Frau Kollegin Tillmann, ich gratuliere Ihnen herzlich
zu Ihrer ersten Rede.
Beim nächsten Mal werde ich strenger mit Ihnen sein und
Sie nicht so lange überziehen lassen.
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Irmingard
Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal freue ich mich sehr darüber, dass diese
Debatte eine so große Wertschätzung auch der werten
Kollegen des Hauses genießt. Frauen- und Familienpoli-
tik ist ja auch ein wichtiges Thema.
Mit dem Haushalt für das Jahr 2003 schreiben wir auch
beim Einzelplan 17 die Prinzipien der letzten vier Jahre
fort. Sie heißen: Gerechtigkeit, Modernisierung und Kon-
solidierung der Finanzen. Gerechtigkeit im Haushalt des
Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
heißt für uns Grüne: Generationengerechtigkeit, Ge-
schlechtergerechtigkeit, aber auch Wehrgerechtigkeit.
Ich beginne mit der Generationengerechtigkeit.
– Das kommt noch, Kollegin Lenke, das ist ja Ihr Spe-
zialthema. – Wir werden nicht nur bei der Rentenreform
dafür sorgen, dass die Lasten zwischen den Generationen
gleichmäßig verteilt werden; wir haben auch mit einer Po-
litik Schluss gemacht, die Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, zu vertreten haben, nämlich mit der
kohlschen Politik, die bedeutet: weiter so, aussitzen und
Schulden machen zulasten der nächsten Generation.
Ich gebe zu: Der seit vier Jahren anhaltende Sparkurs
hat auch uns schmerzliche Prozesse abverlangt. Aber er ist
ohne Alternative, wollen wir nicht unseren Kindern einen
immer größeren Schuldenberg hinterlassen. Darum ist
auch die Kürzung beim Einzelplan 17 um 5,4 Prozent
nicht nur ein Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen,
sondern auch ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit.
Im Wesentlichen sind die Kürzungen durch drei Maß-
nahmen erreicht worden: durch die Verringerung beim Er-
ziehungsgeld aufgrund geringerer Geburtenzahlen, durch
niedrigere Ausgaben beim Unterhaltsvorschuss und durch
die Reduzierung der Zahl der Zivildienstleistenden. Auch
beim Zivildienst spielt für uns Gerechtigkeit eine große
Rolle: Gerechtigkeit zwischen Wehrpflicht und Zivil-
dienst. Wir haben hier enorme Schritte der Angleichung
vollzogen. Daher können weitere Kosten für den Zivil-
dienst eingespart werden.
Es steht allerdings noch das Thema Wehrgerechtig-
keit aus, Frau Kollegin Lenke. Wie können wir es einem
jungen Mann erklären, dass lediglich ein Drittel eines
Jahrgangs zum Wehrdienst verpflichtet wird, dass aber
genauso viele junge Männer weder Wehrdienst noch Zi-
vildienst leisten müssen?
Das stellt nicht nur das Gerechtigkeitsgefühl der jungen
Menschen auf den Kopf. Eine Freiwilligenarmee wäre al-
leine aus Gründen der Gerechtigkeit die richtige Antwort.
Ich komme zum Stichwort Geschlechtergerechtig-
keit. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wie
steht es eigentlich um die Gerechtigkeit zwischen den Ge-
schlechtern, wenn 50 Jahre nach Inkrafttreten des Gleich-
heitsgebots im Grundgesetz Frauen trotz besserer Schul-
abschlüsse und trotz besserer Ausbildung noch immer
durchschnittlich 25 Prozent weniger verdienen als Män-
ner?
Haben wir nicht in der Tat ein Demokratieproblem,
wenn in den Vorständen der 100 größten deutschen Akti-
engesellschaften nicht einmal eine Vorstandsfrau vertre-
ten ist?
