Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Die Landwirte können sich bei dieser Regierung auf
eines immer hundertprozentig verlassen: Bei jeder ein-
schneidenden Maßnahme, die die Regierung erlässt, sind
die Landwirte immer die obersten Leidtragenden.
Dabei verdienten die Landwirte gerade in dieser Zeit,
in der sie ganz besondere Herausforderungen zu bewälti-
gen haben, besonders viel Aufmerksamkeit. Ich will nur
drei Stichworte nennen – Frau Künast, ich bedauere, dass
Sie kein einziges Wort darauf verwendet haben –: Wir be-
finden uns mitten in den WTO-Verhandlungen; wir befin-
den uns mitten in der Diskussion um die Weiterentwick-
lung der europäischen Agrarpolitik und wir befinden uns
mitten im Prozess der EU-Osterweiterung, die gerade
für die Landwirte in Europa enorme Konsequenzen haben
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 849
wird. Davon hat Frau Künast kein Wort gesagt. Sie hat
kein Wort darüber verloren, welche Konsequenzen das für
die Landwirte haben wird, welche Perspektive sie haben
und welchen Einsatz sie, die Ministerin, in diesem Zu-
sammenhang zu erbringen bereit ist.
Hierauf müssen wir unser Augenmerk richten. Eine be-
sondere Unterstützung und sogar Fürsprache ist notwen-
dig. Vom deutschen Bundeskanzler und dieser Bundesre-
gierung haben die deutschen Landwirte diese
Unterstützung nicht erhalten und sie können sie wohl
auch nicht erwarten. Gerade bei den Verhandlungen über
die Weiterentwicklung der Agrarpolitik bzw. des Agrar-
budgets im Rahmen der EU-Osterweiterung hat sich ge-
zeigt, dass nicht der deutsche Bundeskanzler das Ergeb-
nis für die deutschen Bauern erreicht hat, sondern der
französische Staatspräsident. Ihm sind die deutschen
Landwirte, die Deutschen insgesamt, zu Dank verpflich-
tet.
Nur durch ihn haben die Landwirte Planungssicherheit er-
halten.
Frau Künast, ich möchte darauf hinweisen, dass das,
was dort vereinbart wurde, ein Eckpfeiler der weiteren
Verhandlungen, beispielsweise bei der WTO und bei der
Fortentwicklung der gemeinsamen Agrarpolitik, sein
muss. Darauf ist zu achten.
Das kann man nicht einfach wegdiskutieren und ad acta
legen. Bei den weiteren Diskussionen ist dieser Eckpfei-
ler sehr wichtig.
Was kommt jetzt durch nationale Entscheidungen auf
die deutschen Landwirte zu? Wir lesen in der Koalitions-
vereinbarung, man wolle in der Koalition die Leistungs-
und Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft stärken.
Wir hören von Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement,
er werde einen Masterplan gegen Bürokratie aufstellen.
Heute hat Finanzminister Eichel großspurig davon ge-
sprochen, dass er „die Politik der Steuersenkung“ – man
höre und staune – fortsetzen werde. Das sind die Über-
schriften; das sind die Behauptungen.
Was sind die Tatsachen? Tatsache ist: Weiter werden
nationale Alleingänge betrieben: im Pflanzenschutz, im
Steuer- und im Haushaltsbereich. Tatsache sind nicht
Steuersenkungen, sondern Steuererhöhungen. Tatsache
ist nicht Bürokratieabbau, sondern mehr Bürokratie. Sie
setzen also Ihren Wählerbetrug und, was noch viel
schlimmer ist, auch Ihre fachlich falschen Entschei-
dungen fort. Sie führen dazu, dass der Arbeitsmarkt noch
stärker leidet, dass die Arbeitslosigkeit noch größer wird,
dass ein ganzer Wirtschaftszweig kaputtgeht.
Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen.
Erstes Beispiel: Vorsteuerpauschale. Die Möglichkeit
der Umsatzsteuerpauschalierung für Landwirte und Gar-
tenbaubetriebe ist keine deutsche Besonderheit, sondern
wird in 13 von 15 EU-Ländern praktiziert. Sie wird in
Deutschland von etwa 90 Prozent der Landwirte und Gar-
tenbaubetriebe in Anspruch genommen. Diese Pauschalie-
rung ist keine Subvention, bringt den Landwirten und den
Gartenbaubetrieben aber eine erhebliche Vereinfachung,
eine erhebliche Einsparung von bürokratischem Aufwand.
Was Sie jetzt vorhaben, ist schon ein Meisterstück an
Täuschung. Zuerst – noch vor wenigen Wochen – haben
Sie gesagt: Diese Umsatzsteuerpauschalierung wird ganz
abgeschafft. Jetzt, nach den Protesten, sagen Sie: Wir
schaffen sie nicht ab, senken die Pauschale aber von 9 auf
7 Prozent. Das ist letztlich willkürlich.
Gleichzeitig erhöhen Sie aber die Mehrwertsteuer auf
landwirtschaftliche Vorprodukte. Mit diesen beiden Maß-
nahmen können Sie die Pauschalierung vergessen. Sie
wird nicht mehr angenommen, weil sie zu finanziellen
Nachteilen führt, was überhaupt nicht gerechtfertigt ist.
