der versprochenen Steigerungsraten zu erwar-
ten haben. Das verdienen die großen Forschungsgemein-
schaften nicht, Frau Ministerin.
Sie sind in der Tat auf langfristige und verlässliche Pla-
nung angewiesen. Die Forschung ist eben kein Hauruck-
betrieb, der sich beliebig an- und abschalten lässt. Wenn
mir Professor Winnacker mitteilt, dass durch die Ein-
schnitte, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft jetzt
erfahren muss, drastische Eingriffe in das laufende För-
dergeschehen vorgenommen werden, sodass die Mittel
für 15 von 80 Sonderforschungsbereichen nicht mehr be-
willigt werden können, dann sage ich: Sie ruinieren mit
Ihrer Steuer- und Wirtschaftspolitik nicht nur den Wirt-
schaftsstandort Deutschland, Sie ruinieren damit auch den
Wissenschaftsstandort Deutschland.
Die neue Losung Frau Bulmahns, die sie mit ihrer Pres-
semitteilung vom 20. November an das deutsche Volk aus-
gibt, lautet: Anstieg der Mittel um 3,7 Prozent, also Stei-
gerung von 8,391 Milliarden Euro auf 8,705 Milliarden
Euro im Jahr 2003. Das ist auch wieder so ein Ding. Der
uns vorliegende Haushalt weist nämlich nur 8,405 Milli-
arden Euro aus. Da Frau Bulmahn, wie schon gesagt, mit
den globalen Minderausgaben nicht durchkam, setzte sie
eben wieder 200 Millionen Euro ab. Doch jetzt spricht sie
Klartext und kürzt diesen Forschungshaushalt drastisch.
Das betrifft gleichermaßen die so oft auch von Ihnen
beschworenen Zukunftstechnologien. Von der Biotechno-
logie bis zur Weltraumforschung, kein Bereich in der For-
schung bleibt von diesen Kürzungen verschont. Rot-Grün
vernichtet den Wissenschaftsstandort. Die Suppe müssen
die anderen auslöffeln: die Max-Planck-Gesellschaft, die
Helmholtz-Gemeinschaft, die Wissenschaftsgemeinschaft
Gottfried Wilhelm Leibniz, die Fraunhofer-Gesellschaft
und die Deutsche Forschungsgemeinschaft selbst.
Diese Bundesregierung hat immer, wenn es ihr ins
Zeug passte, internationale Vergleiche ins Feld geführt.
Doch ich sage Ihnen: International werden Sie derzeit
nicht gut abschneiden. Wenn Sie sehen, dass der amerika-
nische Kongress eine Verdoppelung der Forschungsaus-
gaben bei der National Science Foundation vorgenommen
hat, ebenso europäische Staaten, zum Beispiel Großbri-
tannien, erkennen Sie, dass sich hier eine Entwicklung ab-
spielt, von der wir immer mehr abgehängt werden. Es fin-
det doch schon längst nicht nur ein Wettbewerb um die
beste Volkswirtschaft, sondern auch um die besten Köpfe
statt.
Frau Kollegin Pieper, Sie müssen bitte zum Ende kom-
men.
Herr Präsident, ich komme zum Ende meiner Rede.
Cornelia Pieper
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Cornelia Pieper
Sie setzen in diesem Haushalt die falschen Prioritäten,
nicht für Zukunftsinvestitionen.
Jetzt noch ein letztes Wort zur Chefsache Aufbau Ost.
Auch da wird gekürzt. Für Inno-Regio waren 80 Millio-
nen Euro vorgesehen. Sie sind bei 65 Millionen Euro ge-
landet. Ich sage Ihnen: Wir müssen alle Kraft gerade auf
die Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern richten.
Wir brauchen dort dringend eine Großforschungseinrich-
tung, besonders wenn wir uns einmal vor Augen führen,
dass im Forschungs- und Entwicklungsbereich im Osten
heute auf 1 000 Einwohner gerade einmal 3,8 Beschäf-
tigte kommen. Im Westen sind dies 6,3 Beschäftigte.
Frau Kollegin, bitte.
Forschung und Technik können Impulsgeber für diese
Region sein. Dann aber müssen dort die Akzente zukünf-
tig anders gesetzt sein. Auch dies vermisse ich in Ihrem
Haushalt, Frau Ministerin.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Ulrich Kasparick, SPD-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Zwei Kurzbemerkungen vorweg: Ich freue mich,
Frau Pieper, dass Sie unsere Koalitionsvereinbarung le-
sen. Darin haben wir hinsichtlich der Ansiedlung von For-
schungsinstituten einen Vorrang für Ostdeutschland fest-
geschrieben. Dies ist genau der richtige Weg.
Frau Reiche – die ich im Moment nicht sehe – hat ei-
nige Zahlen genannt und von langfristigen Perspektiven
gesprochen. Sie haben langfristig in der Zeit von 1994 bis
1998 den Forschungshaushalt um 360 Millionen Euro
gekürzt.
Wir haben in diesem Haushalt seit 1998 einen Aufwuchs
um 25 Prozent. Dies unterscheidet uns.
Ich will etwas zum Thema Ostdeutschland sagen. In
Ostdeutschland sind Forschung und Entwicklung die zen-
trale Kategorie. Ich möchte Ihnen begründen, warum dies
so ist, und deutlich machen, dass wir mit unserem For-
schungshaushalt die richtigen Prioritäten setzen.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat im Oktober dieses
Jahres eine Analyse über die Metropolregion Halle/Leip-
zig vorgelegt und deutlich gemacht, dass wir mit dem
Wirtschaftwachstum in dieser Region mittlerweile gleich-
auf mit dem Ruhrgebiet sind. Das hat damit zu tun, dass
in dieser Region besonders starke Forschungsinstitute
angesiedelt worden sind. Alle, die sich mit Ostdeutsch-
land beschäftigen, wissen, dass wir etwa fünf starke Wirt-
schaftsregionen haben, die deshalb stark sind, weil sie
gute Forschung machen. Bei genauerem Hinsehen zeigt
sich, dass die wirtschaftlich starken Regionen im Kern
Forschungsregionen sind.
In den zurückliegenden zehn bis zwölf Jahren ist durch
die Transferleistungen aus dem Westen im Wesentlichen
der Markt für die nicht handelbaren Güter ausgebaut wor-
den. Ich will Ihnen einmal sagen, was dies ist. Zu
den nicht handelbaren Gütern zählt insbesondere das Bau-
gewerbe. Dieses ist im Osten durch die Steuerabschrei-
bungsmodelle der alten Bundesländer stark gewachsen,
hat aber im Osten zum Wohnungsleerstand geführt. Dort
stehen über 1 Million Wohnungen leer.
Wir brauchen – so sagt es die Studie der Friedrich-
Ebert-Stiftung deutlich – sehr viel stärker ein Umschwen-
ken in der Förderpolitik auf die weichen Standortfaktoren,
auf die Stärkung der Forschung. Wir müssen uns auf den
Ausbau der handelbaren Güter und Dienstleistungen kon-
zentrieren. Dies sind im Wesentlichen Wissenschafts-
dienstleistungen. Hier sitzt der Wachstumsmotor für mo-
derne Volkswirtschaften. Kurz gesagt heißt dies: Nur wer
die Forschung fördert, wird in Ostdeutschland auf Dauer
Erfolg haben.
Der Ausbau der Forschung ist die zentrale Schlüssel-
kategorie für den Aufbau Ost, denn es geht um den Aus-
bau der Märkte für handelbare Güter und Dienstleistun-
gen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat
einmal für die Region Berlin ausgerechnet, dass die lokale
Wirtschaft der Ansiedlung von Wissenschaft etwa im Ver-
hältnis 1:4 folgt, in manchen Regionen sogar im Verhält-
nis 1:7. Das bedeutet, dass ein Wissenschaftlerarbeitsplatz
bis zu sieben Arbeitsplätze nach sich zieht. Deswegen ist
für den Osten der Ausbau der Wissenschaft zentral.
Wichtig ist aber auch, dass man dies mit modernen För-
derinstrumenten macht. Moderne Förderinstrumente sind
schnelle Netzwerke. Wir fördern nicht die starren großen
Tanker, sondern die schnellen kleinen Beiboote, die Netz-
werke. Deswegen ist Inno-Regio methodisch der richtige
Ansatz.
Nun noch einmal zu den Zahlen, damit keine Legenden
verbreitet werden. Der Aufwuchs bei Inno-Regio beträgt
schlappe 81,6 Prozent.
Ich sage dies nur, damit wir einmal die richtigen Zahlen
hören. Bei den Juniorprofessuren – diese sind besonders
822
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 823
wichtig in Ostdeutschland, weil wir an den dortigen Insti-
tuten einen hoch motivierten Nachwuchs haben – beträgt
der Aufwuchs circa 186 Prozent.
Ich möchte noch ein Beispiel aus dem Wirtschaftsminis-
terium nennen. Dort wird ein ähnlicher Ansatz verfolgt. Es
gibt ein neues Förderprogramm, das heißt „Netzwerk-
management Ost“.Hiermit werdenNetzwerkmanager fi-
nanziert, die die Zusammenarbeit zwischen kleinen und
mittelständischen Unternehmen und der Forschung för-
dern, insbesondere mit den Fachhochschulen. Bei mir im
Wahlkreis habe ich ein solches Projekt angeschoben. Das
Solarzentrum Sachsen-Anhalts arbeitet mit der Techni-
schen Universität Chemnitz, den Fachhochschulen der
Region und den Handwerkerbildungszentren in einem
solchen Netzwerk zusammen. Der Bund fördert die Netz-
werkmanagementstelle.
So etwas hat Zukunft. So etwas ist hoch innovativ. Für
das Gesamtkonzept gibt es mittlerweile Anfragen aus dem
Ausland. Es besteht Interesse, insbesondere aus Asien,
das Gesamtkonzept zu kaufen. Das ist für den Osten in-
teressant. Bildungsdienstleistungen sind verkaufbar. Es
sind handelbare Dienstleistungen. Wer in den Bereich in-
vestiert, der hat klug investiert.
Ich bin mir sicher – die Zahlen belegen es –: Der For-
schungshaushalt 2003 geht genau diesen Weg.
Herzlichen Dank.
Ich erteile der Kollegin Marion Seib, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! In der letzten Woche ging folgende Nachricht
durch die Medien: Gut 2 Millionen junge Menschen stu-
dieren an deutschen Hochschulen. Jeder dritte Jugendli-
che eines Altersjahrgangs entscheidet sich mittlerweile
für ein Studium. – Nach PISA-Schock und UNICEF-
Ohrfeige könnte man meinen: endlich einmal eine gute
Nachricht. Aber: Masse – das müssen wir uns vor Augen
halten – ist nicht gleich Klasse.
Die Universitäten und Forschungseinrichtungen in un-
serem Land sollen nicht nur die größtmögliche Zahl von
Studenten durchschleusen; sie sollen auch und gerade
Spitzenforschung betreiben.
Spitzenforschung ist nur mit einer guten finanziellen Aus-
stattung möglich.
Neben den Ländern kommt dem Bund eine wichtige
Rolle bei der finanziellen Unterstützung der Forschungs-
einrichtungen zu. Man muss allerdings fragen, ob sich die
Bundesregierung dieser großen Verantwortung überhaupt
bewusst ist. Anstatt sich auf die im Grundgesetz vorgege-
benen Kernkompetenzen zu konzentrieren, mischte sich
der Bund in der vergangenen Legislaturperiode massiv in
die Verantwortungsbereiche der Länder.
Weder die Einführung der zwangsverfassten Studenten-
schaft noch das Verbot von Studiengebühren fällt in den
Aufgabenbereich des Bundes.
Obendrein, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist es
verlogen, den Ländern eine Finanzierungsmöglichkeit ab-
zuschneiden, ohne einen finanziellen Ausgleich dafür zur
Verfügung zu stellen. Eine aufgabengerechte Neuverteilung
der Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern wäre
wohl das Mindeste, was Sie den Ländern anbieten müssten.
Eine Abgabe von Umsatzsteuerpunkten durch den Bund
an die Länder wäre ein wichtiger und guter Anfang.
Besser noch: Streben Sie mit den Ländern gleich den
großen Wurf an! Beenden Sie die lähmende Mischfinan-
zierung! Entflechten Sie die Förderprogramme und über-
tragen Sie die frei werdenden Finanzmittel auf die Länder!
So können die Hochschulen besser ihr eigenes Profil ent-
wickeln und sich den Herausforderungen einer modernen
Bildungslandschaft stellen.
Warten Sie nicht, bis Karlsruhe Ihnen die rote Karte
zeigt!
Die Zeit drängt. Bereits jetzt sind die Folgen Ihrer ver-
fehlten Forschungspolitik sichtbar. Landauf und landab
klagen Wissenschaftler über einen Wust an Vorschriften.
Dieser Wust zeugt von einem schweren Misstrauen gegen
Forschung und Lehre in Deutschland und ist zudem ge-
paart mit der Überheblichkeit Ihrerseits, alles besser zu
wissen. Das Schlagwort von der Freiheit von Forschung
und Lehre ist zu einer ganz hohlen Formel verkommen.
Nun stehen Sie mit leeren Händen da. Die Wähler und
Wählerinnen fühlen sich massiv getäuscht und betrogen.
Nicht nur im Bereich Soziales und Gesundheit, sondern
auch im Bereich Bildung und Forschung wurden die
Wähler verschaukelt. Auf das potemkinsche Dorf beim
4-Milliarden-Euro-Schulbauprogramm, das Sie „Ganz-
tagsschulprogramm“ nennen, haben meine Kollegen
und Kolleginnen von der Union bereits hingewiesen.
Ulrich Kasparick
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Marion Seib
Verehrte Frau Kollegin, wir wollen stattdessen Wahlfrei-
heit für Familien herstellen. Wir wollen die bedarfsge-
rechte Lösung vor Ort.
Wir wollen die Förderung der familienergänzenden und
nicht der familienentziehenden Erziehung.
Wir wollen Lehrer statt Mauern.
Ihre leeren Hände zeigen sich nicht nur in diesem Teil-
bereich, sondern auch im gesamten Bereich von Bildung
und Forschung. Auch nach dem neunten Debattenbeitrag
ist noch nicht klar, wie viel Mittel zur Verfügung stehen.
In der Debatte am 12. September war von 9,3 Milliarden
Euro die Rede. Nach der Kabinettssitzung hieß es:
8,7 Milliarden Euro. Heute sprechen Sie von 9,1 Milliar-
den Euro. Im Haushalt sind 8,4 Milliarden Euro ausge-
wiesen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, welche
Zahlen gelten nun eigentlich? Werden hier Mittel aus der
Ressortforschung hin und her geschoben? Wie kommt
heute plötzlich die Zahl von 9,1 Milliarden Euro zu-
stande?
In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung ist davon die
Rede, dass Sie weitere Anstrengungen unternehmen wol-
len,
um weltweite Spitzenleistungen in der Forschung zu
ermöglichen.
Weiter heißt es:
Es gilt, Innovationen in Deutschland zu fördern, die
Grundlagenforschung zu stärken und durch Beiträge
von Wissenschaft und Forschung die Entwicklung
einer nachhaltig zukunftsfähigen Wirtschaft und Ge-
sellschaft in Deutschland voranzubringen.
Da kann ich nur sagen: Richtig! Gut gemacht! Das unter-
stützen auch wir.
Doch knapp einen Monat später handelt die Bundes-
regierung völlig entgegen ihrer eigenen Koalitionsverein-
barung. Sie widerruft Haushaltszuwächse für die von
Bund und Ländern gemeinsam geförderten Forschungs-
einrichtungen und ruft zusätzlich eine Nullrunde aus, die
eigentlich eine Minusrunde ist.
Dies geschieht ohne jegliche Rücksprache mit den Län-
dern und entgegen der Vereinbarung mit der Bund-Län-
der-Kommission im Sommer dieses Jahres.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Mittel-
streichungen stellen einen schweren Schlag für die
Grundlagenforschung in Deutschland dar. Deutschland
darf nicht den Ast absägen, auf dem es sitzt. Nach der
Veröffentlichung der PISA-Studie ist oft, auch heute wie-
der, darauf hingewiesen worden, wie wichtig dieser Be-
reich ist. Um das vorhandene Potenzial richtig nutzen zu
können, braucht man mehr als bloße Lippenbekenntnisse.
Notwendig ist – ich erinnere an Herrn von Weizsäcker, der
vorhin in der Debatte zur Umweltpolitik auf die Notwen-
digkeit einer langfristigen Politik hingewiesen hat – vor
allem eine über die Legislaturperiode hinaus angelegte,
verlässliche mittel- und langfristige Finanzierung der For-
schungseinrichtungen. Sonst lässt sich eine langfristig an-
gelegte Grundlagenforschung nicht realisieren.
Es kann nicht sein, dass noch im Juni versprochen
wurde, 2,3 Milliarden Euro für gemeinsame For-
schungsförderung auszugeben, und dass diese zugesag-
ten Mittel wenige Monate später komplett gestrichen wer-
den. So erreicht man kein größeres Vertrauen in den
Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland.
Die Forschungseinrichtungen unseres Landes schlagen
zu Recht Alarm. Am bedrohlichsten ist aber, dass bei der
Deutschen Forschungsgemeinschaft 2000 Stellen für
Nachwuchswissenschaftler zur Disposition stehen. Der
wissenschaftliche Nachwuchs kann nicht warten, bis die
Regierung die Folgen ihrer Vollbremsung kapiert. Die
jungen Leute werden sich im Ausland umschauen, wo sie
gebraucht werden und gern gesehen sind. Das bedeutet
eine Vernichtung von Know-how und Engagement. In
Ihrem Ministerium scheint man von Knowledge Manage-
ment noch nie etwas gehört zu haben, wenn Sie beim Bil-
dungsmanagement für die gesamte Republik glauben, mit
Vollbremsungen Wissenschaftler fördern zu können.
– Ich habe im Moment das Wort.
Durch die Regierung werden die Eckpfeiler der deut-
schen Forschungslandschaft wie die Max-Planck-Gesell-
schaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die
Fraunhofer-Gesellschaft nicht gestützt, sondern erheb-
lichen Belastungen ausgesetzt.
Frau Bundesministerin, wenn Sie wirklich einen wei-
teren, also einen dritten, verbeamteten Staatssekretär
brauchen,
dann muss ich Ihnen sagen: Wenn Sie schon Gehälter für
Bildung ausgeben wollen, dann geben Sie sie für diejeni-
gen aus, die Bildung vermitteln und Forschung betreiben,
und nicht für diejenigen, die Bildung und Forschung ver-
walten.
Dass es auch anders geht, zeigen uns die Amerikaner. Das
haben wir heute schon mehrmals gehört.
Nicht nur bei den Forschungseinrichtungen, sondern
auch bei den Fachhochschulen regiert der Rotstift der
Bundesregierung. 1992, also zu unserer Regierungszeit
– Sie haben vorhin so gerne den Blick in die Vergangen-
824
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 825
heit gerichtet –, wurde das Programm zur anwendungs-
orientierten Forschung gestartet.
Der Mittelstand sollte schneller als bisher an Forschungs-
ergebnissen teilhaben können. Nun werden die Mittel
gekürzt. Das ist ein schönes Geschenk zum zehnjährigen
Bestehen dieses Programms. Das bringt dem Mittelstand
– zusätzlich zu dem Steuerdruck und dem Regelungs-
wirrwarr – vor allem auch einen erschwerten Zugang zur
aktuellen Forschung. Das ist ein weiterer Sargnagel für
den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, schon Präsi-
dent John F. Kennedy stellte klar, dass es nur eines gibt,
was auf Dauer teurer ist als Bildung, nämlich keine Bil-
dung. Wer Bildung will, braucht Lehrer. Wer Forschung
will, braucht Wissenschaftler. Wir wollen keinen Zentra-
lismus in der Bildungs- und Forschungspolitik und keine
kurzatmigen Schulbauprogramme. Wir wollen die freie
Hand der Länder beim Mitteleinsatz und die Beibehaltung
föderaler Strukturen.
Deshalb fordern wir
die Aufhebung der Gemeinschaftsaufgabe Bildungspla-
nung, den Abbau der Mischfinanzierungen und der Ge-
meinschaftsaufgabe Hochschulbau sowie eine aufgaben-
gerechte Neuverteilung der Steuereinnahmen zwischen
Bund und Ländern. Dies bringt uns in der Bildungspolitik
weiter. Dies sind wir den jungen Wissenschaftlern, den
Studenten und den Schülern schuldig.
Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Tauss das Wort für eine Kurz-
intervention.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Frau Kollegin Pieper, Sie haben mit Bezug auf
eine Rede von mir in diesem Hause uns und auch mir
Wählertäuschung vorgeworfen.
Nun will ich nicht fragen, was die Menschen in Sachsen-
Anhalt von den Versprechen der Ministerpräsidentkandi-
datin Pieper halten. Die Arbeit in Sachsen-Anhalt beginnt,
Frau Pieper geht. Aber dies möchte ich nur am Rande
erwähnen.
Liebe Frau Pieper, Sie und andere haben soeben beklagt,
dass wir in diesem Bereich Kürzungen vornehmen. Diese
kann ich aber nicht erkennen. Ich will Sie einmal mit dem
konfrontieren, was in den von der FDPmitregierten Ländern
ohne sozialdemokratische Beteiligung passiert. Baden-
Württemberg: ein Minus von 42,9 Millionen Euro bei Bil-
dung und vor allem bei Wissenschaft und Forschung. Ham-
burg, wo Sie unanständigerweise mit Herrn Schill eine
Koalition gebildet haben: ein Minus von 11Millionen Euro.
Bayern – liebe Frau Kollegin Seib, es ist prima, dass ich in
diesem Zusammenhang auch auf Ihre Rede eingehen kann –
hat den ersten Haushaltsentwurf für diesen Bereich gekürzt
und den zweiten, bereits gekürzten Haushaltsentwurf um
nochmals 34 Millionen Euro gekürzt.
Sagen Sie einmal, mit welcher Chuzpe werfen Sie uns
Kürzungen im Haushalt vor? Das machen Sie doch in
Ihren Ländern. Sie können froh sein, dass wir nicht zu-
sätzlich viel Geld für die großen Forschungseinrich-
tungen einstellen. Sie hätten nämlich für Ihre 10 Prozent
Kofinanzierung kein Geld. Das sollten Sie den Max-
Planck-Instituten und den anderen Instituten der Ordnung
halber mitteilen, sonst sind Sie nicht sehr redlich. Das
muss man Ihnen leider vorhalten.
Ich muss einräumen, Herr Tauss: Wer Ihre ausgeprägte
Neigung zu Zwischenrufen kennt, der muss fast ange-
nehm überrascht sein, dass die Kurzintervention
wirklich eine solche geblieben ist.
Nun hat die Frau Kollegin Pieper Gelegenheit, auf die
Kurzintervention zu antworten.
Herr Tauss, ich stelle fest, dass Sie von meinen Aus-
führungen sehr beeindruckt waren; denn Sie schienen in
Ihrer Kurzintervention emotional bewegt zu sein. Ich
stelle weiterhin fest: Ich habe mit meinen Argumenten in
der Tat voll ins Schwarze getroffen.
Ich wiederhole: Es kommt darauf an, dass wir alle, so-
wohl im Bund als auch in den Ländern, lernen,
dass die Haushalte für Bildung, Forschung und Wissen-
schaft aufgestockt werden müssen und nicht gekürzt wer-
den dürfen. Ich weiß, dass gerade dort, wo die FDP mit-
regiert, egal ob in Rheinland-Pfalz mit der SPD oder auch
in Baden-Württemberg mit der Union,
sehr viel für Forschung und Bildung getan worden ist, und
zwar nicht nur mit Investitionen, sondern auch mit Struk-
turveränderungen in der Bildungspolitik.
Die FDP hat als erste Regierungspartei gefordert, dass
die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze aufgege-
ben wird. Wir haben dazu im Bundesrat eine Initiative
Marion Seib
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Cornelia Pieper
gestartet; das wissen Sie. Sachsen-Anhalt hat sich jetzt da-
ran beteiligt. In Sachsen-Anhalt hat die neue Landesre-
gierung als erste Maßnahme das 13. Schuljahr abge-
schafft.
Das schaffen Sie in Ihren Ländern nicht. In Richtung mo-
derne Bildungs- und Wissenschaftspolitik bewegen Sie
doch nichts. Zum einen geht es um mehr Investitionen.
Zum anderen geht es aber auch um modernere Strukturen
in Bildung und Forschung. Die sind bei Ihnen nicht er-
kennbar.
Herr Tauss, Sie bedauern, dass ich nicht Ministerpräsi-
dentin von Sachsen-Anhalt geworden bin. Was beim ers-
ten Anlauf nicht geklappt hat, klappt vielleicht später ein-
mal. Vielleicht beruhigt Sie das.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend.
Als erster Rednerin erteile ich der Bundesministerin Frau
Renate Schmidt das Wort.
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren! Meine sehr geehrten Damen! Der Einzelplan 17
macht deutlich, wo diese Bundesregierung ihre Prioritä-
ten setzt. Der Einzelplan des Familienministeriums ist
nicht, wie oftmals in der Geschichte – und zwar sowohl
bei konservativ geführten als auch bei SPD-geführten
Bundesregierungen –, zum Steinbruch für notwendige
Sparmaßnahmen gemacht worden. Bei den Ausgaben für
Familien, Senioren, Frauen und für die Jugend in meinem
Ressortbereich wird zu Recht nicht gespart. Wir haben da-
mit die Chance, Gesellschaftspolitik zu gestalten.
Damit will ich aber in keiner Weise vertuschen, dass
Einsparungen in anderen Ressorts auch unseren Bereich
berühren. Doch konnten wir bei allen Sparnotwendig-
keiten die Belastungen für Familien wenigstens mil-
dern. Ich nenne als Beispiel die Eigenheimzulage, bei
der es Manfred Stolpe und mir gelungen ist, gegenüber
dem ersten Entwurf deutliche Verbesserungen zu errei-
chen.
Vor allen Dingen haben wir es geschafft, den Vertrauens-
schutz zu gewährleisten, anders als im Freistaat Bayern,
wo Familien, die bereits Zusagen erhalten hatten, von ei-
nem Tag auf den anderen erfahren mussten, dass sie keine
Wohnungsbauförderung bekommen.
Das halte ich nicht für richtig. Wir verfahren anders, in-
dem wir im nächsten Jahr in diesem Bereich Minimalbe-
träge einsparen.
Natürlich sind – das will ich in keiner Weise abstreiten –
die materiellen Rahmenbedingungen für Familien von er-
heblicher Bedeutung. Sie sind wichtig, aber sie sind nicht
am wichtigsten. In allen Umfragen nennen junge Familien
eine familienfreundliche Gesellschaft mit guten Betreu-
ungs- und Bildungseinrichtungen für ihre Kinder als ihren
wichtigsten Verbesserungswunsch. Diesem Ziel werden wir
in dieser Legislaturperiode ein gutes Stück näher kommen.
Junge Frauen wie junge Männer wollen heute beides:
Beruf und Familie.Das scheitert aber häufig an den man-
gelnden Kinderbetreuungsmöglichkeiten. 70 Prozent der
nicht erwerbstätigen Mütter mit Kindern unter 12 Jahren
würden gerne eine Erwerbsarbeit aufnehmen, wenn die
Kinderbetreuung gesichert wäre. Hier drückt die jungen
Familien in Deutschland der Schuh. Wir brauchen des-
halb, meine sehr geehrten Herren und Damen insbeson-
dere von der Union, keine Ideologie, sondern praktische
Unterstützung für Familien. Das werden wir in dieser Le-
gislaturperiode anpacken.
Familien sind und bleiben – wir sollten uns an dieser
Stelle nicht immer wieder in Kämpfe verstricken – die
wichtigste Institution für Kinder. Das steht für uns außer
Frage. Hier ist der Ort, an dem sie Vertrauen und Wärme
erfahren und an dem sich Persönlichkeit und Charakter
entwickeln. Deshalb werden wir die zahlreichen Projekte
und Maßnahmen zur Stärkung der Erziehungskompetenz
von Eltern in meinem Ressortbereich auch im nächsten
Jahr weiterführen und dabei neue Impulse setzen.
Wir brauchen in unserer Gesellschaft ein Erziehungs-
klima, das auf Förderung, Fürsorge und Respekt ausge-
richtet ist.
Aber es gibt in der heutigen Zeit auch eine gesellschaftli-
che Mitverantwortung für das Aufwachsen von Kindern.
Es geht darum, dass alle ihren Teil dazu beitragen, um
Kinder stark zu machen. Deshalb werden wir in den
nächsten Jahren mit 4Milliarden Euro vonseiten des Bun-
des Ganztagsschulen in Deutschland fördern.
300 Millionen Euro stehen im Haushalt 2003 dafür zur
Verfügung.
Ich habe die Diskussion zu dem Einzelplan 30, dem
Ressort von Edelgard Bulmahn, vorhin mit verfolgt.
Ich habe eine Bitte: Widerstehen wir doch dieser absurden
Neigung, auch über dieses Ressort ausschließlich ideolo-
gisch zu diskutieren.
826
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 827
Kein Mensch, der einigermaßen bei Sinnen ist, geht da-
von aus, dass Ganztagsschulen das einzige Konzept sind,
um in vergleichenden Bildungsstudien endlich Fort-
schritte zu erzielen. Aber sie sind ein Baustein dafür. Kein
Mensch behauptet, dass der Bund jetzt in die Förderung
von Ganztagsschulen der Länder eintreten will. Vorhin ist
aber gefordert worden, den Ländern freie Hand zu lassen.
Was hat uns die freie Hand der Länder denn in den ver-
gangenen Jahren gebracht? Eine zehnprozentige Versor-
gung mit Ganztagsschulen in Westdeutschland. Das reicht
aber nicht!
Im Freistaat Bayern, dem größten Flächenland, sind es
gerade einmal 24 Ganztagsschulen. Die Diskussion dreht
sich um die Frage, ob noch 30 weitere hinzu kommen
können. Das reicht nicht. Wir wollen nicht etwa die Län-
der bevormunden, sondern eine Initialzündung starten.
Wir werden ihnen alle Freiheiten dabei lassen, wie sie die-
ses Programm ausgestalten wollen und welche pädago-
gischen Konzepte sie dabei verfolgen. Das ist unser Kon-
zept.
Wenn ich sehe, dass die Hessische Landesregierung
der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, die laut der
PISA-Studie nicht nur die beste Schule in ganz Deutsch-
land war, sondern auch im weltweiten Vergleich die bes-
ten Ergebnisse vorzuweisen hatte – sie war besser als alle
Schulen in Finnland und ihre Schüler haben mit ihren ma-
thematischen Fähigkeiten sogar die japanischen
überholt –, unter Umständen mit Schließung droht, weil
sie nicht als Versuchsschule weitergeführt werden soll,
dann muss ich sagen: Das ist Ideologie und dem müssen
wir endlich entgegenwirken.
Jetzt hätte ich mich beinahe aufgeregt.
Wir brauchen bessere Betreuungsmöglichkeiten und
Bildungsangebote nicht nur für Schülerinnen und
Schüler, sondern auch für die kleinen Kinder. Deshalb
werden wir ab Ende 2004 jährlich 1,5 Milliarden Euro für
bessere Betreuungsmöglichkeiten durch Krippen oder Ta-
gesmütter für unter Dreijährige bereitstellen. Auch daran
wird nicht gerüttelt werden.
