Rede von
Friedrich
Merz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Herr Finanzminister, wer während Ihrer Rede und
vor allem während des Schlussbeifalls in die Gesichter
der Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion geschaut hat,
der hatte wahrscheinlich den gleichen Eindruck wie wir,
nämlich dass hier jemand mit dem Rücken an der Wand
steht und eine Rede gehalten hat, die eigentlich eine poli-
tische Geisterfahrt gewesen ist.
Herr Eichel, Sie haben während Ihrer Rede zweimal
die Verrohung der politischen Sitten in diesem Lande be-
klagt.
In der Tat gibt es Anlass, diese zu beklagen. Das aus Ihrem
Munde zu hören ist aber überraschend, um es zurückhal-
tend auszudrücken.
Eine Bundesregierung, die einen Wahlkampf mit Kriegs-
angst der Menschen betreibt
und gleichzeitig keine Skrupel hat, das gesamte außenpo-
litische Kapital dieser Bundesrepublik Deutschland aufs
Spiel zu setzen, um an der Macht zu bleiben, das ist die
falsche Seite, um von dieser Stelle aus von der Verrohung
der politischen Sitten in diesem Lande zu sprechen.
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Friedrich Merz
Herr Bundeskanzler, Sie beklagen sich in diesen Tagen
darüber, dass Sie Gegenstand der politischen Satire in
Deutschland werden. In der Tat hat die politische Satire
Konjunktur, weil sie von der politischen Realität jeden
Tag überboten wird.
Herr Bundeskanzler, in den ersten Jahren Ihrer Amtszeit
haben Sie diese Spaßgesellschaft durchaus gern in An-
spruch genommen. Jetzt schlägt die Spaßgesellschaft
zurück und Sie sind nicht mehr handelndes Subjekt, son-
dern Objekt der Spaßgesellschaft. Um es auf einen ganz
einfachen Nenner zu bringen: Wer als Bundeskanzler in
guten Zeiten zu Thomas Gottschalk geht, der taucht in
schlechten Zeiten bei Harald Schmidt wieder auf. So ein-
fach ist das, Herr Bundeskanzler.
Meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister
ist offensichtlich hochgradig nervös wegen der Aussagen
vor dem Untersuchungsausschuss,
den wir in dieser Woche einsetzen werden.
– Herr Bundeskanzler, ich finde, das deutsche Parlament
hat Anspruch darauf, dass Sie in der Debatte über die Ein-
bringung des Bundeshaushalts 2003 hier anwesend blei-
ben.
Draußen hören und sehen uns viele Menschen zu. Sie ver-
folgen diese Debatte und werden sich ihr eigenes Urteil
darüber bilden, wie die Regierungsbank besetzt ist und
wie ernst die Bundesregierung die parlamentarische De-
batte über das Wichtigste der Republik nimmt.
Meine Damen und Herren, es wird Klage darüber ge-
führt, dass der Untersuchungsausschuss, den wir am Don-
nerstag hier einsetzen werden, unparlamentarisch sei und
dass dessen Einsetzung an den Notwendigkeiten vorbei-
gehe. Herr Finanzminister, ich möchte Sie dazu nur noch
einmal an das erinnern, was Sie vor der Wahl gesagt ha-
ben. Die letzte große finanzpolitische Debatte haben wir
am 12. September in diesem Hause geführt. Bei dieser
Gelegenheit haben Sie wörtlich gesagt:
Nach 21,1 Milliarden Euro in diesem Jahr bleibt es
bei der für 2003 geplanten Neuverschuldung in Höhe
von 15,5 Milliarden Euro. An diesem Wert werden
wir festhalten.
Ende des Zitats von Hans Eichel am 12. September.
Weniger als drei Monate später ist die Neuverschul-
dung durch den jetzt eingebrachten Nachtragshaushalt für
das laufende Haushaltsjahr nicht mehr bei 21,1Milliarden
Euro, sondern bei 34,6 Milliarden Euro,
und für das nächste Jahr sind es nicht 15,5 Milliarden Euro,
sondern mindestens 18,9 Milliarden Euro, die Sie schon
jetzt einplanen müssen, und zwar bei Zugrundelegung
außergewöhnlich optimistischer Daten für Konjunktur und
Arbeitsmarkt, die nach unserer gegenwärtigen Einschät-
zung im nächsten Jahr nicht zu erreichen sein werden.
