Rede von
Ulla
Burchardt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Nach dem, was man jetzt gehört hat, kann man nur
sagen: Dieses Land hätte eine bessere, eine qualifiziertere
Opposition verdient.
Angesichts dieser oppositionellen Kraftmeierei, der
kleinkarierten ideologisch gefärbten Kritik und der Ka-
tastrophenszenarien, die Sie hier an die Wand gemalt ha-
ben, ist es wohl an der Zeit, dass man einmal wieder den
Gesamtzusammenhang für eine bildungs- und forschungs-
politische Debatte herstellt.
Es dürfte sich auch bis zu Ihnen herumgesprochen ha-
ben, dass sich unser Land wie alle hochentwickelten Staa-
ten im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesell-
schaft befindet. Deshalb ist es die zentrale Aufgabe der
Politik, diesen Übergang und die Rahmenbedingungen zu
gestalten.
Das, meine Damen und Herren, und nichts anderes
– auch nicht irgendwelche Wunschvorstellungen – ist die
Messlatte, an der sich die Regierungspolitik messen las-
sen muss, an der sich aber auch Konzepte der Opposition
messen lassen müssen. Nur habe ich solche Konzepte bis-
lang leider nicht gehört.
All denen von CDU/CSU und FDP, die 2002 oder 1998
in den Bundestag gekommen sind, sei gesagt: Ihre Frak-
tionen und Parteien hatten vorher schon Regierungsver-
antwortung. Bei all dem, was Sie heute an Kritik dazu vor-
tragen, wo möglicherweise nicht genug vorhanden ist,
müssen Sie sich auch an dem letzten Bundeshaushalt, den
Sie zu verantworten hatten, messen lassen. Die Gnade des
späten Bundestagseintritts hilft Ihnen, Frau Kollegin
Flach, und allen anderen an dieser Stelle nicht weiter.
Was sind die Herausforderungen der globalen Wis-
sensgesellschaft und damit die Aufgaben für Bildungs-
und Forschungspolitik? Wissen – die Produktion, Vertei-
lung und Anwendung von Wissen – wird immer mehr zum
Hauptfaktor für Zuwächse in der Wertschöpfung und in
der Beschäftigung. Deshalb sind die Ausgaben für Bil-
dung und Forschung prioritäre Zukunftsinvestitionen.
Diesem Sachverhalt tragen wir mit dem vorliegenden
Bundeshaushalt Rechnung.
Die Zahlen sprechen eine ganz deutliche Sprache. Da-
ran kann man überhaupt nicht herumdeuteln. Der Haus-
haltsansatz 2003 liegt um gut 25 Prozent über dem von
1998. Es handelt sich um den höchsten Etat für Bildung
und Forschung in der Geschichte der Bundesrepublik.
– Das mag Ihnen nicht passen, ist aber trotzdem richtig.
Die Zwischenrufe verstehe ich auch nur als Ausdruck ei-
nes Neidkomplexes.
Aber Geld ist nicht alles. Es kommt ebenso darauf an,
im Hochschulbereich wie in der Forschungsförderung
Strukturen aufzubrechen. Wir haben damit begonnen, die
richtigen Schwerpunkte zu setzen. Wir haben im Bil-
dungsbereich beispielsweise mit der Dienstrechtsreform
begonnen, mit der Einführung von Bachelor- und Mas-
ter-Studiengängen.
Die in der Bildungspolitik gesetzten Schwerpunkte bilden
sich nach wie vor in Etatsteigerungen ab, zum Beispiel in
der exorbitanten Förderung von Juniorprofessuren, der
Zukunftsinitiative Hochschule und dem gleichbleibend
hohen Niveau beim Hochschulbau, beim BAföG und
beim Meister-BAföG.
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In der Forschungsförderung bleiben die Zukunftsfel-
der, die wir gesetzt haben, Schwerpunkte, zum Beispiel
das Programm Inno-Regio, Forschung für Nachhaltigkeit,
Gesundheitsforschung, Biotechnologie, IuK-Technolo-
gie. Die Gelder dafür liegen deutlich über dem Niveau
von 1998.