Ein solches Meisterstück an Täuschung hätte ich mir nicht
vorstellen können.
Die Auswirkungen sind ein enormer zusätzlicher Auf-
wand und zusätzliche Kosten für die Betriebe und für die
Finanzämter und – das kommt hinzu – wieder einmal eine
einseitige deutsche Benachteiligung.
Zweites Beispiel: die Erhöhung derMehrwertsteuer
auf landwirtschaftliche Vorprodukte von 7 auf 16 Pro-
zent. Das ist nichts anderes als eine eindeutige Steuerer-
höhung.
– Keine Anpassung, eine Erhöhung ist das. – Sie treffen
damit die Verbraucher, die Direktvermarkter – übrigens
auch die Ökolandwirte – und die Gärtner.
Mir hat dieser Tage ein Gartenbauunternehmer aus mei-
nem Wahlkreis geschrieben, dass er allein wegen dieser
beiden Maßnahmen – der Mehrwertsteuererhöhung und
der Änderung bei der Vorsteuerpauschale – voraussichtlich
fünf von seinen 22 Mitarbeitern entlassen müsse. Meine
Damen und Herren, das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Sie stopfen nur kurzfristig die selbstgemachten Haus-
haltslöcher und gefährden Arbeitsplätze und ganze Exis-
tenzen. Der Bundeskanzler selber hat gesagt, Steuererhö-
hungen seien in dieser Zeit falsch. Trotzdem macht er sie.
Bei der schwierigen Situation der Landwirte und
auch – das verkenne ich nicht – des Haushaltes muss man
eben sinnvoll mit dem Geld umgehen.
Da ist es schon verwunderlich, dass die Regierung bei
knappen Kassen über 100 Millionen Euro für Werbekam-
pagnen im Bereich der Ökolandwirtschaft ausgibt und
gleichzeitig die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe
Gerda Hasselfeldt
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Gerda Hasselfeldt
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten-
schutzes“ um über 100 Millionen Euro kürzt.
Bei den Investitionen wird also gekürzt und in einem an-
deren Bereich, der gar nicht zu den Aufgaben der Bun-
desregierung gehört, nämlich der Werbung für Ökopro-
dukte, wird aufgestockt. Ich habe nichts gegen
Ökoprodukte, im Gegenteil. Aber es ist doch nicht Auf-
gabe der Bundesregierung und der Politik, einseitige
Werbemaßnahmen zu veranstalten.
Gelegentlich wird von einem Widerspruch zwischen
Verbraucherschutz und Landwirtschaft gesprochen. Das
Gegenteil ist der Fall. Die Landwirte und die Verbraucher
haben ein Interesse an gesunden und sicheren Lebensmit-
teln. Alle, nicht nur die Ökobetriebe, haben ein Interesse
an Ressourcenschonung und nachhaltigem Wirtschaften.
Alle haben ein Interesse am Umweltschutz. Das alles ist
aber nur unter einen Hut zu bringen und zu erreichen,
wenn die heimische Landwirtschaft auch tatsächlich
wettbewerbsfähig ist.
Ansonsten haben wir zwar strenge Bestimmungen
beim Pflanzen- und Tierschutz und in den anderen Berei-
chen, aber es wird keine Landwirte mehr geben, die nach
diesen Bestimmungen arbeiten. Die Produkte werden
dann aus den Ländern importiert, in denen anderen Be-
stimmungen und andere Produktionsbedingungen herr-
schen. Das ist weder wirtschaftspolitisch noch verbrau-
cherpolitisch sinnvoll, im Gegenteil: Es schadet den
Verbrauchern genauso wie den Landwirten.
Deshalb kann die Devise nur lauten: keine weiteren na-
tionalen Sonderlasten, wie Sie sie in den vergangenen
Jahren immer wieder auferlegt haben und auch jetzt wie-
der auferlegen, keine nationalen Alleingänge, sondern
EU-weit vergleichbare Rahmenbedingungen für alle.
Ich weiß, dass das nicht einfach ist, aber daran muss
gearbeitet werden. Es wäre besser, Ihre Kraft, Nerven und
Zeit in die Erreichung EU-weit harmonisierter Produk-
tionsbedingungen zu stecken, als ständig nationale Al-
leingänge zu machen. Nur dann werden Sie den Interes-
sen der Verbraucher genauso gerecht wie den Interessen
der Landwirte. Ich hoffe sehr, Frau Künast, dass Sie diese
Verantwortung endlich einmal ernst nehmen.