Herr Eichel, da haben Sie zehn Tage vor der Bundes-
tagswahl von diesem Platz aus bewusst die Unwahrheit
gesagt.
Sie haben sich dann in einer ganzen Reihe von Fern-
sehsendungen geäußert. Drei Wochen vor der Wahl – wir
beide sind zusammen in der Sendung gewesen – haben
Sie gesagt: Wir machen keine Schulden. Das haben wir
immer klar gemacht. Wir weichen nicht in Schulden aus.
Tage später, fünf Tage vor der Wahl – und an dieser
Stelle wird es wirklich ernst mit unserer Auseinanderset-
zung –, wörtliches Zitat von Hans Eichel in der Wahlsen-
dung „Ihre Wahl 2002“: Ich bin sicher, wir kriegen keinen
blauen Brief aus Brüssel.
Herr Eichel, zu diesem Zeitpunkt war die Frist, zu der
Sie die Daten aus Deutschland nach Brüssel hätten mel-
den müssen, bereits um fast drei Wochen verstrichen. Sie
hätten die Daten am 1. September melden müssen. Sie ha-
ben es nicht getan. Ich sage Ihnen, warum Sie es nicht ge-
tan haben: Sie haben zu diesem Zeitpunkt – der Kollege
Metzger hat das in nicht zu überbietender Offenheit und
Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht – von den Beamten
Ihres Hauses, vom Statistischen Bundesamt, von den For-
schungsinstituten und von vielen anderen Beteiligten
längst gewusst, dass die 2,9 Prozent, die Sie gemeldet ha-
ben, mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Sie haben
gewusst, dass wir 3 Prozent deutlich überschreiten, und
Sie haben wahrheitswidrig die deutsche Öffentlichkeit
getäuscht. Das ist die Wahrheit!
Es ist im Grunde ganz einfach, Herr Eichel. Da Sie mit
der Autorität Ihres Amtes die deutsche Öffentlichkeit über
das getäuscht haben, was die Staatsfinanzen in Deutsch-
land wirklich ausmacht, und heute noch immer behaup-
ten, Sie hätten es zum damaligen Zeitpunkt nicht gewusst,
werden wir das in einem Parlamentarischen Untersu-
chungsausschuss aufklären. Dort können Sie das wieder-
holen und wir werden auch andere anhören. Aber dort sind
Sie, anders als an dieser Stelle, unter Strafandrohung zur
Wahrheit verpflichtet, Herr Eichel. Das ist der entschei-
dende Unterschied.
Nun lassen Sie uns, meine Damen und Herren, auf die
Haushaltsdaten zu sprechen kommen. Wir bekommen,
wenn auch mit abnehmender Intensität, noch immer die
Vorhaltung gemacht, alles, was Sie jetzt an Problemen
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 747
hätten, sei sozusagen der 16-jährigen Amtszeit einer frü-
heren Bundesregierung geschuldet.
Ich habe gerade über die Neuverschuldung gesprochen,
jetzt sage ich etwas zur Gesamtverschuldung. Ich habe
mir die Zahlen noch einmal genau angesehen. Sie haben
im Jahre 1998 eine Gesamtverschuldung des Bundes von
685 Milliarden Euro übernommen. Das war eine relativ
hohe Verschuldung, das ist wahr. Große Teile davon ha-
ben etwas mit der deutschen Einheit zu tun. Gut, dass Sie
das heute von diesem Platz aus einmal gesagt haben. Das
war lange überfällig.
Vier Jahre später liegt die Bundesschuld bei 725 Milliar-
den Euro. Ohne die UMTS-Lizenzerlöse von 50 Milliar-
den Euro läge sie bei 775 Milliarden Euro. Das sind fast
100 Milliarden Euro mehr, als Sie 1998 übernommen ha-
ben. Im Jahre 2003 wird die Verschuldung weiter anstei-
gen, nach Ihrer eigenen Finanzplanung mindestens auf
744 Milliarden Euro. Ohne UMTS-Lizenzerlöse lägen
wir bei fast 800 Milliarden Euro Verschuldung allein des
Bundes. Hören Sie bitte endlich auf, zu erzählen, dass Sie
die Gesamtverschuldung des Bundes senken. Sie steigt
weiter an, und zwar in unverantwortlicher Weise.
