Rede von
Hans
Eichel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Deutschland steht am Anfang des 21. Jahrhunderts vor
großen Herausforderungen: die deutsche Einheit zu ge-
stalten – wir sind auf halbem Wege; wir brauchen noch eine
halbe Generation; die Einheit zu vollenden haben wir uns
mit dem Solidarpakt II vorgenommen –, die europäische
Einheit mit zu gestalten, offensiv in den Binnenmarkt hin-
einzugehen – das wird eine Menge von Verhaltensänderun-
gen auch in unserem Lande erfordern –, die Situation
Deutschlands und vor allem die Situation der deutschen
Wirtschaft in einer globalisierten Welt zu stärken – dies al-
les vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft.
In der Mitte dieses Jahrhunderts wird sich die Zahl der
Älteren, die dann Rentenempfänger sein werden, im Ver-
hältnis zu der Zahl derer, die dann Beitragszahler sein
werden, verdoppelt haben. Dies wirft schwerwiegende
Fragen nach der Generationengerechtigkeit in unserer Ge-
sellschaft auf, die nicht einfach zu beantworten sind.
Deutschland braucht deshalb am Beginn des 21. Jahr-
hunderts tief greifende Reformen.Die Regierung Schröder
hat damit begonnen. Wir waren dabei erfolgreich.
– Meine Damen und Herren, man muss immer wieder da-
ran erinnern: Wenn Sie mit der Haushaltskonsolidierung
begonnen hätten, hätten wir heute eine Reihe von Proble-
men weniger.
Die Haushaltskonsolidierung können Sie an Zahlen
ablesen. 1999, als ich das Amt antrat, waren 21,4 Prozent
unserer Steuern für Zinsen zu zahlen. Wir sind im nächs-
ten Jahr bei 19 Prozent. Diese Differenz von 2,4 Prozent-
punkten ist der Konsolidierungsgewinn der letzten vier
Jahre. Er wurde mühselig erarbeitet, und zwar von uns
und nicht von Ihnen. Sie haben das nicht zuwege ge-
bracht.
Wir haben, entgegen der Mär, die Sie noch immer ver-
breiten, obwohl der Wahlkampf längst vorbei ist, auf der
Ausgabenseite konsolidiert. Der Bundeshaushalt 1998
hatte am Bruttoinlandsprodukt einen Anteil von 12,1 Pro-
zent. Der Bundeshaushalt des Jahres 2003 hat einen An-
teil von 11,3 Prozent. Das sind 0,8 Prozentpunkte bzw.
16 Milliarden Euro weniger. Das ist die Konsolidierung
auf der Ausgabenseite, die Sie nicht zuwege gebracht ha-
ben.
Der Staat spart bei sich selber. Im Bereich des öffentli-
chen Dienstes haben schon Sie damit begonnen – das will
ich an dieser Stelle gerne sagen – und wir haben das konse-
quent weitergeführt: 1998 hatten wir 314000 Beschäftigte
beim Bund, im Jahre 2002 noch 288000. Die Zahl der Be-
schäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes liegt im wie-
dervereinigten Deutschland also unter der Zahl, die die alte
734
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 735
Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung an Beschäftig-
ten aufzuweisen hatte. Das ist unser Konsolidierungserfolg.
Wir haben die entscheidende Rentenstrukturreform
gemacht: Neben die umlagefinanzierte Rente tritt die kapi-
talgedeckte Eigenvorsorge, die steuerlich gefördert wird.
Das war eine grundlegende Weichenstellung. Kein ande-
res großes Land auf dem Kontinent hat bisher eine solche
Rentenstrukturreform geschafft.
Bei allen Problemen, die wir in diesem Winter bekom-
men werden – ich komme noch darauf zu sprechen –, will
ich daran erinnern: Wir haben Arbeitslosigkeit abgebaut
und Beschäftigung aufgebaut.
– Sie wollen das alles vergessen. Lassen wir einmal die
Zahlen sprechen: Von 1994 auf 1998 ist die Zahl der Er-
werbstätigen in Deutschland, und zwar immer zum ersten
Halbjahr, um 106 000 gestiegen und von 1998 auf 2002
um 1,3Millionen. Das ist der Zugewinn an Beschäftigung
in unserer Regierungszeit.
Wir haben die Erwerbstätigenquote in Deutschland spür-
bar erhöht: Im Jahr 1994 lag sie bei 64,7 Prozent, im Jahr
1998 – damals haben wir die Regierung übernommen –
bei 63,9 Prozent und im vergangenen Jahr – das sind die
neuesten Zahlen – bei 65,7 Prozent. Das ist die Bilanz un-
serer Beschäftigungspolitik. Dass wir im Winter Proble-
me bekommen, weiß ich auch, aber man muss auch erken-
nen, dass wir weiter vorangekommen sind als Sie.
Wir sind durch die Wachstumsschwäche in 2001 und in
2002 zurückgeworfen worden. Aber wir als die größte
Volkswirtschaft in der Europäischen Union mit der stärks-
ten Exportverflechtung aller großen Volkswirtschaften in
der Europäischen Union sind durch die bisherige Wachs-
tumsschwäche der Weltwirtschaft besser hindurchge-
kommen als die beiden anderen großen Industrienationen
dieser Erde. Japan hatte 2001 minus 0,1 Prozent zu ver-
zeichnen, die USA– sie werden von Ihnen immer als Vor-
bild propagiert – plus 0,3 Prozent und Deutschland – die
Zahlen waren auch nicht gerade toll – plus 0,6 Prozent.
Das ist doppelt so viel wie die Vereinigten Staaten. Das ist
unsere Lage in der Weltwirtschaft.
Wir haben das im Bundeshaushalt im Jahr 2001 trotz
2 Prozent weniger Wachstum, als alle Institute vorausge-
sagt haben, mit einer Punktlandung verkraftet.
Die Probleme im vergangenen Jahr, die mir die Diskus-
sion um den blauen Brief im Frühjahr eingetragen haben,
waren nicht vom Bund gemacht; die Länderhaushalte sind
im vergangenen Jahr aus dem Ruder gelaufen. Das ist die
Wahrheit.
Im Jahr 2002 allerdings, im zweiten Jahr der Wachstums-
schwäche, konnten wir nichts mehr daran ändern, dass es
auch den Bundeshaushalt getroffen hat, und zwar, anders
als die Länderhaushalte, die nur auf der Einnahmeseite
getroffen sind, auf der Einnahmeseite wie auch, weil wir
für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme
verantwortlich sind, auf der Ausgabenseite.
Man muss deutlich sagen: Die Veränderungsrate beim
Defizit in Deutschland lag von 2001 auf 2002 bei 1 Prozent.
Ich vergleiche das mit dem, was 2001 in Europa war und
was 2002 nach den Prognosen der Europäischen Kom-
mission sein wird. Das Defizit ist um 1 Prozentpunkt von
2,8 auf 3,8 Prozent gestiegen. Dabei kommt heraus, dass
acht Länder in der Europäischen Union eine weitaus stär-
kere Zielverfehlung als Deutschland haben. Diese Länder
aber hatten günstigere Ausgangsbedingungen. Bei uns war
dies nicht der Fall. Das ist unser Problem. Das heißt, wir sind
bei der Konsolidierung in einer Phase erwischt worden, als
wir noch keinen ausgeglichenen Haushalt hatten. Das ist
größtenteils der „Erfolg“ Ihrer Politik in den 90er-Jahren.
Bei acht Ländern ist die Abweichung in der Wachstums-
abschwächung auf den Staatshaushalt zum Teil drama-
tisch stärker durchgeschlagen als bei uns: Luxemburg,
Schweden, Irland, Österreich, Großbritannien, Frank-
reich, Finnland und Dänemark. All diese Länder haben
eine stärkere Abweichung als wir. Ihr dauerndes Gerede,
wir seien das Schlusslicht in Europa, ist schlicht Unfug.
