Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Etat-
debatten sollen immer auch Grundlinien aufgezeigt wer-
den. Ganz egal wie man einzelne Redebeiträge bewertet,
ein Unterschied ist auf jeden Fall ziemlich deutlich gewor-
den: Rot-Grün ist dabei, unter sehr schwierigen Bedingun-
gen, die mit den Stichworten knappe Kassen, Globalisie-
rung und EU-Erweiterung beschrieben werden können,
den Prozess der Erneuerung zu betreiben. Sie machen et-
was anderes: Sie streuen den Menschen Sand in die Augen
und tun damit so, als ob alles so weitergehen könnte wie
bisher. Das ist der zentrale Unterschied zwischen uns.
Damit orientieren Sie sich sozusagen an der Stimmungs-
tauglichkeit, während wir versuchen, Wahrheiten zu ver-
künden.
– Ich will auf Sie nicht weiter eingehen, weil Ihre Laut-
stärke in einem merkwürdigen Missverhältnis zu Ihren In-
halten steht.
Ich bleibe dabei: Wir werden diese Aufgabe nur be-
wältigen können, wenn wir zu einer großen solidarischen
Gemeinschaftsanstrengung fähig werden. Mindestvoraus-
setzung einer solchen Gemeinschaftsanstrengung ist, die
Wahrheit zu sagen. Das ist der entscheidende Unterschied
zwischen uns.
Die Grundlagen, die wir schaffen, sind ziemlich klar.
Wir versuchen, die Handlungsfähigkeit der Politik zu stär-
ken. Bei Ihnen hört man immer nur: Steuern senken, Staat
weg und damit ist alles gelöst.
Lesen Sie dazu nur einmal bei Ludwig Erhard, den Sie
ja sonst immer so hoch halten, nach,
was er beispielsweise zu dem Verhältnis zwischen Indivi-
dualrechten von Verbrauchern und der Wirtschaft
schreibt. Erhard kommt zu der völlig logischen Schluss-
folgerung, dass Individualrechte gegen starke Wirt-
schaftsmacht keine Chance haben, wenn es nicht auch
eine öffentliche Absicherung, eine staatliche Unterstüt-
zung gibt. So steht es bei Erhard. Lesen Sie das einmal!
Sie kennen so etwas ja gar nicht.
Ich möchte Ihnen ein zweites Beispiel von Erhard nen-
nen. Auf Seite 175 seines Buches „Wohlstand für alle“
heißt es: Es katastropht von morgens bis abends, aber die
Katastrophe finde ich nicht. Damit hat er damals all die-
jenigen Wirtschaftsverbände beschrieben, die nicht in der
Lage waren, die notwendigen Reformen in Richtung so-
ziale Marktwirtschaft durchzuführen. Die heutige Situa-
tion ist eine fatale Parallele dazu.
Überlegen Sie einmal, wer damals am Ende gewonnen
hat!
Zu Ludwig Erhard will ich Ihnen noch einen Satz sa-
gen. Bei Ludwig Erhard steht unter anderem auch, es sei
richtig, dass die soziale Marktwirtschaft auch gegen die
Kräfte der Gewerkschaften verteidigt werden müsse. Da-
nach heißt es, das dürfe aber nicht darüber hinwegtäu-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 867
schen, dass die Wirtschaftsverbände noch sehr viel weni-
ger Interesse an einer sozialen Wettbewerbsordnung hät-
ten. So steht es bei Ludwig Erhard. Lesen Sie das doch
einmal, meine Damen und Herren!
Sie haben nämlich eine sehr einseitige Sicht in diesen Fra-
gen.
Ich glaube, wir sind in einer viel zu schwierigen Zeit,
um eine derartige destruktive bis obstruktive Politik auf
Dauer akzeptieren zu können. Dafür ist das, was im Au-
genblick in unserem Land und in der Welt passiert, zu
ernst. Es besteht ein krasses Missverhältnis zwischen dem
Ernst der Lage und der Art Ihrer Politik.
Wir können keinen Dauerwahlkampf führen. Das müssen
Sie einmal lernen. Ich kann ja verstehen, was Sie machen.
Aber Sie müssen sich auch einmal nach Ihrer Verantwor-
tung fragen, danach, ob es dieses Land verdient hat, dass
man einen permanenten demagogischen Wahlkampf führt
oder ob man sich konstruktiv mit inhaltlichen Fragen aus-
einander setzt.
Meine Damen und Herren, wir sind heute in einer Si-
tuation, wo es vor allem um drei Fragen geht. Erstens. Wie
bewahren wir die öffentlichen, die kollektiven Güter, zu
denen die Umwelt, die Bildung und vieles mehr gehören?
Zweitens. Wie schaffen wir für alle wieder mehr Chan-
cen? Jede gesellschaftliche Analyse zeigt, dass die Leis-
tungsfähigkeit und die Innovationsfähigkeit jener Gesell-
schaften schwinden, die zunehmend ungleich werden.