Natürlich hätte man sich auch Aufwüchse bei den Groß-
forschungseinrichtungen wünschen können; aber man
muss konstatieren, das gerade die in den Jahren rot-grüner
Regierungspolitik jährliche Mittelaufwüchse von 3 Prozent
und mehr zu verbuchen hatten. Das ist eine gewaltige Leis-
tung gewesen. Davon haben die Großforschungseinrich-
tungen in Ihrer Regierungszeit doch nur geträumt.
Was macht die globalisierte Wissensgesellschaft
noch aus? Angesichts der zunehmenden Internationalisie-
rung und Europäisierung von Wirtschaft und Politik war
eine entsprechende Orientierung und Vernetzung von Bil-
dung und Forschung überfällig. Das Bundesministerium
hat vielfältige Initiativen ergriffen, die fortgesetzt werden.
Wir haben mittlerweile eine Leitbildfunktion in der EU.
Daher geht ein herzlicher Dank an die Ministerin, die dies
zu ihrem ganz persönlichen Anliegen gemacht hat.
Das entscheidende Merkmal der Wissensgesellschaft
ist der rapide zunehmende Bedarf an gut ausgebildeten,
hoch qualifizierten Fachkräften. Dieser Bedarf nimmt zu.
Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung
droht in wenigen Jahren ein akuter Fachkräftemangel.
Er führt bereits heute in einigen Branchen und Unterneh-
men zu Engpässen.
Vor diesem Hintergrund kann es sich unser Land über-
haupt nicht leisten, Potenziale brachliegen zu lassen.
Vielmehr kann es nur darauf ankommen, alle mit allen
Mitteln zu fördern. Der Streit, Frau Böhmer und alle an-
deren, ob Breiten- oder Spitzenförderung wichtiger ist, ist
doch nun wirklich ein Streit um des Kaisers Bart,
der in das letzte und vorletzte Jahrhundert gehört.
Sie sind das erste Mal bei einer Forschungsdebatte da-
bei, genauso wie der FDP-Kollege. Vielleicht sollte man
den Stoff der letzten Sitzung jedes Mal wiederholen. Ihr
wirklich überhaupt nicht zielführendes Vorgehen „Haust
du mein Bundesland, haue ich dein Bundesland“ ist wirk-
lich das Allerletzte, was wir in der Bundesrepublik ge-
brauchen können.
Niemand, auch kein einzelnes Bundesland, hat die Pa-
tentlösung. Ich möchte einmal den PISA-Koordinator
Schleicher zitieren. Er hat gesagt:
Tatsache ist doch, dass weder CDU- noch SPD-re-
gierte Länder im internationalen Bildungswettbe-
werb mithalten können.
Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis!
Wir haben es getan und die Konsequenzen daraus gezo-
gen.
Wenn Ihnen die Aussagen des international renom-
mierten Experten Schleicher nicht reichen, dann schauen
Sie sich doch einmal das Bildungskonzept des Baden-
Württembergischen Industrie- und Handelskammer-
tages an, der einen Paradigmenwechsel fordert. Eine sei-
ner ganz zentralen Begründungen dafür, dass dieser
Paradigmenwechsel nötig ist, lautet: Die Prämisse, dass
das gegliederte Schulsystem den anderen, einzügigen
Schulformen überlegen sei, habe sich als falsch erwiesen.
Dort sprechen doch nun wirklich keine sozialdemokra-
tischen Kampftruppen. Machen Sie sich ein bisschen kun-
diger und benutzen Sie nicht nur die PC-Versatzstücke
von Ihren Fraktionsreferenten!
Es war alternativlos und richtig, Chancengleichheit
zum Leitbild unserer Bildungspolitik zu machen. Man
kann es sich allein aus wirtschaftlichen Gründen nicht
mehr leisten, dass die soziale Herkunft oder das Ge-
schlecht über die Lebenschancen von Menschen ent-
scheidet. Das ist unter den Vorgängerregierungen in der
Vergangenheit leider ignoriert worden. Deshalb haben wir
heute den traurigen Zustand zu beklagen, dass die Bun-
desrepublik so weit abgeschlagen ist. Dieser Zustand ist
nicht in den letzten Tagen vom Himmel gefallen.