In diesem Winter wird die Arbeitslosigkeit, wie ich
fürchte, wieder deutlich über 4 Millionen steigen. Herr
Hundt sprach heute Morgen von 4,3 Millionen Arbeitslo-
sen. Aber auch dann gilt: Es sind 500 000Arbeitslose we-
niger als im Winter 1997/98, als Sie die Verantwortung
trugen. Das wollen wir nicht vergessen. Wir lassen es
auch nicht zu, dass es vergessen wird.
Das heißt nicht, dass man nicht alles dagegen tun muss.
Aber das heißt auch, alles dagegen zu tun, was Sie an
Falschmünzerei in die öffentliche Debatte in Deutschland
bringen. Mit uns nicht!
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
Auch wenn die Ausgangslage schwieriger geworden
ist, bleibt es dabei: 2006 wird es einen ausgeglichenen ge-
samtstaatlichen Bundeshaushalt geben.
2003 werden wir alle Anstrengungen unternehmen – un-
ser Konzept beweist dies –, um wieder unter die Defizit-
grenze von 3 Prozent zu kommen.
Sie und Ihre Landesregierungen werden daran gemessen
werden, ob Sie dazu Ihren Beitrag leisten. Dem werden
Sie nicht mehr lange ausweichen können.
Diesen Kurs einzuhalten – so schwierig das auch ist –
ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir
unserer Verpflichtung im Rahmen des europäischen
Stabilitäts- und Wachstumspaktes und für unsere ge-
meinsame Währung nachkommen. Damit geben wir der
Europäischen Zentralbank die Möglichkeit, mit der
Geldpolitik zum Wachstum beizutragen. Voraussetzung
dafür ist die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte.
Dies ist auch gegenüber unseren Kindern und Enkeln
angesichts einer alternden Gesellschaft unsere Verant-
wortung.
Der Weg freilich wird anstrengender. Der Nachtrags-
haushalt 2002 bringt – natürlich hat mir das keine Freude
gemacht – eine massive Erhöhung der Neuverschuldung
über das hinaus, was ich geplant hatte: von 21,1 auf
34,6Milliarden Euro. Im Rahmen von Art. 115 des Grund-
gesetzes liegt dem eine Störung des gesamtwirtschaft-
lichen Gleichgewichts zugrunde.
Es gibt keinen anderen vernünftigen Weg. Als sich die
Situation abzeichnete, wäre andernfalls ein Gegensteuern
in einem sich abflachenden Wirtschaftswachstum nur
noch durch das Stilllegen einer Reihe von Investitions-
vorhaben möglich gewesen. Ich kenne keinen Ökonomen
– Sie können noch nicht einmal bis zum Ende zuhören –,
insbesondere nicht unter denen, die intensiv am europä-
ischen Stabilitäts- und Wachstumspakt festhalten, wie
auch ich das tue, die das für eine vernünftige Alternative
gehalten hätten.
Hier gilt, dass die automatischen Stabilisatoren wir-
ken müssen. Das heißt, dass man in einer konjunkturel-
len Schwächephase die Mindereinnahmen, die sich
durch geringere Steuereinnahmen ergeben, und die
Mehrausgaben, die man für den Arbeitsmarkt braucht,
hinnehmen muss, um in der nächsten Aufschwungphase
umso konsequenter zu konsolidieren. Genau das machen
wir.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich einige Sätze zu der
unsäglichen Diskussion sagen, die heute Morgen in dem
von Herrn Altmaier geäußerten Vorwurf der Bilanzfäl-
schung gipfelte.
Ich weiß nicht, ob Ihnen noch bewusst ist, wohin Sie sich
mit einer solchen Verrohung der politischen Sprache in
diesem Land begeben.
Glauben Sie, dass es besser würde, wenn ich mit dem Be-
griff „Verleumder“ antworten würde?
Wer so die Politik in diesem Lande gestaltet, hat zwar
nicht dieselbe ökonomische Basis wie die Weimarer Re-
publik geschaffen, aber er hat einen fundamentalen Feh-
ler von Weimar wiederholt, nämlich sich selber, die poli-
tische Klasse insgesamt, kaputtzumachen. Das aber tun
Sie!
Hans Mommsen hat mit seinem Artikel in der „Süddeut-
schen Zeitung“ sehr Recht. Mir ist bekannt, dass es in
Ihren Reihen viele gibt, die das auch nicht in Ordnung fin-
den. Sie sollten langsam dafür sorgen, dass Sie sich in Ih-
rer Partei durchsetzen, meine Damen und Herren.
Es ist wirklich abenteuerlich. Alle Fakten werden mo-
natlich vom Bundesfinanzministerium veröffentlicht.
Der verehrte neue stellvertretende CDU/CSU-Vorsit-
zende, Herr Böhr,
forderte kürzlich eine gläserne Bundesregierung. Zu
diesem Zweck müssten vierteljährlich Einnahmen, Aus-
gaben und andere Daten veröffentlicht werden. Aber,
meine Damen und Herren, bereits seit August 2001 wird
auf meine Entscheidung hin monatlich veröffentlicht, wie
sich die Steuereinnahmen und Ausgaben entwickeln und
wie die Finanzierungssalden beim Bund und bei den Län-
dern aussehen.
736
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 737
Prognosen allerdings erstellen wir nur dreimal im Jahr
– dabei bleibt es auch, und zwar im Wahljahr wie in allen
anderen Jahren –, und zwar im Mai und November im Zu-
sammenhang mit den beiden Steuerschätzungen und im
Januar für den Jahreswirtschaftsbericht und das Stabilitäts-
programm.
Was Ihre negative Einschätzung angeht, gebe ich zu,
dass ich sie nicht in dem Maße teile, weil nämlich,
als wir im Frühjahr das Wachstum für 2002 auf drei Vier-
tel Prozent geschätzt haben, alle wirtschaftswissenschaft-
lichen Forschungsinstitute darüber lagen. Ich möchte
aus dem Frühjahrsgutachten der Forschungsinstitute zi-
tieren:
Das Bruttoinlandsprodukt wird im Jahresverlauf
2002 um 2 1/4 Prozent steigen, im Jahresdurchschnitt
wegen der niedrigen Ausgangsbasis jedoch nur um
0,9 Prozent.
Noch im August lagen fast alle Wirtschaftsforschungs-
institute über unseren Voraussagen: Ifo 0,7 Prozent, das
Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv 0,7 Prozent, das
Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung
0,6 bis 0,7 Prozent, das Institut für Weltwirtschaft 1,2 Pro-
zent. Das einzige Institut, das unter unseren Voraussagen
lag, war das DIWmit 0,6 Prozent. Aber auch das DIW ist
ausdrücklich von einer Beschleunigung in der zweiten
Jahreshälfte ausgegangen. Das Institut für Wirtschaftsfor-
schung Halle ist von 0,9 Prozent ausgegangen, der Inter-
nationale Währungsfonds ebenfalls von 0,9 Prozent, die
OECD von 0,7 Prozent, Deutsche Bank 1,2 Prozent,
Dresdner Bank 1 Prozent und wir sind von drei Viertel
Prozent ausgegangen. Dass es im Herbst zu einer drama-
tisch schnellen Abwärtsentwicklung gekommen ist, ist
wohl wahr. Aber auch das ist klar: Der deutsche Finanz-
minister kann nur dann feststellen: „Wir reißen die 3 Pro-
zent“, wenn es zweifelsfrei feststeht und er muss auch die
internationalen Konsequenzen eines solchen Schritts be-
denken.
Das würde sicherlich jeder tun, der dieses Amt innehat.
Für mich war hinsichtlich des Eingangs der tatsächli-
chen Steuern von September – denn das war der Abbruch
in 2001 – klar: Wenn wir 2002 unter den 3 Prozent hätten
bleiben wollen, hätten die Steuern deutlich über das Vor-
jahresergebnis hinausgehen müssen, wie im Oktober ge-
schehen. Im September war das allerdings nicht der Fall
und damit war kein Aufholen möglich.