Nun beklagen Sie vor diesem Hintergrund nicht ohne
Anlass den Verfall der Steuerbasis. Ja, Herr Eichel, da-
mit haben Sie in der Tat Recht. Die Steuerbasis wird im-
mer schmaler und das hat im Wesentlichen damit zu tun,
dass Sie im Jahre 2000 eine Steuerreform gemacht haben,
vor der wir Sie gewarnt haben, bei der Sie sich aber über
alle Warnungen hinweggesetzt haben. Tatsache ist, dass
Sie seit dem Jahre 2001 einen massiven Einbruch der Kör-
perschaftsteuer zu verzeichnen haben, der eben nicht über
die Kapitalertragsteuer zurück in den Bundeshaushalt
fließt. Das ist rund ein Drittel; zwei Drittel fehlen den
Ländern und dem Bund auf Dauer.
Außerdem, Herr Eichel, hat Sie im Jahre 2000 niemand
dazu gezwungen, bereits versteuerte Unternehmens-
gewinne im Nachhinein zu entlasten. Wenn Sie es schon
gemacht haben, dann war es von nicht zu überbietender
Naivität, zu glauben, dass die Unternehmen, die solche
Eigenkapitalbestände haben, diese über einen Zeitraum
von 15 Jahren ausschütten und nicht sofort. Das war
schlicht und ergreifend naiv. Ich weiß nicht, ob Sie zu
Hause einen Hund haben, Herr Eichel. Aber wenn Sie ei-
nen haben, fahren Sie einmal am Wochenende nach
Hause, halten Sie ihm eine Wurst vor und sagen Sie ihm:
„Das ist jetzt für vier Wochen.“
So ähnlich haben Sie sich in der Steuerpolitik verhalten.
Es war von nicht zu überbietender Naivität, was Sie da ge-
macht haben.
Mit dem, was heute hier vorgelegt wird, wird ein wei-
terer Betrug am Wähler vorbereitet.
Ich will Ihnen dies anhand eines konkreten Details Ihres
Haushaltsplanentwurfs für das Jahr 2003 nachweisen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben vor etwa einem halben
Jahr von dieser Stelle aus versprochen, ein Programm zur
finanziellen Förderung der Ganztagsbetreuung in den
Schulen in Deutschland aufzulegen.
Vor der Wahl haben Sie viermal 1 Milliarde Euro für die
Schulen in Deutschland, beginnend mit dem Jahr 2003,
versprochen. In den Bundeshaushaltsplan des Jahres 2003
stellen Sie aber nicht 1 Milliarde Euro, sondern 300 Mil-
lionen Euro ein. Dies ist der erste Teil.
Der zweite Teil wird viel gravierender werden: Es be-
findet sich eine Verwaltungsvereinbarung mit den Län-
dern in Vorbereitung, die den Ländern nach der gegen-
wärtigen Planung – ich betone: gegenwärtig, sie ist nicht
abgeschlossen – nur erlauben soll, von diesen Zuschüssen
des Bundes neue Gebäude zu errichten.
Der Wunsch der Länder, davon etwa auch Bibliotheken fi-
nanzieren zu können, ist bisher von Ihnen abgelehnt wor-
den.
Was Sie hier machen, ist typisch für sozialdemokrati-
sche Politik: Beton statt Bücher, Suppenküchen statt Bi-
bliotheken. So kommt man in Deutschland in der Bil-
dungspolitik nicht weiter.
Sie stellen sich heute Morgen hier allen Ernstes hin und
sagen, dass die Politik der Steuersenkung der rot-grünen
Bundesregierung fortgesetzt werde. Wer das als Fernseh-
zuschauer oder als Zuhörer an den Radiogeräten mitbe-
kommen hat, muss dies angesichts der tatsächlichen Lage
in den Unternehmen und den privaten Haushalten gera-
dezu als blanken Hohn empfunden haben.