Hier auf die Einsicht der Unternehmen zu warten – ich
komme auf Ihr Stichwort – wäre fahrlässig. Ich will nicht
so weit gehen wie die schwedische Ministerpräsidentin,
die ab 2004 eine Quote von 25 Prozent für die Führungs-
etagen der großen Firmen erlassen will. Trotzdem dürfen
wir die Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung entlas-
sen.
Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik müssen sehr bald
ein Bündnis für die Frauenerwerbsarbeit schließen. Dabei
muss der Staat für Rahmenbedingungen wie ein flächen-
deckendes qualifiziertes Kinderbetreuungsangebot sor-
gen. Sie sind die Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit
von Eltern.
Trotzdem gibt es noch viele Hemmnisse für Frauen,
auch ohne Kinder. Darum brauchen wir die von Ihnen ge-
wünschten gesetzlichen Regelungen, die keine bürokrati-
schen Monster sind, sondern gut umsetzbar sind.
Wir brauchen Anreize für die Vergabe öffentlicher Auf-
träge und die Umsetzung von Gender Mainstreaming als
durchgängigem Leitprinzip.
Das heißt, bei jeder Maßnahme muss geprüft werden, wie
die Auswirkungen auf Männer bzw. Frauen sind. Ein
Gender-Kompetenzzentrum wird dieses Anliegen ab
2003 voranbringen, es stellt ein erhebliches Modernisie-
rungspotenzial im Gleichstellungsprozess dar.
Da ich beim Thema Gleichstellung bin, kann ich es mir
nicht verkneifen, heute einer großen Frau zu gratulieren,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 841
die in ihrem sechzigjährigen Leben sehr viel für die
Gleichstellung und die Rechte von Frauen getan hat, näm-
lich Alice Schwarzer. Herzlichen Glückwunsch zum Ge-
burtstag!
Meine Damen und Herren, spätestens seit dem Bericht
der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“
wissen wir, dass die Lebenserwartung steigt und der An-
teil der Älteren an der Gesellschaft zunimmt. Das ist kein
Unglück, wie manche Presseberichte signalisieren, son-
dern eine große politische Herausforderung für die sozia-
len Sicherungssysteme. Die Frühverrentungsideologie,
die dazu geführt hat, dass die Versicherungskassen geleert
und leistungsbereite Menschen zum alten Eisen abge-
stempelt wurden, muss beendet werden. Wir brauchen das
Erfahrungswissen älterer Menschen.
Auf die Frage, wie dies besser genutzt werden kann
und wie sich die Situation der älteren Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen darstellt, hat die Ministerin in zwei
Modellprogrammen Vorschläge gemacht, die wir hier
demnächst präsentieren werden. Es ist doch eine un-
glaubliche Verschwendung von Wissen und Erfahrung,
wenn in Deutschland fast jeder Zweite über 50 Jahre nicht
mehr erwerbstätig ist.
– Wir tun etwas. Die Frühverrentung war in der Ära Blüm
sehr weit fortgeschritten. Wir werden Änderungen her-
beiführen.
Auch die Situation älterer und pflegebedürftiger Men-
schen werden wir weiter verbessern. Mit dem Heimgesetz
und dem Altenpflegegesetz haben wir begonnen. Eine
Enquete-Kommission „Menschen in Heimen“, die meine
Fraktion befürwortet, könnte hier einen großen Beitrag
leisten.
Zum Schluss möchte ich auf ein wichtiges Anliegen
der Grünen hinweisen, das ab 2003 startet, nämlich die
modellhafte Erprobung einer integrierten Alten- und
Krankenpflegeausbildung. Das bedeutet mehr Qualität
in der Pflege und weniger Burn-out-Syndrome beim Pfle-
gepersonal.
Ich habe hier nur einen kleinen Bereich der vielfältigen
Aktivitäten des Ministeriums beleuchtet. Eines wird aber
deutlich: Die Interessen von jungen und alten Menschen,
von Frauen und Familien, von hier Geborenen und Zuge-
wanderten werden von Rot-Grün bestens vertreten.
Ich danke Ihnen.