Das, was Sie mit dem beabsichtigen, was sie jetzt ver-
anstalten, liegt klar auf der Hand, übrigens auch für die
Finanzminister aller Bundesländer. Der Untersuchungs-
ausschuss wird eine spannende Veranstaltung werden.
Denn Sie haben in der Opposition eine Doppelstrategie
verfolgt: Herr Merz hat immer gesagt, dass alles mies sei,
während Frau Merkel und Herr Stoiber für das Verkünden
der Wohltaten zuständig waren. Wenn das, was Sie in
Ihrem 100-Tage-Programm versprochen haben, tatsäch-
lich umgesetzt worden wäre, dann hätten im Vergleich zu
unseren Entscheidungen 21 Milliarden Euro zusätzlich
ausgegeben werden müssen. Das ist 1 Prozent vom Brut-
toinlandsprodukt. Frau Merkel, hat Ihnen denn Herr
Merz, als Sie drei Wochen vor der Bundestagswahl dieses
Programm vorgestellt haben, niemals aus seiner Sicht die
Lage der Staatsfinanzen dargestellt und Sie nicht darauf
hingewiesen, dass ein solches Programm zur Folge habe,
dass man die 3-Prozent-Grenze erheblich verfehlen
werde? Das ist doch eine spannende Frage.
Ich frage auch: Was hat denn der verehrte Kollege
Faltlhauser seinem Ministerpräsidenten über die Ent-
wicklung der Finanzlage gesagt oder hat er es ihm gar
nicht gesagt? Oder hat Herr Stoiber das, was Herr
Faltlhauser gesagt hat, nicht ernst genommen? Wenn ich
mir die Entwicklungsgeschichte des Untersuchungsaus-
schusses anschaue, dann kann ich nur sagen: Ich freue
mich auf ihn.
Frau Merkel, Sie hätten sich nicht ausgerechnet von Herrn
Koch – ich weiß, wovon ich rede –,
der seinen Wahlkampf in Hessen mit Schwarzgeld und ei-
ner unsäglichen Kampagne gewonnen hat,
einen solchen Untersuchungsausschuss einreden lassen
dürfen.
Verehrte Frau Koch
– Entschuldigung, das tut mir Leid –, sehr verehrte Frau
Merkel, es wird beabsichtigt, mit diesem Untersuchungs-
ausschuss nicht nur eine bestimmte Hauptwirkung, son-
dern auch gewisse Nebenwirkungen zu erzielen. Die be-
absichtigte Hauptwirkung soll natürlich sein, bis zum
2. Februar 2003 nicht sagen zu müssen, was Sie an unse-
rer Stelle täten, obwohl Sie das schon jetzt in den Regie-
rungen der unionsgeführten Bundesländer sagen müssten.
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
Es ist klar, dass nichts, was man jetzt tut, populär sein kann.
Deshalb kann man viele Menschen aufhetzen. Aber erst
dann, wenn sichtbar wird, was Sie machen wollen, wird es
richtig spannend. Sie wollen das, was Sie zu tun beabsich-
tigen, verschleiern und erst nach dem 2. Februar 2003
kundtun. Das ist die Wirklichkeit. Wir sagen dagegen, was
wir zu tun beabsichtigen.
Der Untersuchungsausschuss soll aber noch zwei Ne-
benwirkungen haben, die einkalkuliert sind. Sie wollen
– das ist die erste beabsichtigte Nebenwirkung – von den
Problemen der FDP ablenken; das verstehe ich. Aber die
zweite beabsichtigte Nebenwirkung, sehr verehrte Frau
Merkel, ist ein bisschen problematischer. Um die Fragen,
die ich Ihnen vorhin zu Ihrem Wahlprogramm gestellt
habe, zu beantworten, muss man nichts weiter tun, als sich
die mittelfristige Finanzplanung anzuschauen. Dann er-
kennt man, dass Ihr gesamtes Wahlprogramm und insbe-
sondere Ihr 100-Tage-Programm in den Zeitraum 2003
bis 2006 überhaupt nicht hineinpassen. Hat Ihnen das
Herr Merz auch nicht gesagt?
Es werden doch auch diesbezüglich entsprechende Fragen
im Untersuchungsausschuss gestellt werden. Vielleicht
wird auch Herr Koch gefragt werden, wie er das so ge-
nannte Familiengeld finanzieren wollte, zu dem er sich
positiv geäußert hat. Er wird dann vielleicht antworten,
dass er aus Loyalität zu seiner Parteivorsitzenden den Vor-
schlag zum Familiengeld unterstützt habe. Das wäre wirk-
lich die perfideste Art.
Als ich den Haushalt 2002 im Bundestag begründet
habe – das habe ich auch vor der Bundespressekonferenz
gesagt –, habe ich gesagt, dass er auf Kante genäht sei.
Aufgrund des zweiten Jahres mit schwachem Wirt-
schaftswachstum seien keine Reserven vorhanden. Wenn
die wirtschaftliche Entwicklung weiter negativ verlaufe,
dann werde das auf den Haushalt durchschlagen.
Ich habe von Anfang an gesagt – übrigens manchmal nicht
zur Freude meiner eigenen Parteikollegen –, dass dann
nichts mehr zu machen sei.
Verehrter Herr Merz, wir reden vielleicht auch noch ein-
mal über die Verantwortung, die Sie als Fraktionsvorsit-
zender hatten, und darüber, welche Anträge, die Ausga-
bensteigerungen zur Folge gehabt hätten, noch im Laufe
des Sommers des vergangenen Jahres eingebracht worden
sind.
Wir haben eine Haushaltssperre verhängt und haben
gesagt: Für die Finanzierung des Wiederaufbaus in den
von der Flutkatastrophe betroffenen Gebieten werden
keine neuen Schulden gemacht. Wir müssen vielmehr die
beabsichtigten Steuersenkungen verschieben. Das haben
wir drei Wochen vor der Bundestagswahl gesagt.
Hier lasse ich mir von Ihnen keinen einschenken. Es wird
zurückgeschossen; da können Sie sicher sein.
Angesichts zwei Jahre schwachen Wirtschaftswachs-
tums müssen wir den Haushalt 2003 auf eine neue Basis
stellen.
– Meine Damen und Herren, jetzt weiß ich, warum wir das
Programm zur Kinderbetreuung aufgelegt haben. – Für
den Haushalt 2003 und für die ganze Wahlperiode brau-
chen wir eine neue Grundlage, die in die Basis zwei Jahre
schwaches Wirtschaftswachstum in der Welt und bei uns
einbezieht. Des Weiteren sollten wir von einem niedrige-
ren Wachstum ausgehen. Deswegen habe ich das Durch-
schnittswachstum der letzten zehn Jahre zugrunde gelegt,
nämlich 1,5 Prozent. Dieses Wachstum kann natürlich be-
stritten werden. Aber wir liegen mit dieser Annahme mit-
ten im Prognosespektrum zwischen dem Sachverständi-
genrat mit 1 Prozent, dem Internationalen Währungsfonds
mit 1,75 Prozent und der OECD, die vor wenigen Tagen
unsere Prognose bestätigt hat.
Wir senken gegenüber dem Nachtragshaushalt 2002
die Nettokreditaufnahme um 15,7 Milliarden Euro auf
18,9 Milliarden Euro. Das ist eine riesige Kraftanstren-
gung, vergleichbar der, die wir 1999 bei der Einleitung
des Konsolidierungskurses unternommen haben. Das be-
stätigt, dass wir voll auf Kurs bleiben.
Die Ausgabenreduzierung gegenüber dem Nachtrags-
haushalt 2002 beträgt 1,8 Prozent bzw. 3,3 Prozent, wenn
man – das muss man wohl machen – den Hochwasserso-
lidaritätsfonds herausrechnet. Das sind real fast 5 Prozent
weniger Ausgaben als in diesem Jahr, meine Damen und
Herren. Zeigen Sie mir ein Land in Europa, das so konse-
quent den Konsolidierungskurs geht. Damit übererfüllt
der Bund seine Verpflichtungen, die er im Rahmen des na-
tionalen Stabilitätspaktes übernommen hat.