Gleichzeitig mit dieser Behauptung legen Sie hier ein
Steuergesetz vor. Sie haben es euphemistisch Steuer-
vergünstigungsabbaugesetz genannt. Wenn man Ihnen
zugehört hat, hat man zwischenzeitlich den Eindruck be-
kommen, dass jeder, der nicht 100 Prozent Steuern zahlt,
irgendwelche Subventionen bekommt. Dies ist ungefähr
Ihre Denkweise, die dahinter steckt. Sie legen ein Steuer-
vergünstigungsabbaugesetz vor, mit dem insgesamt
41 Steuererhöhungen verbunden sein sollen.
Herr Bundeskanzler, was hat sich eigentlich nach der
Wahl geändert? Sie haben vor der Wahl mehrfach – ich
könnte Ihnen reihenweise Zitate vortragen – gesagt und
Sie haben damals Recht gehabt: Dies ist nicht die Zeit für
Steuererhöhungen. Die konjunkturelle Lage der Bundesre-
publik Deutschland ist ungeeignet für Steuererhöhungen.
Friedrich Merz
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Friedrich Merz
– Was hat sich daran eigentlich mit dem 22. Septem-
ber 2002 geändert?
Wir haben heute einen Gesetzentwurf vorliegen, der mehr
als 40 Steuererhöhungen umfasst, und hier sitzt der
Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands, der nichts Besseres zu tun hat, als am letz-
ten Sonntag noch einmal anzukündigen, dass es im nächs-
ten Jahr fröhlich weitergeht. Was ist in diesem Land ei-
gentlich los?
Jetzt diskutiert die gesamte Republik über die Wieder-
einführung der Vermögensteuer.Herr Bundeskanzler, wie
ist eigentlich Ihre Meinung dazu? Vor zwei Jahren haben
Sie richtigerweise und klugerweise gesagt: Die Wiederein-
führung der Vermögensteuer werden wir Sozialdemokraten
nicht betreiben. – Was hat sich seitdem eigentlich geändert,
außer dass jetzt ganz offensichtlich – dies durchzieht sämt-
liche Gesetzgebungsverfahren, die wir hier beraten, wie ein
roter Faden – auf die Politik der Sozialdemokraten – weni-
ger der Grünen – von Teilen der deutschen Gewerkschaften
ein so dominanter Einfluss ausgeübt wird, dass ganz offen-
sichtlich die Resozialdemokratisierung der gesamten Wirt-
schaftspolitik auf der Tagesordnung steht? Ist es das, Herr
Bundeskanzler, was sich geändert hat?
Ich höre, dass Sie morgen hier eine längere Erklärung
abgeben wollen, dass Sie auch etwas zu all den Dingen,
die sich in den letzten Tagen zugetragen haben, sagen
möchten. Es wäre gut, wenn Sie auch zu diesem Thema
etwas sagen würden und diese unselige Debatte über die
Vermögensteuer in Deutschland möglichst schnell been-
den würden.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie noch Argumente zum
Thema Vermögensteuer brauchen – –
– Ich weiß, dass dies in Ihren Reihen ignoriert wird. Aber
was macht es eigentlich für einen Sinn, eine Vermögen-
steuer zu erheben, von der diejenigen, die sich damit be-
schäftigen, wissen müssten, dass sie von Beziehern unterer
Einkommen ohnehin nicht erhoben werden kann – darüber
darf kein Streit bestehen –, dass sie aber von den Bezie-
hern der obersten Einkommen in dieser Republik gar
nicht erhoben werden darf, weil deren Belastung durch
Einkommensteuer,
Solidaritätszuschlag und bei dem einen oder anderen noch
durch Kirchensteuer bereits bei über 50 Prozent liegt?
Wie wollen Sie, meine Damen und Herren von den Sozi-
aldemokraten, das den Menschen in Deutschland eigent-
lich erklären?