Fakt ist, dass in der Bundesrepublik zu viele junge
Menschen nicht ausreichend gefördert werden und von
weiterführender Bildung ausgeschlossen sind. Nach
OECD-Studien machen zu viele die Erfahrung des
Scheiterns, was für den Einzelnen und die Gesellschaft
fatale Konsequenzen hat. Pro Jahr brechen 80 000 das
Studium und 150 000 ihre Lehre ab; 80 000 verlassen die
Schule ohne jeglichen Abschluss, und zwar in allen Län-
dern. Das sind 310 000 zu viel. Es ist ein großes Problem,
diese Menschen ohne qualifizierte Ausbildung in den Ar-
beitsmarkt zu integrieren.
Wer das ändern will, der muss auf eine konsequente
Form des Bildungswesens hinarbeiten. Die OECD-Stu-
dien, meine liebe Frau Böhmer und alle anderen, zeigen
doch ganz deutlich, was ein zeitgemäßes, leistungsfähiges
Bildungssystem ausmacht: Es beginnt mit der Förderung
Ulla Burchardt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Ulla Burchardt
im Vorschulalter, trennt in der Schullaufbahn nicht nach
Kopf- und Handarbeitern, hat durchlässige Bildungs-
gänge und gewährleistet lebenslanges Lernen.
Wenn Sie behaupten, es sei unsere Aufgabe gewesen,
genau dafür zu sorgen, dann entgegne ich Ihnen: Gehen
Sie einmal zur KMK, lieber junger Kollege, und bean-
tragen Sie doch, dass wir die Verantwortung dafür über-
nehmen. Wir würden das gerne tun.
Wir können feststellen: In unserem bundespolitischen
Verantwortungsbereich haben wir das Überfällige und
Notwendige in Angriff genommen. Wir haben mit dem
JUMP-Programm Hunderttausenden von jungen Men-
schen wieder eine Einstiegsperspektive gegeben.
Das Programm wird weitergeführt. Wir haben mit dem
Meister-BAföG die Selbstständigkeit gefördert.
Wir haben mit der BAföG-Reform nicht nur sozial
Schwächeren wieder eine Chance gegeben, sondern die
Quote der Studienanfänger auf 35 Prozent erhöht, die un-
ter Ihrer Regierungszeit doch fernab zurückgelegen hat.
– Ich kann doch nichts dazu, Frau Flach, dass Sie heute
nicht reden dürfen. Ich würde jetzt aber gerne weiterre-
den.
Mit dem Programm „Chancengleichheit für Frauen in
Bildung und Forschung“ haben wir nachweislich deren
Anteil in Wissenschaft und Forschung erhöht. Diesen
Haushaltstitel, Kollegin Reiche – weil Sie sich sehr enga-
giert für die Frauenförderung in der Union einsetzen –,
gab es unter Ihrer Regierungszeit nicht. Auch das ist ein
Zeichen fehlenden Problembewusstseins.
Wir haben mit der Qualitätssicherung in derWeiter-
bildung begonnen. Sie wird mit dem Hartz-Konzept wei-
tergeführt.
Wir führen sie auch im Bereich des BMBF fort; neue Aus-
bildungsberufe in zukunftsfähigen Bereichen sind zu er-
wähnen. Wir packen außerdem die überfällige Reform
der beruflichen Bildung an.
Schließlich setzen wir viel Energie und Geld dafür ein,
mit dem Programm „Bildung und Betreuung“ Chan-
cengleichheit und Leistung zu fördern und damit den
eklatanten Rückstand Deutschlands aufzuholen.
Nur mit Polemik, liebe Kollegin Böhmer, kann man die
Lage wirklich nicht verbessern.
Zum einen kann ich Ihnen mitteilen, dass Sie offensicht-
lich aus irgendeinem falschen Papier zitiert haben, was
die Verwaltungsvereinbarung für Ganztagsschulen
angeht.
Es gibt an dieser Stelle keinen Entwurf, der mit der Bun-
desregierung abgestimmt ist. Das müssten Sie noch ein-
mal nachlesen. Ansonsten ist die Alternative – nach allem,
was Sie gesagt haben –, überhaupt nichts zu tun und alles
so zu belassen, wie es ist.
Das wäre in dieser Republik tatsächlich unverantwortlich.