Wir werden im kommenden Jahr die geplanten großen
Projekte in Zusammenarbeit mit den Ländern, den Ge-
meinden und den Trägern der Einrichtungen sorgfältig
prüfen. Ein Punkt ist mir dabei besonders wichtig: Seit der
PISA-Studie wird auch von der breiten Öffentlichkeit in
Deutschland endlich erkannt, wie entscheidend für den
späteren Lebensweg die frühzeitige Bildung unserer Kin-
der ist. Kinder müssen möglichst früh über spielerisches
Lernen Impulse für eine gesunde körperliche, geistige und
seelische Entwicklung erhalten. Das ist in erster Linie
natürlich die Aufgabe der Eltern. Aber das ist auch die
Aufgabe der Kindertageseinrichtungen. Deshalb müssen
Kindertagesstätten mehr als bisher zu Einrichtungen der
frühkindlichen Bildung werden.
Wir werden deswegen für die Kindertagesstätten verbind-
liche Bildungsziele und Qualitätsmerkmale vereinbaren.
Uns geht es um den Dreiklang Betreuung, Erziehung und
Bildung. Wir wissen uns darin übrigens mit den meisten
Bundesländern, auch mit den unionsregierten, einig.
Auch mit dem Hartz-Konzept werden die Interessen
der Familien gestärkt. Alleinerziehende, die bisher So-
zialhilfe bezogen haben, werden in die Vermittlungsakti-
vitäten des Arbeitsamtes einbezogen. Die neuen Minijobs
können auch bei der Kinderbetreuung eingesetzt werden.
Das hilft erwerbstätigen Eltern und eröffnet auch neue
Möglichkeiten für qualifizierte Tagesmüttermodelle.
Eine steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen wird
immer wichtiger, um die Leistungsfähigkeit unserer
Volkswirtschaft zu erhalten und damit auch die Folgen
des demographischen Wandels zu bewältigen. Aber das
bedeutet natürlich auch, dass Frauen endlich die gleichen
Chancen auf berufliche Entwicklung und Karriere haben
müssen wie Männer.
Wir alle kennen die Zahlen und Fakten, die zeigen,
dass Deutschland im Vergleich zu seinen europäischen
Nachbarn noch einen großen Nachholbedarf hat. Wir wer-
den deshalb die entsprechenden EU-Richtlinien zur
Gleichstellungspolitik umgehend in nationales Recht
umsetzen. Deutschland wird in Zukunft auch ein Land
sein, das für seine Gleichstellungspolitik bekannt ist.
Dazu gehört das Einrichten einer nationalen Gleichstel-
lungsstelle. Dazu gehört auch, dass wir den Aktionsplan
zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen fortschreiben
und dass das Gender Mainstreaming zum Handlungs-
maßstab nicht nur im öffentlichen Dienst, sondern in un-
serer gesamten Gesellschaft wird.
Unsere Gesellschaft braucht die Beteiligung junger
Menschen. Die Beteiligung von Jugendlichen ist das bes-
te Lernprogramm für die Demokratie. Dass die Jugendli-
chen bereit sind, sich zu engagieren, zeigt die jüngste
Shell-Jugendstudie: 35 Prozent der Jugendlichen sind
regelmäßig gesellschaftlich aktiv, weitere 41 Prozent ge-
legentlich. Der Jugend geht es eben nicht nur um Spaß.
Sie ist in hohem Maß leistungsbereit und will sich in die-
ser Gesellschaft engagieren. Um die Beteiligung von Ju-
gendlichen nachhaltig zu sichern, wird die 2001 gestartete
Beteiligungsbewegung unter dem Motto „Ich mache Po-
litik“ auch in den nächsten Jahren fortgesetzt,
und zwar gemeinsam mit starken Partnern, nämlich der
Bundeszentrale für politische Bildung und dem Deut-
schen Bundesjugendring.
Bundesministerin Renate Schmidt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesministerin Renate Schmidt
Wir machen deutlich, dass wir die jungen Menschen in
unserem Land ernst nehmen. Das zeigt sich auch daran,
dass es gelungen ist, entgegen dem ursprünglichen Fi-
nanzplanansatz für 2003 zusätzliche Mittel im Kinder-
und Jugendplan des Bundes einzustellen. Weil wir wissen,
dass das Zukunftsinvestitionen sind, geben wir in diesen
Bereichen – auch, wenn wir in anderen Bereichen sparen
müssen – mehr Geld aus.
Das bedeutet konkret, dass wir das Programm „Jugend
für Toleranz und Demokratie“, mit dem jugendlichen Ini-
tiativen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeind-
lichkeit gefördert werden, auf dem bisherigen Niveau
weiterführen können. Das bedeutet, dass wir die Pro-
gramme für sozial benachteiligte Jugendliche genauso
wie die Freiwilligendienste für junge Menschen auswei-
ten werden.
Ferner wollen wir Kinder und Jugendliche so gut wie
möglich vor Gefahren verschiedenster Art schützen. Mit
dem neuen Jugendschutzgesetz haben wir hier einen Mei-
lenstein gesetzt, und zwar sowohl beim Schutz vor Sucht-
gefahren durch Alkohol und Tabak wie auch beim Schutz
vor schädlichen Einflüssen durch Medien. Gemeinsam
mit dem Jugendmedienschutzstaatsvertrag der Länder
wird das Gesetz am 1. April 2003 in Kraft treten. Ganz
wichtig ist mir auch der bestmögliche Schutz von Kindern
vor sexueller Gewalt und Ausbeutung. Wir werden dazu
in Kürze einen nationalen Aktionsplan vorlegen.
Ich möchte betonen, dass ich die Vorstellungen der Bun-
desjustizministerin für eine härtere Bestrafung bei sexu-
ellen Vergehen an Kindern ausdrücklich teile.
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da-
men, angesichts der Rentendebatte in den letzten Wochen
will ich als Ministerin, die sowohl für die Jugend wie für
die Senioren verantwortlich ist, Folgendes ganz deutlich
sagen: Wir alle sollten uns davor hüten, einen „Krieg der
Generationen“ in unsere Gesellschaft hineinzutragen.
Unsere Verantwortung, insbesondere die Verantwortung
meines Ministeriums, heißt, den Zusammenhalt der Ge-
sellschaft zu stärken und nicht ihre Spaltung zu betreiben
und Vorurteile zu schüren. Nehmen wir es doch zur
Kenntnis und sagen wir es den anderen: Junge Menschen
sind entgegen landläufiger Meinung meistens stark enga-
giert. Die Älteren beuten nicht die Jungen aus, sondern sie
leisten erhebliche materielle Unterstützung für die Jünge-
ren. Sie helfen im Alltag und bei der Betreuung ihrer En-
kelkinder und machen so die Erwerbstätigkeit ihrer eige-
nen Kinder überhaupt erst möglich. Ferner stellen sie ihre
Lebenserfahrung und ihre Kompetenzen ehrenamtlich zur
Verfügung. Es ist wichtig, dass wir nicht das Gegenei-
nander, sondern das Miteinander betonen.
Dieses Füreinander-Einstehen ist der Kern eines Ge-
nerationenvertrags, der mehr als staatliche Sozialsys-
teme umfasst. Wir brauchen ein Verständnis von Jugend,
das Jugendlichkeit nicht zum Maßstab aller anderen Le-
bensalter macht. Ferner brauchen wir ein Bild des Alters,
das diesen Lebensabschnitt nicht mit Hilfsbedürftigkeit
und Krankheit gleichsetzt. Die gute Mischung von Alt und
Jung ist für die Gesellschaft, aber auch für die Wirtschaft
ein unverzichtbares Kapital, das sie endlich besser als bis-
her nutzen sollte. Wir werden in dieser Legislaturperiode
die Möglichkeiten aktiver alter Menschen und ihrer ge-
sellschaftlichen Teilhabe weiter stärken.
Zu einem realistischen Bild des Alters gehört aber
ebenso, dass wir darauf reagieren, wenn wegen der weiter
steigenden Lebenserwartung auch die Zahl der Menschen
zunehmen wird, die im hohen Alter auf Schutz und Hilfe
angewiesen sind. Diese Bundesregierung hat in den letz-
ten Jahren in diesem Bereich viel geleistet. Ich erinnere
nur an das neue Heimgesetz und das Pflege-Qualitätssi-
cherungsgesetz. Endlich haben wir auch gegen den jahr-
zehntelangen Widerstand aus Bayern ein bundeseinheitli-
ches Altenpflegegesetz.
Die Ausbildung nach dem neuen Recht kann ab dem
1. August 2003 beginnen.
Wir werden in den kommenden Monaten und Jahren
den Weg der Qualitätssicherung und -verbesserung für äl-
tere Menschen konsequent weitergehen. Wir werden die
Rechte der Aktiven und die Rechte der Nutzer ambulan-
ter Dienste stärken. Wir wollen mit allen, die in der Al-
tenhilfe Verantwortung tragen, insbesondere mit den
Wohlfahrtsverbänden, Vereinbarungen treffen, wie wir
die Situation pflegebedürftiger Menschen verbessern
können. Der Bundespräsident hat mit Recht auf Folgen-
des hingewiesen:
Wir haben die Kraft, den demographischen Wandel
zu gestalten, statt ihn zu erleiden.
Mein Ministerium wird seinen Beitrag zu diesem Gestal-
tungsauftrag leisten.
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da-
men, der Zivildienst in Deutschland kann auf eine fast
42-jährige Geschichte zurückblicken. Hunderttausende
von jungen Männern haben soziales Engagement gezeigt,
geholfen und entscheidende Erfahrungen für ihr weiteres
Leben gemacht. Der Zivildienst war jedoch gerade in
jüngster Zeit ein Dienst, der auf gesellschaftliche Verän-
derung reagiert. Ich erinnere daran, dass am 1. August
2002 eine Änderung des Zivildienstgesetzes in Kraft ge-
treten ist, wonach auch die Ableistung eines freiwilligen
ökologischen oder eines freiwilligen sozialen Jahres als
Zivildienst anerkannt ist. Wir setzen auf Freiwilligkeit
und lehnen deshalb eindeutig und unmissverständlich
eine allgemeine Dienstpflicht, wie sie Herr Koch in Hes-
sen zum wiederholten Male vorschlägt, ab.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 829
Nur Diktaturen kennen eine solche. Unsere Verfassung
verbietet sie. Wir haben uns in internationalen Verträgen
gegen eine allgemeine Dienstpflicht ausgesprochen. Des-
halb sollte diese Diskussion endlich beendet werden.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Lenke?
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend:
Ich bin gleich fertig. Dann gern, Frau Lenke.
Auch der Zivildienst kann von der Notwendigkeit, den
Haushalt zu konsolidieren, nicht ausgenommen werden. Ich
habe bereits mit den Spitzen der Wohlfahrtsverbände in be-
währter partnerschaftlicher Zusammenarbeit und mit den
übrigen Trägern erste Gespräche geführt, wie wir die Situa-
tion des Sparenmüssens – es geht immerhin um eine Grö-
ßenordnung von 90 Millionen Euro – bewältigen können.
Es zeichnet sich ab, dass wir eine angemessene und geeig-
nete Lösung im Interesse aller Beteiligten finden werden.
Der Einzelplan 17, meine sehr geehrten Herren, meine
sehr geehrten Damen, belegt: Die Bundesregierung setzt
gesellschaftliche Schwerpunkte für die Zukunft und die
Stabilität der Familien, für die Zukunftschancen unserer
Kinder, für das Miteinander von Alt und Jung und für die
Chancengleichheit von Frauen und Männern. Deshalb
freue ich mich auf die Beratungen zu diesem Haushalt und
bitte um Ihre Unterstützung.
Bitte sehr, Frau Kollegin Lenke.
Frau Ministerin, ich finde es sehr sympathisch, dass Sie
meine Zwischenfrage noch zulassen.
Sie haben sich gegen die allgemeine Dienstpflicht aus-
gesprochen. Ich begrüße das außerordentlich. Wir von der
FDP wollen sie auch nicht. Sie wissen aber, dass es jedes
Jahr 100 000 Wehrpflichtige und 130 000 Zivildienstleis-
tende gibt, dass aber 175 000 Männer eines Jahrgangs
keinerlei Pflichtdienst leisten. Geben Sie uns bitte Aus-
kunft, was Sie gegen die Wehrungerechtigkeit, die ja auch
eine Zivildienstungerechtigkeit ist, unternehmen!
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend:
Frau Lenke, Sie wissen höchstwahrscheinlich, dass ich
zu denen in meiner Fraktion gehöre – solche gibt es in al-
len Fraktionen; auch die FDPhat sich auf Bundesebene so
entschieden –, die der Meinung sind, dass die Wehrpflicht
aus unterschiedlichen Gründen auf Dauer nicht erhalten
werden kann.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir im
Jahre 2006 vor dem Hintergrund der real existierenden
Verhältnisse entscheiden wollen, ob es vernünftig ist, die
Wehrpflicht weiterzuführen oder nicht. Meine Position
dazu kennen Sie. Ich werde aber bis zum Jahr 2006 alles
dafür tun, um für den Zivildienst eine annähernde Gleich-
behandlung zu erreichen. Eine solche wird aber nur
annähernd erreichbar sein.
Wenn die Bundeswehr nur noch eine Zahl von weniger
als 100 000 Wehrpflichtigen braucht und ungefähr 50 Pro-
zent eines Jahrgangs den Kriegsdienst verweigern, dann
ist nicht einzusehen, warum für den Zivildienst mehr als
100 000 eingezogen werden sollen. Wir werden also ver-
suchen – das ist nur eine unzureichende Wehrgerechtig-
keit –, in diesem Punkt einigermaßen Gerechtigkeit zu er-
reichen. Mit den Wohlfahrtsorganisationen führe ich
Gespräche, um einen Einbruch durch die Sparmaßnah-
men zu verhindern und um zu klären, ob eine höhere Ei-
genbeteiligung möglich ist.
Eine absolute Gerechtigkeit ist aber in dieser Frage vor
dem Hintergrund des Bedarfs der Bundeswehr nicht zu er-
reichen. Ich bin gespannt, welche Entscheidungen 2006
gefällt werden.
Ich erteile der Kollegin Maria Eichhorn von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der letz-
ten Legislaturperiode haben Sie von Rot-Grün eine kin-
der- und familienfeindliche Politik betrieben.
Leider setzen Sie diese jetzt fort.
Frau Ministerin, wo sehen Sie bei der Eigenheimzu-
lage eine Verbesserung, wenn eine Familie sechs Kinder
haben muss, um eine Neubauförderung zu erhalten?
Weil Sie immer wieder Bayern anführen und glauben,
Bayern beschimpfen zu müssen, frage ich Sie: Wie
kommt es, dass Bayern die niedrigsten Arbeitslosenzah-
len hat und bei der PISA-Studie mit an der Spitze steht?
Ich halte Ihnen noch eine andere Zahl vor: Bei den Kin-
dertagesstätten für die unter Dreijährigen erreicht Bayern
einen Durchschnitt von 3,5 Prozent, Nordrhein-Westfalen
dagegen nur 2,3 Prozent.
Wir können dieses Spielchen fortsetzen. Aber dies
bringt uns nicht weiter.
Auch im fünften Jahr rot-grüner Politik bleiben Fami-
lien in Deutschland auf der Strecke.
Bundesministerin Renate Schmidt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Maria Eichhorn
Die Evangelische Kirche stellte dazu kürzlich, im Okto-
ber, fest:
Familien mit Kindern tragen heute das größte Ar-
mutsrisiko und sind in hohem Maße von Überschul-
dung betroffen.
Familienarmut muss endlich nachhaltig und wirksam
bekämpft werden. Eine der wichtigsten Aufgaben ist, eine
Gesamtkonzeption der staatlichen Familienförderung zu
entwickeln. Dies wurde bereits in der letzten Legislatur-
periode vom Bundesverfassungsgericht gefordert. Fami-
lien in Deutschland brauchen endlich eine Politik, die ih-
nen materielle Sicherheit bietet, die Vereinbarkeit von
Familie und Erwerbstätigkeit für Mütter und Väter er-
möglicht
und Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverant-
wortung wirksam unterstützt.
Dieses Gesamtkonzept hätten Sie bereits in der letzten
Legislaturperiode in Angriff nehmen müssen. Sie haben
zwar das Kindergeld erhöht, damit aber lediglich die Vor-
gaben des Bundesverfassungsgerichts auf niedrigstem Ni-
veau umgesetzt.
Familien mit drei und mehr Kindern gingen völlig leer
aus. Sie haben diejenigen benachteiligt, die laut Armuts-
und Reichtumsbericht von Armut besonders betroffen
sind. Die Kindergelderhöhung hat den Familien nichts
gebracht, weil ihnen das Geld an anderer Stelle wegge-
nommen wurde. Obwohl die Ökosteuer Familien in be-
sonderer Weise belastet, halten Sie an dieser Familien-
strafsteuer fest.
Ihr Versprechen, durch die Einführung der Ökosteuer
die Beiträge in der Rentenversicherung stabil zu halten,
haben Sie nicht eingelöst. Im Gegenteil: Die Renten-
beiträge steigen auf 19,5 Prozent und belasten Familien
zusätzlich.
Der Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende, den wir
1986 eingeführt haben, wird von Ihnen abgeschafft.
Eine Kompensation ist nicht in Sicht. Offensichtlich stört
es Sie nicht, dass Sie damit noch mehr Alleinerziehende
in die Sozialhilfe treiben.
Dies ist nicht zu rechtfertigen vor dem Hintergrund
der besonderen Belastungen von Einelternfamilien.
Diese Aussage, Frau Ministerin, stammt aus Ihrem Buch
„S.O.S. Familie“, das in diesem Frühjahr herausgegeben
worden ist. Ich kann Ihrer Aussage nur voll und ganz zu-
stimmen. Frau Schmidt, Sie haben jetzt die Möglichkeit,
für Abhilfe zu sorgen; denn Sie sind verantwortlich und
können die Benachteiligung der Alleinerziehenden besei-
tigen.
Alle wissenschaftlichen Untersuchungen zur Vertei-
lung der Kinderkosten in unserer Gesellschaft kommen zu
dem Ergebnis, dass diese Kosten ganz überwiegend den
Familien aufgebürdet werden. Diesen Trend haben Sie
durch Ihre Politik in den letzten vier Jahren noch ver-
stärkt; deshalb geht die Einkommensschere zwischen Fa-
milien mit Kindern und Kinderlosen immer weiter ausei-
nander.
Zur Familienförderung fällt Ihnen nur ein, das Ehe-
gattensplitting abzuschmelzen bzw. ganz abzuschaffen.
Eltern, die die Erziehung und die Kinderbetreuung selbst
übernehmen, sollen durch die Abschaffung des Ehegat-
tensplittings bestraft werden.
„Einer verdient, einer putzt“, so verspottete Fritz Kuhn
die Eltern, die wegen der Kinder auf Erwerbstätigkeit ver-
zichten. Mit dieser rein ideologisch geführten Debatte,
die für Bündnis 90/Die Grünen noch nicht vom Tisch ist,
wollen Sie doch nur den besonderen, grundgesetzlich ver-
ankerten Schutz von Ehe und Familie aushöhlen.
Geben Sie es doch zu!
Ihre Vorstellungen in der Koalitionsvereinbarung zur
Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Familien
lauten:
Wir werden Eltern dabei unterstützen, durch Er-
werbsarbeit ihren Unterhalt selbst zu verdienen, da-
mit sie wegen ihrer Kinder nicht von Leistungen der
Sozialhilfe abhängig werden.
Diese Art staatlicher Familienförderung ist ein Ar-
mutszeugnis rot-grüner Familienpolitik.
Sie widerspricht in höchstem Maße der Wahlfreiheit der
Eltern. Diese müssen selbst entscheiden können, ob sie
Familie und Beruf vereinbaren oder wegen der Kinder zu-
mindest für eine gewisse Zeit auf Erwerbstätigkeit ver-
zichten wollen.
Erwerbstätigkeit verhindert Familienarmut nicht. Die
Zahlen belegen: Die Familienarmut hat in den letzten
Jahrzehnten trotz steigender Erwerbstätigkeit von Müt-
tern zugenommen. Dennoch verabschieden Sie sich in
dieser Legislaturperiode aus der Verantwortung zum so-
zialen Ausgleich. Die Beseitigung von Familienarmut
machen Sie endgültig zum Privatproblem von Familien.
Inzwischen hat auch Bündnis 90/Die Grünen erkannt,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 831
dass „Familien trotz Erwerbseinkommen an der Armuts-
grenze leben oder teilweise Sozialhilfe erhalten“, wie Sie
kürzlich in einer Pressemitteilung erklärt haben.
Wir als Union haben ein besseres Konzept.
Mit einem Familiengeld wollen wir vermeiden, dass Fa-
milien ärmer werden und der Einkommensabstand zu
Kinderlosen ständig steigt. Das Familiengeld ist keine Zu-
Hause-bleib-Prämie für Frauen, wie Sie wider besseres
Wissen immer wieder glauben machen wollen.
Es wird unabhängig von Erwerbstätigkeit und unabhän-
gig von der Einkommenshöhe der Eltern gezahlt.
Damit wird tatsächlich Wahlfreiheit ermöglicht. Eltern
entscheiden, ob sie das Geld zum Beispiel für eine Tages-
mutter ausgeben oder die Erziehung selbst übernehmen.
Der Vorteil unserer Familienoffensive liegt klar auf der
Hand: Sie geht von den Bedürfnissen der Eltern und Kin-
der aus. Sie umfasst drei Maßnahmen, die gleichberech-
tigt nebeneinander stehen: erstens die bessere Vereinbar-
keit von Familie und Erwerbstätigkeit, zweitens die
finanzielle Förderung von Familien und drittens die Stär-
kung der Erziehungskompetenz der Eltern.
Wir stehen mit voller Überzeugung dahinter. Im Gegen-
satz dazu versuchen Sie, den Ausbau der Betreuungsan-
gebote für Kinder gegen die Erziehungsleistung der El-
tern auszuspielen.
Um nicht missverstanden zu werden: Wir halten den
bedarfsgerechten Ausbau der Kinderbetreuung für not-
wendig, er kann aber nicht das einzige Ziel der Familien-
politik sein. Echte Wahlfreiheit braucht beides: den Aus-
bau bedarfsgerechter Betreuungsangebote und eine
angemessene finanzielle Förderung von Familien.
Die Frauen bleiben bei Ihrer Politik ebenfalls auf der
Strecke. Nach wie vor vermissen wir Maßnahmen zur
Verbesserung des Wiedereinstiegs in den Beruf. Rot-Grün
setzt eindeutig auf das Bild der erwerbstätigen Frau.
Frauen und Männer, die sich – zumindest für eine be-
stimmte Zeit – ausschließlich der Kindererziehung wid-
men, kommen in Ihrer Politik nicht vor. Mit Ihren Ansät-
zen zur Arbeitsmarktpolitik werden typisch weibliche
Erwerbsbiografien bestraft. Die Frauenverbände haben
das Hartz-Konzept zu Recht kritisiert. In den letzten
20 Jahren habe es kaum ein gleichstellungspolitisch rück-
schrittlicheres Papier gegeben. Das Papier sei geprägt von
einem antiquierten Frauen- und Familienbild, das Frauen
an Heim und Herd verweise. Diese Kritik richtete sich an
Sie, an eine Bundesregierung, die die Gleichstellungspo-
litik immer für sich in Anspruch genommen hat.
Familien und insbesondere Frauen können auf Ihre
Notoperationen in der Rentenversicherung nicht ver-
trauen. Es gibt weder Vorschläge zur eigenständigen Al-
terssicherung von Frauen noch zur Berücksichtigung von
Erziehungszeiten in der Rente. Die vorliegenden Vor-
schläge zur Rentenreform sind kein Beitrag zu mehr Ge-
nerationengerechtigkeit. Sie fordern mehr Eigenvorsorge
in der Alterssicherung, schränken aber zugleich die finan-
ziellen Spielräume für Familien ein. Auf der einen Seite
fordern Sie eine längere Lebensarbeitszeit, auf der ande-
ren Seite aber verstärken Sie die Anreize zur Frühverren-
tung. Was wollen Sie denn eigentlich?
Eine zukunftsorientierte Seniorenpolitik ist mehr als
eine soziale Altenbetreuung. Wie die Ergebnisse der neu-
esten Studie zur Altersdiskriminierung zeigen, bezieht
sich ein Drittel der Beschwerden auf den Bereich der Ar-
beit. Die Arbeitsbedingungen älterer Arbeitnehmer müs-
sen daher dringend verbessert werden. Erforderlich sind
zudem die Qualifizierung und Weiterbildung älterer Ar-
beitnehmer, um dem Trend der Frühverrentung wirksam
entgegenwirken zu können.
– Wir haben auf jeden Fall bessere Konzepte als Sie.
Gefragt ist ein neues Denken: Senioren sind nicht nur
hilfsbedürftige Alte. Die Mehrzahl von ihnen ist sehr ak-
tiv und will ein selbstbestimmtes Leben. Das Potenzial äl-
terer Menschen, die sich engagieren wollen, ist hoch.
Dazu bieten sich die Seniorenbüros an. Sie haben sich be-
währt. Wir wollen sie flächendeckend in Deutschland ein-
führen und ausbauen.
Die Weiterbildung älterer Menschen muss ebenfalls
ausgebaut werden, um dem Wunsch nach Selbstbestim-
mung und Selbstorganisation älterer Menschen gerecht zu
werden.
Meine Damen und Herren, das neue Jugendschutz-
gesetz, das nach den schrecklichen Ereignissen von Erfurt
überstürzt verabschiedet wurde,
hat erhebliche Mängel und ist schon wieder reformbe-
dürftig. Kritik an seiner Praxistauglichkeit kommt nicht
nur von den Kirchen, sondern auch von der Bundesar-
beitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendschutz. Wir ha-
ben bereits in der letzten Legislaturperiode mehrfach da-
rauf hingewiesen, dass zum Kinder- und Jugendschutz
mehr gehört als nur gesetzliche Maßnahmen. Gewalt hat
viele Gesichter und Ursachen.
Die Bekämpfung von Gewalt muss im Elternhaus, an
Schulen und am Ausbildungsplatz erfolgen.
Jugendgefährdung macht nicht an Grenzen Halt. Daher
sind europäische und international gültige Standards im
Maria Eichhorn
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Maria Eichhorn
Jugendmedienschutz dringend erforderlich. Ich fordere
Sie deshalb auf, Frau Ministerin, mit Ihren Kolleginnen
und Kollegen auf europäischer und internationaler Ebene
endlich zu einer Einigung zu kommen.
Für eine gesicherte Nutzung des Internets durch Kin-
der und Jugendliche müssen auch technische Möglichkei-
ten wie Filtersoftware stärker genutzt werden. Ermitt-
lungsbehörden sind besser auszustatten – das ist ganz
dringend erforderlich –, damit jugendgefährdendes Mate-
rial optimal aufgespürt werden kann. Diese Forderungen
haben wir schon während der ganzen letzten Legislatur-
periode erhoben.
Meine Damen und Herren, setzen Sie unsere Vor-
schläge um! Wir werden die kommenden Haushaltsbera-
tungen nutzen, um Sie immer wieder an Ihre Verantwor-
tung, insbesondere Familien und Kindern gegenüber, zu
erinnern.
Das Wort hat nun die Kollegin Ekin Deligöz, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Eichhorn, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede davon gespro-
chen, dass es in Bayern bereits eine Kinderbetreuung für
Kinder bis zum Alter von drei Jahren von 3,5 Prozent gibt.
Ich finde, zu einer solchen Zahl gehört auch eine ehrliche
Differenzierung. Dazu muss man sagen: Von diesen
3,5 Prozent sind 45 Prozent in München, rot-grün regiert,
und 30 Prozent in Nürnberg, bisher von der SPD regiert.
Zum Haushaltsfreibetrag. Ja, wir mussten den Haus-
haltsfreibetrag tatsächlich abschaffen. Aber warum? –
Weil Sie ein Gesetz gemacht haben, das verfassungswid-
rig war. Das Verfassungsgericht hat zu diesem Gesetz ent-
schieden, dass wir es ändern müssen.
Was haben wir gemacht? Wir wollten die Situation der
allein erziehenden Mütter und Väter verbessern und ha-
ben deshalb das Kindergeld erhöht. Wir haben die Ab-
setzbarkeit von Kinderbetreuungskosten eingeführt. Wir
haben das Erziehungsgeld erhöht. Wir haben den Unter-
haltsvorschuss reformiert. Wir haben gerade mit der Stif-
tung „Mutter und Kind“ in die Verbesserung der Situation
der Mütter investiert. Wir machen jetzt noch viel mehr.
Wir investieren in die soziale Infrastruktur, wovon gerade
auch allein erziehende Mütter profitieren. Das nenne ich
eine Politik mit Erfolg.
Mit Erfolg machen wir weiter. Die Leistungen für Fa-
milien werden in ihrer bisherigen Höhe beibehalten. Sie
werden nicht gekürzt, sie werden beibehalten. Das heißt,
wir halten das jetzige hohe Niveau,
das wir in den vergangenen vier Jahren deutlich gesteigert
haben, nämlich um 13Milliarden Euro. Wenn Sie von Kon-
zepten reden, dann muss ich fragen: Von welchen Konzep-
ten, die Sie jetzt auch umsetzen könnten, reden Sie?
Sie haben im Wahlkampf immer wieder betont: Wenn es
zu einem wirtschaftlichen bzw. konjunkturellen Auf-
schwung kommt, wenn es uns besser gehen sollte, dann
werden wir in die Familienpolitik investieren. Was ma-
chen wir? Wir investieren gerade dann in Familien, wenn
wir in der konjunkturellen Flaute sind.
Wir lassen Eltern, wir lassen Mütter und Väter mit ihren
Kindern nicht im Stich.
Das ist unsere Politik, die wir heute Abend hier präsentie-
ren.
Sie können jetzt lachen, so viel Sie wollen, aber für uns ist
jedes Kind und jede Familie es wert, dass wir dann in sie
investieren, wenn sie das Geld brauchen, und nicht nur
dann, wenn es uns wirtschaftlich gut geht.
Ich komme noch einmal auf Bayern zu sprechen. Was
geschieht zurzeit in Bayern? Die Bayerische Staatsregie-
rung sagt sich: Weil die Anzahl der Kinder zurückgeht,
werden finanzielle Mittel frei. Dieses Geld kann man
wunderbar einsparen; schließlich muss man auch in der
Sozialpolitik anfangen, wirtschaftlich zu denken. – Die
Bayerische Staatsregierung kürzt in den Bereichen, wo es
um Investitionen in die Familien geht. Das ist die Realität
bayerischer Politik.
Wir gehen viel weiter: Wir investieren in unsere Ju-
gendprogramme, beispielsweise in „Civitas“, „Enti-
mon“, „E & C“, soziale Freiwilligendienste und den Wett-
bewerb „Jugend bleibt“. Um zu erfahren, was diese
Programme bedeuten, müssen Sie in Ihren Wahlkreisen,
in Ihren Regionen und Ländern einfach nur die Augen
aufhalten. Dort sehen Sie nämlich, wie erfolgreich diese
Programme sind.
Nehmen wir beispielsweise das Programm „E & C“:
Wir haben vor Ort viele Maßnahmen gefördert, in denen
Kreativität und Engagement zum Ausdruck kommen. Die
Menschen engagieren sich, sie tun etwas für die Integra-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 833
tion, für das Miteinander, für das Zusammenleben, für
Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit.
Unser Erfolg ist der Erfolg der Menschen, die vor Ort
arbeiten. Dieser Erfolg trägt den Namen Rot-Grün.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke?
Ja.
Frau Deligöz, Sie sagen immer vehement: „Wir tun et-
was für die Integration!“ Sagen Sie mir doch einmal, was
Sie tun, wenn Sie die Mittel für die Integration junger Zu-
wanderinnen und Zuwanderer um 5,5Millionen Euro kür-
zen!
Frau Kollegin Lenke, wir tun eine ganze Menge mehr
für die Integration, als Ihre Regierung jemals getan hat.
