Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Gestatten Sie mir nach diesem Austausch von Mei-
nungen und den Schilderungen der Grundlinien der Um-
weltpolitik durch den Herrn Minister ein paar Gedanken
zur langfristigen Perspektive.
Umweltpolitik ist heute notwendigerweise Langfrist-
politik. Zu Recht beklagen die Menschen in unserem
Land, dass der Politik der Sinn für die langfristige Orien-
tierung verloren gegangen ist.
Wenn vonseiten der Wirtschaft oder der Opposition
dies heute medienwirksam mit beklagt wird, dann wird
meistens nicht bedacht, dass es gerade die Wirtschaft und
manche ideologische Stimmen aus der Opposition sind,
die sich vehement für noch mehr Wettbewerb einsetzen.
Es ist aber doch eindeutig der globale Wettbewerb, der
uns in den letzten zehn Jahren die Luft zum Atmen für
langfristige Umweltpolitik genommen hat.
Langfristigkeit in den Zeiten der Globalisierung ist ge-
radezu zum Luxusgut geworden. Eben dies ist eine Kata-
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strophe für die Umwelt. Wer nämlich kurzfristig dispo-
niert, der kann vom Markt belohnt werden. Wer langfris-
tig und ökologisch disponiert, eben nicht.
Die Medien verstärken auch noch diesen Trend. Was
älter als 24 Stunden ist, das ist für die heutigen Medien
schon Mittelalter. Im Sinne der heutigen Medien ist eine
gesunde Umwelt das Langweiligste von der Welt. Was
gibt es da zu berichten? Da transportiert man dann lieber
lautstark das Klagelied über den Verlust der Langzeitori-
entierung.
Auch Geld verdienen kann man übrigens mit einer ge-
sunden Umwelt nicht so gut. Wenn heute jemand mit Um-
welt Geld verdient, dann meistens, weil es der Umwelt
nicht gut geht oder weil mindestens Risiken erkennbar
werden. Dann kann man messen, steuern und regeln, man
kann sanieren, filtern und rezyklieren, man kann mit Auf-
lagen genehmigen und Risiken versichern.
Aber das war im Wesentlichen die Phase der klassi-
schen Umweltpolitik, als es der Umwelt so schlecht ging,
dass man all diese Maßnahmen ergreifen musste. Das war
die hohe Zeit der Umwelttechnik, vor 20 oder vor 30 Jah-
ren, in den neuen Bundesländern noch vor zehn Jahren.
Da war der Umweltschutz noch etwas Kurzfristiges. Es
ging um unmittelbare Gefahrenabwehr, es ging um Trink-
wasser, Badegewässer, die Luft zum Atmen, die Spiel-
plätze der Kinder, die giftigen Holzschutzmittel und um
unerträglichen Lärm. In dieser Zeit haben auch die Me-
dien noch richtig mitgemacht.
Wir können von Glück sagen, dass es unabhängig von
der Parteizugehörigkeit der jeweiligen Umweltminister in
diesen letzten 30 Jahren gelungen ist, die unmittelbaren
Gefahren abzuwenden. Insofern ist es eigentlich ein gutes
Zeichen, wenn wir es uns leisten können, die staatlichen
Ausgaben für den Umweltschutz zurückzufahren. Ich darf
auch Ihnen, lieber Herr Kollege Paziorek und lieber Herr
Kollege Eberl, sagen: Es ist nicht unbedingt ein schlech-
tes Zeichen für den Zustand der Umwelt, wenn dieser
Haushalt zurückgefahren werden kann.
– Ja, die trage ich gerade vor. Das ist doch eine sehr or-
dentliche Analyse.
Langfristig darf uns das natürlich noch nicht beruhi-
gen. Wir müssen uns mit denjenigen Gefahren vermehrt
auseinander setzen, die heute zum Teil schon sichtbar
sind – Frau Eichstädt-Bohlig hat die Unwetterkatastro-
phen angesprochen –, die zum größeren Teil aber noch
nicht sichtbar sind, etwa die Endlagerung von radioakti-
ven Abfällen, der Anstieg der Meeresspiegel, der Verlust
der biologischen Vielfalt durch versäumten Naturschutz
oder die ökologischen Langzeitrisiken der Agrargentech-
nik.
Über die langfristige Umweltpolitik, die notwendiger-
weise über die Dauer von Legislaturperioden und sogar
über die Dauer des Regierens von Regierungsbündnissen
hinausgeht, muss man folglich einen großen gesellschaft-
lichen Grundkonsens herstellen. Es tut nämlich nicht
gut, wenn eine langfristig angelegte Politik im Falle eines
Mehrheitswechsels in der Demokratie unterbrochen und
womöglich geändert wird. Für uns, die Mitglieder der Re-
gierungskoalition, bedeutet das, dass wir in vielen Punk-
ten auf die Opposition zugehen; aber es bedeutet natürlich
auch für Sie, dass Sie nicht um der Schlagzeilen willen
jede Mücke zum Elefanten machen und versuchen, immer
nur das Schlechte herauszupicken.
Worauf können wir uns denn vernünftigerweise einigen?
Diese langfristige Einigung kann in der Hauptsache eigent-
lich nur darin bestehen, dass wir so etwas wie eine öko-
logische Neuausrichtung des technischen Fortschritts
lernen. Das ist sehr wohl möglich. Wir können zum Bei-
spiel lernen, aus einer Kilowattstunde oder aus einem Fass
Öl mindestens viermal so viel Wohlstand, mindestens
viermal so viel Mobilität, mindestens viermal so viel be-
hagliche Raumwärme in unseren Häusern usw. herauszu-
holen, wie es heute der Fall ist, und zwar zusätzlich zum
Ausbau der Erneuerbare-Energien-Quellen.