Das ist die Wahrheit. Umso wichtiger ist es, beispiels-
weise eine Politik zu machen, die über die Reformpolitik,
die ökologische Modernisierung, die Erneuerung der So-
zialsysteme wieder mehr Gerechtigkeit schafft.
Zu all diesen Problemen hören wir von Ihnen keinen Bei-
trag.
Drittens. Wie schaffen wir es, unter einer Leitidee In-
novationen voranzubringen? Die große Leitidee heißt bei
uns Nachhaltigkeit. Wir werden auch Nachhaltigkeit
schaffen. Aber Nachhaltigkeit – das muss jeder wissen –
bedeutet nicht, dass wir das, was wir bisher gemacht ha-
ben, einfach nur fortführen. Es bedeutet vielmehr einen
tief greifenden Umbau, und zu diesem Umbau sind wir
bereit. Es ist ein schwerer Weg, aber wir werden ihn ge-
hen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen uns.
Es ist falsch, zu glauben, mit ebenso einfachen wie
falschen Formeln könnten Sie sich dieser Herausforde-
rung entziehen. Deshalb ist auch das, was Sie im Bereich
Landwirtschaft und Verbraucherpolitik machen, sehr
wohl etwas, was unter dem Stichwort Nachhaltigkeit
steht. Ich will das verdeutlichen.
Wir werden einen Schritt vom Verbraucherschutz zur
Verbraucherpolitik machen. Das ist ein qualitativer
Sprung. Er ist übrigens unter den Bedingungen der Glo-
balisierung wichtiger denn je. Denn wir stehen vor der Al-
ternative: Entweder wird unser Land in einen Dumping-
Wettbewerb hineingezwungen oder wir haben bewusste
Verbraucher, bewusste Bürgerinnen und Bürger, die bereit
sind, diesen Prozess auch unter schwierigen Bedingungen
mitzugestalten. Deshalb gehört beispielsweise zur Ant-
wort auf die Globalisierung eine Stärkung der Verbrau-
cherpolitik, eine Stärkung des mündigen Bürgers.
Wer unter globalen Bedingungen Verbraucherpolitik
nur auf der Angebotsseite sieht, hat die Herausforderung
nicht begriffen. Deshalb heißt Verbraucherpolitik für uns
vor allem: Wir wollen einen Verbraucherschutz erreichen,
der den Bürger fähig macht, sich beispielsweise für so-
ziale und ökologische Standards einzusetzen, auch wenn
es nicht so einfach ist, sich dafür einzusetzen, dass diese
qualitativen Sprünge nach vorn möglich werden. Dafür
soll eine Legitimation geschaffen werden.
Das ist auch ein großes Interesse von uns, weil dieser
Punkt, die ökologische Modernisierung und die Innova-
tion auf dem Feld der Nachhaltigkeit, die große Chance
für Europa beinhaltet, eine führende Rolle in der Welt zu
spielen. Diese Chance wollen wir nutzen. Wir wollen uns
nicht nur anpassen. Das ist der zentrale Unterschied in Ih-
rer und unserer Politik.
Meine Damen und Herren, es ist im wohlverstandenen
Interesse jeder funktionierenden Ökonomie und jedes
funktionierenden Wettbewerbs, den Verbraucher zu stär-
ken. Eine Reihe von Elementen, die dafür erforderlich
sind, haben wir schon genannt. Wir werden in dieser
Legislaturperiode ein Aktionsprogramm „Verbraucherpo-
litik“ auflegen. Wir werden deutlich machen, dass wir in
der Verbraucherpolitik an der Reformdiskussion der
70er-Jahre anknüpfen werden. Dies ist ein wichtiger
Schritt nach vorn.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Landwirtschaft sa-
gen: Es ist für uns wichtig, deutlich zu machen, dass wir
über die Ausweitung in Richtung einer multifunktionalen
Landwirtschaft wieder mehr Unabhängigkeit und mehr Si-
cherheit für die Landwirtschaft erreichen wollen. Die Al-
ternativen sind relativ klar: Entweder man verharrt im Sta-
tus quo mit allen Risiken, die von der EU-Osterweiterung
über die WTO-Verhandlungen bis hin beispielsweise zu
den ökologischen Schäden auf uns zukommen, oder man
geht den Weg der Reformen. Es gibt keinen dritten Weg.
Michael Müller
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Michael Müller
Wir haben uns für den Weg der Reformen entschieden.
Wir werden ihn auch gehen.
Es gibt eben für sich selbst auch nur zwei Möglichkei-
ten: Entweder man nimmt sich ernst und ist zum Denken
und damit auch zu Innovationen fähig oder man verharrt
dort, wo man ist, nämlich in einem Stimmungspopulis-
mus, der unserem Land überhaupt nicht dient.
Vielen Dank.