Rede von
Christel
Humme
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Ich verfolge diese Debatte schon eine ganze Weile und
muss sagen, Frau Eichhorn: von Konzepten keine Spur,
nur verbale Abrissbirnen gepaart mit Untergangsstim-
mung. Das brauchen wir im Moment nicht.
Wir brauchen geeignete Werkzeuge, mit denen wir die
Zukunft unserer Kinder gestalten können.
Es geht darum, an den richtigen Stellschrauben zu drehen.
Das tun wir mit unserem Haushalt 2003. Mit ihm setzen
wir die richtigen Prioritäten. Wir setzen auf den Ausbau
der sozialen Infrastruktur für die Familien.
Damit tun wir endlich das, was bei unseren europä-
ischen Nachbarn gang und gäbe ist. Die meisten unserer
europäischen Nachbarn setzen in der Familien- und Bil-
dungspolitik andere Schwerpunkte und erzielen damit
bessere Ergebnisse. Förderung der Familien heißt dort:
Der Ausbau von Kinderkrippen, Kindertagesstätten und
Ganztagsschulen hat Vorrang vor finanziellen Transfers.
Das hat zur Folge, dass viele andere Länder besser daste-
hen. Der Anteil der Frauenerwerbstätigkeit ist dort höher
und damit gelingt ihnen die Bekämpfung von Armut in
den Familien besser. In diesen Ländern können Eltern ihre
Lebensvorstellungen besser verwirklichen und Familie
und Beruf besser vereinbaren.
Wie sieht es dagegen bei uns aus? In der letzten Legis-
latur haben wir die Familien finanziell erheblich besser
gestellt.
Das war richtig, hatten wir doch hier eine Menge aufzu-
holen; denn das Verfassungsgericht hat Ihnen, Frau
Eichhorn, ins Zeugnis geschrieben: Familienpolitik un-
genügend. Wir waren es, die die politische Entscheidung
getroffen haben, das Kindergeld um 80 DM innerhalb ei-
ner Legislaturperiode zu erhöhen – das hat vorher noch
keiner geschafft –,
während das Bundesverfassungsgericht lediglich eine
Freibetragslösung von uns erwartet hat.
Gute und moderne Familienpolitik bedeutet aber nicht,
immer mehr Geld für Kindergeld und andere materielle
Transfers auszugeben. Gute und moderne Familienpolitik
bedeutet heute, die soziale Infrastruktur für Kinder und
Familien auszubauen. Mit dieser klaren Prioritätenset-
zung im Haushalt für den Ausbau der Ganztagsschulen
machen wir genau diesen entscheidenden Schritt. Die
4 Milliarden Euro, die hierfür in den kommenden Jahren
bereitstehen, sind Investitionen in die Zukunft unseres
Landes.
– Natürlich stehen die im Haushalt. Ich denke, Sie haben
ihn genauso gut gelesen wie ich.
Wir investieren auch in die Zukunft unseres Landes,
wenn wir ab 2004 mit 1,5 Milliarden Euro des Bundes
mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren
schaffen. Wir sorgen damit für eine gute ökonomische
Grundlage und stellen für die Entwicklung die richtigen
Weichen; denn wenn es keine Betreuungsplätze gibt, Frau
Eichhorn, kann man auch mit noch so viel Transfer-
leistungen, beispielsweise mit Ihrem Familiengeld, keine
kaufen.
Das hat fatale Folgen, und zwar nicht nur für die Frauen,
die Familien und die Bildungschancen der Kinder, son-
dern auch für die Struktur unserer Volkswirtschaft und
ihre Arbeitsmärkte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schlüssel liegt in
der Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit; denn da-
mit sind wir im europäischen Vergleich am Ende der
Skala. Ohne die Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit
werden wir weder die Arbeitslosigkeit abbauen noch Be-
schäftigung schaffen können. Ohne den Ausbau von Be-
treuungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder wird es
Otto Fricke
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002
Christel Humme
keinen nennenswerten Zuwachs der Frauenerwerbstätig-
keit geben. Ohne eine Zunahme der Frauenerwerbstätig-
keit wiederum werden wir es nicht schaffen, den in
Deutschland bislang völlig unterentwickelten Dienstleis-
tungssektor auszubauen. Ohne einen Ausbau des Dienst-
leistungssektors schließlich wird es keinen nachhaltigen
Abbau der Arbeitslosigkeit geben. Das ist ein Teufels-
kreis, aus dem wir nur mit dem Ausbau der Kinderbetreu-
ungsangebote und der Ganztagsschulen ausbrechen kön-
nen.
