Rede von
Lothar
Binding
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich
habe heute alle Debattenredner gehört und möchte des-
halb eingangs etwas zur Form der Urteilsbildung und zu
den Ankündigungen der Opposition sagen, dass man hier
und da – Herr Meister hat eben einige Vorschläge ange-
deutet – recht gut zusammenarbeiten könnte, wenn die
Regierung nur wollte.
Ich glaube aber, dass die Form der Urteilsbildung und der
Stil unseres Umgangs miteinander definiert, ob so etwas
möglich ist.
Ich nenne ein Beispiel: Wenn jemand sagt, da habe sich
jemand geirrt, meine ich, dass das in Ordnung ist. Auch
dass sich jemand getäuscht habe, darf man sagen. Auch
dass jemand nicht alle Hoffnungen und Befürchtungen
formuliert hat, darf gesagt werden. Darf man aber, weil je-
mand einen vielleicht klugen, vielleicht auch weniger klu-
gen Vorschlag gemacht hat, wie Frau Merkel sagen, er
habe perverse Auffassungen? Das wurde nicht von ir-
gendjemandem am Stammtisch nach dem fünften Bier ge-
sagt, sondern es ist heute im „Tagesspiegel“ zu lesen. Dort
war auch etwas von Wahnvorstellungen zu lesen. Darf
man das sagen und damit eine Basis zerstören, auf der Sie
eben noch ein Gesprächsangebot gemacht haben?
– Sehen Sie, Sie verstärken genau diese Ebene der Aus-
einandersetzung noch. Exakt das ist das Übel.
Jemand hat von einem „Amoklauf“ gesprochen oder
– was ich noch schlimmer fand – von einem Aufruf zum
Widerstand. Das klingt zwar modern, aber das Lahmlegen
von Finanzämtern bedeutet etwas anderes. Das ist die im-
plizierte Legalisierung und Belohnung im Urteil derjeni-
gen, die gar keine Steuern mehr zahlen. Das hat auch eine
Gerechtigkeitskomponente: Wenn niemand mehr Steuern
zahlt, haben tatsächlich alle das Gleiche gezahlt. Das
stimmt. Damit verhält es sich ähnlich wie mit der FDP-
Idee, wenn jeder an sich selber denke, sei auch an jeden
gedacht. Damit muss man aber sehr vorsichtig sein.
Dr. Michael Meister
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Lothar Binding
Es gibt aber auch eine Aufgabe der Opposition. Diese
Aufgabe besteht auf der einen Seite darin, Kritik an unse-
ren Konzepten zu formulieren, auf der anderen Seite ist
aber auch der kritische Vergleich der eigenen Konzepte mit
denen der Regierung anzustreben. Das funktioniert aber
nur dann, wenn man ein eigenes Konzept vorlegt. Wenn
man die eine Hälfte vollständig vergisst, dann hat man
seine Rolle als Opposition nicht seriös wahrgenommen.
Ich meine sogar, dass es noch schlimmer ist. Das Fehlen
eines eigenen Konzepts, kombiniert mit den eben erwähn-
ten Zitaten „perverse Auffassungen“, „Wahnvorstellungen“
und „Amoklauf“ – vorhin sprach sogar jemand, es war wohl
Herr Austermann, in einem Zwischenruf von „Steuerterror“,
und das angesichts dessen, wie das Wort „Terror“ gerade
zurzeit belegt ist –, zeigt, dass die Opposition Urteile fällt,
die sie früher oder später in ihrer Aufgabe der Wahrung
der Demokratie selber einholen.
Das ist eine große Gefahr.
Es gibt aber auch Wahrnehmungsunterschiede. Ich
zitiere noch einmal Herrn Austermann. Er hat behauptet,
1998 sei die Arbeitslosigkeit gesunken – wenn ich mich
richtig erinnere, lag die Zahl der Arbeitslosen damals trotz
ABM bei 4,8 Millionen – und das Wachstum habe bei
3 Prozent gelegen.
– Es geht nicht um Wahrnehmungsprobleme, sondern um
die Statistik. – Wenn ich mich nicht täusche, dann sind
3 Prozent mehr als 2 Prozent. Das Wachstum lag damals
bei 2 Prozent. Sie behaupten aber, dass es 3 Prozent ge-
wesen seien. Wenn ich Ihr Urteil reflexiv auf Sie an-
wende, dürfte ich dann das Wort „Lüge“ benutzen? Denn
Sie haben ja gerade in der jetzigen Debatte behauptet, das
Wachstum habe 1998 bei 3 Prozent gelegen. Es waren
aber, wie gesagt, nur 2 Prozent. Das war wahrscheinlich
nur ein „Wahrnehmungsunterschied“.
Sie haben des Weiteren sinngemäß gesagt, die Sozial-
kassen seien damals übervoll gewesen. Wenn ich mich
richtig erinnere, dann hatten wir damals Probleme mit der
Rentenversicherung, der Krankenversicherung, der Ar-
beitslosigkeit und der Staatsverschuldung.