Wenn Sie ein Problem damit haben, das zu erklären,
dann fällt es Ihnen vielleicht leichter, einen Blick auf die
Betriebe in diesem Land zu richten. Wie wollen Sie den
Menschen in Deutschland eigentlich erklären, dass nach
Ihrem Konzept einer betrieblichen Vermögensteuer, das da
so langsam aus dem Nebel auftaucht, jenseits eines Frei-
betrages von 2,5 Millionen Euro – das ist kleiner Mittel-
stand; das sind nicht die Unternehmen der Großindustrie;
ein Betriebsvermögen von 2,5 Millionen Euro haben Sie
schon mit einem Betriebsgrundstück und ein paar Maschi-
nen; da ist man ganz schnell bei 2,5 Millionen Euro –
1 Prozent Vermögensteuer bezahlt werden muss, selbst
dann, wenn das Unternehmen keinen Gewinn abwirft,
selbst dann, wenn das Unternehmen tiefrote Zahlen
schreibt? Und bei solchen Debatten in Deutschland wun-
dern Sie sich noch darüber, dass die Stimmung in diesem
Land so ist, wie sie ist! Kein Land auf dieser Welt käme
auf die Idee, am Rande einer Rezession eine solche De-
batte zu führen, wie Sie sie hier führen. Herr Bundeskanz-
ler, beenden Sie dieses Schauspiel noch morgen, damit es
in diesem Land endlich wieder aufwärts gehen kann!
Ich mache Ihnen ohnehin zum Vorwurf, dass Sie of-
fenkundig kein Gespür für die psychologische Lage einer
Volkswirtschaft haben.
Man kann über vieles diskutieren, auch über viele Vor-
schläge, aber ein Land, das sich – ich sage es noch einmal –
am Rande einer Rezession befindet, kann doch nicht allen
Ernstes klaglos eine Regierung hinnehmen, die nichts
Besseres zu tun hat, als nach der Bundestagswahl wo-
chenlang nur über höhere Belastungen der Menschen in
diesem Land zu sprechen. Da kann man sich doch nicht
darüber wundern, dass die Stimmung so ist, wie sie ge-
genwärtig ist!
Sie täuschen die Menschen und die Menschen merken,
dass sie von dieser Regierung getäuscht werden, wenn Sie
über die Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge re-
den. Herr Eichel, auch Sie haben es eben von dieser Stelle
aus wieder getan.
Die Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge findet
doch nicht statt. Gestern hat die größte deutsche Ersatz-
krankenkasse beschlossen, dass die Beiträge zum 1. Ja-
nuar auf über 15 Prozent angehoben werden. Die Renten-
versicherungsbeiträge liegen doch nur deshalb noch
gerade eben unter 20 Prozent, weil Sie sie mit der Öko-
steuer künstlich heruntersubventionieren. In Wahrheit lä-
gen sie mittlerweile bei knapp 22 Prozent. Im Portemon-
naie der Arbeitnehmer und Betriebe macht sich alles das
bemerkbar, egal, was auf dem Etikett steht, ob „Sozial-
versicherungsbeitrag“ oder „Steuer“. Die Belastung der
Menschen hat einen historischen Höchststand in Deutsch-
land erreicht.
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Sie wissen, dass das so ist, Herr Eichel, und reden hier
trotzdem anders, also wider besseres Wissen.
Sie sprechen jetzt auch über die Dienstwagenbesteue-
rung.Meine Damen und Herren von den Sozialdemokra-
ten, das ist doch Ihr Wählerpotenzial! Es sind doch nicht
die Fahrer von Dienstwagen der S-Klasse, sondern es sind
die Außendienstmitarbeiter, die unselbstständigen Han-
delsvertreter, die Menschen, die einen Polo oder einen
Golf fahren, die jetzt 50 Prozent mehr Steuern für die pri-
vate Nutzung ihrer Fahrzeuge bezahlen sollen, also dafür,
dass sie nach einem 12- oder 14-Stunden-Tag abends mit
dem Dienstwagen privat nach Hause fahren dürfen. Be-
greifen Sie denn nicht, was Sie mit diesem Unfug für die
gesamte deutsche Automobilindustrie anrichten? Wann
waren Sie das letzte Mal in Hannover und haben mit dem
Vorstand von VW gesprochen?
Die müssten Ihnen, Herr Bundeskanzler, doch längst ge-
sagt haben, dass das wirtschaftspolitisch ein Ei ist, das Ih-
nen von denen, die das vorgeschlagen haben, ins Nest ge-
legt worden ist.