Der Hauptteil – das gehört zugegebenermaßen zu den
gegenwärtigen Kommunikationsproblemen – wird durch
Ausgabenkürzungen erbracht. Über diesen Teil redet in
der Öffentlichkeit fast niemand. Dass wir in dieser Situa-
tion mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes, zum Bei-
spiel einer schnelleren Vermittlung, keinen Zuschuss zur
Bundesanstalt für Arbeit leisten, bedeutet für alle Betei-
738
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 739
ligten eine enorme Kraftanstrengung. Dass wir die Ar-
beitslosenhilfe um 2,5 Milliarden Euro kürzen, ist uns
nicht leicht gefallen, denn das bedeutet einen Eingriff in
Besitzstände von Leuten, die nicht viel haben. Wir haben
uns das sorgfältig angesehen und meinen, dass das ver-
tretbar ist. Aber, meine Damen und Herren, wer über die
Dienstwagenbesteuerung jammert, der sollte erst einmal
über die Situation der Arbeitslosenhilfeempfänger reden.
Es ist nicht in Ordnung, was sich in der politischen Dis-
kussion in diesem Lande abspielt.
Als Finanzminister sage ich übrigens ganz ausdrück-
lich: Diese Eingriffe werden nicht die einzigen sein, die
wir im sozialen Bereich vornehmen müssen. Denn die Al-
terung unserer Gesellschaft wird uns noch vor viele große
Aufgaben stellen. Aber, wer in solch einer Situation im-
mer nur auf die schwächsten Teile der Gesellschaft schaut
und nicht einen Moment lang darüber nachdenkt, welchen
Beitrag auch er leisten müsste, der ist in der politischen
Debatte aus meiner Sicht nicht auf der Seite derer, die sich
um einen sozialen Ausgleich bei diesem notwendigen
Modernisierungsprozess in unserer Gesellschaft be-
mühen.
Wir kürzen die Finanzhilfen weiter, und zwar nicht
nur – das ist auch eine spannende Debatte bei Ihnen – im
Bergbau. Es steht übrigens in der Koalitionsvereinbarung,
dass die Finanzhilfen auch nach Auslaufen der jetzigen
vertraglichen Regelung weiter heruntergefahren werden.
Wir kürzen auch, weil der Wohnungsmarkt etwas anderes
nicht mehr vernünftig erscheinen lässt, zum Beispiel im
Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Hier bekommen wir
jedoch von Ihnen wieder Vorwürfe gemacht. Die Bilanz
des Abbaus der Finanzhilfen, also der direkten Subven-
tionen, zeigt Folgendes: 1998 standen in Ihrem Haushalt
11,4 Milliarden Euro. In unserem Haushalt stehen für die-
ses Jahr 8,4 Milliarden Euro und für das nächste Jahr
7,8 Milliarden Euro. Das bedeutet eine Reduzierung der
Finanzhilfen, der direkten Subventionen, von 30 Prozent
im Laufe von fünf Jahren. So etwas haben Sie vorher nie
zuwege gebracht, meine Damen und Herren.
Aber wer über Subventionen redet, der soll nicht nur
über die Ausgabenseite reden. Dort sind nämlich die Sub-
ventionen untergebracht, die insbesondere diejenigen er-
halten, die überhaupt keine Steuern zahlen, weil ihr Ein-
kommen so niedrig ist. Das habe ich eben am Beispiel der
Arbeitslosenhilfe deutlich gemacht.
Wer über Subventionen redet, der muss in der Tat auch
über Vergünstigungen im Steuerrecht reden. Das haben
Sie übrigens in anderem Zusammenhang auch immer ge-
tan. Dort gibt es eine ganze Menge von Vergünstigungen
für diejenigen, die steuerpflichtig sind, aber nicht für die-
jenigen, die ein so niedriges Einkommen haben, dass sie
keine Steuern zahlen. Deshalb muss man sich diese Sub-
ventionen mit ansehen.
Ich beklage, dass die Debatte in Deutschland nur um
diesen Teil geführt wird, der übrigens bei der Reduzierung
der Neuverschuldung um 15,7 Milliarden Euro mit Ab-
stand den kleinsten Teil ausmacht, nämlich beim Bundes-
haushalt gerade etwas über 3 Milliarden Euro. Insgesamt
geht es um 5 Milliarden Euro, weil die Länder und Kom-
munen daran beteiligt sind.
Das geschieht übrigens trotz einer historisch niedrigen
Steuerquote. Damit wir uns richtig verstehen: Auch ich
will, dass die Staatsquote zurückgeführt wird. Ich will
aber eines klar machen: Die Staatsquote kann nur zurück-
geführt werden, indem man die Staatsverschuldung und
damit die Zinslast reduziert. Anderenfalls macht man den
Staat aktionsunfähig.
Das wollen wir jedenfalls nicht.
Wir haben es zurzeit wieder einmal fast mit einem Ver-
fall der Steuerbasis zu tun. Deswegen steht im Wahlpro-
gramm der Sozialdemokratie als eine von mehreren
Schwerpunktaufgaben der Steuerpolitik für diese Wahl-
periode die Befestigung der Steuerbasis. Ich bin mir ganz
sicher, dass Ihre Finanzminister das keinen Deut anders
sehen.
Erstens. Wir haben einen hohen Umsatzsteuerbetrug.
Ich habe mit den Ländern vor einem Jahr Maßnahmen da-
gegen verabredet, die wir dann hier beschlossen haben.
Ich kann nicht erkennen, dass – mit Ausnahme des größ-
ten deutschen Bundeslandes – die Länder die Maßnah-
men, die wir ihnen möglich gemacht haben, beherzt um-
setzen. Auf diesem Gebiet muss etwas geschehen, damit
der Umsatzsteuerbetrug in Deutschland wirklich bekämpft
wird.
Zweitens. Das Instrument Kontrollmitteilungen
kennt man in sehr vielen Ländern, und zwar gerade in den
großen, angelsächsischen Ländern. Dieses Instrument
– das ist der Trend – wird international üblich werden.
Warum? – Es gibt doch angesichts des Binnenmarktes und
der Globalisierung nur zwei Wege: Entweder einigt man
sich bei allen für die globalisierte Welt oder den Binnen-
markt wichtigen Steuern auf ein bestimmtes Steuersystem –
dafür gibt es die einfache Prognose, dass das noch Jahr-
zehnte dauern wird, wenn nicht noch länger; ich glaube
gar nicht, dass es dazu kommt – oder man sorgt dafür, dass
jedes Land für seine steuerpflichtigen Bürger seine Ein-
nahmen erhält. Das geht dann nur über Kontrollmitteilun-
gen. Das entspricht der Situation in der Europäischen
Union, in der wir uns einstimmig auf Kontrollmitteilun-
gen verständigt haben.
Ich will auch noch etwas zu der Frage Bankgeheimnis
sagen: Meine Damen und Herren, mich interessiert über-
haupt nicht – das sollte niemanden interessieren –, was auf
dem Konto eines Privatmannes vor sich geht.
Es gibt aber zwei Ausnahmen. Eine Ausnahme besteht
darin, wenn es um kriminelle Aktionen wie beispielsweise
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
Geldwäsche geht. Dazu haben wir eine Reihe von Geset-
zen verabschiedet. Ich hoffe, dass wir in diesem Punkt
keinen Streit haben.
Die zweite Ausnahme besteht darin, wenn es darum
geht, dem Finanzamt steuerpflichtige Vorgänge mitzutei-
len. Das ist nicht streitig in Amerika, das ist nicht streitig
in Großbritannien und das ist nicht streitig in Frankreich.
Warum sollte es in Deutschland streitig sein?
Außerdem muss jeder Lohnsteuerzahler sein Einkom-
men offen legen. Das heißt, bei ihm werden die Informa-
tionen zwangsweise offen gelegt. Das geschieht durch die
Gehalts- und Lohnabteilung bei den Unternehmen. Von
dort gehen diese Informationen dann an das Finanzamt.
Wo liegt also das Problem? – Ich kann es nicht erkennen.