Das mag 40 Jahre dauern; das sind zehn Legislaturpe-
rioden heutiger Länge. Das ist sicher mehr, als eine Partei
oder eine Koalition an der Regierung bleibt. Unabhängig
von den politischen Mehrheiten muss dann die Energie-
produktivität um 3 bis 4 Prozent pro Jahr gesteigert wer-
den. Das können unsere Enkel und die Nichtgeborenen
von unserer Generation verlangen.
Das ist übrigens in keiner Weise utopisch. Das Statisti-
sche Bundesamt hat erst vor ein paar Wochen neue Zahlen
vorgelegt, die besagen, dass die Energieproduktivität in
den letzten zehn Jahren jedes Jahr um 1,8 Prozent gestei-
gert worden ist. Es geht also im Grunde genommen nur
noch um eine Verdoppelung dessen, was ohnehin schon
passiert ist. Das ist sehr wohl zu leisten. Es wird aber nicht
stattfinden, wenn es der Politik nicht gelingt, einen lang-
fristigen Rahmen zu setzen, damit es sich für die Privat-
wirtschaft und natürlich auch für die öffentliche Hand
lohnt, sich an einem solchen Pfad auszurichten.
Frau Kollegin Ferner hat mit Recht schon darauf hinge-
wiesen, dass ein großer Teil der heutigen Umweltpolitik
gar nicht mehr im Umweltressort stattfindet, sondern in
vielen anderen Ressorts. Die ökologische Neuausrichtung
des technischen Fortschritts, also das, wovon ich hier spre-
che, macht natürlich nur einen Teil der Aufgaben des Um-
weltressorts aus. Das Technologieressort, das Verkehrsres-
sort, das Agrarressort, das Ressort für Entwicklungspolitik
und viele andere Ressorts haben damit ebenfalls zu tun.
Bei der Diskussion des Haushalts des Umweltministers
kommt es also darauf an, auch die Haushalte der anderen
Ressorts systematisch anzuschauen. Das tun wir auch.
Die ressortübergreifende Umweltpolitik ist natürlich
der Kern der nachhaltigen Entwicklung. Wir werden da-
rauf achten, dass diese Aufgabe nunmehr endlich auch auf
der parlamentarischen Ebene entschlossen angegangen
wird. Das ist ein Teil des Auftrags unserer Koalitionsver-
einbarung. Ich persönlich werde mich dafür einsetzen,
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
dass dieser Auftrag insbesondere vom Umweltausschuss
kompetent und wirksam wahrgenommen wird.
Besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten besteht
immer die Gefahr, dass das Nachhaltigkeitsdreieck
„Ökologie, Ökonomie und Soziales“ ohne die Ökologie
stattfindet. Wir müssen dafür sorgen, dass das Dreieck
auch ökologisch ausgewogen ist. Dafür müssen wir aber
die Konfrontation zwischen Ökologie und Ökonomie so
weit wie möglich überwinden. Das gelingt insbesondere
dann, wenn die Umweltpolitik noch wirtschafts- und so-
zialverträglicher wird.
Hier sehe ich zwei ganz unterschiedliche Baustellen.
Das ist erstens – das habe ich bereits gesagt – die lang-
fristige Neuausrichtung des technischen Fortschritts.
Zweitens ist das etwas ganz anderes: Wir brauchen eine
Entfrachtung der klassischen Umweltpolitik von einer für
die Wirtschaft unnötig teuren und in dieser Form auch gar
nicht mehr zeitgemäßen Bürokratie. Als es bei der Um-
weltpolitik noch um unmittelbare gesundheitliche Gefah-
renabwehr ging, zahlte man den Preis einer hohen Rege-
lungsdichte einigermaßen klaglos – alles andere hätte ja
zynisch ausgesehen. Heute aber, da die Emissionen der
klassischen gesundheitsbedenklichen Schadstoffe radikal
zurückgegangen sind, ist es mit Sicherheit möglich, bei
Genehmigungen von Anlagen wesentlich unbürokrati-
scher vorzugehen, als das früher der Fall war. So sind etwa
befristete Genehmigungen denkbar, bei denen die Behör-
den nicht mehr die Gewissheit suchen müssen, dass die
Anlage auf alle Zukunft sicher dasteht.
Danach ruft ja auch die Wirtschaft. Nur, wenn die Wirt-
schaft nach dieser Art von Deregulierung ruft, dann muss
sie wissen, dass auch das einen Preis hat, nämlich den
Preis einer verschärften Umwelthaftung.
Es ist vollkommen inkonsistent, wenn man nach Deregulie-
rung ruft, für die wir von der Regierungsseite sehr offen
sind, dann aber gleichzeitig Umwelthaftung radikal ablehnt.
Die Entfrachtung der Umweltregulierung darf schließlich
nicht zulasten der Umwelt gehen. Eine schlankere Rege-
lung der Zuständigkeit für Gewässerschutz zwischen EU,
Bund und Ländern schadet aber überhaupt nicht der Um-
welt, sondern nützt ihr.
Ich weiß mich mit den Handelnden sowohl in der Wirt-
schaft als auch in der Umwelt einig darin, dass wir eine
umwelt- und wirtschaftsverträgliche Deregulierung im
Laufe der nächsten drei oder vier Jahre gewaltig voran-
treiben können. Auch da sehe ich viele Gemeinsamkeiten
zwischen der heutigen Regierungsseite und der heutigen
Oppositionsseite.
Vielen Dank.