Jetzt reden Sie über die Wertzuwachssteuer bei Ak-
tien- und bei Grundstücksverkäufen. Natürlich ist es
wahr, dass es in vielen anderen Industrienationen eine so
genannte Capital-Gains-Besteuerung gibt. Aber dieses
Argument, Herr Eichel, können Sie nicht verwenden;
denn in den Ländern, in denen eine solche Steuer erhoben
wird, ist die Durchschnittsbelastung des Einkommens sig-
nifikant niedriger als in Deutschland. Deswegen werden
alle diejenigen, die abhauen können, schon angesichts der
Ankündigung, dass Sie so etwas einführen, mit ihrem
Wertpapierbesitz dieses Land verlassen und sie werden je-
denfalls bei dieser Bundesregierung nie wiederkommen,
weil selbst dann, wenn Sie die Steuer doch nicht ein-
führen, jedes Vertrauen zerstört ist und man nicht weiß, ob
das Thema in diesem Land nicht zwölf Monate später
wieder auf den Tisch kommt.
Dann haben Sie den Vorschlag gemacht, die Eigen-
heimzulage zu korrigieren. Man kann über das Thema re-
den – beim Altbaubestand insbesondere in den neuen Län-
dern gibt es durchaus Probleme –, aber stellen Sie bitte
nicht allen Ernstes die Behauptung auf, dass sich für Fa-
milien mit Kindern nichts ändert. Was Sie hier machen,
ist eine glatte Täuschung der Öffentlichkeit. Bei Altbau-
ten müssten diejenigen, die heute zwei Kinder haben,
mindestens acht Kinder haben, damit sich nichts ändert
– das kann man ja noch schaffen –; aber bei Neubauten
müssten diejenigen, die nicht schlechter gestellt werden
wollen, mindestens 46 Kinder haben.
Das bekommt keiner von uns in diesem Lande hin. Des-
halb bedeutet dieser Vorschlag eine Täuschung der Öf-
fentlichkeit.
Sie haben mit beredten Worten über die Ausnahmen bei
der Mehrwertsteuer gesprochen. Man kann, wie bei je-
der Steuerart, natürlich über Ausnahmen und niedrigere
Sätze nachdenken. Ich will Sie, Herr Bundeskanzler, aber
daran erinnern, dass Sie am 12. Oktober des Vorjahres –
das ist etwas länger als ein Jahr her – eine Betriebsver-
sammlung bei der Lufthansa in Frankfurt besucht und dort
vor laufenden Kameras öffentlich erklärt haben, dass Sie,
Gerhard Schröder, der Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland, dafür stehen, dass die deutsche Lufthansa
im internationalen Vergleich insbesondere ihren Wettbe-
werbern gegenüber durch Maßnahmen Ihrer Bundesre-
gierung nicht schlechter gestellt wird.
Ich stelle Ihnen die Frage: Warum lassen Sie zu, dass
jetzt für den gesamten Flugverkehr über dem Territorium
der Bundesrepublik Deutschland einschließlich der Luft-
hansa doch eine Ausnahme aufgestellt wird, indem Sie
das Mehrwertsteuerprivileg streichen? Man kann darüber
reden, aber wenn man solche Änderungen vornimmt,
dann müssen sie für alle in Europa gelten. Es darf keine
einseitige Belastung der größten deutschen Fluggesell-
schaft entstehen. Das ist eine Belastung, Herr Bundes-
kanzler, von der Sie noch vor einem Jahr ausdrücklich
auf dieser Betriebsversammlung gesagt haben, dass sie
mit Ihnen nicht entsteht. Warum steht sie nun in dem Ent-
wurf des Gesetzes, das wir heute hier in erster Lesung be-
raten?
Meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister
hat an dieser Stelle zum wiederholten Male etwas über
die Finanzen der Länder und Kommunen gesagt. Ich teile
seine Einschätzung: Die Länder und Kommunen befin-
den sich hinsichtlich ihrer Finanzen in einer außer-
gewöhnlich schwierigen Lage. Aber mit dem Verweis
darauf, dass 55 Prozent des Gesamthaushaltes Länder-
haushalte und kommunale Haushalte betreffen, kommen
Sie nicht durch. Die andere Seite der Medaille ist doch,
dass Länder und Gemeinden von der Gesetzgebung, die
der Bund macht, weitgehend abhängig sind. Die Länder
verfügen über keine nennenswerten eigenen Steuer-
quellen und sie haben praktisch keine eigenen Steuer-
hebemöglichkeiten; bis auf ganz geringfügige eigene
Steuereinnahmequellen geht es den Gemeinden ähnlich.
