Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Alle Fantasie, auch alle Böswilligkeit und Miss-
gunst, zu denen man vielleicht fähig sein könnte, hätten
nicht ausgereicht, um das vorhersagen zu können, was Sie
kurz nach der Wahl an Verwirrung, an Verunsicherung
und an Chaos in Deutschland angerichtet haben. Das
Schlimmste aber ist: Sie haben das Vertrauen der Bürger
missbraucht, das Vertrauen der Wirtschaft zerstört,
das Vertrauen der Anleger und Investoren verloren und
insbesondere auch das Vertrauen ausländischer Freunde
mit Füßen getreten.
Eine der Hauptursachen, wenn nicht die Hauptursache,
für die desolate Situation in Deutschland ist der Verlust
von Vertrauen und Glaubwürdigkeit, wie es das gegen-
über einer Regierung wohl bisher noch nie gegeben hat.
Dieses wird Ihnen jeden Tag in allen Medien immer wie-
der bescheinigt.
Renommierte Kommentatoren wie Helmut Maier-
Mannhart werfen Ihnen mittlerweile arglistige Wähler-
täuschung und Bürgerverdummung vor, beklagen aber
zudem ebenso wie die Sachverständigen die fehlende Per-
spektive. Wörtlich schreibt Maier-Mannhart in einem
Beitrag für die „Passauer Neue Presse“:
Dass man die Wähler arglistig getäuscht hat, ist aber
im Vergleich zu den nunmehr sichtbaren Problemen
das kleinere Übel. ... Was die Lage so desolat macht,
ist die Perspektivlosigkeit, mit der die Regierung
Schröder in ihre zweite Amtsperiode geht. Für nie-
manden ist ein Konzept erkennbar, wie die Struktur-
probleme als die eigentlichen Ursachen der Misere
angegangen werden sollen.
Was sollen die Menschen von all Ihren Aussagen hal-
ten, wenn sie vor der Wahl in nicht vorstellbarer Weise mit
der Unwahrheit bedient worden sind? Es ist ja ganz drol-
lig, wenn jetzt Herr Gabriel aus Niedersachsen, der ver-
mutlich Nachfolger von Hans Eichel wird,
in einem Redeschwall bei Frau Christansen kundtut, alle
hätten seit dem Frühsommer gewusst oder zumindest wis-
sen können, wie die tatsächliche Lage ist. Peinlich ist nur,
dass der Chefbuchhalter der Republik – zumindest sollte
er das sein –, Hans Eichel, noch in einem Interview für die
„Wirtschaftswoche“ vom 24. Oktober 2002 erklärt hat:
Dass wir mit 3 Prozent Neuverschuldung in diesem
Jahr nicht auskommen, weiß ich auch erst, seit die
Steuereingänge des Monats September vorliegen.
Dr. Gesine Lötzsch
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bartholomäus Kalb
So weit Eichel. Sie verstricken sich immer mehr in
Falschaussagen.
Im Übrigen war es eine psychologisch raffinierte Art,
die Herr Eichel an den Tag gelegt hat. Immer wenn ihn
Gesprächspartner mit den härtesten Fakten konfrontiert
haben, hat er all diese mit der Miene des Biedermannes
und einem leichten Anflug von Entrüstung mit der Be-
hauptung zurückgewiesen: Das ist schlicht falsch. So
auch in der Sendung von Frau Christiansen und in dem
vorhin erwähnten Interview in der „Wirtschaftswoche“.
Damit wurde jeder, der die Angaben der Regierung in
Zweifel zog, mit dem Etikett „unseriös“ versehen und in
eine bestimmte moralische Ecke gestellt.
Wir lassen uns nicht vorwerfen, wir hätten unsererseits
nicht rechtzeitig und umfassend auf die Probleme hinge-
wiesen. Ich verweise auf die Stellungnahmen der
CDU/CSU-Haushälter – Kollege Austermann hat das
schon vorgetragen –, in denen wir Ihnen schon im Früh-
sommer nachgewiesen haben, dass der seinerzeit vorge-
legte Haushaltsentwurf und das zugrunde gelegte Zahlen-
werk keiner Nachprüfung standhalten.