Zunächst einmal weise ich darauf hin, dass wir die Mit-
tel für Integrationsmaßnahmen auf verschiedene Haus-
halte verteilt haben; ein Teil befindet sich im Haushalt des
BMI, ein Teil befindet sich in dem von mir genannten Pro-
gramm. Wir nennen diese Programme allerdings nicht
„Ausländerproblematik“ oder so ähnlich, sondern reden
von Integrationsmaßnahmen, weil für uns alle Men-
schen gleich sind. Auf diesen Punkt wäre ich als Nächstes
eingegangen. Wir reden von Integrationsmaßnahmen für
Jugendliche und Kinder. Diese Programme betreffen aber
nicht nur sie, sondern die Gesellschaft insgesamt. Ich
nenne zum Beispiel das Programm „Mama lernt
Deutsch“, das ein Erfolg auf der ganzen Linie ist.
Mit dem Zuwanderungsgesetz, das Sie blockieren,
wird eine ganze Menge geschaffen:
Programme zur Sprachförderung, zur Kinderbetreuung
und zum Förderunterricht in Schulen, Kindergärten und
Kindertagesstätten. Unterstützen Sie uns! Dann werden
wir das hinkriegen!
Wir müssen natürlich im Blick behalten, dass es unser
gemeinsames rot-grünes Ziel ist, in der kommenden Zeit
die Gemeindefinanzreform durchzuführen. Wir arbeiten
daran, weil auch uns klar ist, dass gerade in den Kommu-
nen die Mittel knapp sind.
Wir müssen die Rahmenbedingungen schaffen, damit dort
die erforderlichen Finanzspielräume entstehen, durch die
das Handeln vor Ort möglich wird. Das ist eines der
größeren Ziele, das wir uns für die nächste Zeit vorge-
nommen haben.
Die Mittel für unser Hauptprojekt, den Ausbau von Bil-
dung und Betreuung, haben wir schon jetzt eingestellt.
Die Mittel für das Ganztagsschulprogramm und die Kin-
derbetreuung garantieren wir. Wir werden diese Pro-
gramme nicht nur unter dem Gesichtspunkt der besseren
Vereinbarkeit von Beruf und Familie durchführen, son-
dern auch mit Blick auf die Schlüsselfragen Was ist gut für
unsere Kinder? Wie können wir Qualität und Quantität
gewährleisten? Wie können wir unsere Kinder bestmög-
lich fördern und das Beste für sie erreichen? Das ist unser
Ziel. Ich bedaure es sehr, dass Sie uns auch in diesem
Punkt nicht unterstützen.
Ich komme auf die Gewaltfreiheit zu sprechen. Sie ha-
ben gerade gesagt, wie wichtig sie ist. Wenn Sie diese als
wichtig empfinden, warum haben Sie dann in der vergan-
genen Wahlperiode gegen die Festlegung des Rechts auf
gewaltfreie Erziehung gestimmt?
Hätten Sie doch mitgemacht! Gemeinsam hätten wir eine
viel größere Wirkung erzielen können.
Der Weg zu einer kinder- und familienfreundlichen
Gesellschaft ist sehr lang. Wir müssen nämlich eine ganze
Menge Versäumnisse der letzten Jahrzehnte aufarbeiten.
Rot-Grün hat in den vergangen vier Jahren die richtigen
Weichen gestellt. Diesen Erfolgskurs werden wir beibe-
halten.
Nächster Redner in der Aussprache ist der Kollege Otto
Fricke, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich versu-
che es einmal: Liebe Kollegen, der Einzelplan 17 gehört
sicherlich – –
Ekin Deligöz
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Otto Fricke
– Genau diese Reaktion habe ich erwartet. Deswegen
habe ich es ausprobiert. Sie sind auf diesen Versuch mehr
oder weniger klar eingegangen.
– Herr Tauss, der Sie Einwürfe so sehr lieben: Ich habe be-
wusst „liebe Kollegen“ gesagt, um zunächst den Herren
Kollegen und erst danach den lieben Kolleginnen etwas
zu sagen.
Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.
Also, liebe Kollegen, der Einzelplan 17 gehört mit Si-
cherheit zu den kleineren, dafür aber umso wichtigeren
Einzelplänen in unserem Bundeshaushalt.
– Ich komme dazu. Haben Sie doch einmal Geduld! Herr
Tauss, ich habe immer gedacht, junge Leute hätten keine
Geduld. Jetzt merke ich: Das ist keine Frage des Alters.
Er ist deswegen von so großer Bedeutung, weil er un-
ser gesellschaftliches Miteinander über die Generationen
hinweg betrifft.
Nun, liebe Kolleginnen gerade von den anderen Frak-
tionen, wobei ich jetzt die CDU/CSU einbeziehe, wenn
ich mir angucke, wer heute Abend hier debattiert, dann
stelle ich fest, dass außer seitens der FDP nur Kolleginnen
reden.
– Vielleicht ändert sich das bei der CDU/CSU ja noch. –
Ich hoffe gerade bei Rot-Grün, dass die Kolleginnen den
Kollegen erlauben, ein kleines bisschen zu sagen.
– Über Qualität können Sie sich Gedanken machen. Ich
mache mir über meine Rede Gedanken.
Meine lieben Damen und Herren vonseiten der Oppo-
sition, liebe Kolleginnen und Kollegen vonseiten der Re-
gierung, wenn wir auf die Uhr gucken, dann wissen wir,
dass jetzt wahrscheinlich schon sehr viele von denen im
Bett sind, über die wir reden, nämlich die Kinder. Wenn
ich die Zurufe von Herrn Tauss höre, bin ich eigentlich
auch ganz froh darüber, dass es so ist.
Ich habe mir einmal den Koalitionsvertrag daraufhin
angeschaut, wo die beste Formulierung zur Familienpo-
litik steht. Das Komische ist, die beste Formulierung fin-
det sich beim Thema Verbraucherschutz:
Verbraucherschutz ist eine Querschnittsaufgabe. Die
Koalitionsparteien sorgen daher für eine systema-
tische Einbeziehung der Verbraucherinteressen in
alle relevanten Politikbereiche.
Wenn das Wort „Verbraucherschutz“ an dieser Stelle
schlicht und einfach durch „Kinder- und Familienpolitik“
ersetzt würde, dann träfen Sie das Ziel, dann wäre die For-
mulierung richtig.
Ich habe leider das Gefühl – Frau Ministerin, Sie haben
es indirekt angedeutet –, dass viele Dinge, die Familien
betreffen, eigentlich bei Ihnen ressortieren sollten. Aber
wir wissen, dass die wesentlichen Entscheidungen von
denjenigen getroffen werden, die jetzt nicht da sind, näm-
lich von der Justizministerin und dem Finanzminister. Es
wäre schön, wenn Sie sich da durchsetzen würden wie die
Verbraucherschutzministerin im Verbraucherschutz. Wir
werden sehen, ob Ihnen das gelingt.
Als Haushälter möchte ich an dieser Stelle einen kur-
zen Exkurs zum Bundesamt für den Zivildienstmachen.
Ich habe die Hoffnung – auch da setze ich auf die Minis-
terin, aber natürlich auch auf die Kontrolle durch die
Opposition –, dass das Bundesamt für den Zivildienst in
den nächsten Jahren durch die auf das Bundesamt zu-
kommende Modernisierung zu einer effektiven Behörde
wird. Eine solche Behörde brauchen wir bei all den Din-
gen, die zumindest bis 2006 auf sie zukommen.
Eine Sache muss man nach meiner Meinung an dieser
Stelle ansprechen – mich verwundert es etwas, dass es
noch nicht angesprochen worden ist –: Der Bundeskanz-
ler hat sich über die kriegsmäßige Sprache von Teilen der
Opposition erregt. Ich wundere mich, dass derjenige, der
als Erster in der Debatte über die Familie solche Begriffe
verwendet hat, ausgerechnet der Generalsekretär der SPD
war, der über „Lufthoheit“ geredet hat.
– Das stört Sie vielleicht. Er hat es getan. Sie können sich
ja ausdrücklich davon distanzieren.
Als ehemaliger kleiner Wehrpflichtiger kann ich Ihnen
sagen: Wer Lufthoheit anstrebt, der beabsichtigt etwas an-
deres: Er bereitet einen Bodenkrieg vor. In dem Boden-
krieg, der von Teilen der Regierung vorbereitet wird – Frau
Ministerin, Sie habe ich da anders verstanden; das gebe
ich ehrlich zu –, geht es um die Gesellschaftspolitik.
– Sie können mich ja in den nächsten vier Jahren eines
Besseren belehren.
Ich habe das Gefühl, dass einige von Ihnen die Gesell-
schaft dirigistisch verändern wollen.
Ich habe das Gefühl, dass Sie durch Gesetze bis ins letzte
Detail regeln wollen, wie Menschen – wohlgemerkt im
persönlichen Bereich – miteinander umzugehen haben.
Die FDP setzt dem bewusst Freiheit entgegen. – Jetzt
kommt wahrscheinlich von irgendjemandem der Zuruf:
„Ellenbogenfreiheit!“ Nein, Freiheit in Verantwortung
wollen wir. Das ist der Unterschied.
Wir setzen auf Freiheit, die zu verantwortungsvoll han-
delnden Bürgern führt und nicht dazu, dass sie sich auf
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 835
den Staat verlassen; denn das – das zeigen diese Haus-
haltsberatungen – können sie auf Dauer nicht.
Zum Abschluss eine Kleinigkeit: Viele Kolleginnen
und Kollegen werden wie ich am Ende dieser Woche nach
Hause kommen und ihre Kinder schon im Schlafe vorfin-
den. Aber ich sage Ihnen: Ich bin froh, dass, wenn ich
mich über die Betten meiner Kinder beuge, meine Frau
und ich die Lufthoheit haben und nicht der Staat.
Individuelle Verantwortung und Freiheit sind das, was
wir als Staat unterstützen sollten, und nicht ein politisch
eingeengtes und bevormundendes Gesellschaftsbild.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Fricke, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers-
ten Rede im Deutschen Bundestag. Ich bin zuversichtlich,
dass ich das im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
tun darf.
Ich erteile als Nächstes der Kollegin Humme das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Ich verfolge diese Debatte schon eine ganze Weile und
muss sagen, Frau Eichhorn: von Konzepten keine Spur,
nur verbale Abrissbirnen gepaart mit Untergangsstim-
mung. Das brauchen wir im Moment nicht.
Wir brauchen geeignete Werkzeuge, mit denen wir die
Zukunft unserer Kinder gestalten können.
Es geht darum, an den richtigen Stellschrauben zu drehen.
Das tun wir mit unserem Haushalt 2003. Mit ihm setzen
wir die richtigen Prioritäten. Wir setzen auf den Ausbau
der sozialen Infrastruktur für die Familien.
Damit tun wir endlich das, was bei unseren europä-
ischen Nachbarn gang und gäbe ist. Die meisten unserer
europäischen Nachbarn setzen in der Familien- und Bil-
dungspolitik andere Schwerpunkte und erzielen damit
bessere Ergebnisse. Förderung der Familien heißt dort:
Der Ausbau von Kinderkrippen, Kindertagesstätten und
Ganztagsschulen hat Vorrang vor finanziellen Transfers.
Das hat zur Folge, dass viele andere Länder besser daste-
hen. Der Anteil der Frauenerwerbstätigkeit ist dort höher
und damit gelingt ihnen die Bekämpfung von Armut in
den Familien besser. In diesen Ländern können Eltern ihre
Lebensvorstellungen besser verwirklichen und Familie
und Beruf besser vereinbaren.
Wie sieht es dagegen bei uns aus? In der letzten Legis-
latur haben wir die Familien finanziell erheblich besser
gestellt.
Das war richtig, hatten wir doch hier eine Menge aufzu-
holen; denn das Verfassungsgericht hat Ihnen, Frau
Eichhorn, ins Zeugnis geschrieben: Familienpolitik un-
genügend. Wir waren es, die die politische Entscheidung
getroffen haben, das Kindergeld um 80 DM innerhalb ei-
ner Legislaturperiode zu erhöhen – das hat vorher noch
keiner geschafft –,
während das Bundesverfassungsgericht lediglich eine
Freibetragslösung von uns erwartet hat.
Gute und moderne Familienpolitik bedeutet aber nicht,
immer mehr Geld für Kindergeld und andere materielle
Transfers auszugeben. Gute und moderne Familienpolitik
bedeutet heute, die soziale Infrastruktur für Kinder und
Familien auszubauen. Mit dieser klaren Prioritätenset-
zung im Haushalt für den Ausbau der Ganztagsschulen
machen wir genau diesen entscheidenden Schritt. Die
4 Milliarden Euro, die hierfür in den kommenden Jahren
bereitstehen, sind Investitionen in die Zukunft unseres
Landes.
– Natürlich stehen die im Haushalt. Ich denke, Sie haben
ihn genauso gut gelesen wie ich.
Wir investieren auch in die Zukunft unseres Landes,
wenn wir ab 2004 mit 1,5 Milliarden Euro des Bundes
mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren
schaffen. Wir sorgen damit für eine gute ökonomische
Grundlage und stellen für die Entwicklung die richtigen
Weichen; denn wenn es keine Betreuungsplätze gibt, Frau
Eichhorn, kann man auch mit noch so viel Transfer-
leistungen, beispielsweise mit Ihrem Familiengeld, keine
kaufen.
Das hat fatale Folgen, und zwar nicht nur für die Frauen,
die Familien und die Bildungschancen der Kinder, son-
dern auch für die Struktur unserer Volkswirtschaft und
ihre Arbeitsmärkte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schlüssel liegt in
der Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit; denn da-
mit sind wir im europäischen Vergleich am Ende der
Skala. Ohne die Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit
werden wir weder die Arbeitslosigkeit abbauen noch Be-
schäftigung schaffen können. Ohne den Ausbau von Be-
treuungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder wird es
Otto Fricke
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Christel Humme
keinen nennenswerten Zuwachs der Frauenerwerbstätig-
keit geben. Ohne eine Zunahme der Frauenerwerbstätig-
keit wiederum werden wir es nicht schaffen, den in
Deutschland bislang völlig unterentwickelten Dienstleis-
tungssektor auszubauen. Ohne einen Ausbau des Dienst-
leistungssektors schließlich wird es keinen nachhaltigen
Abbau der Arbeitslosigkeit geben. Das ist ein Teufels-
kreis, aus dem wir nur mit dem Ausbau der Kinderbetreu-
ungsangebote und der Ganztagsschulen ausbrechen kön-
nen.
Damit sorgen wir gleichzeitig für ein kinderfreund-
liches Land, in dem junge Menschen wieder gern Kinder
bekommen, weil sie wissen, dass sie auch als Eltern auf
Beruf und berufliches Fortkommen nicht verzichten müs-
sen. Das sage ich jetzt in Richtung des neuen Kollegen,
der gerade hier geredet hat. Dabei geht es nicht darum, ir-
gendwelche Vorschriften zu machen, sondern darum, den
Eltern endlich die Entscheidungsfreiheit zu geben, die sie
in den ganzen letzten Jahren bei Ihnen nicht bekommen
haben.
Auf diese Weise tragen wir auch wesentlich dazu bei,
den demographischen Wandel und die daraus resultie-
renden Probleme bei den sozialen Sicherungssystemen zu
meistern. Auch das ist ein wichtiger Aspekt.
Sie sehen, liebe Kollegen und Kolleginnen, dass Haus-
haltskonsolidierung und Zukunftsgestaltung nicht im Wi-
derspruch zueinander stehen. Im Gegenteil: Mit unserer
Prioritätensetzung für mehr Kinderbetreuung und Ganz-
tagsschulen geht es um gesellschaftliche Fortschritte. Es
geht um bessere und sozial gerechtere Bildungschancen
für unsere Kinder und Jugendlichen, um bessere Erwerbs-
und damit auch bessere Einkommenschancen für Frauen
sowie – Frau Eichhorn, auch da sollten Sie noch einmal
zuhören – um mehr Schutz der Familien, vor allem der Al-
leinerziehenden und ihrer Kinder, vor Armut.
Diese Prioritätensetzung eröffnet dem Wirtschaftsstand-
ort Deutschland die Chance, die hoch qualifizierten und
motivierten Fachkräfte zu bekommen und zu halten, die
die Wirtschaft doch so dringend nötig hat.
Unsere Zukunftsinvestitionen in Betreuung und Bil-
dung werden sich auch im streng volkswirtschaftlichen
Sinne lohnen. Jeder hier eingesetzte Euro bringt der Ge-
sellschaft den drei- bis vierfachen Nutzen in Form höhe-
rer Familieneinkommen, in Form von mehr Steuerein-
nahmen und mehr Beiträgen zur Sozialversicherung.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, bei unserem Para-
digmenwechsel in der Familienpolitik wissen wir alle
großen gesellschaftlichen Gruppen auf unserer Seite. Die
Arbeitgeber, die Gewerkschaften, ja sogar die Kirchen,
die große Mehrheit der Wissenschaftler, alle haben sich in
den zurückliegenden Monaten für den Ausbau von Kin-
derbetreuung und Ganztagsschulen ausgesprochen. Sie
alle wissen um die Verantwortung der Gesellschaft für die
Erziehung und Bildung unserer Kinder. Sie wissen, dass
Eltern bei ihrer Aufgabe, mündige Staatsbürger heranzu-
ziehen, Unterstützung brauchen. Von einem Aufwachsen
in öffentlicher Verantwortung sprechen die Autoren des
11. Kinder- und Jugendberichts deshalb folgerichtig. Mit
unserer Familienpolitik stellen wir uns genau dieser Auf-
gabe.
Damit der Staat diese Verantwortung wahrnehmen
kann, muss er handlungsfähig bleiben. Ob Kinderspiel-
plätze, Krippen, Kindergärten, Familienberatung, die
Leistungen für Eltern und ihre Kinder, all das muss von
den einzelnen staatlichen Ebenen bezahlt werden. Einen
armen Staat können sich nur Reiche leisten. Wir be-
schreiten den Weg der Haushaltskonsolidierung gerade
deshalb im Interesse all derjenigen, die auf staatliche
Leistungen angewiesen sind.
Ich sage aber auch: An der Finanzierung des Gemein-
wesens müssen sich alle entsprechend ihrer Leistungsfä-
higkeit beteiligen. Um für mehr Steuergerechtigkeit zu
sorgen, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode
Steuerschlupflöcher geschlossen. Mit unserer jetzigen
Steuerpolitik setzen wir diesen Weg fort. Dabei haben wir
darauf geachtet, dass die Belastungen durch den Abbau
von Steuerprivilegien und Ausnahmetatbeständen sozial
ausgewogen sind.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir sind uns be-
wusst, dass der Ausbau von Ganztagsbetreuung und Bil-
dung eine Herkulesaufgabe ist. Damit wir in Deutschland
möglichst schnell internationalen Standard erreichen, ist
eine nationale Kraftanstrengung notwendig. Beteiligen
müssen sich alle: der Bund, die Länder und die Gemein-
den, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer. Deshalb ist es
auch richtig, die Themen familienfreundliche Arbeitswelt
und Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Gegen-
stand des Bündnisses für Arbeit zu machen. Wir Politike-
rinnen und Politiker, die wir im Bund Verantwortung
tragen, gehen mit gutem Beispiel voran. Entsprechendes
erwarten wir von den Ländern und Gemeinden.
Wir haben von Frau Böhmer, Frau Reiche und Frau
Eichhorn heute Abend sehr viel ideologisches Geplänkel
gehört.
Lassen wir die ideologischen Grabenkämpfe der 70er-,
80er- und 90er-Jahre Vergangenheit sein! Diese Debatten
der letzten 30 Jahre haben uns nicht weitergebracht. Im
Gegenteil, sie haben Deutschland vielmehr auf einen Irr-
weg, ja international aufs Abstellgleis geführt.
Lassen Sie uns deshalb nicht länger darüber streiten,
wer mehr Krippenplätze und Ganztagsschulplätze anbie-
tet, Bayern oder Nordrhein-Westfalen. Fest steht: Beide
Länder bieten längst nicht genug an. Lassen Sie uns statt-
dessen einen konstruktiven Dialog darüber führen, wie
wir möglichst schnell dafür sorgen, dass sich dies ändert.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass in Deutsch-
land überall, und zwar in Berlin, München und auch in
meinem Ennepe-Ruhr-Kreis, die Weichen in Richtung
Modernisierung und Zukunftstauglichkeit gestellt wer-
836
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 837
den. Unser Bundeshaushalt 2003 setzt hierfür die rich-
tigen Prioritäten und Rahmenbedingungen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Menschen, die
uns heute vor den Fernsehgeräten zuhören, erwarten von
uns Lösungen und keine ideologischen Debatten. Zukunft
braucht Mut. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Mut fas-
sen und handeln.
Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegin Antje Tillmann, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als
zuständige Berichterstatterin meiner Fraktion im Haus-
haltsausschuss für den Etat des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte ich erstmals
das Vergnügen, diesen Etat durchzuarbeiten. Frau Minis-
terin Schmidt, ich teile das Schicksal mit Ihnen, die Sie
ebenfalls erstmalig diesen Etat zu verantworten haben.
Nicht zuletzt deswegen greife ich Ihr Angebot zur kon-
struktiven Zusammenarbeit gern auf. Aber bei aller kon-
struktiven Zusammenarbeit muss ich auch anhand Ihrer
Rede feststellen, dass es manchmal andere Ziele, aber
sehr häufig auch andere Wege zur Lösung von Problemen
gibt, und die werden in diesem Haushalt ganz deutlich.
Sehr geehrte Kollegin Humme, auch Ihnen biete ich
konstruktive Zusammenarbeit an, drohe aber schon jetzt
an, dass ich zu den ideologisch verbrämten Frauen gehöre,
die es durchaus wünschenswert finden, dass sich Familien
eine Zeit lang selbst der Kindererziehung widmen. Auch
das werden Sie an meinen Ausführungen erkennen.
Das ist der erste Haushalt nach der Bundestagswahl
und damit natürlich die Stunde der Wahrheit über die Um-
setzung der Versprechen an die Bürgerinnen und Bürger
im Wahlkampf. Macht man sich die Mühe, diesen Haus-
haltsentwurf mit dem zu vergleichen, was Sie als Regie-
rungskoalition versprochen haben, so findet man diese
Versprechen nur ganz fragmentarisch wieder.
Versprechen eins: Kindergelderhöhung auf 200 Euro –
Fehlanzeige. Hier haben Sie sich diesmal nicht einmal die
Mühe gemacht, dieses Ziel wie in der Vergangenheit in
kleinen Schritten anzugehen. Ganz im Gegenteil, kein
Euro ist in den Haushalt eingestellt. Zugegeben, in Ihrem
Programm steht: mittelfristige Erhöhung auf 200 Euro. Je
nachdem, auf welchem Standpunkt man steht, ist mittel-
fristig ja auch noch 2010 oder 2015.
Versprechen zwei: Sie haben versprochen, eine an-
spruchsvolle, bedarfsorientierte Betreuung im Kinder-
krippenalter anzubieten. Diese Forderung können wir
sofort unterschreiben. An anderer Stelle wurde angedroht,
gesetzliche Regelungen zu schaffen, dass die Kommunen
für 20 Prozent der Kinder Krippenplätze anbieten müssen.
Als Finanzierungsvorschlag hierzu wurden 1,5Milliarden
Euro in Aussicht gestellt, die durch Einsparungen in Zu-
sammenhang mit den Hartz-Vorschlägen erwirtschaftet
werden sollen. Ich bin sehr gespannt, wie wir die im
nächsten Jahr im Haushalt wiederfinden.
Für 2003 haben Sie immerhin schon einmal eine Arbeits-
gruppe im Haushalt eingerichtet. Solche Arbeitsgruppen
haben sich ja schon bei Hartz bewährt.
Versprechen drei: Bei der Beratung sowohl des Bil-
dungsetats als auch des Familienetats sind heute schon
mehrfach die 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen er-
wähnt worden. An dieser Stelle findet sich tatsächlich ein-
mal die Umsetzung eines Wahlversprechens. Dabei will
ich gern darüber hinwegsehen, dass die angekündigte
1 Milliarde Euro jährlich zumindest im Jahr 2003 auf
300 Millionen Euro reduziert worden ist. Aber das ist
immerhin ein Anfang.
Für fragwürdig halte ich an diesem so öffentlichkeits-
wirksamen Programm allerdings zwei Dinge:
Erstens. Wenige Seiten vor der Ankündigung dieses
Programms im Haushalt des Bundes werden Sie unter
dem Titel „Gewerbesteuerumlage“ genau den Betrag
wiederfinden, den Sie 1999 als Gewerbesteuerumlagen-
erhöhung den Kommunen aufgebürdet haben. Diese
4 Milliarden Euro, die Sie heute den Kommunen wieder-
geben, haben Sie diesen seit 1999 abgenommen.
Da ist die Frage: Wäre es nicht sinnvoller gewesen, dieses
Geld bei den Kommunen zu lassen? Ganz sicher wäre die
Situation in den Schulen heute eine andere; aber Sie woll-
ten dieses Geld erst in Ihren Etat übernehmen, um es dann
über Selbstdarstellungen den Bürgerinnen und Bürgern
zurückzugeben.
Das zweite Argument, das mich noch mehr an der
Sinnhaftigkeit dieses Programms zweifeln lässt, sind
Äußerungen des Staatssekretärs Matschie, der die Ausrei-
chung der Mittel an die Länder und Kommunen von der
Vorlage „eines pädagogischen Konzeptes“ abhängig
macht.
Wenn dieses Förderprogramm ausschließlich dazu dient,
bildungspolitische Kompetenzen an den Bund zu ziehen,
werden Sie Widerstand nicht nur vonseiten der Kultus-
ministerkonferenz erwarten können. Wenn Sie meinen,
dass der Bund bessere Bildungspolitik macht und deshalb
die Zuständigkeit hier liegen sollte, dann beweisen Sie
dies erst einmal in Ihren SPD-regierten Ländern.
Christel Humme
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Antje Tillmann
– Sie können mir gleich gerne Nachhilfeunterricht geben.
Dazu bin ich gern bereit.
Qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung wollen
auch wir, aber unter Beachtung der Länderzuständigkeit
und insbesondere unter Beachtung der Freiwilligkeit in
den Nachmittagsstunden.
Es gibt ganz unterschiedliche Vorstellungen und Pro-
gramme, wie eine verbindliche Betreuung für Kinder aus-
sehen kann. Unsere Fraktion teilt die Vorstellung einer
verbindlichen Nachmittagsbeschulung auch schon aus
dem Grunde nicht, weil wir damit ein jugendpolitisches
Konzept, das sich jahrelang bewährt hat, kaputtmachen.
Ich spreche von der Jugendverbands- und Jugendkultur-
arbeit.
– Wenn Sie vielleicht noch ein paar Minuten zuhören,
dann können wir uns gleich gern unterhalten.
– Geben Sie sich Mühe.
Wir müssen darauf achten, dass die Ganztagsbetreuung
nicht die Jugendverbandsarbeit, die Sportarbeit, die Kul-
turarbeit kaputtmacht. Wenn an den Schulen ein verbind-
liches Angebot bis 17 Uhr vorliegt, werden sich die meis-
ten Jugendlichen sehr genau überlegen, ob sie danach
nahtlos in den Sportverband, in den Umweltverband, in
die Kunstschule gehen. Wir brauchen eine Vernetzung
beider Bereiche mit verbindlichen Betreuungszeiten für
die Eltern.
Versprechen vier: Wahlfreiheit von Familie und Be-
ruf. Eines Ihrer Wahlversprechen betraf die Freiheit von
Familien, zwischen Erwerbstätigkeit und Kinderwunsch
auch in Verbindung mit einem zeitweisen Aussetzen aus
dem Beruf zugunsten der Kindererziehung selbst ent-
scheiden zu können. Diese Wahlfreiheit gibt es tatsäch-
lich. Keiner Mutter und keinem Vater bleibt es verwehrt,
sich eine Zeit lang ausschließlich der Erziehung zu wid-
men. Frau Humme, Sie haben eben darauf hingewiesen.
Das Problem ist nur, dass diese jungen Eltern die Ent-
scheidung weitestgehend selbst bezahlen.
Die Maßnahmen, die Sie ergreifen, dienen ausschließ-
lich der Fremdbetreuung von Kindern.
Ob Ganztagsschulen oder Kinderkrippenplätze: Sie wen-
den Steuermittel auf, um die Betreuung von Kindern
außerhalb der Familie sicherzustellen. Dies ist nicht un-
sere Politik, nicht unser Programm. Wir halten es für rich-
tig, die Situation von berufstätigen Müttern und Vätern zu
verbessern. Wir halten es jedoch nicht für richtig, wie Sie
damit umgehen.
Die Situation von Eltern, die sich entschieden haben,
einen erheblichen Teil der Kindererziehung selbst zu er-
bringen, verbessern Sie nicht. Ganz im Gegenteil: Durch
immer neue Abgabenlasten im Steuer- und Sozialbereich
erschweren Sie es den Eltern, eine Zeit lang auf ein hal-
bes oder ganzes Gehalt zu verzichten.
Das ist für uns keine Wahlfreiheit, sondern genau die
„Lufthoheit über den Kinderbetten“, die Sie sich gar nicht
schämen auszusprechen.
Bert Rürup, der Vorsitzende der Rentenkommission,
setzt noch eins drauf. Ich zitiere:
Der Anteil der unter 20-Jährigen geht in den nächs-
ten 40 Jahren ... zurück. Den mit dem Anstieg des
Altenquotienten verbundenen Verteilungsproblemen
der Gesellschaft kann umso besser begegnet werden,
je höher das Wirtschaftswachstum ist. Aus diesem
Grund sollten kinder- und familienpolitische Maß-
nahmen Frauen keinen Anreiz geben, sich aus ihrem
Beruf zurückzuziehen. Erziehungs- und Elterngehalt
als Ersatz für Erwerbsarbeit ist abzulehnen.
Erst sollen also die Frauen die Kinder kriegen, dann
sollen sie sie erziehen und großziehen, aber eine Berück-
sichtigung dieser Erziehungsarbeit wird ihnen verwehrt.
Auch dies ist nicht unsere Politik. Auch hier werden Sie
nicht auf Gemeinsamkeiten hoffen können.
Versprechen fünf: Eigenheimzulage. Frau Ministerin
Schmidt, es kann durchaus sein, dass Sie es geschafft
haben, die größte Unbill bei der Eigenheimzulage abzuwer-
ten. Aber Ihre freundliche Ankündigung und Ihr Verspre-
chen im Wahlkampf, die Zulage familienfreundlich umzu-
gestalten, haben Sie auf recht bizarre Weise eingelöst: Für
Paare ohne Kinder haben Sie diese auf 0 Euro reduziert und
für Familien halbiert. Dies als Verbesserung für Familien zu
verkaufen ist schon eine Marketingleistung. Abgesehen von
den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen, die an anderer
Stelle in diesem Haus zu diskutieren sein werden, liegen Sie
familienpolitisch auch hier völlig daneben. Gerade in den
neuen Ländern, aber auch in Westdeutschland wird der Bau
des privaten Eigenheims sehr häufig dazu genutzt, Großel-
tern in räumlicher Nähe zu Kindern und Enkeln unterzu-
bringen. Damit wird dem Wunsch der älteren Generation
Rechnung getragen, möglichst lange im familiären Umfeld
weitgehend selbstverantwortlich zu leben.
Sie haben dieses Problem offensichtlich ebenfalls er-
kannt. Sie reagieren aber leider nicht mit Lösungen, son-
dern mit umfangreichen Studien und Gutachten. Ich
werde hierauf später zurückkommen.