Sie sind abhängig von der Gesetzgebung des Bundes und
dieser Bundesregierung.
Damit sind wir an dem entscheidenden Punkt, der uns
trennt: Sie rufen uns hier und an anderer Stelle immer wie-
der dazu auf, wir sollten Alternativen vorlegen, wie die
Haushaltsprobleme gelöst werden können.
– Wenn Sie, meine Damen und Herren, nicht so laut da-
zwischenrufen würden, dann könnten Sie mich auch ver-
stehen. Ich sage Ihnen, welche Alternative besteht. Wir
begeben uns mit Ihnen nicht in einen Wettbewerb um die
Friedrich Merz
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Friedrich Merz
Frage, wer in diesem Land die Steuern am meisten erhöht.
Das werden wir nicht tun.
Die gegenwärtige Lage unserer Volkswirtschaft ist voll-
kommen ungeeignet für eine Debatte über Steuererhö-
hungen.
Das Gegenteil ist richtig. Wir müssen diesem Land und
insbesondere den mittelständischen Unternehmen wieder
eine Perspektive geben und Steuern senken. Davon, was
Sie über Steuersenkungen in den Jahren 2004 und 2005
gesagt haben, Herr Eichel, glaube ich Ihnen kein einziges
Wort, solange nicht das Jahr 2004 begonnen hat; denn Sie
haben mit den gleichen Worten von dieser Stelle aus und
auch schon in Bonn erklärt, dass eine Steuersatzsenkung
zum 1. Januar 2003 in Kraft treten soll.
Es musste nur ein Ereignis eintreten – das war die Flut –,
die Ihnen Alibi genug war, diese Steuersenkung auszuset-
zen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn Sie zu diesem Zeitpunkt
überhaupt noch im Amt sein sollten – über Ihre Ablösung
wird ja offen diskutiert –, dann wird Ihnen aus diesen Rei-
hen spätestens in der zweiten Jahreshälfte 2003 eine De-
batte aufgezwungen werden, dass nicht auch die Senkun-
gen für 2004 und 2005 außer Kraft gesetzt werden oder
gar nicht stattfinden. Ich glaube Ihnen kein Wort.
Das Entscheidende, Herr Eichel, ist doch, dass wir
endlich wieder zu Wachstum und Beschäftigung auf dem
ersten Arbeitsmarkt kommen müssen. Deswegen sage
ich Ihnen, was unser Vorschlag hierzu ist. Ich mache Ih-
nen das konkrete Angebot, dieses unselige Gesetz gegen
die Scheinselbstständigkeit noch vor dem Jahreswechsel
ersatzlos zu streichen. Sie haben dafür unsere uneinge-
schränkte Zustimmung. Machen Sie es!
Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen. So, wie
Sie mit den Hartz-Vorschlägen umgehen, geht das nicht.
Ich schlage Ihnen vor: Kehren Sie an dieser Stelle auch
beim Thema Zeitarbeit zu dem zurück, was Ihnen Hartz
vorgeschlagen hat! Wenn Sie das Konzept im Verhältnis
1 : 1 umsetzen, werden Sie nicht an unserem Widerstand
scheitern.
Ich schlage Ihnen des Weiteren vor, dass wir wenigstens
für ältere Arbeitslose in Deutschland eine intelligente Lö-
sung für die Änderung des Kündigungsschutzgesetzes
finden. Wir haben dazu konkrete Vorschläge gemacht.
Herr Bundeskanzler, Sie sprechen offensichtlich wie-
der mit einigen Unternehmens- und Verbandsvertretern –
mit den Gewerkschaftsvorsitzenden reden Sie ohnehin
täglich – und wollen das Bündnis für Arbeit wiederbele-
ben. Ich mache Ihnen den Vorschlag, diese Gespräche
dazu zu nutzen, betriebliche Bündnisse für Arbeit in
Deutschland einzuführen.
Das wäre ein Beitrag zu einer wirklichen Flexibilisierung
und Mobilisierung unseres Arbeitsmarkts.
Es wäre die Rückkehr zu Wachstum und Beschäftigung in
Deutschland.