All diese Hinweise haben Sie mit Empörung zurückge-
wiesen.
Als beispielsweise Horst Seehofer vor der Wahl pro-
gnostiziert hat, dass die Rentenbeitragshöhe nicht zu hal-
ten sei, hat ihm Herr Riester, den heute kaum noch jemand
kennt, sofort das Wort im Munde herumgedreht und die
Behauptung aufgestellt, CDU und CSU wollten die Ren-
tenbeiträge erhöhen. Was ist daraus geworden?
Aber es geht nicht nur um die Zeit vor der Wahl 2002.
Wir nehmen für uns in Anspruch, frühzeitig auf die zu-
nehmenden Probleme unseres Landes – nicht zuletzt in-
folge von Globalisierung und der Veränderungen im Al-
tersaufbau – hingewiesen und notwendige Maßnahmen
eingeleitet zu haben. Wir haben die 1997 und 1998 be-
schlossenen Reformen in den Bereichen Steuern – diese
haben sie im Bundesrat blockiert –, Gesundheit und Rente
nicht aus Lust am Untergang beschlossen, sondern aus der
Überzeugung, dass nur mit tief greifenden Reformen und
strukturellen Veränderungen die Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands gesichert und die Lasten zwischen den Ge-
nerationen gerecht aufgeteilt werden können. Sie dagegen
haben so getan, als könnte sich Deutschland dem interna-
tionalen Wettbewerb entziehen. Sie haben seinerzeit nicht
zuletzt auch damit die Wahl gewonnen. Hierfür muss jetzt
bitter bezahlt werden.
Wenn jetzt häufig so getan wird, als hätten die Politiker
insgesamt die Probleme des Landes verniedlicht, lassen wir
das so nicht durchgehen. Wir haben immer wieder darauf
hingewiesen, dass wir im Hinblick auf die internationale
Wettbewerbsfähigkeit tief greifende Reformen in der
Steuer- und Sozialgesetzgebung für dringend notwendig
halten. Die strukturellen Probleme in unseren Sozialsyste-
men, insbesondere bei der Rente, werden nicht allein mit ei-
ner höheren Steuerfinanzierung zu lösen sein. Es ist meines
Erachtens falsch, wenn behauptet wird, die Lohnnebenkos-
ten wären ohne die Ökosteuer um den Betrag, der in diesem
Zusammenhang eingenommen wird, höher. Niemand hat
bis jetzt untersucht, wie viele Arbeitsplätze durch die Öko-
steuer vernichtet oder wie sehr zumindest die Schaffung
von neuen Arbeitsplätzen verhindert worden ist.
Niemand führt sich vor Augen, wie eng für einen großen
Teil der Bevölkerung, für viele kleine Leute die finanziel-
len Spielräume geworden sind und wie sehr deswegen die
Nachfrage eingebrochen ist.
Darüber hinaus muss gesehen werden, dass mittler-
weile, wenn wir alle gesetzlichen Rentenversicherungs-
systeme zusammennehmen, ein Betrag von rund 80 Milli-
arden Euro – das ist etwa ein Drittel des Bundeshaushaltes
und rund 40 Prozent der Rentenleistungen – über den Bun-
deshaushalt bereitgestellt wird. Die Beitragsbezogenheit
der Rente geht immer mehr verloren. Sie wird damit im-
mer mehr zur Staatsrente und von der Staatsrente ist der
Weg zur Einheitsrente nicht weit. Ich befürchte, dass sich
hier in den nächsten Jahren und Jahrzehnten schleichend
eine riesige Enteignung der Beitragszahler vollzieht.
Ich möchte auf die Frage eingehen, was wir alternativ
zu Ihrem Durchwursteln tun würden, wenn wir in der Ver-
antwortung wären. Wir würden das tun, was wir vor der
Wahl angekündigt haben.