Viel schlimmer scheint mir die aufgrund großer Protes-
te angelegte „später Kind“-Variante zu sein. Nach der
neuen Fassung des Eigenheimzulagengesetzes sollen
auch solche Paare die Förderung erhalten, die spätestens
im dritten Jahr nach Fertigstellung ein Kind bekommen.
Eine solche Regelung kann man sich nur ausdenken,
wenn man glaubt, schwanger würde man durch Ankreu-
zen im Terminkalender.
Das ist zynisch gegenüber den 10 Prozent der Paare, die
ungewollt kinderlos bleiben und viele Jahre belastende
Anstrengungen unternommen haben.
838
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 839
Die bisher vorgesehene Regelung der veränderten Ei-
genheimzulage mit Verlust einer Jahreskinderzulage war
in der Auswirkung erheblich familienfreundlicher. Nach
Ihren Vorstellungen kostet der verpasste Geburtstermin
ein junges Paar 16 800 Euro. Zu der Enttäuschung, kein
Kind zu bekommen, kommen dann möglicherweise noch
wirtschaftliche Probleme, wenn die Eigenheimzulage in
die Finanzierung eingeplant wurde.
Neben diesem Vergleich mit den Wahlversprechen
werden wir uns in den Haushaltsberatungen aber auch mit
einigen Einzelmaßnahmen beschäftigen müssen:
Förderung des Ehrenamts und der Selbsthilfe. – Die
Mittel dafür sollen auf 40 Prozent reduziert werden, und
zwar mit der Begründung, dass 2001 das Jahr des Ehren-
amts gewesen ist und dass im Jahr 2003 der Bedarf nicht
mehr so hoch ist. Erst motivieren wir die Leute, sich eh-
renamtlich zu betätigen, und keine zwei Jahre später fallen
die Mittel ins Bodenlose. Das zeigt ganz deutlich, welchen
Stellenwert ehrenamtliche Arbeit in diesem Haushalt hat.
Sie verweisen darauf, dass dieser Titel in Höhe von
500 000 Euro mit dem des Kinder- und Jugendplans des
Bundes deckungsfähig ist. Ich sage Ihnen schon jetzt vo-
raus, dass diese Deckungsfähigkeit wegen der Absenkung
beim Kinder- und Jugendplan um 2,5 Millionen Euro ver-
mutlich nicht zum Tragen kommen wird.
Damit bin ich beim Kinder- und Jugendplan. Frau
Ministerin Schmidt, Sie haben zwar geäußert, dass die
Grausamkeiten gegenüber dem ursprünglichen Haushalts-
entwurf verringert worden seien, aber Sie haben dabei
verschwiegen, dass gegenüber dem Jahr 2002 in diesem
Bereich der Kinder- und Jugendhilfe 2,5 Millionen Euro
gekürzt werden. Wenn das mit dem Argument passiert
wäre, dass die allgemeine Haushaltssituation nicht mehr
hergebe, hätte ich dafür noch Verständnis. Tatsache ist
aber, dass sich außerhalb der bewährten Strukturen eine
ganze Menge zusätzlicher Programme findet, die kurzfris-
tig beschlossen worden sind, zum Beispiel das Programm
gegen Rechtsradikalismus.
Frau Deligöz, Ihre positive Auffassung von diesem Pro-
gramm gegen Gewalt und Rechtsradikalismus teilen selbst
Jugendvertreter und Jugendpolitiker Ihrer eigenen Fraktion
nicht. Fragen Sie einmal auf kommunaler und Landese-
bene, wie dort das Programm gesehen wird! Ich bringe jetzt
nur ein paar Aussagen dazu: Bestehende Programme auf
Landes- und kommunaler Ebene werden nicht hinreichend
miteinander vernetzt. Es gibt keine Gesamtkoordinierung
der Förderprogramme und keine entscheidende Einbin-
dung von Trägern der öffentlichen Jugendhilfe auf örtlicher
und überörtlicher Ebene. Teilweise werden sogar Pro-
gramme gefördert, die die Träger der örtlichen Jugendhilfe
als ungeeignet eingestuft haben. – Alles das findet sich in
Berichten des Bundes der Jugendvertreter.
Dazu kommt – das ist für meinen Geschmack die abso-
lute Krönung –, dass sich bei einem Gesamtvolumen von
fast 30 Millionen Euro die Kosten für die Servicestelle und
für die Vergabe der Mittel für nur eines dieser Programme
in Höhe von 5Millionen Euro auf 827000 Euro jährlich be-
laufen. Das heißt, 20 Prozent der Programmmittel werden
aufgewendet, um die Mittel überhaupt auszureichen. Da
fragt man sich schon, ob hier nicht Aktionismus im Vor-
dergrund steht. Stattdessen sollten Sie lieber abgestimmte
Jugendarbeit mit den schon bestehenden Fördertöpfen auf
Landes- und kommunaler Ebene sinnvoll betreiben.
Nun zu dem eben schon erwähnten Programm „Jugend
bleibt“. Mit dem jährlich 2,5 Millionen Euro teuren Pro-
gramm wollen Sie junge Menschen dazu motivieren, nicht
aus den neuen Ländern abzuwandern. Die anhaltende Ab-
wanderung von Jugendlichen stellen Sie als wirtschaftli-
ches Problem in den neuen Ländern dar. Das ist eine legi-
time Begründung für den Wirtschaftsausschuss, aber vom
Jugendministerium hätte mir eine Begründung besser ge-
fallen, die auf die Situation der jungen Menschen eingeht.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Das mache ich gerne.
So oder so stellt sich auch hierbei für uns die Frage der
Sinnhaftigkeit. Erst ruinieren Sie die mittelständischen
Unternehmen, nicht nur in den neuen Bundesländern.
Aufgrund von Steuererhöhungen und Lohnnebenkos-
tenerhöhungen gehen Arbeitsplätze nicht nur für Jugend-
liche, aber gerade für sie verloren. Ausbildungsplätze
werden nicht mehr zur Verfügung gestellt. Aus den ent-
sprechenden Steuereinnahmen fördern Sie dann irgend-
welche Programme, die nicht zum Erfolg führen, wie das
schon beim JUMP-Plus-Programm der Fall war. Unsere
Politik heißt: den Mittelstand fördern. Dann werden auch
Arbeitsplätze für die Jugendlichen in den neuen Ländern
zur Verfügung gestellt.
Lassen Sie mich ein Letztes ansprechen, das ich mit
großer Freude zur Kenntnis genommen habe. Steuerwis-
senschaftler aus Deutschland und aus zwei bis drei Mit-
gliedstaaten werden an einer Fachtagung teilnehmen und
sollen über die Möglichkeiten der Förderung der Familie
im Steuerrecht referieren. Von den EU-Mitgliedstaaten
sollen solche ausgesucht werden, „die bei der steuerlichen
Familienförderung besonders weit sind“. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, wenn Sie mit Ihren Steuererhöhungen
so weitermachen, werden Sie bei diesem Arbeitskreis
nicht dabei sein.
Trotzdem freue ich mich im Sinne der Familien natürlich
auf die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe und auf eine kon-
struktive Haushaltsberatung.
Antje Tillmann
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Frau Kollegin Tillmann, ich gratuliere Ihnen herzlich
zu Ihrer ersten Rede.
Beim nächsten Mal werde ich strenger mit Ihnen sein und
Sie nicht so lange überziehen lassen.
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Irmingard
Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal freue ich mich sehr darüber, dass diese
Debatte eine so große Wertschätzung auch der werten
Kollegen des Hauses genießt. Frauen- und Familienpoli-
tik ist ja auch ein wichtiges Thema.
Mit dem Haushalt für das Jahr 2003 schreiben wir auch
beim Einzelplan 17 die Prinzipien der letzten vier Jahre
fort. Sie heißen: Gerechtigkeit, Modernisierung und Kon-
solidierung der Finanzen. Gerechtigkeit im Haushalt des
Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
heißt für uns Grüne: Generationengerechtigkeit, Ge-
schlechtergerechtigkeit, aber auch Wehrgerechtigkeit.
Ich beginne mit der Generationengerechtigkeit.
– Das kommt noch, Kollegin Lenke, das ist ja Ihr Spe-
zialthema. – Wir werden nicht nur bei der Rentenreform
dafür sorgen, dass die Lasten zwischen den Generationen
gleichmäßig verteilt werden; wir haben auch mit einer Po-
litik Schluss gemacht, die Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, zu vertreten haben, nämlich mit der
kohlschen Politik, die bedeutet: weiter so, aussitzen und
Schulden machen zulasten der nächsten Generation.
Ich gebe zu: Der seit vier Jahren anhaltende Sparkurs
hat auch uns schmerzliche Prozesse abverlangt. Aber er ist
ohne Alternative, wollen wir nicht unseren Kindern einen
immer größeren Schuldenberg hinterlassen. Darum ist
auch die Kürzung beim Einzelplan 17 um 5,4 Prozent
nicht nur ein Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen,
sondern auch ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit.
Im Wesentlichen sind die Kürzungen durch drei Maß-
nahmen erreicht worden: durch die Verringerung beim Er-
ziehungsgeld aufgrund geringerer Geburtenzahlen, durch
niedrigere Ausgaben beim Unterhaltsvorschuss und durch
die Reduzierung der Zahl der Zivildienstleistenden. Auch
beim Zivildienst spielt für uns Gerechtigkeit eine große
Rolle: Gerechtigkeit zwischen Wehrpflicht und Zivil-
dienst. Wir haben hier enorme Schritte der Angleichung
vollzogen. Daher können weitere Kosten für den Zivil-
dienst eingespart werden.
Es steht allerdings noch das Thema Wehrgerechtig-
keit aus, Frau Kollegin Lenke. Wie können wir es einem
jungen Mann erklären, dass lediglich ein Drittel eines
Jahrgangs zum Wehrdienst verpflichtet wird, dass aber
genauso viele junge Männer weder Wehrdienst noch Zi-
vildienst leisten müssen?
Das stellt nicht nur das Gerechtigkeitsgefühl der jungen
Menschen auf den Kopf. Eine Freiwilligenarmee wäre al-
leine aus Gründen der Gerechtigkeit die richtige Antwort.
Ich komme zum Stichwort Geschlechtergerechtig-
keit. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wie
steht es eigentlich um die Gerechtigkeit zwischen den Ge-
schlechtern, wenn 50 Jahre nach Inkrafttreten des Gleich-
heitsgebots im Grundgesetz Frauen trotz besserer Schul-
abschlüsse und trotz besserer Ausbildung noch immer
durchschnittlich 25 Prozent weniger verdienen als Män-
ner?
Haben wir nicht in der Tat ein Demokratieproblem,
wenn in den Vorständen der 100 größten deutschen Akti-
engesellschaften nicht einmal eine Vorstandsfrau vertre-
ten ist?
Hier auf die Einsicht der Unternehmen zu warten – ich
komme auf Ihr Stichwort – wäre fahrlässig. Ich will nicht
so weit gehen wie die schwedische Ministerpräsidentin,
die ab 2004 eine Quote von 25 Prozent für die Führungs-
etagen der großen Firmen erlassen will. Trotzdem dürfen
wir die Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung entlas-
sen.
Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik müssen sehr bald
ein Bündnis für die Frauenerwerbsarbeit schließen. Dabei
muss der Staat für Rahmenbedingungen wie ein flächen-
deckendes qualifiziertes Kinderbetreuungsangebot sor-
gen. Sie sind die Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit
von Eltern.
Trotzdem gibt es noch viele Hemmnisse für Frauen,
auch ohne Kinder. Darum brauchen wir die von Ihnen ge-
wünschten gesetzlichen Regelungen, die keine bürokrati-
schen Monster sind, sondern gut umsetzbar sind.
Wir brauchen Anreize für die Vergabe öffentlicher Auf-
träge und die Umsetzung von Gender Mainstreaming als
durchgängigem Leitprinzip.
Das heißt, bei jeder Maßnahme muss geprüft werden, wie
die Auswirkungen auf Männer bzw. Frauen sind. Ein
Gender-Kompetenzzentrum wird dieses Anliegen ab
2003 voranbringen, es stellt ein erhebliches Modernisie-
rungspotenzial im Gleichstellungsprozess dar.
Da ich beim Thema Gleichstellung bin, kann ich es mir
nicht verkneifen, heute einer großen Frau zu gratulieren,
840
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 841
die in ihrem sechzigjährigen Leben sehr viel für die
Gleichstellung und die Rechte von Frauen getan hat, näm-
lich Alice Schwarzer. Herzlichen Glückwunsch zum Ge-
burtstag!
Meine Damen und Herren, spätestens seit dem Bericht
der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“
wissen wir, dass die Lebenserwartung steigt und der An-
teil der Älteren an der Gesellschaft zunimmt. Das ist kein
Unglück, wie manche Presseberichte signalisieren, son-
dern eine große politische Herausforderung für die sozia-
len Sicherungssysteme. Die Frühverrentungsideologie,
die dazu geführt hat, dass die Versicherungskassen geleert
und leistungsbereite Menschen zum alten Eisen abge-
stempelt wurden, muss beendet werden. Wir brauchen das
Erfahrungswissen älterer Menschen.
Auf die Frage, wie dies besser genutzt werden kann
und wie sich die Situation der älteren Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen darstellt, hat die Ministerin in zwei
Modellprogrammen Vorschläge gemacht, die wir hier
demnächst präsentieren werden. Es ist doch eine un-
glaubliche Verschwendung von Wissen und Erfahrung,
wenn in Deutschland fast jeder Zweite über 50 Jahre nicht
mehr erwerbstätig ist.
– Wir tun etwas. Die Frühverrentung war in der Ära Blüm
sehr weit fortgeschritten. Wir werden Änderungen her-
beiführen.
Auch die Situation älterer und pflegebedürftiger Men-
schen werden wir weiter verbessern. Mit dem Heimgesetz
und dem Altenpflegegesetz haben wir begonnen. Eine
Enquete-Kommission „Menschen in Heimen“, die meine
Fraktion befürwortet, könnte hier einen großen Beitrag
leisten.
Zum Schluss möchte ich auf ein wichtiges Anliegen
der Grünen hinweisen, das ab 2003 startet, nämlich die
modellhafte Erprobung einer integrierten Alten- und
Krankenpflegeausbildung. Das bedeutet mehr Qualität
in der Pflege und weniger Burn-out-Syndrome beim Pfle-
gepersonal.
Ich habe hier nur einen kleinen Bereich der vielfältigen
Aktivitäten des Ministeriums beleuchtet. Eines wird aber
deutlich: Die Interessen von jungen und alten Menschen,
von Frauen und Familien, von hier Geborenen und Zuge-
wanderten werden von Rot-Grün bestens vertreten.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Haupt, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und zahlreich an-
wesende Kollegen! Der Haushalt der neuen Familienmi-
nisterin ist wirklich ein Dokument des Sparwillens der
Regierung; denn während der Bundesetat insgesamt um
durchschnittlich 1,8 Prozent zurückgefahren wird, ist der
Haushalt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gleich
mit 5,4 Prozent dabei. Dennoch steigen die Personalaus-
gaben für Ministerin und Staatssekretärinnen fast um
stolze 50 Prozent. Das ist schon bemerkenswert.
Statt durch Reformen eine nachhaltige Stabilisierung
der sozialen Sicherungssysteme zu erreichen, versucht die
Regierung, die sozialen Sicherungssysteme durch höhere
Belastung der Beitragszahler kurzfristig aufzupäppeln.
Das stellt die für die immer größer werdende Gruppe der
älteren Menschen wichtigen Leistungen im Gesundheits-
wesen und in der Pflege infrage.
Der Reformstau in der Sozialversicherung, die gegen-
wärtige Rentenpolitik und die steigende Staatsverschul-
dung gehen voll auf Kosten der heutigen Jugend. Die
junge Generation wird ihrer Zukunft beraubt. Ihr werden
unzumutbare Belastungen auferlegt und ihr wird jeglicher
finanzieller Gestaltungsspielraum entzogen. Von Gene-
rationengerechtigkeit ist bei Rot-Grün keine Spur.
Die Arbeitsmarktchancen für Jugendliche verschlech-
tern sich drastisch. Jobs im ersten Arbeitsmarkt können
durch staatliche Förderprogramme nicht ersetzt werden.
Aber auch die ältere Generation verliert durch den Re-
formstau ihre Perspektiven. Frau Schewe-Gerigk, Sie ha-
ben Recht: Die Senioren von heute sind keine Menschen,
auf deren Produktivität oder Kreativität unsere Gesell-
schaft einfach verzichten könnte. Sie stellen angesichts
des demographischen Wandels in Zukunft auch im Ar-
beitsleben eine wichtige Ressource dar. Derzeit beschäf-
tigt jedes zweite Unternehmen in Deutschland keine Per-
sonen, die älter als 50 Jahre sind. Während hierzulande
nur 39 Prozent der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig sind,
sind es zum Beispiel in der Schweiz 71 Prozent und in Ja-
pan 64 Prozent.
Dem Trend zur Frühverrentung muss politisch ent-
gegengewirkt werden, statt ihn durch ein Brückengeld
noch zu fördern.
Ältere Arbeitnehmer müssen durch gezielte Förderung,
Weiterqualifizierung und verbesserte Rahmenbedingun-
gen wieder größere Chancen am Arbeitsmarkt bekom-
men.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf ist auch eines der zentralen Ziele
der liberalen Familien- und Frauenpolitik.
Irmingard Schewe-Gerigk
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Klaus Haupt
Dies entspricht auch dem Wunsch der jungen Generation,
wie er in der neuen Shell-Jugendstudie deutlich zum Aus-
druck kam. Wir verstehen das als eine Politik für die
Frauen, die jungen Menschen und die Familien und nicht
wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, als
eine ideologisch motivierte Aushebelung der Familien.
Die Aussage des SPD-Generalsekretärs Olaf Scholz,
mit staatlicher Kinderbetreuung eine kulturelle Revolu-
tion und die Lufthoheit über den Kinderbetten erzielen zu
wollen, macht doch eines deutlich: Die SPD will keine
echte Freiheit, Familie und Beruf vereinbaren zu können,
sondern einen aufgeblähten staatlichen Erziehungsappa-
rat. Die SPD misstraut den Familien bzw. den Eltern und
strebt eine Vergesellschaftung der Erziehungsarbeit an.
Wir Liberale lehnen diese Art von staatlicher Zwangs-
beglückung entschieden ab.
Wir fordern stattdessen ein breiteres und flexibleres
Angebot an staatlicher und privater Kinderbetreuung in
Verbindung mit der Kita-Card, das den Familien die Ent-
scheidungsfreiheit lässt, wann, wo und wie sie ihre Kin-
der betreuen lassen wollen.
Frau Bundesministerin Schmidt, Sie haben wiederholt
gefordert, unsere Gesellschaft möge kinderfreundlicher
werden. Ich unterstütze das von ganzem Herzen. Kinder-
freundliche Politik ist eine praktische Angelegenheit und
beginnt in den Köpfen und im Alltag, indem etwa schnell
wieder die Kinderkommission des Deutschen Bundesta-
ges einberufen wird. Sie beginnt auch bei familienfreund-
lichem Wohnraum – die Eigenheimzulage will Rot-Grün
aber um gut ein Drittel kürzen –, beim Familienwahlrecht,
das Sie, Frau Ministerin, zur Stärkung der Kinderinteres-
sen in unserer Gesellschaft fordern – Sie haben dabei übri-
gens meine Unterstützung –, oder beim Mehrwertsteuer-
satz für Kinderbedarf. In Deutschland fällt jetzt der
ermäßigte Steuersatz für Werbemittel und Gärtnerei-
bedarf. Hunde- und Katzenfutter bleiben unverändert
steuerlich begünstigt, Babynahrung dagegen nicht. Sind
Haustiere wirklich eher förderungswürdig als Kinder?
Das muss uns doch alle gemeinsam auf die Barrikaden
treiben!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich das Ausga-
benvolumen im Etatansatz für den Bereich der Beauf-
tragten für Migration, Flüchtlinge und Integration
verfünffacht, wäre an sich zu begrüßen. Denn der Anteil
der jungen Menschen in unserer Gesellschaft, die aus
Immigrantenfamilien stammen, wächst immer mehr an.
Doch sollen die Personalkosten für die Mitarbeiter der
neuen Staatssekretärin gegenüber den Personalkosten der
bisherigen Ausländerbeauftragten mehr als verneunfacht
werden. Das macht deutlich, dass diese Mittelsteigerung
nur zu einem Bruchteil bei den Migranten, Flüchtlingen
und Zuwanderern ankommt.
Kollege Haupt, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Familien,
Senioren, Frauen und Jugend verdienen einen hohen Stel-
lenwert in unserer Politik. Dazu sind grundlegende Struk-
turreformen in allen Bereichen unserer Gesellschaft er-
forderlich. Wir, Jung und Alt, müssen neu denken und
deshalb die notwendigen gesellschaftlichen Reformen an-
packen. Die FDP ist dazu bereit.
Danke.
Ich erteile der Kollegin Marlene Rupprecht, SPD-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
zuerst gerne auf das eingehen, was Sie, Herr Haupt, ge-
sagt haben. Ich finde es zwar gut, wenn man Zahlen aus
dem Haushalt aufführt; denn dann kann man beweisen,
dass man ihn gelesen hat. Aber das heißt noch lange nicht,
dass man ihn interpretieren kann und richtig verstanden
hat. Das, was Sie zur neuen Staatssekretärin im Fami-
lienministerium gesagt haben, stimmt so nicht. Auch Sie
müssten wissen, dass sie vorher dort nicht angesiedelt
war, dass es sich also um eine Verlagerung handelt und
dass deshalb der entsprechende Haushaltsposten von ei-
nem Ministerium zum anderen gewandert ist. Wenn Sie
das erwähnt hätten, hätte das zu Wahrheit und Klarheit
beigetragen.
Des Weiteren haben Sie angeführt, dass unser Haushalt
um 5,4 Prozent gekürzt werde. Es stimmt zwar, dass es
Kürzungen gibt. Wenn Sie sich aber genau anschauen,
wo gekürzt wird, dann stellen Sie fest, dass zum Teil Mo-
dellprojekte ausgelaufen sind. Sie wissen doch genau
– Sie sind ja lange genug Mitglied des Parlaments –, dass
es bei Modellprojekten um Einmalfinanzierungen geht,
die nicht ewig fortgeschrieben werden. Wenn Sie das er-
wähnt hätten, hätte auch das zu Wahrheit und Klarheit bei-
getragen.
Es ist angesichts der Debatten, die zurzeit geführt wer-
den und die zum Teil von der Opposition massiv geschürt
werden, schwierig, einen Haushalt vorzulegen. Ich frage
mich immer, ob Sie tatsächlich Ihre eigene politische Ver-
gangenheit im Blick haben und sich noch erinnern. Viel-
leicht – ich möchte darüber eigentlich nicht spekulieren –
hoffen Sie darauf, dass die Wählerinnen und Wähler ein
kurzes Gedächtnis haben
und dass sich niemand mehr daran erinnert, was in den
16 Jahren, in denen Sie regiert haben, tatsächlich im Be-
842
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 843
reich der Familien, der Kinder, der Senioren und der
Frauen geschehen ist, nämlich nichts bzw. Vernachlässig-
bares. Ich möchte nur an Folgendes erinnern: Wir wollten
einen Armuts- und Reichtumsbericht. Frau Nolte hat
ihn 1998 so kurz vor der Bundestagswahl vorgelegt, dass
ihn niemand mehr lesen konnte. Sie hat das getan, damit
ja keine Explosion stattfindet. Der damalige Bericht hat
außerdem nur einen schmalen Bereich abgedeckt. Wir ha-
ben den Ersten Armuts- und Reichtumsbericht in Auftrag
gegeben. Er ist so rechtzeitig vorgelegt worden, dass
Maßnahmen aus ihm abgeleitet werden konnten, die dann
auch gegriffen haben. Meine Kolleginnen und Kollegen
haben Ihnen ja schon vieles von dem aufgezeigt, was wir
getan haben.
Der jetzt vorliegende Einzelplan 17 zeichnet sich im
Gegensatz zu früher dadurch aus, dass er zukunftsfähig
und generationengerecht ist. Zukunftsfähigkeit und Ge-
nerationengerechtigkeit – darauf ist schon ein paarmal
hingewiesen worden; aber ich denke, das kann man gar
nicht oft genug sagen – bedeuten Nachhaltigkeit – dieses
Prinzip bestimmt unsere Politik –, das heißt, sowohl für
die jetzt lebenden Generationen als auch für die nach-
wachsenden zu sorgen. Deswegen legen wir einen Haus-
halt für alle Generationen vor.
Ich möchte an ein paar Beispielen aufzeigen, dass das
tatsächlich so ist.
Wir haben den Reformstau aufgelöst. Wir hatten in
dem zur Diskussion stehenden Bereich enorme Probleme.
Was hat sich denn im Gegensatz zu Ihnen unter unserer
Regierung verändert? Wir haben Kinder – damit möchte
ich beginnen – nicht als Vorstufe von Menschen betrach-
tet, die irgendwann erwachsen werden. Wir haben als
Erste Kinder als eigenständige Wesen mit eigenen doku-
mentierten Rechten ernst genommen. Ich kann mich noch
an das Bauchgrimmen und an die Widersprüche erinnern,
als wir nur den Satz formulierten: Kinder haben ein Recht
auf gewaltfreie Erziehung. Das sollte eigentlich so
selbstverständlich sein wie das Amen in der Kirche.
Das war es aber nicht.
Dass es etwas ganz Besonderes ist, dass wir diesen Satz
rechtlich verankert haben, ist uns auf der Weltkonferenz
gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugend-
lichen bestätigt worden. In der Schlussrede wurde ganz
besonders hervorgehoben, dass es der Deutsche Bundes-
tag mit der Mehrheit der rot-grünen Koalition geschafft
hat, ein Gesetz zu verabschieden, das einen solchen Satz
enthält. Kinder sind nun nicht mehr Objekte, sondern
Rechtssubjekte. Daraus leiten wir alles ab, was wir tun.
Deshalb wollen wir, dass Kinder an Entscheidungen im
gesellschaftlichen Leben beteiligt werden. Wir haben in
erheblichem Maße Mittel für die Beteiligungsbewegung,
das heißt für die Verwirklichung des Prinzips der Partizi-
pation eingestellt; denn nur von demjenigen Menschen,
der sich aktiv beteiligt und der tatsächlich – und zwar im-
mer altersbezogen – gefragt wird, wenn es um die eigenen
Anliegen geht, kann man erwarten, dass er ein engagier-
ter Bürger wird, das heißt, dass er sich in unsere Gesell-
schaft einbringt.
Die Shell-Jugendstudie belegt, dass viele junge Menschen
ehrenamtlich tätig sind. Ich hätte mir auch gewünscht,
liebe Kollegin von der Opposition, Frau Tillmann, wenn
Sie deutlich gesagt hätten, dass wir das Ehrenamt durch
die Erhöhung der so genannten Übungsleiterpauschale
um 50 Prozent gestärkt haben.
Wenn Sie sich den Etat ansehen, dann müssen Sie ehr-
lich sagen, dass der Etat so gestaltet ist, dass die dort ent-
haltenen Mehrkosten für das Jahr des Ehrenamtes be-
stimmt waren. Das alles waren Modelle und Projekte, die
wir in dieser Zeit gefördert haben. Wir halten den Haus-
haltstitel für das Ehrenamt auch weiterhin vor, weil er not-
wendig ist, um das Ehrenamt zu fördern.
Ehrenamtlich Tätige sind auch bereit, Freiwilligen-
dienste zu leisten; diese haben wir im letzten Jahr refor-
miert. Dafür haben wir beachtliche zusätzliche Mittel in
den Haushalt eingestellt. Auf diesem hohen Niveau ver-
stetigen wir das Ganze. Wir haben es so gestaltet, dass
junge Menschen sozialversicherungsrechtlich abgesichert
sind, sodass nicht nur reiche Kinder ein freiwilliges so-
ziales Jahr machen können, weil Mama und Papa eine pri-
vate Krankenversicherung haben und für das Alter und ei-
nen Unfall vorsorgen. Wir sind der Meinung, dass, wenn
jemand einen Dienst für die Gesellschaft leistet, die Ge-
sellschaft auch dafür aufkommen muss. Wir glauben
auch, dass es eine gute Möglichkeit zum Erlernen von To-
leranz ist, wenn man Kinder und Jugendliche ins Ausland
gehen lässt. Deshalb haben wir das auf das außereuropä-
ische Ausland ausgedehnt.
Ein weiterer Aspekt ist, dass nicht nur Gymnasiasten
diese Möglichkeit in Anspruch nehmen sollen, sondern
auch Kinder und Jugendliche, die aus Familien mit weni-
ger Geld kommen, sodass sie direkt nach der Schulpflicht
in diesen Dienst gehen können. Diese Zeit können sie sich
auf die Zivildienstzeit anrechnen lassen. – Das sind die
Dinge, die in diesem Bereich für Kinder und Jugendliche
geschehen sind.
Auch für die Chancengleichheit und den sozialen
Ausgleich wurden Mittel eingestellt; als Beispiele nenne
ich die Programme „E & C“, „Soziale Stadt“ und JUMP.
Diese sind für die Integration von jungen Menschen wirk-
lich notwendig. Nur wer sich integriert fühlt, wer wirklich
das Gefühl hat, dass er auf Augenhöhe mit dem anderen
ist, wird den anderen auf Augenhöhe aushalten und mit
ihm kommunizieren. Das haben wir mit unseren Pro-
grammen im Bereich Chancengleichheit auf den Weg
gebracht.
Ich hätte mir auch gewünscht, Sie hätten sich die im
Bereich Gewalt und Intoleranz eingesetzten Mittel ge-
nauer angesehen. Dann hätten Sie festgestellt, dass der
Mitteleinsatz zum größten Teil in Absprache mit den Län-
dern vorgenommen worden ist. In Bayern zum Beispiel
Marlene Rupprecht
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Marlene Rupprecht
sind die gesamten Mittel an den Landesjugendring gege-
ben worden; der hat die Mittel auf die Projekte verteilt.
Wenn es also nicht funktioniert hat, dann müssen wir prü-
fen, ob es dort nicht funktioniert hat. Ansonsten wurden
die Mittel so kanalisiert, dass sie sinnvoll eingesetzt wer-
den konnten. Damit gewinnen wir Respekt vor ethni-
schen, kulturellen und sozialen Minderheiten. Niemand
wird aufgrund seiner Herkunft ausgegrenzt.
Wir werden die drei in diesem Bereich aufgelegten Pro-
gramme ENTIMON, CIVITAS und XENOS fortschrei-
ben.
Im Zuge der Generationengerechtigkeit führen wir
Jung und Alt zusammen. Die heutige Jugend erhält in ei-
nem hohen Maße Unterstützung und Solidarität. Wir hof-
fen natürlich, dass sie dies bewusst wahrnimmt und es,
wenn sie später die ältere Generation ist, weitergibt. Das
entspricht dem Generationenvertrag und der Generatio-
nengerechtigkeit. Denn nur gemeinsam und nicht gegen-
einander können wir die Herausforderungen des demo-
graphischen Wandels bewältigen.
Wir haben in der Seniorenpolitik die Forschungsmit-
tel auf dem gleichen Niveau wie bisher weitergeführt, um
die Probleme des demographischen Wandels bewältigen
zu können und ältere Menschen aktiv einzubinden. Wir
müssen endlich wegkommen von der Einspurigkeit in der
Wahrnehmung von Alter und um das ganze Spektrum ent-
decken, das im Alter steckt, nämlich von „Fit wie ein
Turnschuh“ und „Alle Berge erklimmen“ bis hin zur Mor-
bidität, das heißt bis zur Hinfälligkeit und völligen Hilflo-
sigkeit. Dem werden wir gerecht. Ich möchte nicht alles,
was vorhin schon gesagt wurde, wiederholen. Frau
Schewe-Gerigk hat bereits das Pflegegesetz und das
Heimgesetz angesprochen. Ein weiteres Projekt ist das
modellhafte Bauprojekt derAltenhilfe.Darüber wollen
wir feststellen, wie das Wohnen gestaltet sein muss, damit
ältere Menschen menschen- und wirklich seniorengerecht
leben können. Das sind Zukunftsprojekte für moderne
Wohn- und Siedlungspolitik.
