Rede von
Dr.
Günter
Rexrodt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! In den letzten Wochen – auch heute wieder – hat es
verzweifelte, fast rührende Versuche gegeben, das De-
saster der Bundesfinanzen gewissermaßen als ein Winter-
tief oder Formtief darzustellen, in das jeder gute Sportler
einmal gerät. Man habe ja das Ziel fest vor den Augen und
man werde ein gutes Rennen laufen.
Damit sind wir wieder dabei, den Leuten Sand in die
Augen zu streuen. Seit geraumer Zeit sind wir Letzter
beim Wirtschaftswachstum; wir trotten den anderen in
Europa hinterher. Dann bemüht Herr Eichel, der in einer
bemerkenswerten Art und Weise die Rechnungen aufbe-
reitet hat, Japan, ein Land, das sich seit einem Jahrzehnt
in einer Strukturkrise befindet, und die USA für ein Jahr,
um das schlechte Wirtschaftswachstum in Deutschland zu
relativieren. Und weil das Wirtschaftswachstum so nied-
rig ist, gibt es in Europa nur noch vier andere Staaten, die
eine schlechtere Arbeitslosenquote aufweisen. Was die
Nettoneuverschuldung angeht, ist nur noch Portugal
schlechter als wir. Bei der Nettoneuverschuldung haben
wir über Jahre hinweg die Standards gesetzt und letztend-
lich den Stabilitätspakt durchgedrückt. Wir legen heute
aber Werte vor, die das gesamte Rennen infrage stellen.
Der Stabilitätspakt ist die Grundlage für einen starken
Euro, nach innen und nach außen. Wer da versagt, der ge-
fährdet die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, der
gefährdet Arbeitsplätze und letztlich die Grundlagen un-
seres Wohlstands.
Ich höre schon Herrn Clement und andere – auch Sie,
Herr Eichel, haben sich heute in diesem Sinne geäußert –,
wie sie sagen: Wir dürfen dieses Land nicht schlechtre-
den; wir müssen zusammenstehen. Solche Äußerungen
sind verständlich und nachvollziehbar. Aber damit, Herr
Clement, können wir die Wahrheiten, die ich eben vorge-
tragen habe, nicht aus der Welt schaffen. Haben uns die
Sozialdemokraten geschont, als wir den Zuwachs der
Neuverschuldung in den 90er-Jahren mit den Lasten der
Wiedervereinigung – im Übrigen ein wirklich triftiger
Grund – begründet haben? „Schuldenstaat“ und „Schul-
denkanzler“ haben Sie von den Bänken im Bundestag aus
gehöhnt, als ob die damalige Koalition fahrlässig oder so-
gar vorsätzlich gehandelt hätte. Heute benutzen Sie das-
selbe Vokabular, weil Sie mit Ihrer Finanzpolitik am Ende
sind, Herr Eichel.
Die gesamte Misere der bundesstaatlichen Finanzen
macht sich an zwei Tatbeständen fest.
Erstens. Die Verschuldung wird im Nachtragshaus-
halt 2002 und im Haushaltsentwurf 2003 geradezu explo-
sionsartig ausgeweitet. Ein solcher Druck entsteht nur,
wenn man etwas unter dem Deckel gehalten hat. Was un-
ter dem Deckel war, werden wir uns in den nächsten Wo-
chen anschauen.
Zweitens. Mitten in der Depression verschiebt die rot-
grüne Bundesregierung die seit langem versprochene
Steuerentlastung. Mehr noch: Sie sattelt bei den Steuern
drauf, wild und ungeordnet. Herr Müntefering hat mitt-
lerweile noch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ins
Spiel gebracht, die seit gestern wieder zur Vermögen-
steuer geworden ist. Die Wirtschaft steht Kopf. Jegliche
Kalkulierbarkeit der Belastungen, die auf unsere Unter-
nehmen zukommen, ist nicht mehr möglich.
Man kann sich über die Vergleichbarkeit mit Heinrich
Brünings Politik sicherlich streiten. Aber unbestritten ist
die Tatsache, dass wir eines machen: Deflationspolitik, und
zwar in Reinkultur. Was geschieht, ist das Gegenteil dessen,
was der von Ihnen oft so hoch geschätzte Ökonom John
Maynard Keynes vor Jahrzehnten erkannt hat: In der Re-
zession muss man Steuern senken und nicht erhöhen.
Die expansive Fiskalpolitik hilft Ihnen auch nicht wei-
ter: Die aufgenommenen Mittel fließen eben nicht in zu-
sätzliche Investitionen, sondern überwiegend in die
Transferausgaben, um Löcher zu stopfen. Einen Arbeits-
markteffekt hat das nicht.
Zur Rechtfertigung dieses ökonomischen Wahnsinns
haben Sie nichts anderes als den Hinweis anzuführen,
dass angeblich auch die gegenwärtige Opposition nichts
Besseres anzubieten hat. Das ist mehr als daneben.