Jetzt komme ich zu einem wichtigen Thema im Zu-
sammenhang mit der Spekulationssteuer: Das Bundes-
verfassungsgericht befasst sich damit, weil der Bundesfi-
nanzhof gesagt hat, diese Steuer werde praktisch nicht
vollzogen; 95 Prozent derer, die bei der Veräußerung von
Akten innerhalb eines Jahres Gewinne erzielten, gäben
diese nicht an. Deswegen – so die Argumentation des
Bundesfinanzhofes – ist diese Steuer verfassungswidrig,
weil sie praktisch nicht vollzogen wird.
Es gibt eine einfache Antwort: Dann erheben wir diese
Steuer, wie es in allen großen Ländern dieser Erde üblich
ist. Wie Sie wissen, haben wir – in unserem Steuerpaket
wird das deutlich – noch eine andere Konsequenz gezogen.
Darüber wird man noch diskutieren.
Ich komme zum Thema Körperschaftsteuer. Sie hat-
ten im Wahlkampf Recht, auch wenn Ihr Argument falsch
war: Ja, es kann nicht hingenommen werden, dass die Kör-
perschaftsteuer verfällt. Soweit es um die Ausschüttung
früherer Gewinne geht, ist das kein Problem; denn dieses
Geld fällt unter die Kapitalertragsteuer. Leider können mir,
dem Bundesfinanzminister, und den Finanzministern der
Länder selbst die sachverständigen Steuerschätzer – sie ar-
beiten übrigens nicht nur für die Institute der Bundesbank,
sondern auch für die Länder; sie alle sind neutral – erst von
Steuerschätzung zu Steuerschätzung mitteilen, ob und wie
viel Geld in die Kassen fließt. Erst sagen sie dann, man be-
komme Geld und anschließend teilen sie mit, man be-
komme doch keines. Angesichts dessen verliert man lang-
sam den Glauben an den Sinn dieser Veranstaltung.
Wir haben bereits in dem Bericht an den Finanzaus-
schuss des Bundestages in der vorigen Wahlperiode da-
rauf hingewiesen, dass Regelungsbedarf besteht. Diesen
Bedarf erfüllen wir jetzt. Das heißt mit einem einfachen
Satz – ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand
von Ihnen dem widersprechen will –: Ein Unternehmen,
das Gewinne macht, soll Steuern zahlen.
Es geht dabei überhaupt nicht um Steuern, deren Zahlung
ein Unternehmen in den Bankrott treibt.
Große Unternehmen haben mittlerweile beispielsweise
wunderbare Dokumentationen darüber – solche Doku-
mentationen werden grenzüberschreitend erstellt –, an
welcher Stelle eines Fließbandes eine Schraube fehlerhaft
befestigt worden ist. Wir müssen zum Beispiel über Ver-
rechnungspreise so gut Bescheid wissen, dass wir verhin-
dern können, dass in Deutschland entstandene Gewinne
von der einen auf die andere Seite, also vom Inland ins
Ausland, geschoben werden, weswegen der deutsche Fis-
kus das Nachsehen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
Sie das wollen. Das kann niemand wollen.
Sie haben im Wahlkampf entsprechende Forderungen er-
hoben. Wir sind auf Ihre Mitwirkung an dieser Stelle ge-
spannt.
Ich komme zum Thema Steuervergünstigungen. Zu-
allererst möchte ich eine Grundsatzbemerkung machen:
Ökonomisch gesehen besteht kein Unterschied zwischen
dem Abbau einer ausgabenseitigen Finanzhilfe und der
Verringerung einer Steuervergünstigung. In beiden Fällen
nimmt man jemandem Geld weg; es handelt sich – das ist
wahr – ökonomisch um denselben Sachverhalt. Wir müs-
sen uns darüber im Klaren sein, dass es sowohl auf der
Einnahmeseite als auch auf der Ausgabenseite Vergünsti-
gungen, zum Beispiel in Form von Subventionen, gibt.
An dieser Stelle setzen wir an, und zwar so, wie Sie es
immer gefordert haben: Steuervereinfachungen durch die
Reduktion der Anzahl von Ausnahmetatbeständen.
Was wir tun, wird sich übrigens weitestgehend erst im
Jahre 2004 auswirken, wenn es nämlich zur nächsten
Stufe der Steuersenkungen – Verbreiterung der Bemes-
sungsgrundlage und Senkung der Steuersätze – kommen
wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich nur auf wenige
Bereiche hinweisen. Stichwort Umsatzsteuer:Wenn man
der Forderung einiger Gruppen von Lobbyisten nachgibt
und den unteren Mehrwertsteuersatz ausdehnt, dann führt
das gewissermaßen zu einer Zerstörung der Umsatzsteuer.
In Deutschland ist das schon der Fall. Ich erinnere mich
an das, was Sie im vorigen Jahr und noch während dieses
Sommers im Zusammenhang mit Handwerkerrechnun-
gen versucht haben. Wir können den oberen Mehrwert-
steuersatz nur dann halten, wenn nicht alles Mögliche un-
ter den unteren Mehrwertsteuersatz fällt.
Der ursprüngliche Gedanke war sozial; denn Mehr-
wertsteuer zahlen auch diejenigen, deren Einkommen so
gering ist, dass sie keine Lohn- und Einkommensteuer
zahlen. Weil man nicht wollte, dass die niedrigen Ein-
kommen von der Mehrwertsteuer in gleichem Maße be-
troffen sind, hat man dafür gesorgt, dass der Erwerb von
Gütern, deren Konsum der Befriedigung von Grundbe-
dürfnissen dient, nur dem halben – inzwischen ist er ein
bisschen geringer – Mehrwertsteuersatz unterliegt. Auf
740
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 741
diesen Grundgedanken greifen wir zurück. Die sozialen
Grundbedürfnisse – die Grundnahrungsmittel, kulturelle
Grundbedürfnisse – sowie ab 2005 der öffentliche Perso-
nennah- und Fernverkehr
sollen unter den niedrigen Mehrwertsteuersatz fallen. Das
können Sie noch ändern. Ich bin sehr gespannt, wie Sie
auf unsere Politik reagieren. Ich kann niemandem erklä-
ren, wieso zum Beispiel Schnittblumen unter den niedri-
gen Mehrwertsteuersatz fallen, Babywindeln aber nicht.
Man sieht, was passiert – auch in unseren Reihen gab
es eine Diskussion darüber, Stichwort Zahntechniker –,
wenn man einen Bereich des Gesundheitswesens geson-
dert behandeln will. Den ganzen Sommer über hatten
Frau Kollegin Schmidt und ich eine Diskussion darüber,
ob auch die Medikamente unter den niedrigeren Mehr-
wertsteuersatz fallen sollten. Aber dann drängt einer
nach dem anderen hinein. Auch deswegen mussten die
Zahntechniker heraus, damit für die Gesundheitsreform
ein für alle Mal klar gemacht wird: Das Gesundheitssys-
tem hat kein Einnahmeproblem, es hat ein Ausgaben-
problem. Man braucht also nicht zusätzliche Einnahme-
quellen zu suchen, sondern muss im Gesundheitswesen
rationeller arbeiten und für Wettbewerb sorgen. Das ist
die Antwort.
Nun komme ich zu einer Steuersubvention, zur Eigen-
heimzulage. Ich weiß, das ist nicht einfach.
Aber, meine Damen und Herren, wie soll man – volks-
wirtschaftlich betrachtet – eigentlich jemandem erklären,
dass in einem Land, in dem im Osten erheblicher Woh-
nungsleerstand besteht und in dem in den meisten Regio-
nen der Wohnungsmarkt zumindest ausgeglichen ist – in
einigen wenigen ist der Wohnungsmarkt auch noch ange-
spannt, was dann regional beantwortet werden mag –,
Jahr für Jahr 10Milliarden Euro an Steuersubventionen in
den Wohnungsmarkt gehen? Wie wollen Sie das jeman-
dem erklären?