Der Weltaltenplan wird im kommenden Jahr in einen
nationalen Aktionsplan umgesetzt. Wenn wir das ge-
schafft haben, können wir wirklich sagen: Wir handeln
und wir gestalten damit die Zukunft für uns, unsere Kin-
der und unsere Enkel.
Ich bin in einer Familie groß geworden, die Zusam-
menhalt und Geborgenheit vermittelt hat, und deshalb
habe ich auch die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuar-
beiten. Ich wünsche mir, dass es in diesem Saale viele
gibt, die das erfahren durften.
Ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam an dieser Welt
und an dieser Bundesrepublik weiter zu arbeiten, damit
sie zukunftsfähig ist. Ich glaube, dieses Modellprojekt
„Zukunft Deutschland“ hat wirklich eine Chance. Ich for-
dere Sie auf – und ich wünsche mir das –: Machen Sie da-
bei mit!
Danke schön.
Ich erteile dem Kollegen Thomas Dörflinger von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr veehrten Damen und Her-
ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde etwas
sonderbar, wenn bei einer Debatte zu einem Einzelplan
des Bundeshaushaltes von den Rednerinnen und Rednern
der Koalition und der Bundesregierung kaum eine Zahl
fällt.
Dann muss etwas faul sein. Deswegen will ich ein paar
Zahlen nennen.
– Im Gegensatz zu Ihnen schon. Das werde ich Ihnen
gleich beweisen.
Es zeigt sich im Einzelplan 17 wie im Übrigen auch in
anderen Einzelplänen, dass die Prinzipien von Haushalts-
wahrheit und Haushaltsklarheit – nicht erst bei diesem
Haushaltsplan zum ersten Mal – nicht als oberstes Prinzip
angesehen wurden.
Da findet sich bei näherem Durchlesen – darauf wurde
dankenswerterweise schon hingewiesen – eine globale
Minderausgabe in Höhe von immerhin 91 Millionen
Euro beim Bundesamt für den Zivildienst. Es wäre ei-
gentlich Sinn und Zweck dieser Debatte gewesen, wenn
wenigstens ein Hinweis darauf gegeben worden wäre, wie
das Ministerium gedenkt, diese globale Minderausgabe
zu erwirtschaften.
Frau Ministerin, Sie haben wenigstens gesagt, dass
die Privatfrau Renate Schmidt für die Abschaffung der
Wehrpflicht und damit auch für die Abschaffung des
Zivildienstes ist. Damit sind wir einen Schritt weiter.
Diese Erkenntnis hatten wir gestern noch nicht.
Aber es hätte uns schon interessiert, wie innerhalb des
Bundesamtes für Zivildienst diese 91 Millionen Euro ge-
neriert werden sollen, und zwar ohne dass wir dann
schlussendlich bei dem Punkt sind, uns generell über die
Abschaffung der Wehrpflicht unterhalten zu müssen.
Ich finde es auch bemerkenswert – das nur am Rande –,
dass immerhin 10 Prozent des Ausgabevolumens dieses
Einzelplanes durch Verpflichtungsermächtigungen ge-
deckt sind. Das heißt, sie ziehen einen Wechsel auf die
Haushalte 2004 fortfolgende. Das hat nach meiner Über-
zeugung auch nicht unbedingt sehr viel mit seriöserer Fi-
nanzpolitik zu tun.
Ich greife noch den Gedanken von Klaus Haupt auf,
der etwas über das Personal im Ministerium gesagt hat.
Im Stellenplan findet sich der Vermerk, dass 14 neue Be-
amtinnen und Beamte im Ministerium eingestellt werden.
Ich will mich jetzt nicht darüber verbreiten, was zu die-
ser Finanzmisere geführt hat; das war das Thema der De-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 845
batte heute Morgen. Wir sind uns aber wohl alle darüber
einig, dass das Geld knapp ist. Wie das Ministerium dann
auf die Idee kommt, 14 neue Planstellen allein im Beam-
tenbereich zu schaffen, ist mir völlig rätselhaft.
Frau Rupprecht, ich sage Ihnen, weil Sie das auch bei
Herrn Haupt schon kritisiert haben, Folgendes: Die Mehr-
ausgaben personeller Natur im Zuständigkeitsbereich Mi-
gration von Frau Beck belaufen sich auf 380 000 Euro.
Wenn Sie das einmal durch die 14 neuen Stellen und dann
noch einmal durch die 13 Monatsgehälter eines Beamten
teilen, dann kommen Sie zu einem Monatsgehalt inklu-
sive der Lohnnebenkosten von 1 900 Euro. Das wäre das
Niveau eines Beamten in der Besoldungsgruppe A 9 mit
fünf Dienstjahren. Das kann nicht stimmen.
Deswegen hat Herr Haupt Recht und Sie haben Unrecht,
meine Damen und Herren.
Schauen Sie sich den Haushaltsvermerk auf Seite 35 des
Einzelplans 17 an! Ich freue mich auf Ihre Begründung,
die Sie in den Ausschussberatungen dafür geben, dass der
derzeitige Stelleninhaber aufgrund einer besonderen Ver-
wendung nach der Besoldungsgruppe B 5 bezahlt wird,
obwohl er in der Besoldungsgruppe B 3 angestellt ist. Ich
freue mich, zu erfahren, welche besondere Vereinbarung
dieser Regelung zugrunde liegt. Wenn wir kein Geld ha-
ben, insbesondere für Familien, dann sollte sich das auch
bei den Ausgaben für den Personalbereich des Ministe-
riums zeigen.
Anstatt die finanzielle Situation dort deutlich zu ma-
chen, tun Sie genau das Gegenteil: In drei der vier Kapi-
tel des Einzelplans 17 des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2003 ist ein Rückgang der Mittel verzeich-
net. Allein im Kapitel „Bundesministerium“ ist ein Auf-
wuchs enthalten. Das lässt tief blicken.
Die Familienpolitik ist natürlich eine Querschnitts-
aufgabe; deswegen sind die Familien auch davon betrof-
fen, wie die anderen Einzelpläne des von der Bundesre-
gierung aufgestellten Bundeshaushaltsplans aussehen.
Lassen Sie mich dazu ein paar Punkte sagen.
Erstens: Kinderbetreuung. Wir sind uns einig, dass
auf diesem Gebiet ein Nachholbedarf herrscht. Frau
Humme, wenn wir zukünftig als Maxime ausgeben, dass
wir uns gegenseitig nicht die Versäumnisse vorhalten,
dann findet das meine Zustimmung. Wenn Sie allerdings
darauf hinweisen, dass der Bund einen Einstieg in die Fi-
nanzierung der Kinderbetreuung vollzogen hat, dann ist
das nur die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte der
Wahrheit ist, dass sich der Bund an der Folgefinanzierung
nicht beteiligt und dass die Kosten an den eigentlich Zu-
ständigen hängen bleiben, beispielsweise an den Kom-
munen.
Schauen Sie sich einmal die Gemeinderäte und die
Kreistage an! Schauen Sie sich einmal an, wie die dorti-
gen Mitarbeiter mit rauchenden Köpfen versuchen, ihre
Etats irgendwie auf die Reihe zu bringen, was teilweise
mit massiven Belastungen für die Bürgerinnen und Bür-
ger verbunden ist! Die Konzentration auf die kommuna-
len Finanzen führt am Ende dazu, dass die Familien, de-
nen Sie eigentlich etwas Gutes tun wollen, schlussendlich
ihre Betreuung selbst bezahlen. Das kann nicht Sinn und
Zweck der Übung sein.
Zweitens – die Kollegin Tillmann hat schon darauf hin-
gewiesen –: Eigenheimzulage. Sie wurde ursprünglich
wirklich einmal als ein Instrument der Familienförderung
konzipiert. Jetzt soll ihre Zahlung auf Familien konzen-
triert werden. Interessant finde ich – da greife ich den Ge-
danken von Herrn Fricke auf –, dass einem kinderlosen
Ehepaar zukünftig vorgeschrieben wird, wann es Kinder
in die Welt zu setzen hat, damit es anschließend in den Ge-
nuss einer staatlichen Förderung kommt.
So weit sind wir mittlerweile gekommen. Ich lasse mir als
Bürger dieses Landes wirklich viel vorschreiben; ich bin
da sehr geduldig. Aber man möge mir bitte nicht auch
noch vorschreiben, wann meine Frau Kinder zu bekom-
men hat. Das geht zu weit.
Bringen Sie bitte das, was Sie im Zusammenhang mit
der Änderung der Eigenheimzulage tun, in einen Zusam-
menhang mit dem, was Sie sonst noch mit diesem merk-
würdigen Steuervergünstigungsabbaugesetz vorsehen.
Ich erinnere beispielsweise an § 21 des Einkommensteu-
ergesetzes, in dem es um die Anrechnung der Werbungs-
kosten bei nicht selbst genutztem, vermietetem Wohn-
eigentum und um die degressive Gebäude-AfA geht.
Lassen Sie einmal von Fachleuten durchrechnen, welchen
Einfluss diese Änderungen auf das Mietniveau in den
Städten und Gemeinden hat! Die Mieten werden nicht von
Generaldirektoren und Millionenerben bezahlt, sondern
von den Familien mit Kindern in diesem Lande. Auch in
diesem Fall sind die Familien die Zahlmeister der Nation.
– Ich werde am Freitag in Baden-Württemberg sein und
ich kenne die Situation dort sehr gut. Wenn Sie den Fi-
nanzminister des Landes Baden-Württemberg fragen,
warum er diese Kürzungen vorgenommen hat, dann wird
er Ihnen antworten: Die entsprechenden Notwendigkeiten
sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sie kamen per
Post aus Berlin.
Thomas Dörflinger
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Thomas Dörflinger
Lassen Sie mich auf die Rentenpolitik zu sprechen
kommen. Wir waren uns wenigstens darin einig, dass die
verstärkte staatliche Förderung der privaten Altersvor-
sorge richtig ist. Das fand unsere Unterstützung. Ich lasse
einmal außen vor, dass sowohl uns als auch den Kollegen
von der FDP die Ausgestaltung des Instrumentariums der
Riester-Rente nicht gepasst hat.
Sie sagen den Menschen: Baut eine private Altersvor-
sorge auf, beispielsweise durch den Kauf von Anteilen ei-
nes Aktienfonds oder eines Investmentfonds! Nun wollen
Sie eine steuerrechtliche Regelung schaffen, durch die der
fiktive Wertzuwachs, der innerhalb eines Kalenderjahres
entstanden ist, besteuert wird. Ich lasse es mir noch gefal-
len, dass nach der Veräußerung eines Papiers der Erlös be-
steuert wird; aber man kann doch nicht einen fiktiven
Wertzuwachs, also einen Wertzuwachs, den der Besitzer
eines Papiers überhaupt nicht in Anspruch nimmt, von
Staats wegen besteuern.
Sie tun das genaue Gegenteil von dem, was Sie mit
der Riester-Rente ursprünglich beabsichtigt hatten. Das
macht schlichtweg keinen Sinn.
Dazu passt, dass Sie sich mit Vorschlägen, durch die
wirklich täglich ein neues Borstenvieh durchs Dorf ge-
trieben wird, in der gesetzlichen Rentenversicherung um-
tun. Ich will Ihnen nicht verheimlichen: Der beste Beitrag
in dieser Diskussion über die Zukunft der gesetzlichen
Rentenversicherung kam heute vom stellvertretenden
SPD-Fraktionsvorsitzenden Ludwig Stiegler. Man kann
sich ja über den Sinn und Unsinn der Rürup-Kommission
durchaus unterhalten. Ich bin aber schon der Meinung,
dass der Ton die Musik macht.
Nun sagt Herr Stiegler über die Rürup-Kommission, er
habe die Schnauze voll davon, dass wir vor unseren Mit-
gliedern und Wählern täglich den Kopf hinhalten müssen
für dieses Professorengeschwätz. Dann setzt er noch eins
drauf und sagt über eine Kommission, die von der Bun-
desregierung eingesetzt wurde: Ich erwarte, dass die Pro-
fessoren wie Herr Rürup uns nicht länger mit ihrer Ejacu-
latio praecox beglücken. Ich verzichte darauf, das zu
übersetzen,
und setze einmal das kleine Latinum beim einen oder an-
deren voraus.
Meine Damen und Herren, die Leute erwarten, dass wir
uns wenigstens einigermaßen ernsthaft um ihre Zukunft
beispielsweise in der gesetzlichen Rentenversicherung
kümmern. Das, was Sie hier tun – ständig eine neue Sau
durchs Dorf zu treiben –, ist dazu kein Beitrag. Ich sage
an die Adresse von Frau Deligöz und von Frau Schewe-
Gerigk: Es reicht nicht, über Generationengerechtigkeit
nur zu reden. Vor Kraft kaum laufen könnend ins Kanz-
leramt zu gehen und anschließend so klein wieder he-
rauszukommen, dass man unter dem Teppich Fallschirm
springen kann – das reicht nicht.
Man muss auch etwas durchsetzen können beim Thema
Generationengerechtigkeit. Da haben Sie uns auf Ihrer
Seite.
Es zeigt sich, dass Sie meilenweit von der Realität in
diesem Lande entfernt sind – aus welchen Gründen auch
immer. Da sagt der Fraktionsvorsitzende der SPD – übri-
gens passt das drei Wochen vor dem Weihnachtsfest sehr
gut –, man solle das Geld nicht in den Konsum stecken,
sondern an den Staat geben, damit der es verwenden kann.
Das passt wirklich in diese Zeit. Gleichzeitig freut sich der
Bundeskanzler bei einem Einkaufsbummel in der Hanno-
veraner Innenstadt, dass dort die Schlangen vor den Ge-
schäften lang sind. Sie sind wahrscheinlich nicht deswe-
gen lang, weil die Leute ganz versessen darauf sind, ihr
vieles Geld endlich loszuwerden, sondern deswegen, weil
es dem Handel mittlerweile so schlecht geht, dass er im
Stile eines vorgezogenen Winterschlussverkaufs schon
jetzt mit Preisnachlässen lockt, um das Weihnachtsge-
schäft wenigstens ein bisschen anzukurbeln, damit die
Umsätze nicht völlig in den Keller fallen.
Ihr Grundproblem liegt in zwei Dingen. Erstens: Sie
sind ganz offensichtlich nicht in der Lage, in volkswirt-
schaftlichen Zusammenhängen zu denken. Sie denken
vielmehr nur in Haushaltsstellen.
Sie führen eine Haushaltsstellenkorrektur durch, ohne
dass Sie die volkswirtschaftliche Wirkung, die anschlie-
ßend entsteht, bedenken.
Den zweiten Fehler, den Sie begehen, halte ich noch
für wesentlich drastischer: Sie trauen dem einzelnen Men-
schen nichts zu. Sie sind grundsätzlich der Auffassung,
dass der Staat immer besser in der Lage sei, zu beurteilen,
was für den Einzelnen gut ist und was nicht. Wir sind der
umgekehrten Auffassung, nämlich dass der Einzelne,
wenn er denn will, Hilfe vom Staat anfordern kann, aber
nicht, dass der Staat so allwissend ist, zu bestimmen,
wann der Einzelne die Hilfe braucht oder nicht.
Stellen Sie endlich den Menschen in den Mittelpunkt
Ihrer Politik. Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Ich freue
mich auf spannende Ausschussberatungen.
Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft.
Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 4 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 847
Gesetzes zur Modulation von Direktzahlungen
im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik
und zur Änderung des GAK-Gesetzes
– Drucksache 15/108 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Das Wort hat Bundesministerin Renate Künast.
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Das nächste Thema oder zumindest dieser Redebei-
trag wird sicherlich weniger niedlich als der Redebeitrag
meines Vorredners.
– Wenn sich jemand, um an Staatsknete zu kommen, über-
legt, ob er nun ein Kind bekommen soll oder nicht – das
hat ja diesen jungen Herrn beschäftigt –, wird man das
doch als niedlich bezeichnen dürfen, oder?
Nun zum Thema Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft. Wir haben für diesen Bereich einen Stein
ins Wasser geworfen, der jetzt politisch und haushaltspo-
litisch Kreise zieht. Was meine ich damit? Ich will Ihnen
ein konkretes Beispiel geben von einer der letzten Mes-
sen, die ich eröffnet habe, von der „EuroTier“, die vor we-
nigen Wochen in Hannover stattgefunden hat. Das ist die
Ausstellung zum Thema Nutztiere in Europa, auf der sich
wirklich Besucher aus ganz Europa und darüber hinaus
die Türklinke in die Hand geben.
Gucken wir uns das Ergebnis an. Die Bilanz der „Eu-
roTier“ lautete: Diese Messe hat die Erwartungen der
Aussteller übertroffen. Von der Deutschen Landwirt-
schafts-Gesellschaft durchgeführte Besucherumfragen
haben gezeigt: 63 Prozent der Landwirtinnen und Land-
wirte beabsichtigen zu investieren und waren auf der „Eu-
roTier“, um sich zum Beispiel über neue Techniken zu
informieren.
Deshalb ist eines klar: Unsere Bäuerinnen und Bauern
wissen, wo es lang geht und wo es hin geht, und wollen in
genau diese Art von Politik investieren.
Es hat sich außerdem auf der „EuroTier“ etwas gezeigt,
was Sie alle nie glauben wollten. Es hat sich gezeigt, dass
Tierschutz und Landwirtschaft zueinander passen.
Artgerechte Tierhaltung und Landwirtschaft passen zu-
einander. Mir sind bei dem Rundgang viele neue Techni-
ken vorgestellt worden, übrigens – dieser Hinweis für die
Opposition – auch ausdrücklich mit dem Satz: Wir haben
ja nicht geglaubt, Frau Künast, dass mit neuen Technolo-
gien Liegeflächen für Tiere vorgehalten werden können.
Es wurden dort Liegematten für Spaltenböden vorgeführt,
die sogar nicht nur zu mehr artgerechter Tierhaltung führen,
sondern die dazu beitragen, dass sich die Tiere mehr bewe-
gen. Und siehe da: Sie geben dann plötzlich mehr Milch,
weil sie offensichtlich durch mehr Mobilität beweglicher
geworden sind. Das müsste die Leistungspartei und Partei
der Besserverdienenden, die FDP, ja richtig beglücken.
– Ich habe jetzt aber nicht von Liegematten geredet. Sie
können ja immer gut dazwischen krakeelen, aber Sie müs-
sen an der Stelle schon zur Sache krakeelen.
– Auf der Messe sind Neuheiten für den deutschen und
den internationalen Markt vorgestellt worden, deshalb
können Sie dazu noch gar keinen Zwischenruf machen.
– Nein, die meine ich eben nicht. Ich meine nicht die Lie-
gematte, sondern die Gesamtfläche. An der Stelle wird
klar: Die Tiere bewegen sich mehr, sie geben mehr Milch
und die Hygiene im Stall wird erhöht. Es wurde aus-
drücklich gesagt: Wir haben es ja nicht geglaubt, Frau
Künast, aber es geht. – Das ist natürlich ein Neidfaktor für
die FDP. Das verstehe ich sofort.
Wir haben auf der Messe übrigens auch festgestellt, dass
diese Technik aus dem Ausland nachgefragt wird, dass
also auch die Auftragsbücher gut gefüllt sind.
Das heißt: Unser Leitbild ist klar und die gesellschaftli-
chen Bereiche ziehen nach. Von Dante gibt es dazu einen
schönen Satz. Er hat gesagt: Der eine wartet, dass die Zeit
sich wandelt, der andere packt sie kräftig an und handelt.
Das ist der Unterschied.
Deshalb werden wir unsere Politik der nachhaltigen
Modernisierung in diesem Bereich fortführen. Ich kann
Ihnen nur empfehlen: Verabschieden Sie sich von der
Bremsklotzrolle. Selbst der Bauernverband macht bei die-
ser Rolle ja längst nicht mehr mit.
Präsident Wolfgang Thierse
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesministerin Renate Künast
Lassen Sie doch endlich frischen Wind zu. Geben Sie Ihre
Bemühungen auf, das Modulationsgesetz wieder rück-
gängig zu machen. Wir werden es nicht rückgängig ma-
chen.
Wir beraten stattdessen über eine Erweiterung der För-
dermittel in der nächsten PLANAK-Sitzung. Wir disku-
tieren in Brüssel im Detail längst weitere Nutzungsmög-
lichkeiten in der zweiten Säule im ländlichen Raum. Auch
da sind Sie weit hinter der Zeit. Ich bin mit meinem fran-
zösischen Kollegen Gaymard an einem Ort, an dem Sie
noch lange nicht sind. Aber wir laden Sie ein mitzuma-
chen.
– Was heißt: „Da wollen wir gar nicht hin“? Sie sind doch
immer neidisch, wenn ich mich mit den Franzosen ver-
stehe. Was ist nun wieder los?
Versuchen Sie nicht, den Bauern die Zukunft zu neh-
men. Geben Sie ihnen die Möglichkeit, die ländlichen
Räume weiterzuentwickeln. Geben Sie ihnen insbeson-
dere die Möglichkeit, im ländlichen Raum auch andere
Jobs zu entwickeln. Es werden nicht alle nur in der Ver-
edelungswirtschaft arbeiten können. Die jüngeren Leute
brauchen weitere Einkommensmöglichkeiten.
Sie brauchen echte Optionen. Deshalb haben wir auch in
unserem Haushalt für Breite gesorgt. Wir haben dafür ge-
sorgt, dass es für Ost und West Perspektiven für eine mul-
tifunktionale Landwirtschaft gibt, die auf verschiedenen
Einkommensbeinen steht.
Der Haushalt ist dementsprechend ausgestaltet. Wir
wollen und werden mit diesem Haushalt den Forschungs-
bereich weiter stärken, weil das ein wesentlicher Be-
standteil für Innovationen ist. Nur so können wir endlich
für mehr Sicherheit und Schutz der Verarbeiter, Erzeuger
und Verbraucher in der Landwirtschaft, und zwar in ihren
unterschiedlichen Ausprägungen, sorgen.
In diesem Haushalt haben wir zwei wichtige Dinge
verankert – Stichwort: Acrylamid –, nämlich den Aufbau
des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmit-
telsicherheit und des Bundesinstituts für Risikobewer-
tung. Beide Einrichtungen haben uns bei Acrylamid und
vielen anderen Dingen geholfen. Bevor Sie einen Zwi-
schenruf machen, weise ich darauf hin, dass wir Hand in
Hand mit den Bundesländern, auch mit B-Ländern wie
Baden-Württemberg und Bayern, eine gemeinsame Stra-
tegie fahren. Deshalb habe ich es nie verstanden, warum
die Opposition sich in diesem Bereich so verrennt; aber
Sie ziehen sich ja schon ein Stück weit zurück.
Wir werden ein eigenständiges Institut für Produktsi-
cherheit finanzieren und eine Bundesforschungsanstalt
für Ernährung und Lebensmittel installieren. Diese Pro-
jekte finden sich in diesem Haushalt wieder. Wir werden
also den Bereich Sicherheit fester verankern.
Wir werden aber auch das berühmte weite Feld des
wirtschaftlichen Verbraucherschutzes bearbeiten. Ein
Aktionsplan „Verbraucherschutz“ ist auf dem Weg. Mit
unserer Art der Verbraucherschutzpolitik werden wir die
Verbraucher vor Schaden durch Täuschung, zum Beispiel
in den Bereichen Telekommunikation und Finanzdienst-
leistungen, bewahren.
Zum Abschluss möchte ich daran erinnern, dass Sie
sich bei Acrylamid selbst ausgetrickst haben, indem Sie
gesagt haben, ich solle Ross und Reiter nennen. Wir sor-
gen mittels dieses Haushalts für mehr Verbraucherschutz.
Wir werden wieder ein Verbraucherinformationsgesetz
einbringen. Ich bitte Sie: Stellen Sie sich nicht wieder
selbst ein Bein, indem Sie mich auffordern, Namen zu
nennen, gleichzeitig aber den Gesetzen, die dafür die
rechtliche Grundlage schaffen, Ihre Zustimmung verwei-
gern.
Ich sage es noch einmal mit Dante: Der eine wartet,
dass die Zeit sich wandelt, der andere packt sie kräftig an
und handelt. – In diesem Haushaltsentwurf sind die Mar-
gen für die nächsten Jahre gesetzt. Ich wünsche mir, dass
Sie sich endlich auch auf die Reise machen.
Aber, Herr Kollege Heinrich, jetzt können wir alle ei-
nen Vers von Dante auswendig.
Ich erteile das Wort der Kollegin Gerda Hasselfeldt,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Die Landwirte können sich bei dieser Regierung auf
eines immer hundertprozentig verlassen: Bei jeder ein-
schneidenden Maßnahme, die die Regierung erlässt, sind
die Landwirte immer die obersten Leidtragenden.
Dabei verdienten die Landwirte gerade in dieser Zeit,
in der sie ganz besondere Herausforderungen zu bewälti-
gen haben, besonders viel Aufmerksamkeit. Ich will nur
drei Stichworte nennen – Frau Künast, ich bedauere, dass
Sie kein einziges Wort darauf verwendet haben –: Wir be-
finden uns mitten in den WTO-Verhandlungen; wir befin-
den uns mitten in der Diskussion um die Weiterentwick-
lung der europäischen Agrarpolitik und wir befinden uns
mitten im Prozess der EU-Osterweiterung, die gerade
für die Landwirte in Europa enorme Konsequenzen haben
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 849
wird. Davon hat Frau Künast kein Wort gesagt. Sie hat
kein Wort darüber verloren, welche Konsequenzen das für
die Landwirte haben wird, welche Perspektive sie haben
und welchen Einsatz sie, die Ministerin, in diesem Zu-
sammenhang zu erbringen bereit ist.
Hierauf müssen wir unser Augenmerk richten. Eine be-
sondere Unterstützung und sogar Fürsprache ist notwen-
dig. Vom deutschen Bundeskanzler und dieser Bundesre-
gierung haben die deutschen Landwirte diese
Unterstützung nicht erhalten und sie können sie wohl
auch nicht erwarten. Gerade bei den Verhandlungen über
die Weiterentwicklung der Agrarpolitik bzw. des Agrar-
budgets im Rahmen der EU-Osterweiterung hat sich ge-
zeigt, dass nicht der deutsche Bundeskanzler das Ergeb-
nis für die deutschen Bauern erreicht hat, sondern der
französische Staatspräsident. Ihm sind die deutschen
Landwirte, die Deutschen insgesamt, zu Dank verpflich-
tet.
Nur durch ihn haben die Landwirte Planungssicherheit er-
halten.
Frau Künast, ich möchte darauf hinweisen, dass das,
was dort vereinbart wurde, ein Eckpfeiler der weiteren
Verhandlungen, beispielsweise bei der WTO und bei der
Fortentwicklung der gemeinsamen Agrarpolitik, sein
muss. Darauf ist zu achten.
Das kann man nicht einfach wegdiskutieren und ad acta
legen. Bei den weiteren Diskussionen ist dieser Eckpfei-
ler sehr wichtig.
Was kommt jetzt durch nationale Entscheidungen auf
die deutschen Landwirte zu? Wir lesen in der Koalitions-
vereinbarung, man wolle in der Koalition die Leistungs-
und Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft stärken.
Wir hören von Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement,
er werde einen Masterplan gegen Bürokratie aufstellen.
Heute hat Finanzminister Eichel großspurig davon ge-
sprochen, dass er „die Politik der Steuersenkung“ – man
höre und staune – fortsetzen werde. Das sind die Über-
schriften; das sind die Behauptungen.
Was sind die Tatsachen? Tatsache ist: Weiter werden
nationale Alleingänge betrieben: im Pflanzenschutz, im
Steuer- und im Haushaltsbereich. Tatsache sind nicht
Steuersenkungen, sondern Steuererhöhungen. Tatsache
ist nicht Bürokratieabbau, sondern mehr Bürokratie. Sie
setzen also Ihren Wählerbetrug und, was noch viel
schlimmer ist, auch Ihre fachlich falschen Entschei-
dungen fort. Sie führen dazu, dass der Arbeitsmarkt noch
stärker leidet, dass die Arbeitslosigkeit noch größer wird,
dass ein ganzer Wirtschaftszweig kaputtgeht.
Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen.
Erstes Beispiel: Vorsteuerpauschale. Die Möglichkeit
der Umsatzsteuerpauschalierung für Landwirte und Gar-
tenbaubetriebe ist keine deutsche Besonderheit, sondern
wird in 13 von 15 EU-Ländern praktiziert. Sie wird in
Deutschland von etwa 90 Prozent der Landwirte und Gar-
tenbaubetriebe in Anspruch genommen. Diese Pauschalie-
rung ist keine Subvention, bringt den Landwirten und den
Gartenbaubetrieben aber eine erhebliche Vereinfachung,
eine erhebliche Einsparung von bürokratischem Aufwand.
Was Sie jetzt vorhaben, ist schon ein Meisterstück an
Täuschung. Zuerst – noch vor wenigen Wochen – haben
Sie gesagt: Diese Umsatzsteuerpauschalierung wird ganz
abgeschafft. Jetzt, nach den Protesten, sagen Sie: Wir
schaffen sie nicht ab, senken die Pauschale aber von 9 auf
7 Prozent. Das ist letztlich willkürlich.
Gleichzeitig erhöhen Sie aber die Mehrwertsteuer auf
landwirtschaftliche Vorprodukte. Mit diesen beiden Maß-
nahmen können Sie die Pauschalierung vergessen. Sie
wird nicht mehr angenommen, weil sie zu finanziellen
Nachteilen führt, was überhaupt nicht gerechtfertigt ist.
Ein solches Meisterstück an Täuschung hätte ich mir nicht
vorstellen können.
Die Auswirkungen sind ein enormer zusätzlicher Auf-
wand und zusätzliche Kosten für die Betriebe und für die
Finanzämter und – das kommt hinzu – wieder einmal eine
einseitige deutsche Benachteiligung.
Zweites Beispiel: die Erhöhung derMehrwertsteuer
auf landwirtschaftliche Vorprodukte von 7 auf 16 Pro-
zent. Das ist nichts anderes als eine eindeutige Steuerer-
höhung.
– Keine Anpassung, eine Erhöhung ist das. – Sie treffen
damit die Verbraucher, die Direktvermarkter – übrigens
auch die Ökolandwirte – und die Gärtner.
Mir hat dieser Tage ein Gartenbauunternehmer aus mei-
nem Wahlkreis geschrieben, dass er allein wegen dieser
beiden Maßnahmen – der Mehrwertsteuererhöhung und
der Änderung bei der Vorsteuerpauschale – voraussichtlich
fünf von seinen 22 Mitarbeitern entlassen müsse. Meine
Damen und Herren, das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Sie stopfen nur kurzfristig die selbstgemachten Haus-
haltslöcher und gefährden Arbeitsplätze und ganze Exis-
tenzen. Der Bundeskanzler selber hat gesagt, Steuererhö-
hungen seien in dieser Zeit falsch. Trotzdem macht er sie.
Bei der schwierigen Situation der Landwirte und
auch – das verkenne ich nicht – des Haushaltes muss man
eben sinnvoll mit dem Geld umgehen.
Da ist es schon verwunderlich, dass die Regierung bei
knappen Kassen über 100 Millionen Euro für Werbekam-
pagnen im Bereich der Ökolandwirtschaft ausgibt und
gleichzeitig die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe
Gerda Hasselfeldt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Gerda Hasselfeldt
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten-
schutzes“ um über 100 Millionen Euro kürzt.