Wir hätten das Scheinselbstständigengesetz bereits abge-
schafft. Wir hätten das 325-Euro-Gesetz nicht um eine
weitere verkorkste Variante bereichert, sondern im Be-
reich der Geringverdiener eine klare 400-Euro-Regelung
eingeführt. Wir würden das Betriebsverfassungs- und das
Mitbestimmungsrecht mittelstandsfreundlich ändern und
vor allen Dingen nicht nur von Vereinfachung sprechen,
sondern Bürokratie auch abbauen. Wir würden nicht, wie
es Herr Eichel vor einigen Wochen getan hat, ankündigen,
20 000 Steuervorschriften abzuschaffen, und gleichzeitig
jede Woche hier im Bundestag neue Verkomplizierungen
einbringen und beschließen.
In einem zweiten Schritt würden wir ebenso, wie vor
der Wahl angekündigt, umfassende Reformen des Steuer-
rechts, des Gesundheitswesens, der Rente, des Arbeits-
marktes, der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe bis hin
zu einer Gemeindefinanzreform gründlich und solide vor-
bereiten und dann nach eingehender Beratung entspre-
chend beschließen.
Wir würden mehr auf den Sachverstand innerhalb des
Bundestages und weniger auf den außerhalb des Bundes-
tages zurückgreifen.
Es ist ein Unding, dass der Bundestag einerseits wesent-
lich verkleinert und andererseits die Zahl der Entschei-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 773
dungsträger durch die Einsetzung von immer mehr Kom-
missionen willkürlich ausgeweitet wird.
Es kann nicht angehen – das betrifft jeden Parlamenta-
rier –, dass, unterstützt durch den öffentlichen Druck, von
den Abgeordneten verlangt wird, sie sollten die Ergebnisse
der jeweiligen Kommissionen 1 : 1 umsetzen. Neuerdings
spricht der Generalsekretär der SPD sogar von 2 : 1.
– Herr Kollege Gerhardt, ich habe diese Rechnung nicht
ganz kapiert.
Natürlich ist es richtig, sich das Wissen von Sachver-
ständigen und Experten zu erschließen und in die Gesetz-
gebung einfließen zu lassen. Ich bin aber sehr wohl der
Meinung, dass es auf allen Seiten dieses Hauses durchaus
eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen gibt, die über
beachtliches Fachwissen verfügen und bereit sind, sich in
komplizierte Sachverhalte einzuarbeiten. Es kann auch
nicht schaden, wenn in die Gesetzgebungsarbeit Erfah-
rungen aus der Praxis und der Lebenswirklichkeit und der
gesunde Menschenverstand Eingang finden.
Im Übrigen müssen sich die Experten und Wissen-
schaftler nicht vor dem Bürger verantworten. Für all das,
was im Bundestag beschlossen wird und in die Gesetzge-
bung Eingang findet, müssen sich vielmehr die Abgeord-
neten dieses Parlamentes vor den Bürgern und in der Öf-
fentlichkeit verantworten. Die Entscheidungen des
Gesetzgebers dürfen nicht immer mehr zu einer
außerparlamentarischen Angelegenheit werden.
Wir müssen gründlich und solide über Gesetzentwürfe
und Vorlagen beraten und dürfen sie nicht einfach durch-
peitschen. Vieles von dem, was Ihnen die Medien entge-
genhalten, ist darauf zurückzuführen, dass Sie Ihre Vor-
schläge einfach durchpeitschen und keine soliden
Grundlagen, keine solide Datenlage haben und nicht wis-
sen, was die Ausschüsse letztlich beschließen.
Dass der Herr Finanzminister heute wieder wie bei der
Aussprache zur Regierungserklärung einfach mit falschen
Zahlen operiert und beispielsweise sagt, die Grenzsteuer-
belastung des Mittelstandes habe 1998 bei 69 Prozent ge-
legen – ich habe dazu eine schriftliche Anfrage gemacht
und Frau Hendricks musste mir bestätigen, dass die
Grenzsteuerbelastung 1998 nicht bei 69 Prozent, sondern
bei 57,99 Prozent gelegen hat; ich habe daraus groß-
zügigerweise 58 Prozent gemacht –, zeigt, dass es hier
vom Kern weg fehlt; den niederbayerischen Ausdruck, es
fehlt vom Bein weg, will ich hier nicht gebrauchen.
Herzlichen Dank.