In Ostdeutschland nehmen wir bereits Geld in die Hand,
um Wohnungen abzureißen. Das hat die Qualität von
Agrarsubventionen: erst Produktion fördern und dann
Vernichtung.
Reden Sie doch nicht über die Steinkohlesubvention, die
systematisch abgebaut wird, wenn Sie nicht bereit sind,
bei der Änderung der Eigenheimzulage mitzumachen. Sie
haben volkswirtschaftlich kein einziges Argument.
Was wohl an dieser Stelle eine Rolle spielen kann – das
ist das positive Argument –: Wir fördern die Eigentums-
bildung. Wir fördern nicht den Neubau. Das bedeutet:
eine Förderung bitte nur bei denen, die es nötig haben, und
wo wir es uns leisten können. Das heißt: Familien mit
Kindern brauchen die Förderung, Familien ohne Kinder
aber nicht.
Ebenso klar ist es, dass der Altbau genauso gestellt sein
muss wie der Neubau. Wieso fördern wir den Neubau in
Gebieten mit hohem Wohnungsleerstand? Das macht kei-
nen Sinn. –
Das sind die Veränderungen.
Jetzt die andere Seite: Es bleibt bei allen Schwerpunkten,
die wir in der vergangenen Wahlperiode in unserer Haus-
halts- und Finanzpolitik gesetzt haben. Wir machen diese
Konsolidierungsanstrengungen doch auch und zuallererst,
damit unsere Haushalte zukunftsfähiger werden. Wir ma-
chen sie, damit wir weniger Zinsen zahlen müssen, aber
mehr investieren können. Die Investitionen im Haushalt
steigen von diesem auf das nächste Jahr von rund 25 auf
26,8 Milliarden Euro. Wir stoßen darüber hinaus weitere
Investitionen an.
Wir haben die historisch höchsten Verkehrsinvestitio-
nen, verstetigen diese und werden sie im Planungszeit-
raum weiter heraufsetzen.
Wir haben gegenüber Ihrer Regierungszeit die Ausga-
ben für den Bildungsbereich um fast 30 Prozent gestei-
gert, von 2002 auf 2003 wiederum um 3,7 Prozent.
Wir haben die Ausgaben für die Familien gewaltig er-
höht. Der Bundesbankvizepräsident Jürgen Stark liegt
schief, wenn er uns Vorwürfe macht, weil wir das Kinder-
geld systematisch erhöht haben. Das ist eine Zukunftsin-
vestition.
Wir gehen weiter bei der Ganztagsbetreuung und ha-
ben in diesen Haushalt eine Anlaufrate eingestellt; denn es
wird Zeit, dass wir bei der Kinderbetreuung den europä-
ischen Standard erreichen. Wir dürfen Frauen nicht vor
die Wahl zwischen Kindern und Beruf stellen. Wir müs-
sen es ihnen möglich machen, beides miteinander zu ver-
binden. Das ist es, was wir brauchen.
Wir setzen den Aufbau Ost auf hohem Niveau fort und
führen dieses Jahr zusätzlich das Stadtumbauprogramm
Ost ein.
Das ist unsere Haushaltspolitik: Sie ist nicht einfach,
aber zielgerichtet. Wir wollen, auch wenn es unter den ge-
gebenen Bedingungen mühselig ist, konsequent den Weg
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
der Konsolidierung unseres Haushaltes gehen, um
Deutschland zukunftsfähig zu machen.
Konsolidierung ist aber nicht nur eine Sache des Bun-
des. Konsolidierung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe
und unterliegt einer gesamtstaatlichen Verantwortung von
Bund, Ländern und Gemeinden sowie den sozialen Si-
cherungssystemen. Dabei trägt der Bund die größte Last.
Wer sich das noch einmal verdeutlichen will, braucht sich
nur den letzten Bericht des Bundesrechnungshofes anzu-
sehen. Es ist relativ offenkundig, wie sich der Anteil des
Bundes an den Steuern entwickelt hat, nämlich nach un-
ten, und wie sich der Anteil des Bundes an der Verschul-
dung entwickelt hat, nämlich gewaltig nach oben. Ich
kritisiere das gar nicht. Das waren die Lasten der Wieder-
vereinigung; das ist in Ordnung. Man muss aber wissen,
dass auch andere eine Verantwortung für die Konsolidie-
rung des Staatshaushaltes und dafür, dass wir unseren Ver-
pflichtungen im Rahmen des europäischen Stabilitäts-
und Wachstumspakts nachkommen, haben.
Ich bin froh darüber, dass wir es im März geschafft ha-
ben, im Finanzplanungsrat einen nationalen Stabilitäts-
pakt zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu
schließen. Ich unterstelle auch den guten Willen der Län-
der. Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Ich freue
mich darüber, dass es uns in der vergangenen Woche ge-
lungen ist, gemeinsam festzustellen: 2006 wollen wir ei-
nen ausgeglichenen gesamtstaatlichen Haushalt und 2003
wollen wir das Defizit wieder unter 3 Prozent senken.
Aber dazu muss auch jeder seinen Beitrag leisten.
Das Konzept, das wir auf dem Tisch gelegt haben, führt
dazu.
Es ist ein Konzept, das nicht nur den Bundeshaushalt ein-
bezieht. Denn wer sich auf den mühseligen Weg macht,
Steuervergünstigungen bei den Gemeinschaftsteuern ab-
zubauen, hat natürlich den positiven Nebenaspekt, damit
Ländern und Gemeinden ein Stück zu helfen. Ihre Klagen
über die Situation der Kommunalfinanzen sind nichts
wert, wenn Sie nicht bereit sind, an dieser Stelle mitzu-
wirken. So einfach ist das.
Wir werden sehen, welche eigenen Beiträge die Länder
und Gemeinden leisten. Ich sage ausdrücklich die Bereit-
schaft des Bundes zu, bei allen Vorschlägen, auch zu Bun-
desleistungsgesetzen – das wird politisch ausgefochten
werden –, mitzumachen, wenn sie vernünftig sind und
wenn es eine gemeinsame Position der Länder ist, um zu
weiteren Ausgabenreduzierungen zu kommen. Das wird
nämlich unsere gemeinsame Aufgabe sein.
Nur eines wird nicht funktionieren: Wir machen das
zugunsten der Länder und die B-Länder, jedenfalls in ih-
rer großen Mehrheit, sagen: Wir wollen den Gewinn dop-
pelt; erstens wollen wir Geld einsparen und zweitens die
anderen noch dafür beschimpfen, dass sie das für uns ma-
chen. – Das wird nicht laufen, sondern es geht nur so, dass
sie sich offen zu ihrer Verantwortung bekennen und klar
sagen: Dieses und jenes wollen wir in Bundesgesetzen
geändert haben. – Dann sind wir verhandlungsbereit. Es
geht ausdrücklich nur so; denn jeder muss seinen Beitrag
zur Gesamtverantwortung leisten.
Übrigens haben sich die Länder ausbedungen, 55 Pro-
zent des ab 2004 erlaubten Defizits machen zu können,
während dem Bund nur 45 Prozent verbleiben. Das ist für
uns ein harter Weg, weil unsere Ausgangslage
viel schlechter ist. Für den Bund ist das ein viel härterer
Konsolidierungspfad als für die Länder. Trotzdem habe
ich zugestimmt. Aber das heißt dann auch: Die Länder tra-
gen 55 Prozent der Verantwortung dafür, dass wir die
Maastricht-Kriterien einhalten. Diese Verantwortung
haben insbesondere Sie, weil Sie die Mehrheit im Bun-
desrat stellen.
Sie werden mir also nicht ausweichen können. Ich glaube
auch, dass Ihr Manöver, das vor dem 2. Februar nicht zu
sagen, nicht gelingen wird.