Bei den Investitionen wird also gekürzt und in einem an-
deren Bereich, der gar nicht zu den Aufgaben der Bun-
desregierung gehört, nämlich der Werbung für Ökopro-
dukte, wird aufgestockt. Ich habe nichts gegen
Ökoprodukte, im Gegenteil. Aber es ist doch nicht Auf-
gabe der Bundesregierung und der Politik, einseitige
Werbemaßnahmen zu veranstalten.
Gelegentlich wird von einem Widerspruch zwischen
Verbraucherschutz und Landwirtschaft gesprochen. Das
Gegenteil ist der Fall. Die Landwirte und die Verbraucher
haben ein Interesse an gesunden und sicheren Lebensmit-
teln. Alle, nicht nur die Ökobetriebe, haben ein Interesse
an Ressourcenschonung und nachhaltigem Wirtschaften.
Alle haben ein Interesse am Umweltschutz. Das alles ist
aber nur unter einen Hut zu bringen und zu erreichen,
wenn die heimische Landwirtschaft auch tatsächlich
wettbewerbsfähig ist.
Ansonsten haben wir zwar strenge Bestimmungen
beim Pflanzen- und Tierschutz und in den anderen Berei-
chen, aber es wird keine Landwirte mehr geben, die nach
diesen Bestimmungen arbeiten. Die Produkte werden
dann aus den Ländern importiert, in denen anderen Be-
stimmungen und andere Produktionsbedingungen herr-
schen. Das ist weder wirtschaftspolitisch noch verbrau-
cherpolitisch sinnvoll, im Gegenteil: Es schadet den
Verbrauchern genauso wie den Landwirten.
Deshalb kann die Devise nur lauten: keine weiteren na-
tionalen Sonderlasten, wie Sie sie in den vergangenen
Jahren immer wieder auferlegt haben und auch jetzt wie-
der auferlegen, keine nationalen Alleingänge, sondern
EU-weit vergleichbare Rahmenbedingungen für alle.
Ich weiß, dass das nicht einfach ist, aber daran muss
gearbeitet werden. Es wäre besser, Ihre Kraft, Nerven und
Zeit in die Erreichung EU-weit harmonisierter Produk-
tionsbedingungen zu stecken, als ständig nationale Al-
leingänge zu machen. Nur dann werden Sie den Interes-
sen der Verbraucher genauso gerecht wie den Interessen
der Landwirte. Ich hoffe sehr, Frau Künast, dass Sie diese
Verantwortung endlich einmal ernst nehmen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Matthias Weisheit,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen!
Ich hatte mich eigentlich darauf eingestellt, dass wir heute
über den Haushalt diskutieren.
Deshalb war ich schon ein wenig über den Beitrag meiner
Vorrednerin verwundert. Ich habe die heutige Debatte den
ganzen Tag über verfolgt, dabei wurde offensichtlich,
dass die Opposition nicht über den Haushalt diskutieren,
sondern ein Lamento anstimmen will. Das ist das Ziel der
Debatte. Eigentlich ist das schade. Ich will mich auf den
Haushalt beschränken.
Frau Kollegin Hasselfeldt, man kann nach unten har-
monisieren. Das ist die Forderung Ihrer Partei und der
FDP. Seit ich denken kann, geht es bei Ihnen um europä-
ische Harmonisierung auf dem niedrigsten Niveau, das
es irgendwo in Europa gibt.
– Doch, genau das machen Sie ständig.
Man kann natürlich versuchen, sich an die Spitze der
Bewegung zu setzen.
Diese Politik betreiben wir.
– Aber ja.
Wir haben uns dafür entschieden, uns an die Spitze der
Bewegung zu setzen. Der Haushaltsentwurf ist ein deutli-
ches Kennzeichnen für Verlässlichkeit und Kontinuität
der Politik der letzten vier Jahre. Außerdem leistet er ei-
nen Beitrag zur Stabilisierung der Staatsfinanzen.
Den größten Brocken nimmt wie in allen Jahren mit
72 Prozent des Gesamtetats die Agrarsozialpolitik ein.
Das heißt, Bäuerinnen und Bauern und vor allen Dingen
die zahllosen Altenteiler können sich auf diese Regierung
verlassen, denn sie steht für Stabilität und Kontinuität. Al-
lerdings muss eines klar sein: Für zusätzliche Ausgaben,
etwa im Bereich der Unfallversicherung, ist kein finanzi-
eller Spielraum vorhanden.
Die innovativen Neuerungen der letzten Jahre werden
konsequent im neuen Haushalt fortgeführt. Die Bundes-
programme „Tiergerechte Haltungsverfahren“, „Regio-
nen aktiv – Land gestaltet Zukunft“ und „Ökologischer
Landbau“ werden auch im Haushaltsjahr 2003 fortge-
setzt.
Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von
der Opposition, werden die Programme, die Sie immer
lauthals bekämpfen, in den von Ihnen regierten Bundes-
ländern durchaus in Anspruch genommen und mitgestal-
tet. Hier gibt es schon eine gewisse Doppelzüngigkeit.
Wir gestalten die Zukunft der Tierhaltung und des ländli-
chen Raums trotz knapper Mittel. Sie wollen immer nur
das Rad zurückdrehen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 851
Bei dem neuen Titel „Bilaterale Zusammenarbeit mit
der FAO“, der in dem vorliegenden Haushaltsplan, be-
scheiden dotiert, das erste Mal auftaucht, geht es vor allem
um den Aufbau von Strukturen der Ernährungssiche-
rung in Afghanistan. Hieran wird beispielhaft deutlich,
in welche Richtung Welternährungspolitik in den nächs-
ten Jahrzehnten zu laufen hat, nämlich in die Richtung,
dass geschundene, arme Länder nicht mehr dauerhaft auf
Hilfslieferungen oder auf Importe aus den Industrienatio-
nen angewiesen sind, sondern in die Lage versetzt wer-
den, ihre Ernährungsgrundlage selbst zu sichern. Das ist
ganz wichtig. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser
Titel in Zukunft wachsen wird.
Eine erfreuliche Steigerung der Haushaltsmittel haben
wir im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe zu ver-
zeichnen. Auch hier betreibt die rot-grüne Koalition eine
verlässliche und in die Zukunft orientierte Politik für un-
sere Landwirtschaft, und zwar ebenso wie mit dem beim
Bundesumweltminister angesiedelten Programm „Erneu-
erbare Energien, Bereich Biomasse“ mit 60 Millionen
Euro.
Der Ansatz für die Gemeinschaftsaufgabe entspricht
mit knapp 0,75 Milliarden Euro dem, was ausgegeben
werden kann, Frau Hasselfeldt. Man könnte sich locker
vorstellen – auch ich wünschte mir das –, dass hier
100 Millionen Euro, 200 Millionen Euro oder 300 Millio-
nen Euro draufgesattelt werden. Nur ist die Frage, was das
bringt, wenn man am Ende des Jahres feststellt, dass die
Mittel gar nicht abgerufen worden sind. Wenn das so ist,
dann braucht man nicht draufzusatteln. Sie sprechen hier
also von Wolkenkuckucksheimen. Dann mache ich doch
lieber einen sauberen Haushalt und setze den Titel gleich
etwas niedriger an.
In dem Ansatz sind auch die Kofinanzierungsmittel des
Bundes für die Modulation enthalten.
Auf die Steuergesetzgebung wollte ich eigentlich am
Schluss meiner Ausführungen eingehen, aber ich kann es
auch jetzt tun.
– Selbstverständlich. Auch der Parlamentarische Staatsse-
kretär aus dem Finanzministerium ist anwesend. – Der be-
treffende Gesetzentwurf ist heute eingebracht worden. Er
wird, wie jeder andere Gesetzentwurf auch, im Parlament
beraten. Wir werden uns sehr ausführlich, intensiv und ge-
nau mit § 24 a, mit den vorgesehenen Maßnahmen zur
Pauschalierung der Umsatzsteuer, die ja zunächst einmal
erhalten werden soll, mit den daraus resultierenden Aus-
wirkungen sowie mit den einzelnen Maßnahmen zur
Mehrwertsteuererhöhung beschäftigen und die vorgese-
henen Regelungen gegebenenfalls auch ändern.
– Dann muss ich Sie einmal fragen, wozu wir als Parlament
eigentlich da sind, was das für ein Parlamentsverständnis
ist. Wenn ein von der Bundesregierung vorgelegter Gesetz-
entwurf bereits ein fertiges Gesetz ist, dann werden wir alle
hier nicht mehr gebraucht, dann können wir unsere Arbeit
beenden. Das ist doch der ganz normale Gang, dass
zunächst ein Gesetzentwurf im Parlament eingebracht
wird, dass dieser Entwurf dort beraten wird und dass das
Gesetz nicht so aus dem Parlament herausgeht – mein
früherer Fraktionskollege Struck hat das immer gesagt; das
ist das so genannte strucksche Gesetz –, wie es als Gesetz-
entwurf in das Parlament eingebracht worden ist.
– Das ist Ihr Demokratieverständnis. Das wäre dann so
ähnlich wie in der ehemaligen Volkskammer. Dort brachte
das Zentralkomitee etwas ein und die Volkskammer
nickte das ab.
Genau das findet hier nicht statt. Das haben wir schon öf-
ter einmal gehabt.
Noch ein Wort zur Modulation: Wir werden den Ge-
setzentwurf des Bundesrates zur Aufhebung der Modula-
tion ablehnen; denn die Geschäftsgrundlage für das ent-
sprechende Gesetz, das von Bundestag und Bundesrat
beschlossen wurde, hat sich in keiner Weise geändert. Ge-
schäftsgrundlage waren die Beschlüsse der Agenda 2000
mit der fakultativen Möglichkeit der Modulation. Auch
durch die Beschlüsse auf dem letzten Gipfel hat sich da-
ran nichts geändert. Deshalb werden wir den Gesetzent-
wurf, dies aufzuheben, ablehnen.
Vor allen Dingen aber wäre es wirklich jammerschade,
wenn die vielen guten Ideen, die von den Ländern – auch
von den Ländern, in denen Sie regieren – entwickelt wor-
den sind, nicht umgesetzt werden könnten. Man hat sich
ja längst mit dem Bund geeinigt, was man mit dem Geld
macht: Erweiterung der Fruchtfolge, Maßnahmen des
biologischen und biotechnischen Pflanzenschutzes – da-
bei hinken wir immer noch mordsmäßig weit nach, aber
das ist ein innovativer und in die Zukunft gerichteter Be-
reich –, umwelt- und tiergerechte Haltungsverfahren.
Viele sind davon begeistert, weil sie genau wissen, dass
sie mit dem chemischen Pflanzenschutzmittel allein auf
Dauer nicht mehr weiterkommen. Sie alle können wir
doch nicht in die Sackgasse hineinlaufen lassen.
Nehmen wir das berühmte Beispiel Plantomycin. Je-
der Obstbauer weiß: Wenn das Zeug zehn Jahre lang an-
wendet worden sind, ist der Schädling dagegen resistent.
Bis dahin muss man etwas anderes entwickelt haben, ganz
gleich, ob auf biologischer oder auf chemischer Basis,
wobei wahrscheinlich allen die biologische Methode lie-
ber wäre, auch denen, die mit der konventionellen Inten-
sivbewirtschaftung arbeiten.
Unsere Maßnahmen zielen in die richtige Richtung.
Bei Ihnen aber besteht ein grundsätzlicher Unterschied
zwischen dem, was Sie im Bundestag aufführen, dem,
was Ihre Länder ab und zu im Bundesrat berichten, dem,
was Sie in gemeinsamen Gesprächen sagen, und dem, wie
Sie Ihre praktische Politik gestalten.
Dieser Haushalt ist in die Zukunft gerichtet und inno-
vativ. Wir wollen nicht immer bloß das weitermachen,
was man schon immer gemacht hat. Das Rad lässt sich
nicht zurückzudrehen.
Herzlichen Dank.
Nun hat Kollege Hans-Michael Goldmann, FDP-Frak-
tion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sie waren also auf der „Euro-Tier“, Frau
Künast; das ist löblich. Aber Sie müssen wirklich etwas
falsch verstanden haben. Anscheinend haben Sie dort je-
manden angetroffen, der noch richtig investiert. Dann
sind Sie nach Hause gefahren und auf den Gedanken ge-
kommen: Das müsste doch zu verhindern sein; wir müs-
sen eigentlich nur Gesetze machen, die noch die letzten
Investitionen im grünen Bereich zunichte machen. – Dar-
aufhin haben Sie dieses Bündel an Grausamkeiten über
dem grünen Bereich ausgeschüttet. Nun kommen Frau
Höfken und Frau Scheel, Herr Weisheit und Herr
Ostendorff und sagen: Das alles nehmen wir im Rahmen
der parlamentarischen Diskussion zurück.
– Natürlich haben Sie das eben gesagt.
– Jetzt habe ich also nicht nur Frau Künast falsch ver-
standen, jetzt habe ich auch noch Sie falsch verstanden.
Bleibt es jetzt bei den Gesetzen, die Sie jetzt in das Ver-
fahren gebracht haben? Es trifft also nicht zu, dass Frau
Höfken und Frau Scheel erklären, die Erhöhung der
Mehrwertsteuer von 7 auf 16 Prozent für Blumen und
Pflanzen solle noch einmal diskutiert und nach Möglich-
keit geändert werden. Es trifft also nicht zu, dass Herr
Ostendorff gesagt hat, gerade für die kleinen Familienbe-
triebe, die Ihnen am Herzen liegen, sei die Weiterführung
der §-13-a-Regelung existenzerhaltend.
Das müssen Sie dann aber Ihrer Ministerin vorher sa-
gen. Anscheinend hat sie im Kabinett einen Beschluss
mitgetragen, der existenzvernichtend für kleine und mitt-
lere Betriebe ist, gerade für die Familienbetriebe, die Ih-
nen sonst so am Herzen liegen.
Nein, geschätzte Frau Ministerin, ich habe Sie jetzt
zum zweiten oder dritten Mal so direkt in der parlamenta-
rischen Auseinandersetzung erlebt und ich muss sagen:
Ich bin entsetzt, enttäuscht, ich finde das, was Sie hier ab-
liefern, lausig.
Das wird den Herausforderungen, die in diesem Be-
reich mit der EU-Osterweiterung und den WTO-Verhand-
lungen auf uns zukommen – das ist von den Kolleginnen
und Kollegen der CDU/CSU angesprochen worden –,
nicht gerecht.
– Ich kann Sie schlecht verstehen, wenn Sie dazwi-
schenreden. Melden Sie sich, dann können wir uns gern
darüber auseinander setzen.
Zu diesen Bereichen, zur Wettbewerbsnotwendigkeit,
kam von Ihnen kein Wort. Dabei ist dies im Moment wirk-
lich das große Thema, das unsere Landwirte bewegt. Das
ist blamabel, das ist konzeptionslos, das ist ungekonnt und
das ist bedauerlich für diesen Bereich, der nach wie vor
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 853
eine der tragenden Säulen unserer Volkswirtschaft ist; al-
lemal im ländlichen Raum.
Ich will noch etwas zu dieser Öko-Geschichte sagen:
Keiner, der hier sitzt, hat etwas gegen ökologische Land-
wirtschaft, gegen ökologische Bewirtschaftung. Ich habe
es gestern Abend im ICE sogar noch genossen. Das ist
hundertprozentig richtig.
Aber es ist schlicht und ergreifend falsch, wie Sie Öko-
logie gegen Ökonomie und gegen soziale Kompetenz
ausspielen. Sie müssen Ökologie mit Ökonomie und
sozialer Kompetenz verbinden. Genau das machen
Sie nicht. Ganz nebenbei: Die Liegematten, die Sie in
Hannover gesehen haben, gibt es schon seit geraumer Zeit
bei gerade den Betrieben, die Ökonomie, Ökologie, tier-
gerechte Haltung, Marktorientierung und Wettbewerbs-
orientierung miteinander im Einklang haben.
– Wissen Sie, liebe Kollegin, ich bin schon vor 30 Jahren
durch Tierbestände gelaufen, in denen es diese Matten
gab. Bei uns im Ostfriesischen und Emsländischen gibt es
keinen ernst zu nehmenden Züchter, keinen ernst zu neh-
menden marktorientierten Landwirt, der hinsichtlich der
Haltungsbedingungen für seine Tiere diesem Gedanken
nicht Rechnung tragen will.
Ich würde Ihnen hier empfehlen: Kommen Sie einfach
einmal vorbei! Es würde mir Spaß machen, Ihnen wettbe-
werbsorientierte und tierartgerechte Haltung zu zeigen.
Sie scheinen hier Nachholbedarf zu haben.
Diese Matten sind keine Erfindung der „Euro-
Tier“ 2002 in Hannover. Es gibt sie seit geraumer Zeit und
sie werden weiterentwickelt – dies ist auch gut so. Gott sei
Dank entwickelt sich dieser gesamte Bereich auch unter
rot-grüner Gegenpolitik weiter.
–Wissen Sie, Herr Weisheit, hier sind Sie anscheinend ein
wenig ahnungslos. Sie erzählen hier, Sie wollten sich mit
dem Haushalt beschäftigen. Sie sehen doch, dass die Mit-
tel für die Verbesserung der Agrarstruktur, wozu ich
durchaus auch die ökologische Angebotsorientierung
zähle, im Haushalt deutlich gestrichen werden.
Sicher haben auch Sie heute die Pressemittelung vom
Deutschen Bauernverband bekommen, wonach die Kür-
zung an dieser Stelle – mit den Auswirkungen auf die Mit-
tel für die Gemeinschaftsaufgabe, die andere bereitstellen
müssen – einen schweren Schaden gerade für die Land-
wirte bedeutet, die sich marktorientiert verhalten, die sich
verbraucherorientiert verhalten. Deswegen ist die Ein-
buße an dieser Stelle besonders bitter und besonders zu
beklagen.
– Herr Weisheit, es mag sein, dass Sie diesen Bereich an-
ders sehen – wir können uns gern einmal darüber unter-
halten –, aber Agrarstrukturmittel sind eine ganz wich-
tige Weichenstellung für die Herausforderungen, vor
denen deutsche Landwirte stehen. Dies wissen Sie hof-
fentlich genauso gut wie ich.
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt nennen: Ich
habe heute Morgen auch Herrn Eichel zugehört. Wir soll-
ten uns darauf einigen, dass wir uns wieder schlicht und
ergreifend an die Spielregeln halten. Frau Höfken, wenn
Sie der Meinung sind, dass es schlechte Gesetze sind, die
auf den Weg gebracht worden sind – ich glaube Ihnen
das –, dann stellen Sie hier und heute einen Antrag, um
diese zu ändern, oder machen Sie es demnächst im Aus-
schuss. Ich bin sehr gespannt darauf, was Sie machen.
Herr Weisheit, wenn Sie der Meinung sind, dass es bei
dem reduzierten Mehrwertsteuersatz für Blumen und
Pflanzen bleiben soll, weil Blumen verkaufen etwas an-
deres ist, als Pampers in Lagerung zu halten – diesen Ver-
gleich hat Herr Eichel heute Morgen bemüht –, dann han-
deln Sie und stellen Sie Anträge!
Wenn Sie, Frau Höfken und Frau Scheel, mit den Posi-
tionen der Sozialdemokraten nicht einverstanden sind,
dann tun Sie dies nicht in Form irgendwelcher Pressemit-
teilungen kund, sondern handeln Sie! Machen Sie deut-
lich, dass Sie in dieser Regierung endlich einmal Verant-
wortung übernehmen wollen.
Laden Sie diese Verantwortung nicht bei der Opposition
ab,
die ihrer Aufgabe gerecht wird. Sie können ganz sicher
sein: Wir werden im Sinne Ihrer politischen Vorstellun-
gen, die Sie an vielen Stellen deutlich gemacht haben, An-
träge stellen und Sie in dieser Frage auf den Prüfstand
stellen.
Ich erteile der Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-
Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war ja
eben ganz schön laut. – Ich werde nicht zur Landwirt-
schaft, sondern zum Verbraucherschutz sprechen, einem
Thema, das uns auch unter den Nägeln brennt.
Die jüngsten Lebensmittelskandale sprechen eine
deutliche Sprache. Wir werden auch zukünftig gezwun-
gen sein, Steuergelder einzusetzen, um uns vor skrupel-
losen Geschäftemachern zu schützen, die nicht davor
zurückschrecken, für ihren eigenen Profit die Gesundheit
und das Wohl ihrer Mitmenschen aufs Spiel zu setzen –
Hans-Michael Goldmann
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Gabriele Hiller-Ohm
Geschäftemachern, die keine Bedenken haben, Babynah-
rung mit Schadstoffen zu verpanschen und ihre Mitmen-
schen als billige Entsorgungsstationen für gesundheitsge-
fährdende Stoffe zu benutzen, wie es zum Beispiel im
Sommer dieses Jahres bei der Aufdeckung des MPA-Hor-
monskandals ans Licht gekommen ist, Geschäftema-
chern, denen es gleichgültig ist, dass durch ihr Tun ein
Berufsstand, nämlich die Landwirtschaft, in Verruf ge-
bracht wird und nicht selten ganze Existenzen vernichtet
werden, wie wir es beim BSE-Skandal erfahren haben.
Wir leben in einer auf Gewinnmaximierung ausgerich-
teten Marktordnung,
die aus sich heraus nicht über die erforderlichen Schutz-
mechanismen für die Bürgerinnen und Bürger verfügt.
Deshalb muss der Staat diese wichtige Aufgabe überneh-
men.
Wir setzen uns seit vielen Jahren für den Schutz und die
Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger ein.
Es ist deshalb nur zu begrüßen, dass es uns vor zwei Jah-
ren gelungen ist, gegen den hartnäckigen Widerstand der
konservativen Kräfte in unserem Land den Verbraucher-
schutz nach vorn zu bringen und mit dem Koalitionspart-
ner ein schlagkräftiges Ministerium durchzusetzen, in
dem die drei Themenfelder „Verbraucherschutz“, „Ernäh-
rung“ und „Landwirtschaft“ endlich sinnvoll zusammen-
gebunden sind.
Die Mittel für den Verbraucherschutz wurden unter
der rot-grünen Regierung kontinuierlich aufgestockt, in
diesem Jahr im Vergleich zu 2001 um 55 Prozent.
In 2003 sollen noch einmal 18 Prozent mehr Mittel be-
reitgestellt werden. Gerade angesichts der Finanznot zeigt
das, wie wichtig uns dieser Bereich ist.
Betrachten wir den Einzelplan 10 des Haushalts 2003,
so erkennen wir, dass er von der Fortsetzung der Neuaus-
richtung der Verbraucher-, Ernährungs- und Agrarpolitik
geprägt ist. Wir haben durchgesetzt, dass die Bereiche der
Verbraucheraufklärung und des Verbraucherschutzes wei-
ter gestärkt werden. Insgesamt werden für diesen Poli-
tikschwerpunkt im kommenden Jahr rund 80 Millionen
Euro zur Verfügung stehen. Zum Beispiel werden erstens
die Projektmittel für Maßnahmen der Verbraucherauf-
klärung und -information um rund 5 Millionen Euro auf
21,8 Millionen Euro angehoben. Zweitens. Das bewährte
Institut der Stiftung Warentest wird künftig noch stärker
gefördert werden als bisher, nämlich mit zusätzlich
600 000 Euro. Drittens. Die institutionelle Förderung des
Bundesverbands der Verbraucherzentralen und Verbrau-
cherverbände bleibt mit 8,8 Millionen Euro auf gleich ho-
hem Niveau.
Dadurch wird sichergestellt, dass die Menschen weiterhin
kompetente Ansprechpartner in ihrer Region haben.
Als Antwort auf die zahlreichen Lebensmittelskandale
mit BSE an der Spitze hat die rot-grüne Bundesregierung
Anfang dieses Jahres den gesundheitlichen Verbraucher-
schutz mit dem Bundesamt für Risikobewertung und dem
Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicher-
heit neu organisiert. Darüber hinaus plant die rot-grüne
Bundesregierung die Einrichtung eines Bundesforschungs-
instituts für Produktsicherheit. Auch hierfür sind bereits
1,2 Millionen Euro im Haushaltsentwurf vorgesehen.
Wir alle müssen essen und trinken, um uns am Leben
zu erhalten. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten wollen aber nicht, dass sich nur die, die zu den
Besserverdienenden in unserem Land zählen, gesunde
Lebensmittel und damit den Schutz vor Gesundheits-
gefährdungen leisten können.
Wir setzen uns vor allem für die Menschen ein, die nicht
die Möglichkeit haben, sich Sicherheit und Gesundheit zu
erkaufen.
Wir wollen, dass sich alle Menschen darauf verlassen
können, dass die Lebensmittel, die sie im Handel bezie-
hen, genießbar und unbedenklich sind.
Ich möchte ein weiteres Thema ansprechen, das mir sehr
wichtig ist, nämlich den Bereich der Finanzdienstleistun-
gen, der gerade in der Auseinandersetzung um die private
Altersvorsorge verstärkt ins Interesse der Öffentlichkeit
gerückt ist. Auch hier müssen Aufklärung und Schutzme-
chanismen installiert werden. Wir brauchen aussagekräftige
Informationen und verlässliche Beratung. Der Ansehens-
verlust der Aktienmärkte, das schwindende Vertrauen, der
noch schleppende Anlauf bei den Abschlüssen der Riester-
Rente, all das gibt uns einen Hinweis darauf, was zu tun ist,
nämlich: mit Sicherheitsfonds Insolvenzrisiken abfangen,
die verbraucherfreundliche Gestaltung des Versiche-
rungsvertragsrechts voranbringen sowie den Schutz vor
0190er-Terror durch weitere Novellierungen des Tele-
kommunikationsrechtes sicherstellen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 855
Meine Damen und Herren, auch in der gegenwärtig
schwierigen finanziellen Lage von Bund, Ländern und
Kommunen ist es ein gutes und vor allem ein richtiges
Zeichen, dass am Verbraucherschutz nicht gespart wird.
Wir begreifen Verbraucherinnen und Verbraucher nicht,
wie andere in unserer Gesellschaft, als leichte Beute für
Geschäftemacher, sondern als eigenständige, handlungs-
kompetente Akteure im Wirtschaftsprozess. Hierfür brau-
chen wir eine starke Verbraucherpolitik. Und die gibt es
nur mit Rot-Grün.
Vielen Dank.
Liebe Kollegin Hiller-Ohm, ich möchte auch Ihnen zu
Ihrer ersten Rede herzlich gratulieren.
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Ursula Heinen,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Meine Vorrednerin hat gerade richtig gesagt: Wir brau-
chen eine starke und aktive Verbraucherpolitik.
– Die haben wir gerade nicht. – Denn es gilt, Gefahren zu
erkennen, Vermeidungsstrategien zu entwickeln sowie
Verbraucher aufzuklären und zu unterstützen. Das alles
müsste die Regierung in Zusammenarbeit mit den Her-
stellern und Produzenten und im Verbund mit den Bun-
desländern und den europäischen Partnern leisten.
Ich will ein Beispiel anführen, bei dem man schon im
Kleinen sieht, was in dieser Regierung alles schief läuft,
nämlich das Beispiel Acrylamid; es ist schon mehrfach
genannt worden. Es ist vollkommen klar – jeder in diesem
Haus stimmt Ihnen, Frau Ministerin Künast, in diesem
Punkt zu –, dass Panikmache und überstürztes Handeln
völlig fehl am Platze sind. Wir kritisieren aber, dass sehr
viel Zeit verstrichen ist, bis wir informiert worden sind.
Wenn mein Kollege Peter Harry Carstensen das Thema im
Ausschuss nicht mehrfach auf die Tagesordnung gesetzt
hätte
– das war doch so; ich kann mich noch erinnern, was es
für ein Gezucke bei der Konstituierung gab, als es um un-
seren Antrag und den Antrag der FDPging, das Thema auf
die Tagesordnung zu nehmen –, wenn wir das Thema
nicht zum Gegenstand einer Regierungsbefragung ge-
macht hätten, so wären wir, das Parlament, von Ihnen
noch immer nicht informiert worden und die Verbraucher
wohl nur relativ oberflächlich via „Bild“-Zeitung.
Selbst Ihre eigenen Anhänger sind relativ zurückhal-
tend, was die Behandlung des Themas Acrylamid durch
Sie angeht. Beispielsweise sagt Thilo Bode, der Chef
von Foodwatch – er steht nicht uns sehr nahe, sondern
eher Ihnen –, die Minimierungsstrategie Ihres Hauses sei
„halbherzig“. Das ist, wie ich finde, eine gute Formulie-
rung.
Eben haben Sie behauptet, die Zusammenarbeit mit den
Kollegen in den Bundesländern sei so gut. Ihre Minis-
terkollegin Bärbel Höhn aus Nordrhein-Westfalen, die
gleichzeitig auch Ihre Parteikollegin ist, verbreitet im Inter-
net wahllos zusammengestellte Listen über vermeintlich
hochbelastete Lebensmittel, nennt Hersteller und Produkte,
informiert aber in keiner Weise darüber, welche Folgen
diese Werte haben bzw. in welchem Gesamtzusammenhang
sie stehen. So weit, so gut – oder auch nicht!
Im totalen Gegensatz dazu stehen Aussagen des Staats-
sekretärs in Ihrem Ministerium, Matthias Berninger, in
der Regierungsbefragung vom 13. November. Er sagte
damals, er wolle überhaupt keine Namen von Herstellern
nennen. Ich zitiere:
Ich würde mich hier wirklich um Kopf und Kragen
reden, wenn ich die Namen bestimmter Hersteller
nennen würde.
Er liefert uns auch den Grund – wir stimmen dem, was er
gesagt hat, durchaus zu –:
... dieses Unternehmen könnte sich dann auf das Bir-
kel-Urteil sowie auf andere Urteile berufen und die
Bundesregierung wegen geschäftsschädigenden Ver-
haltens ... verklagen.
Ich frage Sie jetzt, Frau Künast: Was ist denn nun der rich-
tige Weg?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Berninger?
Aber gerne.
Frau Kollegin, es freut mich, dass auch ich Ihnen ein-
mal eine Frage stellen darf.
Wie stehen Sie zu der Situation, dass es hier eine un-
terschiedliche Rechtslage gibt? Im Bund gibt es keine
Rechtsgrundlage dafür, die Öffentlichkeit über derartige
Dinge zu informieren, weil das Verbraucherinformations-
gesetz von Ihnen blockiert wurde, während Nordrhein-
Westfalen über ein Informationsfreiheitsgesetz verfügt,
wonach auf Anfrage – diese Anfrage muss es wohl gege-
ben haben – die Öffentlichkeit über solche Untersu-
chungsergebnisse informiert werden kann. Sind Sie nicht
mit mir einer Meinung, dass es sinnvoll wäre, eine bun-
deseinheitliche Rechtsgrundlage in Gestalt eines Verbrau-
cherinformationsgesetzes zu schaffen?
Gabriele Hiller-Ohm
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Wir sind mit Ihnen einer Meinung, dass die EU-Basis-
verordnung zu diesem Thema endlich umgesetzt werden
muss. Das war nämlich im Vermittlungsausschuss unser
Vorschlag zu diesem Thema. Dann hätten wir das Pro-
blem heute überhaupt nicht. Darüber hinaus kann das
nicht auf einzelne Anfragen zurückgehen; denn wenn Sie
sich die Listen im Internet einmal genau anschauen wür-
den, dann würden Sie erkennen, dass man sich offenbar
Hersteller und Produkte exakt herausgesucht hat. Das leh-
nen wir ab, weil wir das nicht in Ordnung finden. Sie sel-
ber haben hier im Deutschen Bundestag gesagt, dass Sie
es ebenfalls nicht tun wollen.
