Rede von
Marion
Seib
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! In der letzten Woche ging folgende Nachricht
durch die Medien: Gut 2 Millionen junge Menschen stu-
dieren an deutschen Hochschulen. Jeder dritte Jugendli-
che eines Altersjahrgangs entscheidet sich mittlerweile
für ein Studium. – Nach PISA-Schock und UNICEF-
Ohrfeige könnte man meinen: endlich einmal eine gute
Nachricht. Aber: Masse – das müssen wir uns vor Augen
halten – ist nicht gleich Klasse.
Die Universitäten und Forschungseinrichtungen in un-
serem Land sollen nicht nur die größtmögliche Zahl von
Studenten durchschleusen; sie sollen auch und gerade
Spitzenforschung betreiben.
Spitzenforschung ist nur mit einer guten finanziellen Aus-
stattung möglich.
Neben den Ländern kommt dem Bund eine wichtige
Rolle bei der finanziellen Unterstützung der Forschungs-
einrichtungen zu. Man muss allerdings fragen, ob sich die
Bundesregierung dieser großen Verantwortung überhaupt
bewusst ist. Anstatt sich auf die im Grundgesetz vorgege-
benen Kernkompetenzen zu konzentrieren, mischte sich
der Bund in der vergangenen Legislaturperiode massiv in
die Verantwortungsbereiche der Länder.
Weder die Einführung der zwangsverfassten Studenten-
schaft noch das Verbot von Studiengebühren fällt in den
Aufgabenbereich des Bundes.
Obendrein, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist es
verlogen, den Ländern eine Finanzierungsmöglichkeit ab-
zuschneiden, ohne einen finanziellen Ausgleich dafür zur
Verfügung zu stellen. Eine aufgabengerechte Neuverteilung
der Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern wäre
wohl das Mindeste, was Sie den Ländern anbieten müssten.
Eine Abgabe von Umsatzsteuerpunkten durch den Bund
an die Länder wäre ein wichtiger und guter Anfang.
Besser noch: Streben Sie mit den Ländern gleich den
großen Wurf an! Beenden Sie die lähmende Mischfinan-
zierung! Entflechten Sie die Förderprogramme und über-
tragen Sie die frei werdenden Finanzmittel auf die Länder!
So können die Hochschulen besser ihr eigenes Profil ent-
wickeln und sich den Herausforderungen einer modernen
Bildungslandschaft stellen.
Warten Sie nicht, bis Karlsruhe Ihnen die rote Karte
zeigt!
Die Zeit drängt. Bereits jetzt sind die Folgen Ihrer ver-
fehlten Forschungspolitik sichtbar. Landauf und landab
klagen Wissenschaftler über einen Wust an Vorschriften.
Dieser Wust zeugt von einem schweren Misstrauen gegen
Forschung und Lehre in Deutschland und ist zudem ge-
paart mit der Überheblichkeit Ihrerseits, alles besser zu
wissen. Das Schlagwort von der Freiheit von Forschung
und Lehre ist zu einer ganz hohlen Formel verkommen.
Nun stehen Sie mit leeren Händen da. Die Wähler und
Wählerinnen fühlen sich massiv getäuscht und betrogen.
Nicht nur im Bereich Soziales und Gesundheit, sondern
auch im Bereich Bildung und Forschung wurden die
Wähler verschaukelt. Auf das potemkinsche Dorf beim
4-Milliarden-Euro-Schulbauprogramm, das Sie „Ganz-
tagsschulprogramm“ nennen, haben meine Kollegen
und Kolleginnen von der Union bereits hingewiesen.
Ulrich Kasparick
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Marion Seib
Verehrte Frau Kollegin, wir wollen stattdessen Wahlfrei-
heit für Familien herstellen. Wir wollen die bedarfsge-
rechte Lösung vor Ort.
Wir wollen die Förderung der familienergänzenden und
nicht der familienentziehenden Erziehung.
Wir wollen Lehrer statt Mauern.
Ihre leeren Hände zeigen sich nicht nur in diesem Teil-
bereich, sondern auch im gesamten Bereich von Bildung
und Forschung. Auch nach dem neunten Debattenbeitrag
ist noch nicht klar, wie viel Mittel zur Verfügung stehen.
In der Debatte am 12. September war von 9,3 Milliarden
Euro die Rede. Nach der Kabinettssitzung hieß es:
8,7 Milliarden Euro. Heute sprechen Sie von 9,1 Milliar-
den Euro. Im Haushalt sind 8,4 Milliarden Euro ausge-
wiesen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, welche
Zahlen gelten nun eigentlich? Werden hier Mittel aus der
Ressortforschung hin und her geschoben? Wie kommt
heute plötzlich die Zahl von 9,1 Milliarden Euro zu-
stande?
In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung ist davon die
Rede, dass Sie weitere Anstrengungen unternehmen wol-
len,
um weltweite Spitzenleistungen in der Forschung zu
ermöglichen.
Weiter heißt es:
Es gilt, Innovationen in Deutschland zu fördern, die
Grundlagenforschung zu stärken und durch Beiträge
von Wissenschaft und Forschung die Entwicklung
einer nachhaltig zukunftsfähigen Wirtschaft und Ge-
sellschaft in Deutschland voranzubringen.
Da kann ich nur sagen: Richtig! Gut gemacht! Das unter-
stützen auch wir.