Wir bemühen uns um die Gemeindefinanzen und ha-
ben dazu die Reformkommission eingesetzt. Das ist ein
schwieriges Thema, weil ich sehr genau sehe, dass noch
immer zwei Züge direkt aufeinander zufahren, die zwar
beide dasselbe Ziel haben, nämlich die Kommunalfinan-
zen zu verbessern und damit die Kommunen unabhängi-
ger von Konjunkturschwankungen und investitionsfähi-
ger zu machen – was dringend erforderlich ist –, die aber
in verschiedene Richtungen fahren, weil die Kommunal-
politiker beider großen Parteien ganz überwiegend auf die
Revitalisierung der Gewerbesteuer setzen und die Wirt-
schaftsverbände auf das Gegenteil, nämlich die Abschaf-
fung. Da wird eine große Aufgabe auf uns zukommen, die
nur – das ist meine Prognose – in großem Einvernehmen
zwischen Kommunen und Wirtschaftsverbänden zu lösen
ist. Wenn ich mir die Situation in Bundestag und Bundes-
rat ansehe, wird jeder vor diese Frage gestellt werden.
Ich werde meinen Teil dazu beitragen, dass wir zusam-
menfinden. Deswegen bin ich auch vorsichtig, wenn es
darum geht, selbst eine Position zu beziehen – nicht weil
ich keine hätte, sondern weil ich glaube, dass es meine
Aufgabe ist, beide Positionen aufeinander zuzuführen.
Ich komme zum Hartz-Konzept. Der Übergang der
arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in die Jobcenter und
die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozial-
hilfe werden an dieser Stelle ein Stück – ich sage: nur ein
Stück – Entlastung der Kommunen bringen; denn ange-
sichts der Lage des Bundes darf es nicht zu einer Lasten-
verschiebung zwischen den Ebenen kommen. Auch hier
wird eine große Aufgabe auf uns zukommen: Wie defi-
nieren wir dann das Arbeitslosengeld II?
Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhang
gehört auch die Reform des Föderalismus. Ich will mit
aller Deutlichkeit sagen: Ich erhoffe mir davon auch ein
paar Effizienzgewinne. Wenn wir vielleicht, wie es sich
jedenfalls andeutet, bei einer Reihe von Mischaufgaben
und Mischfinanzierungen zur Entmischung kommen,
muss dadurch auch das staatliche Handeln effizienter wer-
den. Das muss sich für die Bürger auszahlen. Es kann
nicht einfach nur so sein, dass der Bund, wenn etwas auf
742
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 743
die Länder übergeht, das ganze Geld, möglichst noch dy-
namisiert, weitergibt, sondern es muss einen Effizienzge-
winn bei der Aufgabenerfüllung geben. Sonst macht das
Ganze doch keinen Sinn.
Ich will in diesem Zusammenhang noch auf folgenden
Punkt hinweisen: Wenn wir über die Reform des Födera-
lismus reden, dürfen wir nicht nur über die Übertragung
von Aufgaben auf die Länder reden. Es geht auch darum,
Deutschland europafähig zu machen. Das bedeutet: All
die Aufgaben, die heute im föderalen Staat bei den Län-
dern liegen, aber die für die Binnenmarktgesetzgebung re-
levant sind, müssen auf den Bund übertragen werden, und
zwar nicht, weil der Bund kompetenzhungrig ist, sondern
weil diese Aufgaben nach kurzer Zeit auf die europäische
Ebene übertragen werden.
Es ist ein Anachronismus, dass wir in Deutschland je
eine Börsenaufsicht in allen neun Börsenländern haben. Es
kann nur eine Börsenaufsicht in Deutschland geben. Künf-
tig werden wir auch in Europa mit einer Diskussion über
eine europäische Börsenaufsichtsstruktur konfrontiert wer-
den. In diese Richtung geht die Entwicklung. Auch das
muss bei der Reform des Föderalismus bedacht werden.
Ich sagte es bereits: Konsolidierung ist nicht nur eine
Aufgabe des gesamten Staates, sondern auch der sozialen
Sicherungssysteme. Wir haben bei der Rente einen großen
Schritt nach vorne gemacht, den noch kein anderes großes
kontinentaleuropäisches Land gemacht hat. Aber es liegen
noch große Aufgaben vor uns. Ich bin froh darüber, dass
die Bundesregierung, der Bundeskanzler und die Frau Mi-
nisterin angeregt haben, die Rürup-Kommission einzu-
setzen. Wir brauchen nämlich nicht nur eine Begrenzung,
sondern auch eine Senkung der Lohnnebenkosten und die
nachhaltige Sicherung unserer sozialen Systeme.
Der härteste Kampf wird gewiss im Gesundheitswesen
ausgetragen, weil es sich ausschließlich um einen Anbie-
termarkt handelt. Ich sage deswegen klipp und klar – ich
habe vorhin schon auf die Zahntechniker hingewiesen –:
Es gibt keine müde Steuermark für das Gesundheitswesen
in der Verfassung, in der es heute ist. Dort müssen die Ef-
fizienzreserven gehoben und die Qualität gesteigert wer-
den. Darum geht es und um nichts anderes.
Auch die Pflegeversicherung und die Rentenversiche-
rung werden ein Thema sein. Aber niemand muss deswe-
gen Angst haben. Es geht in dieser Situation, die durch
eine alternde Gesellschaft gekennzeichnet ist, darum, die
Verhältnisse zwischen den Generationen neu auszutarie-
ren und Generationengerechtigkeit auch in der Zukunft
walten zu lassen. Es geht darum, die Jungen nicht über-
zubelasten und die Alten nicht in Altersarmut zu treiben.
Das wird einer reichen Gesellschaft wie der deutschen
auch gelingen.
Es wird Zeit, dass auch ein paar andere Wahrheiten ge-
sagt werden. Nicht nur bei den Staatsschulden spielt das
Thema deutsche Einheit, die wir alle gerne gewollt ha-
ben,
eine Rolle. Es spielt auch für die Sozialsysteme eine
Rolle.
– Ja, sicher. Ich habe das die ganze Zeit gesagt. Wenn Sie
uns jetzt Vorwürfe machen, kann ich nur sagen: Hätten Sie
es anders finanziert!
– Nein, nie.
Ich will Ihnen sagen, was die deutsche Einheit für die
Sozialsysteme bedeutet. In den Sozialsystemen gibt es
einen West-Ost-Transfer von 27,9 Milliarden Euro. Die
Situation für die alte Bundesrepublik alleine sähe ganz an-
ders aus.
Ich sage das ganz ausdrücklich, um deutlich zu machen,
dass wir mindestens noch eine halbe Generation eine Auf-
gabe mit uns tragen, die wir nicht einfach abschütteln kön-
nen und – das sage ich für die Regierung und für die Ko-
alition – auch nicht abschütteln wollen.
Herr Rexrodt, suchen Sie jetzt nicht nach falschen Ar-
gumenten: Die größere Oppositionspartei in diesem
Hause hat unter anderem deswegen die Wahl im Osten
verloren, weil hinsichtlich des Risikostrukturausgleichs
der Versuch gemacht worden ist – lesen Sie einmal die
entsprechenden Reden im Bayerischen, im Baden-Würt-
tembergischen und im Hessischen Landtag nach –, die So-
lidarität in Deutschland aufzukündigen,
indem gesagt wurde: Wer eine niedrige Arbeitslosigkeit
hat, hat niedrige Sozialabgaben, und wer eine hohe Ar-
beitslosigkeit hat, hat hohe Sozialabgaben. – Das war ein
Programm zum Abriss Ost und nicht zum Aufbau Ost.
Unsere Position ist klar: Da wir an der innerdeutschen
Solidarität festhalten, wollen wir diese Lasten nicht weg-
definieren. Sie zu meistern ist Bestandteil der Aufgaben,
mit denen wir es zu tun haben.
Wir wollen ein Programm für Wachstum und Beschäf-
tigung auf den Weg bringen.