Aber sind wir uns darin einig – das hat die Diskussion
über Acrylamid gezeigt –, dass die Aufklärung der Ver-
braucher verstärkt werden muss. Deshalb ist es gut und
richtig, dass das Ministerium dafür im Haushalt jetzt
8 Millionen Euro mehr vorsieht. Aber das Geld sollte
tatsächlich in Kampagnen investiert werden, die den Ver-
braucher aufklären. Das Geld wäre in solchen Kampa-
gnen sicherlich sinnvoller angelegt als beispielsweise in
Ihrer Öffentlichkeitsarbeit, die Sie in diesem Sommer zur
Legehennenverordnung gemacht haben. Sie haben – das
muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen –
diesen Sommer für ein einziges Plakat am Checkpoint
Charlie 26 000 Euro ausgegeben.
Zu sehen war auf diesem Plakat – das war auch Gegen-
stand einer Kleinen Anfrage – ein Hühnerei, über dem
ganz pathetisch „Freiheit“ stand.
Nicht nur dass es sich hierbei um eine besonders krasse
Form von Geldverschwendung handelt, nein, ich finde es
auch eine echte Geschmacklosigkeit, gerade an diesem
Ort, am Checkpoint Charlie, ein solches Plakat auf-
zuhängen. Dafür sollten Sie sich hier rechtfertigen.
Es ist tatsächlich nicht nachvollziehbar, für welche
Projekte die Regierung Geld zur Verfügung stellt. Kam-
pagnen zu Legehennenverordnung und Biosiegel waren
Ihrem Hause 8,5 Millionen Euro wert. Andere, für die
Verbraucher dagegen wirklich wichtige Einrichtungen,
sind chronisch unterfinanziert. Ich nenne beispielsweise
die Stiftung Warentest. Sie soll im Jahr 2003 6,5 Milli-
onen Euro bekommen. Noch einmal der Vergleich: Kam-
pagne für Legehennenverordnung und Biosiegel 8,5 Mil-
lionen Euro, also 2 Millionen Euro mehr. Die Stiftung
Warentest dagegen würde gerne richtig unabhängig wer-
den und braucht dafür ein Stiftungskapital von 50 Mil-
lionen Euro.
Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen. Es ist nun
an der Zeit, dass Sie das tatsächlich umsetzen.
Die Kollegin Hiller-Ohm hat von den Verbraucherzen-
tralen gesprochen. Sie sind gut und wichtig und machen
eine gute Arbeit. Das stimmt. Der Bundesverband Ver-
braucherzentralen und Verbraucherverbände bemüht sich
seit Jahren um vernünftige Formen der Finanzierung, bei-
spielsweise über Werbeabgaben von Unternehmen, mit
dem Ziel, alles in ein Stiftungskapital zu überführen, da-
mit die Verbraucherberatung in möglichst allen Regionen
sichergestellt werden kann.
Ansonsten droht nämlich die Schließung von bestimmten
Verbraucherzentralen wie derzeit in Mecklenburg-Vor-
pommern oder – wenn ich richtig informiert bin – in
Braunschweig. Von einer starken regionalen Verbreitung
der Verbraucherzentralen kann leider keine Rede mehr
sein.
Ich möchte Sie noch einmal bitten, zu überlegen, ob Sie
ihre Mittel für Kampagnen verwenden oder ob Sie sie
nicht lieber in die Verbraucheraufklärung investieren und
die Verbraucherzentralen ordentlich ausstatten.
Der Bundesverband Verbraucherzentralen und Verbrau-
cherverbände hat einen Zuschuss in Höhe von 9,2 Mil-
lionen Euro beantragt. Wir meinen, dass Sie ihm diesen
Zuschuss gewähren sollten. Ich schlage vor, die Mittel aus
dem Budget für Kampagnen herauszunehmen.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Bereich anspre-
chen: die Forschung. 1 Million Euro mehr als im Vorjahr
sind für die Forschung vorgesehen. Das ist auch gut so.
Was wir aber nicht nachvollziehen können, ist,
dass 750 000 Euro davon auf das Budget für Sachverstän-
dige entfallen. Dem Ministerium unterstehen zwar zehn
Bundesforschungsanstalten, die auch finanziert werden
müssen, aber Sie brauchen zusätzlich 750 000 Euro für
Sachverständige. Meinen Sie nicht, dass die Bundesfor-
schungsanstalten Ihnen auch „spezielle Fachfragen im
Zusammenhang mit gesetzgeberischen oder sonstigen
Maßnahmen“, wie Sie es im Einzelplan begründet haben,
Frau Künast, beantworten können? Warum zusätzlich
Sachverständige in einem solchen Umfang notwendig
sind, können wir nicht nachvollziehen.
Ein weiteres Thema ist die Reorganisation von
Behörden. In einer Zeit, in der alle Welt von einer größe-
ren Effizienz, einem schlanken Staat und ähnlichen Ziel-
setzungen spricht, ist es Ihnen getreu dem Motto „Mehr
ist weniger“ gelungen, eine Aufblähung des Apparates zu
erreichen. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Das
Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsi-
cherheit ist die zuständige nationale Behörde für die Zu-
lassung von Pflanzenschutzmitteln in Deutschland. Die
hierfür notwendige vorherige Bewertung ist Aufgabe der
Bewertungsbehörden Biologische Bundesanstalt für
Land- und Forstwirtschaft, Bundesinstitut für Risikobe-
wertung und Umweltbundesamt. Nun gibt es also drei
statt vorher zwei Bewertungsbehörden. Noch dazu hat die
Bewertung des Umweltbundesamtes Vorrang vor den Be-
wertungen der für den Gesundheitsschutz zuständigen
Behörden. Das alles müssen Sie uns erklären, vor allem
im Hinblick darauf, was das alles mit Verbraucherschutz
zu tun hat.
856
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 857
Liebe Frau Künast, Sie haben angekündigt, dass Sie ei-
nen Aktionsplan für den wirtschaftlichen Verbraucher-
schutz vorlegen wollen. Ich meine, es ist an der Zeit, dass
Sie das tatsächlich tun. Sie kündigen alles Mögliche an
und führen teure Kampagnen durch, aber um die wirkli-
chen Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher
kümmern Sie sich nicht.
Ich erteile der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe diese Debatte den ganzen Tag lang
verfolgt. Es ist außerordentlich auffällig, dass es vonsei-
ten der FDP und der CDU/CSU keinen einzigen Vor-
schlag zur Lösung unserer Probleme und zur Beantwor-
tung der Zukunftsfragen gibt. Es gibt mal Klamauk, mal
irgendwelche merkwürdigen Fragestellungen, aber kei-
nen einzigen konstruktiven Beitrag Ihrerseits.
Ich frage mich langsam, warum das so ist. Es ist wohl so,
dass unser Zirkusdirektor Koch vor der Wahl in Hessen
nicht deutlicher werden möchte.
Ich habe eine Anregung dazu: Vielleicht könnte der Auf-
trag des Untersuchungsausschusses um das Wahlver-
schweigen des Herrn Koch vor der Landtagswahl in Hes-
sen erweitert werden. Denn auf einmal ist von tiefen
Einschnitten in das Sozialsystem und Ähnlichem oder
von der schonungslosen Aufklärung hinsichtlich der Fi-
nanzmisere der CDU oder gar der FDP nichts mehr zu
hören.
– Jawohl: brutalst möglich. Tatsächlich besteht das
Hauptproblem neben der schlechten weltweiten Konjunk-
tur in dem Reformstau der früheren Kohl-Regierung und
der falsch, nämlich aus den Sozialkassen, finanzierten
deutschen Einheit. Deswegen ist – obwohl wir viel ge-
schafft haben – der Reformdruck so groß.
Die gleiche Politik des Aussitzens vonseiten der
CDU/CSU und der FDP findet sich auch in der Landwirt-
schafts- und Verbraucherpolitik. Auch hier müssen die
Bemühungen des Finanzministers unterstützt werden und
die Ziele der Haushaltskonsolidierung durch eine neue
Wirtschafts- und Arbeitsmarktstrategie sowie die Umset-
zung des Hartz-Konzepts auch im Agrarbereich Anwen-
dung finden. Das bedeutet Einsparungen bei den Ausga-
ben und Erhöhung der Einnahmen, aber auch Abbau von
verzichtbaren Steuersubventionen. Wie haben während
des Wahlkampfes doch Herr Brüderle und Herr Hörster
im Bundestag nach Subventionsabbau geschrien! Heute
sitzen sie wieder unter den Tischen, wenn es um den Ab-
bau von Subventionen und gleichzeitig um die zukünftige
Sicherung der Ausgaben für Familien, Kinderbetreuung,
Bildung, Forschung und – das hat die Kollegin gerade be-
tont – Verbraucherschutzaufgaben sowie um die Unter-
stützung einer nachhaltigen Landwirtschaft geht.
Jede Reform, angefangen beim ökologischen Landbau,
wird von Ihnen als ideologisch gegeißelt. Die klamm-
heimliche Freude, die der agrarpolitische Sprecher der
CDU/CSU-Fraktion, Herr Carstensen, beim Nitrofen-
Skandal geäußert hat, ist mir noch genauso gut in Erin-
nerung wie der Versuch, diesen Skandal den Biobauern
anzuhängen.
Dabei – damit komme ich auf den entscheidenden Punkt
zu sprechen – ergab doch eine gerade durchgeführte re-
präsentative Befragung der Wirtschaft, die Frau Künast in
Auftrag gegeben hatte, dass es nach Einführung des Bio-
siegels eine Umsatzerhöhung von 25 Prozent im ökologi-
schen Landbau gab. 77 Prozent der Befragten beurteilten
die Zukunft der Bioprodukte positiv. CDU/CSU und FDP
bekämpfen dieses Marktpotenzial geradezu. Das ist ideo-
logisch.
Wir halten an unserem Ziel fest, in zehn Jahren den An-
teil des ökologischen Landbaus auf 20 Prozent zu er-
höhen. Um das zu erreichen, ist die Absatzförderung not-
wendig. „Deutschland braucht seine Bauern.“
So ist ein ziemlich altbackenes Positionspapier der
CDU/CSU-Fraktion zur Agrarpolitik überschrieben. Aber
die Bauern brauchen die CDU/CSU nicht, die gemeinsam
mit der FDP sie 40 Jahre lang zum Dienstleister der Indus-
trieinteressen gemacht hat
und die nun scheinheilig die Übermacht der Ernährungs-
konzerne und den Preisdruck beklagt. Wir haben hier ver-
dammt noch einmal eine Aufgabe zu erledigen.
Geradezu fahrlässig ist aber das Aussitzen im Bereich
der EU-Agrarpolitik. Wenn es nach der CDU/CSU geht,
sollen erst nach 2006 wirkliche Reformen umgesetzt wer-
den. Sie jagt damit – das wissen Sie ganz genau – die Be-
triebe in einen Verteilungskampf hinein, den letztendlich
nur die stärkeren Unternehmen gewinnen können. Gleich-
zeitig droht mit der Umsetzung der heutigen Agrarpolitik,
die einigen viel, aber den kleinen Betrieben und den länd-
lichen Räumen viel zu wenig an Förderung zukommen
lässt, eine soziale Schieflage in den neuen Beitrittsstaa-
ten zu entstehen. Daher unterstützen wir mit Nachdruck
Ursula Heinen
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Ulrike Höfken
die sich in Vorbereitung befindende inhaltliche Reform
der EU-Agrarpolitik auf der Grundlage der Vorschläge
von EU-Kommissar Fischler. Damit machen wir unsere
Landwirtschaft auch WTO-kompatibel. Frau Hasselfeldt,
Sie sollten sich dieses Themas annehmen.
Unsere Entwürfe eines Haushaltsgesetzes 2003 und ei-
nes Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen und
Ausnahmeregelungen sehen eine moderate Beteiligung
der Landwirtschaft an der Haushaltskonsolidierung vor
und unterstützen gleichzeitig die Neuausrichtung der
Agrarpolitik. Selbstverständlich überprüfen wir in Ein-
zelpunkten die Vorschläge der Bundesregierung. Das ist
vollkommen normal. Herr Goldmann, man muss ja den
Eindruck gewinnen, dass Sie sich wünschen, dass wir ir-
gendwelche kleinen Kritikpunkte finden, damit Sie den
Finger in die Wunde legen können. Sie sollten uns
stattdessen unterstützen und uns dabei helfen, eine höhere
Zielgenauigkeit zu erreichen.
Erstens. Wir stärken den Verbraucherschutz sowohl
gesundheitlich als auch wirtschaftlich. Frau Ministerin
Künast hat inzwischen das Initiativrecht für diesen Be-
reich. Wir haben für einen wirklichen Paradigmenwech-
sel gesorgt. Verbraucherpolitik steht im Mittelpunkt der
Regierungspolitik. Dazu gehören die ordnungspolitischen
Maßnahmen wie das Produktsicherheitsgesetz. Vor allem
werden aber auch neue strukturelle Grundlagen durch die
Finanzierung der neuen Bundesbehörden, des Bundesam-
tes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit und
des Bundesamtes für Risikoforschung, geschaffen.
Zweitens. Transparenz und Information sind ein
wichtiger Bestandteil unserer Politik. Gerade die Diskus-
sion über Acrylamid hat gezeigt, dass ein Verbraucherin-
formationsgesetz notwendig ist. NRW ist hier – darauf
haben Sie, Frau Heinen, schon hingewiesen – mit leuch-
tendem Beispiel vorangegangen. Ich meine, ein kleines
Lob wäre schon fällig.
Wir wollen das, was NRW erreicht hat, auch auf Bundes-
ebene umsetzen. Sie werden dann Farbe bekennen müs-
sen. Wir haben – das ist ein wichtiger Punkt – den Ansatz
für eine unabhängige Verbraucherberatung um 8 Milli-
onen Euro erhöht. Im Gegensatz zu früher bedeutet das
auch eine Erhöhung der Mittel für die Stiftung Waren-
test. Die Unabhängigkeit dieser Stiftung ist ohnehin ge-
geben. Ob es sich dabei um eine Stiftung oder um eine an-
dere Rechtsform handelt, ist in diesem Zusammenhang
relativ uninteressant. Angesichts knapper Kassen muss
man eben Prioritäten setzen.
Aber – um auch das noch zu sagen – dass die Länder,
zum Beispiel das Land Sachsen, die Verbraucherschutz-
zentralen nicht angemessen unterstützen, bedauern wir in
hohem Maße. Nach der Verfassung ist das aber nun einmal
der Auftrag der Länder. Wir machen auf der Bundesebene
das, was wir können, und zwar sehr konsequent und gut.
Unsere große Zielsetzung und die Herausforderung, die
wir annehmen, ist, die umwelt- und tiergerechte Produk-
tion wettbewerbsfähig zu machen.
Deswegen führen wir die Gemeinschaftsaufgabe auf ho-
hem Niveau weiter. Dazu brauchen wir auch die Modu-
lationsgelder. Sie jammern, dass 100 Millionen Euro bei
der Gemeinschaftsaufgabe gestrichen wurden, aber wol-
len den Landwirten die Gelder aus der Modulation vor-
enthalten. Mit dieser Rosstäuschung und mit diesem
Schwachsinn sollte man wirklich Schluss machen.
Wir sichern die Sozialpolitik, unterstützen den Ökoland-
bau, setzen auf nachwachsende Rohstoffe und legen das
Bundesprogramm „Tiergerechte Haltung“ auf, um damit
Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen und der Industrie, den
Pullmanns, Ei für Ei ein Stück dieser Produktion abzuja-
gen, und zwar auch mit solchen Werbe- und Absatzförde-
rungsmethoden.
Ganz zum Schluss sage ich – –
Frau Kollegin, bitte.
Ganz zum Schluss empfehle ich Ihnen einen Vortrag,
den ich zu meiner Überraschung neulich auf einer Bau-
ernversammlung gehört habe. Der hieß: „Wenn Du Bauer
bleiben willst, lerne kämpfen“.
– Ich habe auch gedacht, was Sie gedacht haben. Aber die
Botschaft lautet: Aufhören zu jammern, selbstbewusst zur
eigenen Produktion stehen, nach vorne blicken und auch
einmal die Ministerin loben,
dann kann man junge Leute davon überzeugen, dass land-
wirtschaftliche Produkte etwas wert sind, wofür die Bau-
ern ihren Preis bekommen müssen.
Danke.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp.
858
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 859
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Frau Ministerin Künast, Sie haben eben davon gespro-
chen, dass Ihre Verbraucherpolitik wie ein Stein im Was-
ser ist, der jetzt Wellen schlägt. Ich sage Ihnen: Was wir
heute hier gehört haben, war ein totaler Schlag ins Was-
ser, eine herbe Enttäuschung. Angesichts der schwierigen
Haushaltslage frage ich Sie: Können Sie sich eigentlich
Verbraucherpolitik und Verbraucherschutz jenseits von
Bürokratieaufbau und weiteren Kosten vorstellen? Ich
nenne Ihnen einmal einige Beispiele von Verbraucher-
schutz, der kein Geld kostet. Was sagen Sie beispielsweise
zu mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Verbraucherfreund-
lichkeit beim Thema Ladenschluss? Das ist ein aktuelles
Thema.
Null, gar nichts kommt von Ihnen.
Wir brauchen Deregulierung und für die Händler die
Möglichkeit, ihre Öffnungszeiten so zu positionieren, wie
es ihrer Kundschaft gefällt. Sie sagen nichts zur nötigen
Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbe-
werb. Es gibt Rabattaktionen, ein wahres Rabattfeuer,
mit denen der Einzelhandel und der Handel insgesamt
verzweifelte Versuche unternimmt, Umsätze zu erreichen.
Sie, Frau Künast, und alle anderen Redner der Regie-
rungsfraktionen wissen ganz genau, dass sich damit
die Firmen auf äußerst dünnem Eis bewegen. Denn laut
UWG sind solche Rabattaktionen nicht erlaubt. Wer als
schlechtmeinender Mitbewerber Klagen anstrebt, der
kann verursachen, dass solche Firmen, die große Rabatte
anbieten, unter enormen Bußgeldern zu leiden haben. Das
heißt, Sie haben es bis heute nicht geschafft, dieses Thema
aufzugreifen. Meine Nachfrage bei der neuen Justizminis-
terin hat ergeben, dass es bis nach der Sommerpause keine
Gesetzesvorlage zu diesem Bereich geben werde. Die
Rechtssituation ist also kontra Verbraucher, denn Sie ver-
suchen, den Verbraucher um Rabatte zu bringen. Ich finde
das mehr als beschämend.
Beim Thema Acrylamid haben Sie gelobt, was Ihre
Kollegin in Nordrhein-Westfalen, Frau Höhn, unternom-
men hat. Bei dem, was man täglich hört, man muss schon
leiden, wenn man wie ich aus Nordrhein-Westfalen
kommt.
[SPD]: Möllemann!)
– Ich freue mich, dass Sie Anlaß zum Lachen haben; das
stärkt die Gesundheit.
Beim Thema Acrylamid ist die Frage, ob Ihnen eigent-
lich klar ist, was Frau Höhn in Nordrhein-Westfalen ge-
sagt hat. Sie hat kürzlich groß verkündet, jetzt starte eine
Kampagne, in Nordrhein-Westfalen werde in den Gast-
stätten und in den Restaurants das Frittierfett auf Rück-
stände von Acrylamid geprüft.
Wissen Sie eigentlich, dass wir nicht annähernd das
Personal haben, um Kontrollen in den Bereichen durch-
zuführen, in denen es eine Verbrauchergefährdung durch
gesundheitsschädigende Stoffe konkret nachweisbar gibt?
Was hier an vermeintlicher Sicherheit oder an verstärkten
Kontrollen suggeriert wird, kann nicht annähernd erfüllt
werden. Es handelt sich um Seifenblasen ohne Ende.
Wenn Sie, Frau Künast, und Ihre Kollegin in Nord-
rhein-Westfalen, Frau Höhn, meinen, man müsse Grenz-
werte nennen, frage ich Sie, was Sie glauben, was ein Ver-
braucher mit diesen Werten anfangen kann.
Er kann nichts damit anfangen, weil der den Wert nicht in-
terpretieren kann. Außerdem gibt es noch keine gesicher-
ten Forschungsergebnisse. Bitte lassen Sie uns bei diesem
Thema nicht in Panik verfallen, sondern klare Kenn-
zeichnungen für die Zukunft auf den Weg bringen.
Es ist noch etwas nicht zur Sprache gekommen, was
aber ein klassisches Verbraucherthema ist: Was sagen Sie
und Frau Höfken – ich verstehe, dass es Sie nicht interes-
siert, aber ich sage es trotzdem – zu den Steuererhöhun-
gen und zu den anhaltenden Belastungen für die Verbrau-
cher und für den Wirtschaftsstandort Deutschland?
So spielt zum Beispiel bei der Ökosteuer das Thema
Deregulierung des Energiemarktes und Liberalisierung
überhaupt keine Rolle. Ist Ihnen klar, dass die von der
früheren, von Ihnen viel gescholtenen Bundesregierung,
an der die FDP beteiligt war, erzielten Liberalisierungs-
erlöse zugunsten der Verbraucher 7,5 Milliarden Euro be-
tragen haben? Dieser Betrag ist inzwischen zu 80 Prozent
durch weitere Regulierungen aufgebraucht.
Frau Kollegin, ich habe Ihnen schon eine Minute mehr
gegeben. Aber Sie müssen wirklich zum Schluss kom-
men.
Ich komme zum Schluss: Liebe Frau Künast, legen Sie
zur Abwechslung einmal einen Masterplan für Bürokra-
tieabbau im Verbraucherbereich vor. Das heißt: so viel
Staat wie nötig und so viel Freiheit für die Konsumenten
wie möglich. Schützen Sie diesen Standort Deutschland
vor Rot-Grün.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Waltraud Wolff.
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bevor ich zu meiner Rede komme, möchte ich
noch auf zwei Punkte eingehen.
Frau Kollegin Hasselfeldt, Sie haben vorhin geäußert,
Frau Künast habe nicht ein Wort zur EU-Agrarpolitik ge-
sagt. Ich darf Sie einmal fragen: Was ist denn Modula-
tion?
Wenn Modulation nicht EU-Agrarpolitik ist, dann weiß
ich nicht, was es sein soll.
– Ich finde es immer schön, wenn Sie lebhaft werden.
Zum Zweiten. Herr Kollege Goldmann, Sie haben mir
vorhin Nachhilfe angeboten. Ich komme aus Sachsen-
Anhalt.Bei uns ist die Landwirtschaft sehr stark. Die dor-
tigen Betriebe können sich sehen lassen. Wir haben in
Sachsen-Anhalt einen Level erreicht, über den sich man-
cher in der Bundesrepublik wundert.
Ich brauche keinen Nachhilfeunterricht. An dieser Stelle
kommen wir aber jetzt zu einer Nachhilfestunde für die
CDU und für die FDP.
Im Rahmen der heutigen Haushaltsdebatte wollen wir
nämlich noch über ein Thema intensiver sprechen. Es geht
um das Modulationsgesetz. Sie von der Opposition woll-
ten zu diesem Thema ja eine Extradebatte führen. Sie ha-
ben sich dann aber doch geschlagen gegeben und waren
damit einverstanden, darüber in einer verbundenen De-
batte zu diskutieren. Wenn es um einen Lern- und Ver-
ständniszuwachs geht, helfe ich an dieser Stelle gern.
Wir haben im letzten Jahr dieses Gesetz sehr ausgiebig
diskutiert und festgestellt, dass uns die Einführung der
Modulation Spielräume im Rahmen der EU eröffnet, die
wir nutzen können. Die Konzepte dazu liegen in der
Schublade. Frau Höfken hat darauf vorhin schon hinge-
wiesen.
Uns war von Anfang an vor allem klar, dass das Mo-
dulationsgesetz mit großer Wahrscheinlichkeit nur so
lange gelten wird, bis die Halbzeitbeschlüsse umgesetzt
werden. Es ist nach wie vor in Betracht zu ziehen, dass die
EU die Modulation obligatorisch einführen wird. Warum
einige CDU-regierte Bundesländer anscheinend erst jetzt
auf den Trichter gekommen sind, dass die obligatorische
Modulation in zwei Jahren eingeführt wird, ist für mich,
ehrlich gesagt, ein Buch mit sieben Siegeln; ich verstehe
das nicht.
Vielleicht ist es so, dass man nichts Gutes denkt, dass
man verhindert, boykottiert und so ziemlich alles hinter-
treibt, was mit den neuen Mehrheiten im Bundesrat mög-
lich ist. Das kann natürlich sein. Wenn die Politik der Op-
position in Zukunft im Verhindern von Politik besteht,
dann kann ich nur sagen: Gute Nacht! Ich hoffe nicht, dass
Sie Ihre Oppositionspolitik in Zukunft so verstehen.
Noch einmal zur Erklärung: Die Modulation ist Teil
der Agenda 2000. Alle, auch die Kollegen der Oppositi-
onsparteien, sehen, dass wir eine gemeinsame EU-Agrar-
politik gestalten wollen. Der ehemalige Bundeskanzler
verstand sich auch als großer EU-Politiker und hat immer
wieder eine gemeinsame Politik gefordert. Deutschland
muss zeigen, dass es reformfähig ist. Es kann nicht sein,
dass wir zwar auf der einen Seite die EU-Agrarpolitik ge-
meinsam gestalten wollen, dass aber auf der anderen
Seite, wenn es ans Eingemachte geht und jedes Land Re-
formen beschließen soll, der Rückzug angetreten wird.
Wir wollen zeigen: Deutschland ist reformfähig.
Darum stehen wir zur Agenda 2000 und zur Einführung
des Modulationsgesetzes.
Nach der zweiten und dritten Lesung des Haushalts-
gesetzes 2002 im Dezember vergangenen Jahres hat der
Bundesrat den Vermittlungsausschuss angerufen. Wir
haben gemeinsam einen guten Kompromiss gefunden, der
den Bundesländern entgegengekommen ist. Im jetzt vor-
liegenden Gesetzentwurf des Bundesrates wird von einer
Einführung „für einen kurzen Zeitraum“ gesprochen. Das
ist wirklich einfach unsinnig.
Über die hohen Kosten, den enormen Verwaltungsauf-
wand und die Anlastungsrisiken haben wir ebenso inten-
sive Gespräche geführt. Aber auch da helfe ich Ihnen
gerne noch einmal nach.
Erstens. Es kann durchaus sein, dass die freiwillige na-
tionale Modulation noch über mehrere Jahre Gültigkeit
hat.
Zweitens. Die Herausnahme der „kleinen Beihilfen“
– es handelt sich um Beihilfen für Hopfen, Stärke, Saat-
gut und Tabak – erfolgte auf ausdrücklichen Wunsch der
Bundesländer. Dies bedeutet doch, dass ein Weg gefunden
wurde, die Modulation mit einem vertretbaren Aufwand
an Bürokratie einzuführen.
Jetzt ist es doch einfach so, dass nur die Direktzahlun-
gen der Modulation unterliegen, die im Rahmen des inte-
grierten Verwaltungs- und Kontrollsystems abgewickelt
werden. Für jeden betroffenen Landwirt bedeutet das,
dass es für ihn nur eine Zahlstelle gibt. Wo liegt eigentlich
Ihr Problem mit der Bürokratie?
860
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 861
Die 2 Prozent Modulationsmittel werden für die Betriebe
direkt berechnet und sofort einbehalten. Bürokratisch ge-
sehen dürfte das doch wirklich keine Schwierigkeiten
mehr machen.
Die Probleme, um die wir uns wirklich kümmern müs-
sen, liegen ganz woanders.
Ich nenne zum Beispiel die Diskussionen in der EU-Kom-
mission über die Kappungsgrenze von 300 000 Euro bei
den landwirtschaftlichen Betrieben. Wir müssen ganz
deutlich machen, dass die Kappungsgrenze für eine mo-
derne und funktionierende Landwirtschaft in den neuen
Bundesländern fatal ist. Es kann und darf einfach nicht
sein, dass mit der Halbzeitbewertung Maßnahmen initiiert
werden, die 90 Prozent der Betriebe einer einzigen Region
in ganz Europa, nämlich Ostdeutschland, treffen.
Nach der Wende hat sich in den neuen Bundesländern
eine – das habe ich schon am Anfang gesagt – moderne
und zukunftsorientierte Landwirtschaft entwickelt, die im
Gesamtbereich der Wirtschaft als funktionstüchtig be-
zeichnet werden kann. Auch die CDU/CSU und die FDP,
also die heutigen Oppositionsparteien, waren für den Ei-
nigungsvertrag, der vorsieht, dass den groß strukturierten
Betrieben in den neuen Bundesländern eine Chance ein-
geräumt wird. Dies gilt es doch zu unterstützen. Hier ist
Ihr Engagement gefordert – nicht einfach nur meckern,
sondern auch einmal konstruktiv mitarbeiten.
Die Stärkung der zweiten Säule ist richtig wie auch
Maßnahmen mit Beschäftigungs- und Umwelteffekten.
In der Beschneidung rentabler Unternehmen in ihrer
Wettbewerbsfähigkeit sehe ich aber keinen Sinn.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, die
Haushaltssituation ist angespannt, auch in den neuen Bun-
desländern. Also brauchen wir auch Ihre Allianz, um un-
sere Position in der EU zu untermauern.
Wir bringen heute den Haushalt 2003 ein. Die Mittel
zur Modulation sind da natürlich im Rahmen der GAK ein
wichtiger Punkt. Deshalb ist es dringend notwendig, an
dieser Stelle noch einmal darüber zu reden.
Wir haben an vielen Stellen im Haushalt über die neuen
Ansätze gesprochen. Ich möchte nur noch auf einen Punkt
hinweisen, nämlich den Löwenanteil des Einzelplans 10:
Diesen macht wieder, wie in jedem Jahr, die landwirt-
schaftliche Sozialpolitik aus. Es ist erfreulich, dass wir
in diesem Jahr für 2003 an dieser Stelle eine Kostenstei-
gerung gebannt haben.
Ich freue mich auf konstruktive Beratungen mit Ihnen,
insbesondere zu dem Thema, zu dem ich gesprochen
habe: die Modulation. Ich hoffe, dass Sie im Bundesrat an
dieser Stelle zurückziehen und einer EU-Agrarpolitik of-
fensiv entgegengehen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helmut Heiderich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die deutschen Bauern brauchen einen
Haushalt, eine Regierung, eine Politik, die ihnen den
Rücken stärkt und ihnen nicht ständig neue Knüppel vor
die Füße wirft.
Die deutschen Bauern brauchen Anerkennung ihrer Pro-
dukte und ihrer Leistungen, sowohl finanziell wie auch
ideell. Sie von Rot-Grün machen mit Ihrer Politik aber das
genaue Gegenteil. Sie schädigen in Deutschland beide,
die Bauern wie die Verbraucher – und dies auch noch
nachhaltig.
Ich glaube, Deutschland ist das einzige Land, in dem
die zuständige Ministerin die ihr anvertrauten Landwirte
unablässig schlecht redet, statt für zukunftssichere
Arbeitsplätze in den Betrieben zu sorgen.
Der giftige Spruch – ich lese ihn hier gerne noch einmal
vor –„Klasse statt Masse“ sollte das Ansehen der ge-
wachsenen und nach guter fachlicher Praxis arbeitenden
Landwirtschaft in Misskredit bringen. Er sollte den Ein-
druck entstehen lassen, dass diese Bauern nicht erwünscht
sind oder nicht ordentlich arbeiten. An dieser Einstellung,
Frau Ministerin, hat sich bei Ihnen offensichtlich bis heute
nichts geändert.
– Ich werde Ihnen das gleich beweisen.