Wir haben mit unserer Bilanz gezeigt, dass wir mit
dem, was wir uns vorgenommen haben, und mit diesem
Bundeshaushalt die Herausforderungen der globalen Wis-
sensgesellschaft angenommen und die notwendigen Re-
formschritte eingeleitet haben. Wir werden diesen Weg im
Interesse unseres Landes konsequent fortsetzen.
Weil wieder einmal PISAund die Folgestudien Gegen-
stand der Debatte sind, lassen Sie mich dazu und auch zu
den Konsequenzen einige Anmerkungen machen. Die
Konsequenzen liegen auf der Hand, wenn man die Stu-
dien selber gründlich gelesen hat und wenn man sich mit
den Verantwortlichen dieser Studien ein bisschen intensi-
ver darüber unterhalten hat, wie denn die Hintergründe
und Zusammenhänge in den Ländern aussehen, die wirk-
lich zu den Besten gehören. Dann kommt man zum Bei-
spiel zu folgender Erkenntnis: Von den Besten zu lernen
heißt zuallererst, alte Rituale aufzugeben und sich unideo-
logisch an Fakten zu orientieren. In den leistungsstarken
Ländern gab es bei der Renovierung des Bildungssystems
keine politische Blockbildung, sondern pragmatische
Zusammenarbeit bei der Problemlösung.
Was Deutschland fehlt, so Andreas Schleicher, Koor-
dinator der OECD-Studien, sind langfristige Ziele, und
deshalb geschehe nichts, was nicht kurzfristig erreichbar
wäre. Deshalb wird auch die derzeitige Debatte in der
KMK über Bildungsstandards mit ausgesprochener Skep-
sis gesehen; denn wenn es nur darum geht – manches aus
der Vereinbarung lässt darauf schließen –, die alten Prü-
fungsanforderungen zu vereinheitlichen, sozusagen ob-
jektivierte Selektionsmechanismen zu erfinden, dann ist
das ein Weg, der in die Sackgasse führt.
Von den PISA-Besten lernen heißt, dass Sie Bildungs-
standards nicht als Selektionsmechanismus für Schüler
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verstehen, sondern als Bildungsziele und als Evalua-
tionsinstrument für die Schule und für die Bildungspo-
litik. Das ist der Weg, den Bundesbildungsministerin
Bulmahn eingeschlagen hat. Es kann auch nicht angehen,
dass für die Evaluation die verantwortlich sind, die vorher
die Kriterien festgelegt haben. In den guten PISA-Staaten
machen das unabhängige Einrichtungen. Ich habe aber
den Eindruck, da sind Bund und Länder auf dem richtigen
Wege.
Was Deutschland fehlt – ich zitiere noch einmal
Andreas Schleicher –,
ist eine Debatte darüber, wie unser Bildungssystem im
Jahre 2010 oder 2020 aussehen sollte. Diese Debatte,
meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, darf
man – bei aller hohen Wertschätzung des Föderalismus
und bei all dem, was auch in der Kultusbürokratie an
Fähigkeiten und Kompetenzen vorhanden ist – nicht al-
lein der Kultusbürokratie überlassen. Diese Debatte über
die Zukunft des gesamten Bildungswesens in der Bun-
desrepublik – vom frühen Alter bis wirklich hin zum le-
benslangen Lernen – ist eine Debatte, die meiner Meinung
nach qualifiziert im Deutschen Bundestag geführt werden
müsste. Hier und nirgendwo anders gäbe es mit einer
Enquetekommission „Bildung in der Wissensgesell-
schaft“ das geeignete Forum, über nationale Zukunftsfra-
gen zu diskutieren,
unter Einbeziehung aller Akteure, und das sind nicht nur
die Länder, sondern auch die Kommunen als Schulträger,
Wissenschaftler, Unternehmer, Eltern- und Schülervertre-
ter und, nicht zu vergessen, die vielen Träger der berufli-
chen und der Weiterbildung.
Ich denke, meine Damen und Herren, im Jahre 1 nach
PISA ist es endlich an der Zeit, den dreißigjährigen Bil-
dungskrieg zu beenden. Das erwartet das geneigte Publi-
kum von uns allen. Nur so ist es möglich – andere haben
es vorgemacht –, den großen Wurf in der Bildungspolitik
zu landen. Wir sind zu konstruktiver Kooperation bereit.