Bundesminister Hans Eichel
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Bundesminister Hans Eichel
Zu den Lohnnebenkosten und zur Umsetzung der Be-
schlüsse der Hartz-Kommission habe ich eben schon etwas
gesagt. Die Umgestaltung der Arbeitslosenhilfe zu einem
Arbeitslosengeld II zum 1. Januar 2004 und die Vermitt-
lung durch Jobcenter werden uns noch große Anstrengun-
gen abverlangen. Aber eines wird kaum diskutiert: Es
steckt eine sehr positive Perspektive darin. Deswegen ist ja
der Kollege Clement so engagiert. Dies ist aber auch eine
Perspektive, die die Menschen fordert. Auch diesen Ge-
sichtspunkt sollte man auf keinen Fall verniedlichen.
Meine Damen und Herren, für diese Wahlperiode
bleibt es dabei: Wir senken die Steuern weiter.
– Wir sollten darüber in den beiden entsprechenden Jahren,
in 2004 und in 2005, sprechen. Dies steht ja im Gesetz.
– Doch, Herr Rexrodt, ich sage das. In 2004 und in 2005
werden Steuersenkungen erfolgen.
Mit Ihrem Lachen haben Sie Pech. Schauen Sie sich
einmal Ihre Wahlversprechen an! Die Union versprach
vor der Bundestagswahl zusätzliche Steuersenkungen, die
zu Einnahmeausfällen in Höhe von 30 Milliarden Euro
geführt hätten. Lachen Sie also über sich selber!
Für Existenzgründer, für Kleinstunternehmer, für die
Ich-AG wird es – Kollege Clement hat das angekündigt –
eine pauschale Besteuerung geben. Das ist nicht ganz
einfach, weil wir da eine regelrechte Systemumstellung
vornehmen. Aber das werden wir zusammen hinbekom-
men. Es wird beim Thema Entbürokratisierung einen
massiven Kampf geben,
beginnend bei den Existenzgründern und den Klein- und
Mittelbetrieben.
Zum Mittelstand.Auch hier ist der Winter – wer will
darum herumreden? – nicht einfach. Wer allerdings über
Insolvenzen spricht, der sollte auch über Neugründungen
sprechen. Auch in diesem Jahr werden wir deutlich mehr
neu gegründete als aufgegebene Betriebe haben,
wobei der größte Teil nicht wegen einer Insolvenz, son-
dern altershalber aufgegeben wird.
Wir haben eine Menge getan, um die Eigenkapitalbil-
dung des Mittelstandes zu erleichtern. Aufgrund unserer
Steuerreform ist inzwischen die obere Grenzsteuerbelas-
tung – 1998 lag sie bei 58 Prozent – auf 51 Prozent ge-
senkt worden. So etwas haben Sie in Ihrer Regierungszeit
nie zuwege gebracht.
Gerade durch die Intervention des Bundeskanzlers ist für
alle in der Welt klar geworden, dass wir, wenn es um die
Eigenkapitalrichtlinien der Banken geht, nicht zulassen,
dass die Finanzierung des deutschen Mittelstandes ver-
schlechtert wird. Wir haben das erreicht: Basel II bringt
keine Verschlechterungen, sondern eher Verbesserungen
für die Finanzierung des Mittelstandes.
Allerdings wird auch da zwischen guten und schlechten
Risiken unterschieden, was die Banken übrigens sowieso
getan hätten.
Im Rahmen des Hartz-Konzeptes gibt es das Pro-
gramm „Kapital für Arbeit“. Ich habe mich gestern er-
kundigt: Dieses Programm, das im November angelaufen
ist, ist bisher äußerst erfolgreich. Es gibt bereits mehr als
10 000Anfragen und erste Bewilligungen. Die KfW sagt:
Das Programm startet außerordentlich erfolgreich. – Auch
dies ist ein Beitrag dazu, die Eigenkapitalausstattung des
Mittelstandes zu verbessern.
Die Zusammenführung der Förderaktivitäten wird der
nächste Schritt sein.
Meine Damen und Herren, dies alles ist ein anstrengen-
des Programm für diese Wahlperiode. Wenn wir das alles
hinbekommen, konsolidieren wir den öffentlichen Haus-
halt wirklich. Es fordert uns alle. Bedenkenträgerei und ins-
besondere Besitzstandswahrung – in diesem Zusammen-
hang habe ich den Eindruck: je höher der Besitzstand, umso
härter der Kampf um die Wahrung –, das wird nicht gehen.
Was wir alle nicht brauchen, ist, Deutschland mies zu
machen.
Wer sich mit deutschen Unternehmern im Ausland unter-
hält – ich habe das kürzlich auf dem G-20-Treffen im fer-
nen Indien erlebt –, dem begegnet nur noch Kopfschütteln
darüber, wie in Deutschland die Diskussion über Deutsch-
land geführt wird.
Was wir nicht brauchen – ich sage das mit allem Ernst und
allem Nachdruck –, ist die Verleumdung des politischen
Gegners.
– Fundamentalkritik ja, aber keine Verleumdung.
744
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 745
Der Aufruf von Herrn Dr. Gerhardt – er ist nicht anwe-
send –, die Finanzämter lahm zu legen, ist wohl eine sehr
späte Reaktion auf ein Missverständnis der 68er; zu die-
ser Generation gehört ja auch er.
Ich glaube, niemand von Ihnen wäre darüber glücklich,
nicht einmal der Bund der Steuerzahler. Man muss sich
überlegen, was man in dieser Debatte sagt. Man gewinnt
den Eindruck, dass ein Teil der Menschen, die an dieser
Debatte als Lobbyisten teilnehmen – das gilt auch für
manche in der Politik –, nur eine Ausbildung gemacht ha-
ben, nämlich als Marktschreier. Das ist nicht gut für un-
sere gemeinsame Zukunft.
Was wir nicht brauchen können, wenn wir das Land
voranbringen wollen – das würde übrigens auch den Fö-
deralismus diskreditieren –, ist Dauerwahlkampf. Der
Bundeskanzler hat einen Vorschlag vieler anderer aufge-
griffen und in einem „Zeit“-Interview gesagt: Lasst uns
die Landtagswahlen zu zwei Wahlterminen zusammenle-
gen, eine Hälfte zusammen mit der Bundestagswahl, die
andere in der Mitte der Wahlperiode. So wird es bei-
spielsweise in den Vereinigten Staaten und in Schweden
gemacht.
Der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident hat heute
in einer Zeitung gesagt: Lasst sie uns zu einem Termin in
der Mitte zusammenlegen. Auch über diesen Vorschlag
kann man diskutieren, aber, meine Damen und Herren:
Lassen Sie es uns auch machen. Dauerwahlkampf ist
schädlich für die Reformfähigkeit der Republik.
Deutschland ist kein Jammertal. Deutschland hat große
Aufgaben vor sich, aber Deutschland ist ein starkes Land.
Glaubt jemand wirklich, dass unter den großen Ländern
Kontinentaleuropas ein Land die Wiedervereinigung so
geschafft hätte wie wir? Trotz der hohen Arbeitslosigkeit
in Ostdeutschland haben wir weniger Arbeitslose als
Frankreich oder Italien. Wir haben auch eine höhere Er-
werbsquote als der Durchschnitt der großen Länder in der
Europäischen Union.
Ich will jetzt auch die Argumente der anderen Seite
aufgreifen: Wir sind der Stabilitätsanker in der Union und
Deutschland ist Exportweltmeister mit ständig steigen-
dem Anteil. Wir haben das erste Mal seit der Wiederver-
einigung einen Leistungsbilanzüberschuss.
Nein, wir haben keinen Grund, die Debatte so zu
führen, wie Sie es aus parteitaktischen Gründen und man-
che Lobbyisten nur aus Lobbygründen tun. Alle Kritik
hört da auf, wo sie dem gemeinsamen Land schadet und
wider die Wahrheit ist.
Hilmar Kopper hat Recht: Deutschland ist eine Premi-
ummarke. Mit Sicherheit werden 90 Prozent der interna-
tionalen Wirtschaftsstandorte diese Qualität so schnell
nicht erreichen können.
Angesichts großer Herausforderungen und angesichts
unserer eigenen Stärke müssen wir die Zukunftsaufgaben
mit Mut anpacken. Wir brauchen Macher und nicht Mies-
macher.