Das sind vier „kleinere“ Probleme, die wir zwar noch
nicht gelöst haben. Aber wir haben uns auf den Weg ge-
macht, sie zu lösen.
Wir haben aber auch ein Definitionsproblem. Das be-
ginnt aus meiner Sicht beim Begriff des Mittelstandes.
Wenn die Kollegen von der CDU/CSU das Wort „Mittel-
stand“ benutzen, dann klingt das immer so, als ob sie den
Handwerker um die Ecke oder den Unternehmer, der viel-
leicht fünf oder zehn Angestellte hat, meinten. Die volks-
wirtschaftliche Definition geht aber davon aus, dass all
diejenigen Unternehmen zum Mittelstand gehören, die ei-
nen Umsatz von bis zu 50 Millionen Euro und bis zu
500 Mitarbeiter haben. Das ist die erste Definition. Die
zweite geht von den Personengesellschaften aus. Je nach-
dem, in welchem Kontext Sie über den Mittelstand disku-
tieren, benutzen Sie wahlweise einmal den einen und ein-
mal den anderen Begriff. Das kann man leicht erkennen.
Sie behaupten, wir hätten nicht dem Mittelstand, sondern
nur den Aktiengesellschaften und den GmbHs geholfen.
Sie vergessen dabei natürlich, die mittelständischen
GmbHs zu erwähnen; denn deren Steuerbelastung haben
wir auf 25 Prozent – das ist der Körperschaftsteuersatz –
gesenkt. Das ist eine wunderbare Sache. Deshalb haben
wir auch diesem Teil des Mittelstandes geholfen.
Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass wir der anderen
Mittelstandskomponente, den Personengesellschaften,
nicht geholfen hätten. Den Personengesellschaften haben
wir in der Tat nicht durch Steuersenkungen helfen kön-
nen; denn diese zahlen überhaupt keine Steuern. Der Ge-
winn einer Personengesellschaft – das ist vielleicht nicht
so bekannt – wird nicht besteuert, sondern – wie durch ein
Wunder – dem Einkommen des Anteilseigners zugerech-
net und als Einkommen versteuert. Die Einkommensteuer
haben wir definitiv gesenkt. Deshalb haben wir auch den
kleinen und mittleren Betrieben des Mittelstandes, die in
der Rechtsform der Personengesellschaft organisiert sind,
in erheblichem Maße geholfen.
Es ist also wichtig, die unterschiedlichen Definitionen
von „Mittelstand“ auseinander zu halten; denn nur dann
kann man den Wahrheitsgehalt einer Aussage überprüfen.
Wir haben mit Sicherheit aber auch ein Problem mit dem
Begriff der Subvention. Ein Kollege sagte vorhin, wenn er
für Subventionsabbau plädiere, dann habe er 120 Prozent
Zustimmung. Wenn aber jemand einen konkreten Vorschlag
zum Subventionsabbau macht, dann wird sich derjenige
– das wird niemanden hier verwundern – gegen den Abbau
der Subvention wehren, der von der Subvention bisher pro-
fitiert hat. Deshalb bekommen wir entsprechende Briefe.
Ich finde es auch in Ordnung, dass sich diejenigen beschwe-
ren, denen man die Subvention streicht. Diese vergessen
aber, dass jede Subvention, die ein Einzelner, eine Gruppe
oder eine Branche erhält, von allen Steuerzahlern finanziert
werden muss. Natürlich vermissen wir die Dankesbriefe der
Steuerzahler, wenn wir Subventionen streichen.
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Auch die Senkung der Einkommensteuer und der Körper-
schaftsteuer muss von allen Steuerzahlern finanziert wer-
den, also auch von denjenigen, die jetzt auf Subventionen
verzichten müssen.
Herr Meister, unser Ansatz ist, die Bemessungsgrund-
lage zu verbreitern, die steuerlichen Ausnahmen – Jörg-
Otto Spiller hat ja alle aufgezählt – zu beseitigen und die
Steuersätze zu senken. Wenn Sie sich richtig erinnern,
dann müssen Sie zugeben, dass wir das auch erreicht ha-
ben; denn 25,9 Prozent Einkommensteuersatz sind mehr
als 15 Prozent. Momentan sind es 19 Prozent, ungerade.
Auch nach Ihrer Rechnung dürften 40 Prozent mehr sein
als 25 Prozent. Sie sehen also, dass die Steuersätze gesenkt
wurden und dass die Bemessungsgrundlage verbreitert
wurde. Das entspricht Ihrem Kompromissvorschlag. Er
steht aber schon im Gesetz. Das gilt auch für 2004 und
2005. Insofern ist das, was Sie vorschlagen, leider kein
neues Konzept. Das hätten wir gerne gehabt.