Doch knapp einen Monat später handelt die Bundes-
regierung völlig entgegen ihrer eigenen Koalitionsverein-
barung. Sie widerruft Haushaltszuwächse für die von
Bund und Ländern gemeinsam geförderten Forschungs-
einrichtungen und ruft zusätzlich eine Nullrunde aus, die
eigentlich eine Minusrunde ist.
Dies geschieht ohne jegliche Rücksprache mit den Län-
dern und entgegen der Vereinbarung mit der Bund-Län-
der-Kommission im Sommer dieses Jahres.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Mittel-
streichungen stellen einen schweren Schlag für die
Grundlagenforschung in Deutschland dar. Deutschland
darf nicht den Ast absägen, auf dem es sitzt. Nach der
Veröffentlichung der PISA-Studie ist oft, auch heute wie-
der, darauf hingewiesen worden, wie wichtig dieser Be-
reich ist. Um das vorhandene Potenzial richtig nutzen zu
können, braucht man mehr als bloße Lippenbekenntnisse.
Notwendig ist – ich erinnere an Herrn von Weizsäcker, der
vorhin in der Debatte zur Umweltpolitik auf die Notwen-
digkeit einer langfristigen Politik hingewiesen hat – vor
allem eine über die Legislaturperiode hinaus angelegte,
verlässliche mittel- und langfristige Finanzierung der For-
schungseinrichtungen. Sonst lässt sich eine langfristig an-
gelegte Grundlagenforschung nicht realisieren.
Es kann nicht sein, dass noch im Juni versprochen
wurde, 2,3 Milliarden Euro für gemeinsame For-
schungsförderung auszugeben, und dass diese zugesag-
ten Mittel wenige Monate später komplett gestrichen wer-
den. So erreicht man kein größeres Vertrauen in den
Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland.
Die Forschungseinrichtungen unseres Landes schlagen
zu Recht Alarm. Am bedrohlichsten ist aber, dass bei der
Deutschen Forschungsgemeinschaft 2000 Stellen für
Nachwuchswissenschaftler zur Disposition stehen. Der
wissenschaftliche Nachwuchs kann nicht warten, bis die
Regierung die Folgen ihrer Vollbremsung kapiert. Die
jungen Leute werden sich im Ausland umschauen, wo sie
gebraucht werden und gern gesehen sind. Das bedeutet
eine Vernichtung von Know-how und Engagement. In
Ihrem Ministerium scheint man von Knowledge Manage-
ment noch nie etwas gehört zu haben, wenn Sie beim Bil-
dungsmanagement für die gesamte Republik glauben, mit
Vollbremsungen Wissenschaftler fördern zu können.
– Ich habe im Moment das Wort.
Durch die Regierung werden die Eckpfeiler der deut-
schen Forschungslandschaft wie die Max-Planck-Gesell-
schaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die
Fraunhofer-Gesellschaft nicht gestützt, sondern erheb-
lichen Belastungen ausgesetzt.
Frau Bundesministerin, wenn Sie wirklich einen wei-
teren, also einen dritten, verbeamteten Staatssekretär
brauchen,
dann muss ich Ihnen sagen: Wenn Sie schon Gehälter für
Bildung ausgeben wollen, dann geben Sie sie für diejeni-
gen aus, die Bildung vermitteln und Forschung betreiben,
und nicht für diejenigen, die Bildung und Forschung ver-
walten.
Dass es auch anders geht, zeigen uns die Amerikaner. Das
haben wir heute schon mehrmals gehört.
Nicht nur bei den Forschungseinrichtungen, sondern
auch bei den Fachhochschulen regiert der Rotstift der
Bundesregierung. 1992, also zu unserer Regierungszeit
– Sie haben vorhin so gerne den Blick in die Vergangen-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 825
heit gerichtet –, wurde das Programm zur anwendungs-
orientierten Forschung gestartet.
Der Mittelstand sollte schneller als bisher an Forschungs-
ergebnissen teilhaben können. Nun werden die Mittel
gekürzt. Das ist ein schönes Geschenk zum zehnjährigen
Bestehen dieses Programms. Das bringt dem Mittelstand
– zusätzlich zu dem Steuerdruck und dem Regelungs-
wirrwarr – vor allem auch einen erschwerten Zugang zur
aktuellen Forschung. Das ist ein weiterer Sargnagel für
den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, schon Präsi-
dent John F. Kennedy stellte klar, dass es nur eines gibt,
was auf Dauer teurer ist als Bildung, nämlich keine Bil-
dung. Wer Bildung will, braucht Lehrer. Wer Forschung
will, braucht Wissenschaftler. Wir wollen keinen Zentra-
lismus in der Bildungs- und Forschungspolitik und keine
kurzatmigen Schulbauprogramme. Wir wollen die freie
Hand der Länder beim Mitteleinsatz und die Beibehaltung
föderaler Strukturen.
Deshalb fordern wir
die Aufhebung der Gemeinschaftsaufgabe Bildungspla-
nung, den Abbau der Mischfinanzierungen und der Ge-
meinschaftsaufgabe Hochschulbau sowie eine aufgaben-
gerechte Neuverteilung der Steuereinnahmen zwischen
Bund und Ländern. Dies bringt uns in der Bildungspolitik
weiter. Dies sind wir den jungen Wissenschaftlern, den
Studenten und den Schülern schuldig.
Vielen Dank.