Die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Diskussion
der letzten Jahre war davon geprägt, dass wir immer wie-
der eine Reformpolitik angeboten und vorgeschlagen ha-
ben, die auf eine Verbesserung der ökonomischen Rah-
menbedingungen ausgerichtet ist. Unsere Steuerreform
war klar durchgerechnet.
Die Realität ist dadurch geprägt, dass Reformen an
wichtigen Stellen versäumt und bestehende Mängel noch
verschärft wurden. Versäumt haben Sie die Reform im
Gesundheitswesen. Kontraproduktiv war über dreiein-
halb Jahre hinweg Ihre Arbeitsmarktpolitik.
Dann kamen im letzten halben Jahr die Hartz-Vorschläge.
Ein kleines Segment davon wollen Sie nun umsetzen. Der
Verfasser dieser Vorschläge wendet sich mit Grausen von
dem ab, was Sie da umsetzen wollen, Herr Clement.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 755
Ich gebe zu, dass die Reformen, die Sie gemacht haben
– bei Steuern und der Rente –, in die richtige Richtung ge-
hen. Sie haben diese Reformen aber so vermasselt, dass
sich der Mittelstand ausgegrenzt fühlt. Das ist die ei-
gentliche Ursache dafür, dass wir eine anhaltende Rezes-
sion in unserem Lande haben.
Verzagtheit hat sich breit gemacht. Nirgendwo besteht
mehr Glaube an die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Es
herrscht eine Stimmung, wie wir sie seit dem Zweiten
Weltkrieg nicht mehr beobachten konnten.
– Ich heize überhaupt nichts an. Ich beschreibe die Fak-
ten. Gehen Sie doch einmal im Lande umher und hören
Sie sich an, was die Leute sagen und denken, insbeson-
dere die Mittelständler. Das ist doch ein Faktum; das kann
man doch nicht vom Tisch wischen.
Machen Sie eine anständige Politik! Geben Sie den
Leuten wieder eine Zukunftsorientierung! Dann wird die
Stimmung in diesem Lande auch anders werden.
Auf der Ausgabenseite – das ist hier falsch dargestellt
worden –, Herr Eichel, haben Sie nie wirklich kürzen kön-
nen.
Sie haben Etatansätze gekürzt. Die Ausgaben bewegen
sich – das sind doch Ihre Angaben – in den nächsten Jah-
ren auf dem Niveau von rund 250 Milliarden Euro. Da
geht nichts herunter, das geht sogar ein Stück hoch. Das
Niveau ist nicht verändert worden.
– Herr Eichel, schauen Sie doch Ihre eigenen Zahlen an. –
Das hat seine Ursachen darin, dass Sie nie den Sozialbe-
reich haben reformieren können, so wie es schon aufgrund
der demographischen Entwicklung notwendig ist.
– Das ist ein gutes Stichwort.
Dann haben Sie die Ökosteuer erfunden. Das war im-
mer schon eine Dreistigkeit insbesondere von den Grü-
nen. In Wirklichkeit sind die Beiträge zur Rentenversi-
cherung nicht gesenkt worden; vielmehr sind sie
gestiegen.
Das ist eine merkwürdige Steuer.
Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie
jetzt noch durch die weitere Erhöhung und durch den
Abbau dessen, was Sie Steuervergünstigungen nennen,
die energieintensiven Betriebe aus Deutschland vertrei-
ben wollen, dann wird auch unter umweltpolitischen
Aspekten eine noch magerere Bilanz entstehen. Wenn
Aluminium künftig nicht mehr im Rheinland, sondern in
Osteuropa oder der Dritten Welt geschmolzen wird, sieht
die Umweltbilanz in globaler Betrachtung verheerend
aus.
Die einzig Leidtragenden sind die deutschen Arbeit-
nehmer, die ihre Arbeitsplätze in großer Zahl verlieren,
und ist der Staat, der keine Steuern mehr erhält.
Ein altes und nunmehr wieder neues Argument wird zur
Begründung einer solchen kontraproduktiven Politik he-
rangezogen: Angeblich stimme die Lastenverteilung in
diesem Lande nicht.
Ich komme noch einmal auf John Maynard Keynes
zurück. Er hat zur Umverteilungspolitik einmal gesagt:
Es kommt darauf an, den Kuchen größer zu machen, den
es zu verteilen gilt, dann haben alle etwas davon. – Wer
anderes will, erzeugt lähmende Verteilungsdebatten und
Verdrossenheit. Er vernichtet Leistungsbereitschaft und
Risikofreude. Die Beispiele dafür gibt es zuhauf, in unse-
rem Land und anderswo.
Die heute vorgelegten Haushaltsgesetze sind Ausdruck
großer Hilflosigkeit. Diese Gesetze sind abzulehnen.
Wenn dies nicht gelänge, wäre es kein guter Tag für unser
Land.
Herzlichen Dank.