Man muss aber zugeben: Spurenelemente eines eige-
nen Konzepts hat heute Herr Merz vorgetragen. Er hat zu
Herrn Eichel hinübergesehen und gesagt: Ich mache Ih-
nen den Vorschlag ... – das korrigierte er gleich –, ich ma-
che Ihnen das Angebot, noch vor Jahresende über das
Scheinselbstständigengesetz zu sprechen. Anschließend
kamen noch vier Aspekte und er fasste zusammen: Ich
mache Ihnen den Vorschlag, darüber zu reden, eine intel-
ligente Lösung bei der Flexibilisierung zu finden. Als ob
für unsere Probleme das einzig mögliche Konzept sei, da-
rüber zu reden, die Flexibilisierung zu verbessern.
Als konkretes Beispiel nannte er den Kündigungsschutz.
Was bedeutet es jedoch im Ergebnis, Ihren Begriff „Kün-
digungsschutz“ mit Flexibilisierung zu kombinieren? –
Das bedeutet Abschaffung des Kündigungsschutzes.
Dann soll man das auch so benennen.
Im Rückblick und wenn man über Konsequenzen nach-
denkt, die man heute als Spätfolgen einer Politik, die vor
unserer Zeit liegt, zu ziehen hat, möchte ich auf Folgendes
hinweisen: In den 80er- und 90er-Jahren gab es Flexibilisie-
rung und keine Ökosteuer. Wir hatten weltwirtschaftliches
Wachstum. Die Inflationsrate war erträglich. Wir hatten mit
den Fördergebietsgesetzen ein Wahnsinnsprogramm. Die
Gewinnsteuern konnten ohne Ende weggestaltet werden.
Was ist in all dieser wunderschönen Landschaft passiert? –
Die Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung sind ge-
stiegen. Das aufzuräumen ist heute unsere Aufgabe. Ich
meine, ausgehend von dieser schwierigen Basis haben wir
schon einiges geleistet.
Jetzt komme ich auf einzelne Punkte zu sprechen, die,
wenn man Ihr Vokabular benutzen würde, vielleicht sozu-
sagen zum Grenzfall der Lüge hin definiert werden könn-
ten. Aber ich sage einmal: Das waren Irrtümer und viel-
leicht mangelnder Sachverstand. Der Kollege Merz sagte
heute, es habe ein Körperschaftsteuergeschenk gegeben.
Die versteuerten Unternehmensgewinne seien im Nach-
hinein entlastet worden in der Annahme, dass die EK 45
und die EK 40 auf 25 Prozent heruntergezogen würden.
Das entspricht aber nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist:
EK 45 und EK 40 gingen nur auf 30 Prozent zurück. Des-
halb hat Herr Merz an dieser Stelle – ich möchte es vor-
nehm sagen – nicht die Wahrheit erreicht.
– Das ist natürlich möglich. Wenn einer etwas nicht weiß,
werfe ich es ihm nicht vor. Deshalb habe ich gesagt: „Die
Wahrheit nicht erreicht.“ Dann bin ich auf der sicheren
Seite.
Dabei hat er vergessen, dass wir die Verlustvorträge, die
damals entstanden sind, in der letzten Legislaturperiode ver-
kraften mussten. Für die Zuschauer im Saal sage ich: Erst
wir haben damit aufgehört, dass nicht wie früher die Kör-
perschaftsteuer dem Staat nur geborgt wurde. Wenn eine
Aktiengesellschaft eine Körperschaftsteuer in den Steuer-
topf von Waigel gegeben hat, dann hat er diese ausgegeben
und ein paar Schulden gemacht. Hans Eichel musste die
Körperschaftsteuer einige Jahre später an die Anteilseigner
wieder auszahlen. Es war also eine geliehene Steuer. Das ist
heute nicht mehr so. Das ist eine ganz wichtige Sache.
Ich komme nun auf ein schönes, aber falsches Bild zu
sprechen. „Beton statt Bildung“ war ein wunderbares
Motto. Artikel 104 a des Grundgesetzes bezieht sich auf
investive Mittel. Das bedeutet eben nicht nur Beton – das
ist auch ein Wahrnehmungsunterschied –, sondern das
sind die Mittel für Bibliotheken und deren Einrichtungen,
sodass man sich vielleicht, wenn man den Begriff „Beton“
weit genug fasst, vorstellen muss, dass künftige Bücher
von Merz aus Beton sind.
Es wurde auch gesagt, die Steuerbelastung habe den
Höchststand erreicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass
die Steuerquote nach dem Urteil des Sachverständigenra-
tes so niedrig ist wie seit elf Jahren nicht mehr und die Ab-
gabenquote – ich nenne aus der Tabelle ein unverdächtiges
Datum – 1987 bei 38,8 Prozent lag. Heute liegt sie bei
38,5 Prozent. Nach meiner Einschätzung ist 38,8 Prozent
mehr als 38,5 Prozent.
Ein weiteres unverdächtiges Datum ist das Jahr 1995.