Frau Ministerin, Sie haben hier vorhin Ihren französi-
schen Kollegen ins Gespräch gebracht. Ich muss sagen:
Sie unterscheiden sich um Welten von Herrn Hervé
Gaymard; denn er hat festgestellt, das Ziel seiner Agrar-
politik sei – ich zitiere das einmal –,
... dass die Bauern in der Lage sein müssen, vom
Preis ihrer Erzeugnisse zu leben und die Bürden im
Zusammenhang mit Umwelterfordernissen, gesund-
heitlicher Lebensmittelsicherheit und der Qualität
der Produkte zu tragen.
Waltraud Wolff
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Helmut Heiderich
Wenn das doch das Ziel Ihrer Politik in Deutschland wäre!
Sie dagegen setzen Ihre einseitigen Attacken gegen un-
sere Bauern fort, die seit Generationen unsere natürlichen
Lebensgrundlagen erhalten, die Kulturlandschaft pflegen
und uns wertvolle Nahrungsmittel preisgünstig
zur Verfügung stellen. Wie anders soll ich Ihre Anzeigen-
serie in deutschen Zeitschriften von gestern verstehen, wo
Folgendes zu lesen ist:
Im biologischen Landbau machen die Tiere so viel
Mist, wie die Pflanzen brauchen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dafür wird in
Deutschland Steuergeld ausgegeben!
Ich kann das nur so verstehen, dass Sie die Klugheit der
Rindviecher gegenüber der Bundesregierung und ihrer
Minister herausstreichen wollen, macht doch diese Bun-
desregierung weit mehr Mist, als die Bürger in Deutsch-
land vertragen können.
denn Ihre eigene Forschungsanstalt hat gerade veröffent-
licht, dass 60 Prozent der Ökobetriebe in Brandenburg
größer sind als 500 Hektar. So Ihr Forschungsreport. Ich
glaube, nicht einmal die Bundesregierung bringt so viel
Mist zusammen, um solchen ökologischen Agrarfabriken,
wie der Bundeskanzler gesagt hat, hier gerecht werden zu
können.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn
das die Verbraucherinformationskampagne dieser Bun-
desregierung sein soll oder ist – es ist ja tatsächlich in den
Zeitungen veröffentlicht worden –, dann fordere ich Sie
auf,
die 35 Millionen Euro, die Sie für diese Anzeigenkampa-
gnen im Haushalt bereitgestellt haben, sofort zu streichen
und das Geld stattdessen den Bauern für andere Arbeiten
zur Verfügung zu stellen.
Liebe Frau Wolff, nur ein kurzes Argument zum Thema
Modulation. EU-Kommissar Fischler hat die Einführung
der Modulation ja nicht aus falschen Gründen zurückge-
stellt. Sie wollen wieder einen nationalen Alleingang
machen und zum nächsten Jahresbeginn den deutschen
Bauern die Einkommen kürzen. Nichts anderes ist Modu-
lation. Wie diese Kürzung von Einkommen, Frau Höfken,
die Bauern wettbewerbsfähiger machen soll, das ist das
Geheimnis Ihrer rot-grünen Politik.
Sie wollen – wir haben das in Hessen ja einmal ge-
prüft – eine neue Verwaltungsbürokratie aufbauen. Sie
wollen dieses Geld durch die Verwaltungsmühlen drehen.
Am Schluss wird wenig übrig bleiben und bei den Bauern
wird nichts davon wieder ankommen.
Frau Höfken, damit wir Zahlen aus der hessischen Land-
wirtschaft und nicht nur Ihre allgemeinen Darstellungen ha-
ben: Durch eine aktuelle Auswertung der Betriebsergeb-
nisse in Hessen und Rheinland-Pfalz wurde festgestellt,
dass der Getreidebau in einem durchschnittlichen hessi-
schen oder rheinland-pfälzischen Betrieb ohne Ausgleichs-
zahlungen defizitär wäre. Das heißt, wenn Sie in diesem Be-
reich den Bauern noch Einnahmen kürzen, gefährden Sie
die Betriebe. Insofern ist es auch kein Wunder, dass in Hes-
sen und Rheinland-Pfalz die Landwirte zurzeit gerade noch
durchschnittlich 1 500 Euro je Betrieb investieren.
Das muss man sich einmal überlegen. Das ist Stillstand,
das ist Verunsicherung, das ist Zukunftsgefährdung. Und
das ist das Ergebnis Ihrer rot-grünen Politik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist kein
Wunder, dass der Amtsvorgänger von Frau Künast am
14. September in der Presse öffentlich erklärt hat: Die
Landwirtschaft hält diese rot-grüne Regierung nicht mehr
lange aus. Es ist ja auch kein Geheimnis – die Zahlen in
den nächsten Wochen werden es zeigen –, dass die Land-
wirtschaft im letzten Wirtschaftsjahr unter Ihrer Verant-
wortung Verluste im zweistelligen Prozentbereich ge-
macht hat, die sie jetzt verkraften muss und die ihre
Wettbewerbsfähigkeit weiterhin gefährdet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Nega-
tivstrategie und -leistung gilt genauso – damit will ich
noch auf einen anderen Bereich kommen, für den Frau
Künast jetzt die volle Zuständigkeit erhalten hat – für den
Aufgabenbereich der Bio- und Gentechnik. Auch hier
betreibt die Ministerin eine Strategie der Verzögerung und
der Verunsicherung, statt entsprechend zu handeln. Wenn
Sie, Frau Künast, vorhin gesagt haben – ich habe es hof-
fentlich richtig mitgeschrieben –, „Der andere packt kräf-
tig an und handelt“, können Sie auf diesem Feld nun wirk-
lich nicht gemeint sein, egal in welchem Bereich dieser
Technologie. Sie sind vom EU-Parlament erst vor weni-
gen Tagen darauf hingewiesen worden und Ihnen ist deut-
lich gemacht worden, wie weit die deutsche Entwicklung
auf der europäischen Ebene zurück liegt. Ich will aus dem
Beschluss des EU-Parlaments vom 21. November nicht
862
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 863
alles zitieren, obwohl man eigentlich alles hier vortragen
müsste, aber dafür sind zwei Minuten Redezeit zu wenig.
Aber ein zentraler Punkt sei hier vorgetragen. Das EU-
Parlament hat schriftlich formuliert und beschlossen, es
sei der Ansicht, die Öffentlichkeit müsse darüber aufge-
klärt werden, dass die Biotechnologie in vielen Bereichen
Vorteile biete, angefangen bei der Gesundheitsfürsorge
bis hin zu Landwirtschaft und Industrie.
Frau Künast, die Aussagen des EU-Parlaments stehen
im Widerspruch zu Ihrer Politik.
In Ihrer Regierungserklärung steht zwar, dass Sie die Bio-
technologie in Deutschland fördern und ausbauen wollen,
mit Ihrem praktischen Handeln machen Sie aber genau
das Gegenteil: Sie verhindern jede Entwicklung und hän-
gen um Jahre hinter der europäischen Entwicklung
zurück. Das schadet der deutschen Industrie und der deut-
schen Landwirtschaft.
– Ich lese nicht die Äußerungen des Verbandes der Chemi-
schen Industrie vor, sondern des EU-Parlaments. Das EU-
Parlament hat festgestellt, dass es Ihre Auffassung, die
Gentechnik und die Biotechnik im medizinischen Sektor
böten überwiegend Chancen, in der Landwirtschaft hinge-
gen seien sie hauptsächlich mit Risiken verbunden, nicht
teilt. Das EU-Parlament fordert vielmehr, dass beide Berei-
che der Technologie entwickelt werden. Man sollte nicht,
wie Sie, Frau Künast, ständig auf der Bremse stehen, stän-
dig neue Ausreden suchen und sich ständig verweigern,
wenn es darum geht, diese Strategien voranzubringen.
Auf dem gesamten Feld der Bio- und Gentechnik hinkt
diese Bundesregierung der europäischen Entwicklung um
Meilen hinterher. Frau Höfken, deswegen werden wir das
tun, was Sie vorhin schon gefordert haben. Wir werden Ih-
nen eine umfassende Alternative für eine Bio- und Gen-
technologiestrategie in Deutschland vorlegen.
Dann werden wir einmal sehen, inwieweit Sie der euro-
päischen Entwicklung folgen oder ob Sie weiterhin ein-
seitig auf der Bremse stehen bleiben und damit die Ent-
wicklung in Deutschland weiter ausbremsen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Behm.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-
ren! Zu meiner Wahl in den Bundestag haben mir viele
Gratulanten Freude und Erfolg gewünscht. Nach den ers-
ten Wochen bin ich immer noch voller Hoffnung, dass
diese Wünsche zumindest in der Agrarpolitik tatsächlich
in Erfüllung gehen. Trotz angespannter Haushaltslage ha-
ben wir die Chance, die Erfolgsgeschichte der neuen
Landwirtschaft fortzuschreiben.
Auch wenn der Kollege Heiderich es giftig nennt, gilt
auch in Haushaltsfragen das Motto: Klasse statt Masse.
Nicht alles hängt allein am Geld. Entscheidend ist doch,
wie das Geld eingesetzt wird. Wir müssen Ideen ent-
wickeln und neue Wege gehen. Die Opposition hat vor
der Wahl getönt, dass wir Subventionen abbauen müssen.
Wenn wir das jedoch heute im Rahmen des Konsolidie-
rungsprogramms tatsächlich tun und Sondertatbestände
im Bereich der Steuern zurückführen, beklagt sie Steuer-
erhöhungen. Dabei ist doch allen klar, dass auch die
Landwirtschaft ihren Beitrag zur Konsolidierung leisten
muss.
Wo, meine Damen und Herren von der Opposition,
würden Sie denn den Rotstift ansetzen, wenn Sie regieren
und Haushaltslöcher stopfen müssten?
Bei der Agrarsozialpolitik? Sie sollten den Wählern rei-
nen Wein einschenken.
Mir liegen drei Schwerpunktaufgaben besonders am
Herzen: die Schaffung vitaler ländlicher Räume, die Si-
cherung solider Einkommen der Landwirte und die Ver-
sorgung der Verbraucher mit qualitativ hochwertigen
landwirtschaftlichen Produkten, die bezahlbar sind. Um
diese Ziele zu erreichen, bietet unter anderem die Modu-
lation der Agrardirektzahlungen eine große Chance. Die
Förderung beschäftigungsintensiver Betriebe mit artge-
rechter Tierhaltung und umweltverträglicher Produk-
tionsweise mit Modulationsmitteln ist besonders in den
strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands ein Anreiz,
Arbeitsplätze im ländlichen Raum zu schaffen.
Ich appelliere daher an die von CDU und CSU regier-
ten Bundesländer: Blockieren Sie nicht die Modulation,
sondern machen Sie den Weg frei für eine gesunde
Agrarstruktur, auch in Ostdeutschland!
Der Vorschlag der EU-Kommission, eine Kappungs-
grenze von 300 000 Euro bei den EU-Beihilfen einzuzie-
hen, hat insbesondere – Frau Wolff nannte es vorhin schon –
in Ostdeutschland aufgrund der dortigen Agrarstruktur für
große Unruhe gesorgt. Wir sind uns im Klaren, dass dies
mit einer Politik der Gleichberechtigung der Betriebs-
größen nicht vereinbar ist. Wir setzen stattdessen darauf,
Helmut Heiderich
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Cornelia Behm
die Faktoren Arbeit und Umwelt stärker zu berücksichti-
gen.
Wir wollen die Direktzahlungen so gestalten, dass Pro-
duktionszweige differenziert beurteilt werden, ohne ein-
zelne Regionen zu benachteiligen.
Wir wollen eine Politik der Chancengleichheit und der
Zugangsgerechtigkeit. Insofern werde ich mich dafür ein-
setzen, dass die unterschiedlichen Betriebsformen in der
ostdeutschen Landwirtschaft gleichberechtigt und erfolg-
reich nebeneinander wirtschaften können.
Mit dem vorgelegten Haushaltsentwurf setzen wir un-
seren Weg in die Agrarwende und für eine Stärkung des
Verbraucherschutzes fort. Dies werden wir auch in den
nächsten Jahren tun.
Ich danke Ihnen.
Ich danke Ihnen auch, Frau Kollegin, und gratuliere im
Namen des ganzen Hauses zur ersten Rede.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Deß.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
meiner Rede hier bei einer Agrardebatte vor gut fünf Mo-
naten sagte ich:
Die Agrarpolitik dieser Bundesregierung hat nichts
mit einer Agrarwende zu tun; sie ist ein chaotischer
Schleuderkurs ...
Dann kam der Wahlkampf. Wie sich heute herausstellt,
waren Schröder, Fischer, Eichel, Künast und Co. dort als
politische Geisterfahrer unterwegs. Dabei haben sie
größtmöglichen innen- und außenpolitischen Schaden an-
gerichtet. Heute merkt die große Mehrheit unserer Bevöl-
kerung, dass Rot-Grün das Schleudertempo erhöht und
den chaotischen Schleuderkurs auf alle Politikbereiche
ausdehnt.
Hätte die gesamte Bevölkerung am 22. September so
gewählt wie die Bäuerinnen und Bauern, wäre die rot-
grüne Schleuderfahrt längst beendet. Laut Infratest hatte
die CDU/CSU bei den Landwirten einen Stimmenanteil
von 79 Prozent.
Auch die FDP hatte noch einen beträchtlichen Anteil, so-
dass für Rot-Grün hier nicht mehr viel übrig blieb.
Es spricht für unsere bäuerliche Bevölkerung, dass sie
den rot-grünen Täuschungsmanövern nicht auf den Leim
gegangen ist. Auch waren es die Bauern, die als Erste be-
merkten, wohin die Politik von Bundeskanzler Schröder
führt. Bereits auf dem Bauerntag in Cottbus im Juli 1999
haben sie ihm ihr letztes Hemd geschenkt.
Andere sind erst heute darauf gekommen.
Die jetzigen haushaltspolitischen Vorschläge werden
dazu führen, dass immer mehr landwirtschaftliche Be-
triebe ihre Hoftore schließen.
Bereits in der letzten Wahlperiode wurde die Wettbe-
werbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft stark einge-
schränkt.
Mit den jetzigen Überlegungen der rot-grünen Koalition
wird die Existenz weiterer Betriebe gefährdet.
Mit der geplanten Senkung der Mehrwertsteuerpau-
schale von 9 auf 7 Prozent und der Anhebung der Vor-
steuer für Futtermittel, Gartenerzeugnisse, Holz und an-
dere Produkte auf 16 Prozent werden Tausende
Arbeitsplätze in der Land- und Forstwirtschaft und, wie
wir heute gehört haben, auch im Gartenbau gefährdet.
Statt Arbeitsplätze zu erhalten bzw. neu zu schaffen, wer-
den mit solchen Maßnahmen Arbeitsplätze vernichtet.
Es ist unerträglich, mit welchen Argumenten die ge-
plante Anhebung der Vorsteuer in der Landwirtschaft auf
16 Prozent begründet wird. Vor einem Millionenpublikum
im deutschen Fernsehen hat Minister Trittin mit einer
falschen Aussage Stimmung gegen die Bauern gemacht.
Bei Sabine Christiansen hat Trittin die im Koalitionsver-
trag vorgesehenen Mehrwertsteuererhöhungen zulasten
der deutschen Bauern damit gerechtfertigt, dass er es für
ein Unding halte, dass auf Chemiedünger nur ein er-
mäßigter Steuersatz zu zahlen sei.
Erstens ist die Bezeichnung Chemiedünger falsch, es
handelt sich um Handelsdünger. Zweitens ist der von
864
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 865
Trittin angesprochene Dünger schon immer mit dem nor-
malen Mehrwertsteuersatz – er liegt zurzeit bei 16 Pro-
zent – belastet worden. Eine Umsatzsteuerermäßigung
gibt es nach geltendem Recht nur für bestimmte tierische
und pflanzliche Düngemittel. Diese Ermäßigung will Rot-
Grün jetzt abschaffen.
Trittins Verhalten bei Sabine Christiansen macht deut-
lich, dass die Grünen vor keinem Mittel zurückschrecken,
um das Ansehen der deutschen Bäuerinnen und Bauern in
den Dreck zu ziehen.
Wenn Minister Trittin einen Funken Anstand besäße, hätte
er sich für diese verleumderische Äußerung längst öffent-
lich entschuldigt.
Die weitere Erhöhung der so genannten Ökosteuer
führt zu einer weiteren einseitigen nationalen Wettbe-
werbsverzerrung für die deutsche Landwirtschaft und die
mit ihr verbundenen Wirtschaftsbereiche. Rot-Grün
spricht von einer Lenkungswirkung der Ökosteuer. Trittin
ist sehr stolz darauf, dass sich dadurch der Spritverbrauch
in Deutschland verringert haben soll. Dabei besteht die
Lenkungswirkung der Ökosteuer darin, dass immer mehr
LKWs und PKWs zu ausländischen Tankstellen gelenkt
werden. Mit Öko hat das Ganze nichts zu tun.
Frau Künast, beenden Sie Ihren agrar- und ver-
braucherpolitischen Irrweg, bevor es zu spät ist. Erste
Hochrechnungen zum Situationsbericht der deutschen
Landwirtschaft für dieses Jahr ergeben dramatische Ein-
kommensverluste. Mir liegen Zahlen vor, nach denen im
laufenden Wirtschaftsjahr mit einem Einkommensrück-
gang von 12,9 Prozent bei den Haupterwerbsbetrieben zu
rechnen ist. Noch dramatischer wirkt sich die verfehlte
rot-grüne Agrarpolitik auf die Ökobetriebe aus. Dort ist
mit einem Einkommensverlust von 15,2 Prozent für das
Jahr 2002 zu rechnen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen
Carstensen?
Gern.
Ich bedanke mich, Herr Kollege Deß. – Ich habe nur
eine kurze Frage: Kann das vielleicht der Künast-Effekt
sein?
Ich bin felsenfest davon überzeugt, lieber Kollege Peter
Harry Carstensen, dass Frau Künast mit ihrer verfehlten
Ökopolitik, mit der sie das Ziel ansteuert, dass in Deutsch-
land 20 Prozent Ökolandwirtschaft betrieben wird, er-
reicht, dass mehr Produkte auf dem deutschen Markt an-
geboten werden, als die Verbraucher zu kaufen bereit sind.
Das wirkt sich auf das Einkommen unserer Ökolandwirte
aus. Selbst Claus Hipp, der Ökoprodukte verkauft, sagt in
einer Pressemitteilung, dass die 20 Prozent, die Frau
Künast anstrebt, vollkommen illusorisch sind.
Damit bewahrheiten sich meine Befürchtungen, dass
die Absenkung der Standards durch das Künast-Ökosiegel
nachteilig für unsere Ökobetriebe ist. Das ist auch ganz lo-
gisch, weil immer mehr billige Ökoprodukte aus dem
Ausland in die Regale deutscher Supermärkte kommen.
Die selbst ernannte Schutzpatronin der Ökolandwirtschaft
sägt am Ast der Ökolandwirtschaft in Deutschland.
Auf einem Irrweg befinden sich Frau Ministerin
Künast und Rot-Grün auch mit dem deutschen Modula-
tionsgesetz, das heute schon angesprochen worden ist.
Der bayerische Landwirtschaftsminister Josef Miller hat
in einem Schreiben vom 26. November das deutsche Mo-
dulationsmodell als unsozial und darüber hinaus als öko-
logisch fragwürdig dargestellt. Dem kann die CDU/CSU-
Fraktion nur beipflichten.
In Bayern werden mit dem Kulturlandschaftspro-
gramm, dem Vertragsnaturschutz und der Förderung von
Investitionen in artgerechte Tierhaltungssysteme wirk-
same Maßnahmen natur- und umweltschonender Wirt-
schaftsweisen finanziell unterstützt und erfolgreich
durchgeführt. In den übrigen CDU-regierten Flächenlän-
dern haben vergleichbare Programme einen hohen Stel-
lenwert.
Wenn rot- und rot-grün-regierte Bundesländer im Um-
welt- und Naturschutz sowie beim Tierschutz die gleichen
Förderprogramme auflegen und auch finanzieren wie die
unionsregierten Bundesländer, ist das Modulationsgesetz
vollkommen überflüssig.
Die Minister Clement und Eichel reden großmundig
von Bürokratieabbau, während Frau Künast mit dem Mo-
dulationsgesetz ein bürokratisches Monster schafft. Die
unionsregierten Länder haben einen Gesetzentwurf in den
Bundesrat eingebracht, der die Aufhebung des deutschen
Modulationsgesetzes zum Ziel hat. Am 8. November hat
der Bundesrat dem Gesetzentwurf zugestimmt. Es liegt
jetzt an der rot-grünen Mehrheit im Bundestag, das unsin-
nige deutsche Modulationsgesetz außer Kraft zu setzen.
Ein Problem muss ich in dieser Haushaltsdebatte noch
kurz ansprechen. Das neue Tierarzneimittelgesetz, das
Albert Deß
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Albert Deß
mit Zustimmung des Bundesrats beschlossen wurde und
am 1. November in Kraft getreten ist, lässt sich mit einem
wirkungsvollen Tierschutz, Frau Ministerin, nicht verein-
baren. Wenn ein Landwirt beim Melken eine Koliinfek-
tion im Euter einer Kuh bemerkt und stundenlang warten
muss, bis sein Hoftierarzt erscheint, dann wird das Tier
unnötigerweise Schmerzen ausgesetzt. Das finde ich un-
verantwortlich.
Im schlimmsten Fall geht das Tier ein, weil das neue Tier-
arzneimittelgesetz eine Notfallbehandlung in telefoni-
scher Absprache mit dem Tierarzt nicht zulässt.
Frau Künast, in Österreich gibt es hierzu eine Neure-
gelung, die seit 1. Oktober gilt. Diesen Weg sollten wir in
Deutschland gemeinsam beschreiten, auch im Interesse
des Tierschutzes.
Wer Lebensqualität und Nachhaltigkeit fördern will,
der muss der Landwirtschaft einen entsprechenden Stel-
lenwert einräumen und Perspektiven für die Zukunft auf-
zeigen.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.
Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin. – Mit
den im Koalitionsvertrag vorgesehenen Maßnahmen und
den jetzigen Haushaltsansätzen werden diese Ziele nicht
erreicht. CDU und CSU haben die besseren Alternativen
und diese werden wir in die Beratungen einbringen.
Das Wort hat der Abgeordnete Michael Müller. Er ist
der letzte Redner in der Debatte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Etat-
debatten sollen immer auch Grundlinien aufgezeigt wer-
den. Ganz egal wie man einzelne Redebeiträge bewertet,
ein Unterschied ist auf jeden Fall ziemlich deutlich gewor-
den: Rot-Grün ist dabei, unter sehr schwierigen Bedingun-
gen, die mit den Stichworten knappe Kassen, Globalisie-
rung und EU-Erweiterung beschrieben werden können,
den Prozess der Erneuerung zu betreiben. Sie machen et-
was anderes: Sie streuen den Menschen Sand in die Augen
und tun damit so, als ob alles so weitergehen könnte wie
bisher. Das ist der zentrale Unterschied zwischen uns.
Damit orientieren Sie sich sozusagen an der Stimmungs-
tauglichkeit, während wir versuchen, Wahrheiten zu ver-
künden.
– Ich will auf Sie nicht weiter eingehen, weil Ihre Laut-
stärke in einem merkwürdigen Missverhältnis zu Ihren In-
halten steht.
Ich bleibe dabei: Wir werden diese Aufgabe nur be-
wältigen können, wenn wir zu einer großen solidarischen
Gemeinschaftsanstrengung fähig werden. Mindestvoraus-
setzung einer solchen Gemeinschaftsanstrengung ist, die
Wahrheit zu sagen. Das ist der entscheidende Unterschied
zwischen uns.
Die Grundlagen, die wir schaffen, sind ziemlich klar.
Wir versuchen, die Handlungsfähigkeit der Politik zu stär-
ken. Bei Ihnen hört man immer nur: Steuern senken, Staat
weg und damit ist alles gelöst.
Lesen Sie dazu nur einmal bei Ludwig Erhard, den Sie
ja sonst immer so hoch halten, nach,
was er beispielsweise zu dem Verhältnis zwischen Indivi-
dualrechten von Verbrauchern und der Wirtschaft
schreibt. Erhard kommt zu der völlig logischen Schluss-
folgerung, dass Individualrechte gegen starke Wirt-
schaftsmacht keine Chance haben, wenn es nicht auch
eine öffentliche Absicherung, eine staatliche Unterstüt-
zung gibt. So steht es bei Erhard. Lesen Sie das einmal!
Sie kennen so etwas ja gar nicht.
Ich möchte Ihnen ein zweites Beispiel von Erhard nen-
nen. Auf Seite 175 seines Buches „Wohlstand für alle“
heißt es: Es katastropht von morgens bis abends, aber die
Katastrophe finde ich nicht. Damit hat er damals all die-
jenigen Wirtschaftsverbände beschrieben, die nicht in der
Lage waren, die notwendigen Reformen in Richtung so-
ziale Marktwirtschaft durchzuführen. Die heutige Situa-
tion ist eine fatale Parallele dazu.
Überlegen Sie einmal, wer damals am Ende gewonnen
hat!
Zu Ludwig Erhard will ich Ihnen noch einen Satz sa-
gen. Bei Ludwig Erhard steht unter anderem auch, es sei
richtig, dass die soziale Marktwirtschaft auch gegen die
Kräfte der Gewerkschaften verteidigt werden müsse. Da-
nach heißt es, das dürfe aber nicht darüber hinwegtäu-
866
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 867
schen, dass die Wirtschaftsverbände noch sehr viel weni-
ger Interesse an einer sozialen Wettbewerbsordnung hät-
ten. So steht es bei Ludwig Erhard. Lesen Sie das doch
einmal, meine Damen und Herren!
Sie haben nämlich eine sehr einseitige Sicht in diesen Fra-
gen.
Ich glaube, wir sind in einer viel zu schwierigen Zeit,
um eine derartige destruktive bis obstruktive Politik auf
Dauer akzeptieren zu können. Dafür ist das, was im Au-
genblick in unserem Land und in der Welt passiert, zu
ernst. Es besteht ein krasses Missverhältnis zwischen dem
Ernst der Lage und der Art Ihrer Politik.
Wir können keinen Dauerwahlkampf führen. Das müssen
Sie einmal lernen. Ich kann ja verstehen, was Sie machen.
Aber Sie müssen sich auch einmal nach Ihrer Verantwor-
tung fragen, danach, ob es dieses Land verdient hat, dass
man einen permanenten demagogischen Wahlkampf führt
oder ob man sich konstruktiv mit inhaltlichen Fragen aus-
einander setzt.
Meine Damen und Herren, wir sind heute in einer Si-
tuation, wo es vor allem um drei Fragen geht. Erstens. Wie
bewahren wir die öffentlichen, die kollektiven Güter, zu
denen die Umwelt, die Bildung und vieles mehr gehören?
Zweitens. Wie schaffen wir für alle wieder mehr Chan-
cen? Jede gesellschaftliche Analyse zeigt, dass die Leis-
tungsfähigkeit und die Innovationsfähigkeit jener Gesell-
schaften schwinden, die zunehmend ungleich werden.
Das ist die Wahrheit. Umso wichtiger ist es, beispiels-
weise eine Politik zu machen, die über die Reformpolitik,
die ökologische Modernisierung, die Erneuerung der So-
zialsysteme wieder mehr Gerechtigkeit schafft.
Zu all diesen Problemen hören wir von Ihnen keinen Bei-
trag.
Drittens. Wie schaffen wir es, unter einer Leitidee In-
novationen voranzubringen? Die große Leitidee heißt bei
uns Nachhaltigkeit. Wir werden auch Nachhaltigkeit
schaffen. Aber Nachhaltigkeit – das muss jeder wissen –
bedeutet nicht, dass wir das, was wir bisher gemacht ha-
ben, einfach nur fortführen. Es bedeutet vielmehr einen
tief greifenden Umbau, und zu diesem Umbau sind wir
bereit. Es ist ein schwerer Weg, aber wir werden ihn ge-
hen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen uns.
Es ist falsch, zu glauben, mit ebenso einfachen wie
falschen Formeln könnten Sie sich dieser Herausforde-
rung entziehen. Deshalb ist auch das, was Sie im Bereich
Landwirtschaft und Verbraucherpolitik machen, sehr
wohl etwas, was unter dem Stichwort Nachhaltigkeit
steht. Ich will das verdeutlichen.
Wir werden einen Schritt vom Verbraucherschutz zur
Verbraucherpolitik machen. Das ist ein qualitativer
Sprung. Er ist übrigens unter den Bedingungen der Glo-
balisierung wichtiger denn je. Denn wir stehen vor der Al-
ternative: Entweder wird unser Land in einen Dumping-
Wettbewerb hineingezwungen oder wir haben bewusste
Verbraucher, bewusste Bürgerinnen und Bürger, die bereit
sind, diesen Prozess auch unter schwierigen Bedingungen
mitzugestalten. Deshalb gehört beispielsweise zur Ant-
wort auf die Globalisierung eine Stärkung der Verbrau-
cherpolitik, eine Stärkung des mündigen Bürgers.
Wer unter globalen Bedingungen Verbraucherpolitik
nur auf der Angebotsseite sieht, hat die Herausforderung
nicht begriffen. Deshalb heißt Verbraucherpolitik für uns
vor allem: Wir wollen einen Verbraucherschutz erreichen,
der den Bürger fähig macht, sich beispielsweise für so-
ziale und ökologische Standards einzusetzen, auch wenn
es nicht so einfach ist, sich dafür einzusetzen, dass diese
qualitativen Sprünge nach vorn möglich werden. Dafür
soll eine Legitimation geschaffen werden.
Das ist auch ein großes Interesse von uns, weil dieser
Punkt, die ökologische Modernisierung und die Innova-
tion auf dem Feld der Nachhaltigkeit, die große Chance
für Europa beinhaltet, eine führende Rolle in der Welt zu
spielen. Diese Chance wollen wir nutzen. Wir wollen uns
nicht nur anpassen. Das ist der zentrale Unterschied in Ih-
rer und unserer Politik.
Meine Damen und Herren, es ist im wohlverstandenen
Interesse jeder funktionierenden Ökonomie und jedes
funktionierenden Wettbewerbs, den Verbraucher zu stär-
ken. Eine Reihe von Elementen, die dafür erforderlich
sind, haben wir schon genannt. Wir werden in dieser
Legislaturperiode ein Aktionsprogramm „Verbraucherpo-
litik“ auflegen. Wir werden deutlich machen, dass wir in
der Verbraucherpolitik an der Reformdiskussion der
70er-Jahre anknüpfen werden. Dies ist ein wichtiger
Schritt nach vorn.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Landwirtschaft sa-
gen: Es ist für uns wichtig, deutlich zu machen, dass wir
über die Ausweitung in Richtung einer multifunktionalen
Landwirtschaft wieder mehr Unabhängigkeit und mehr Si-
cherheit für die Landwirtschaft erreichen wollen. Die Al-
ternativen sind relativ klar: Entweder man verharrt im Sta-
tus quo mit allen Risiken, die von der EU-Osterweiterung
über die WTO-Verhandlungen bis hin beispielsweise zu
den ökologischen Schäden auf uns zukommen, oder man
geht den Weg der Reformen. Es gibt keinen dritten Weg.
Michael Müller
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Michael Müller
Wir haben uns für den Weg der Reformen entschieden.
Wir werden ihn auch gehen.
Es gibt eben für sich selbst auch nur zwei Möglichkei-
ten: Entweder man nimmt sich ernst und ist zum Denken
und damit auch zu Innovationen fähig oder man verharrt
dort, wo man ist, nämlich in einem Stimmungspopulis-
mus, der unserem Land überhaupt nicht dient.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/108 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Mittwoch, den 4. Dezember 2002,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.