Damit sorgen wir gleichzeitig für ein kinderfreund-
liches Land, in dem junge Menschen wieder gern Kinder
bekommen, weil sie wissen, dass sie auch als Eltern auf
Beruf und berufliches Fortkommen nicht verzichten müs-
sen. Das sage ich jetzt in Richtung des neuen Kollegen,
der gerade hier geredet hat. Dabei geht es nicht darum, ir-
gendwelche Vorschriften zu machen, sondern darum, den
Eltern endlich die Entscheidungsfreiheit zu geben, die sie
in den ganzen letzten Jahren bei Ihnen nicht bekommen
haben.
Auf diese Weise tragen wir auch wesentlich dazu bei,
den demographischen Wandel und die daraus resultie-
renden Probleme bei den sozialen Sicherungssystemen zu
meistern. Auch das ist ein wichtiger Aspekt.
Sie sehen, liebe Kollegen und Kolleginnen, dass Haus-
haltskonsolidierung und Zukunftsgestaltung nicht im Wi-
derspruch zueinander stehen. Im Gegenteil: Mit unserer
Prioritätensetzung für mehr Kinderbetreuung und Ganz-
tagsschulen geht es um gesellschaftliche Fortschritte. Es
geht um bessere und sozial gerechtere Bildungschancen
für unsere Kinder und Jugendlichen, um bessere Erwerbs-
und damit auch bessere Einkommenschancen für Frauen
sowie – Frau Eichhorn, auch da sollten Sie noch einmal
zuhören – um mehr Schutz der Familien, vor allem der Al-
leinerziehenden und ihrer Kinder, vor Armut.
Diese Prioritätensetzung eröffnet dem Wirtschaftsstand-
ort Deutschland die Chance, die hoch qualifizierten und
motivierten Fachkräfte zu bekommen und zu halten, die
die Wirtschaft doch so dringend nötig hat.
Unsere Zukunftsinvestitionen in Betreuung und Bil-
dung werden sich auch im streng volkswirtschaftlichen
Sinne lohnen. Jeder hier eingesetzte Euro bringt der Ge-
sellschaft den drei- bis vierfachen Nutzen in Form höhe-
rer Familieneinkommen, in Form von mehr Steuerein-
nahmen und mehr Beiträgen zur Sozialversicherung.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, bei unserem Para-
digmenwechsel in der Familienpolitik wissen wir alle
großen gesellschaftlichen Gruppen auf unserer Seite. Die
Arbeitgeber, die Gewerkschaften, ja sogar die Kirchen,
die große Mehrheit der Wissenschaftler, alle haben sich in
den zurückliegenden Monaten für den Ausbau von Kin-
derbetreuung und Ganztagsschulen ausgesprochen. Sie
alle wissen um die Verantwortung der Gesellschaft für die
Erziehung und Bildung unserer Kinder. Sie wissen, dass
Eltern bei ihrer Aufgabe, mündige Staatsbürger heranzu-
ziehen, Unterstützung brauchen. Von einem Aufwachsen
in öffentlicher Verantwortung sprechen die Autoren des
11. Kinder- und Jugendberichts deshalb folgerichtig. Mit
unserer Familienpolitik stellen wir uns genau dieser Auf-
gabe.
Damit der Staat diese Verantwortung wahrnehmen
kann, muss er handlungsfähig bleiben. Ob Kinderspiel-
plätze, Krippen, Kindergärten, Familienberatung, die
Leistungen für Eltern und ihre Kinder, all das muss von
den einzelnen staatlichen Ebenen bezahlt werden. Einen
armen Staat können sich nur Reiche leisten. Wir be-
schreiten den Weg der Haushaltskonsolidierung gerade
deshalb im Interesse all derjenigen, die auf staatliche
Leistungen angewiesen sind.
Ich sage aber auch: An der Finanzierung des Gemein-
wesens müssen sich alle entsprechend ihrer Leistungsfä-
higkeit beteiligen. Um für mehr Steuergerechtigkeit zu
sorgen, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode
Steuerschlupflöcher geschlossen. Mit unserer jetzigen
Steuerpolitik setzen wir diesen Weg fort. Dabei haben wir
darauf geachtet, dass die Belastungen durch den Abbau
von Steuerprivilegien und Ausnahmetatbeständen sozial
ausgewogen sind.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir sind uns be-
wusst, dass der Ausbau von Ganztagsbetreuung und Bil-
dung eine Herkulesaufgabe ist. Damit wir in Deutschland
möglichst schnell internationalen Standard erreichen, ist
eine nationale Kraftanstrengung notwendig. Beteiligen
müssen sich alle: der Bund, die Länder und die Gemein-
den, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer. Deshalb ist es
auch richtig, die Themen familienfreundliche Arbeitswelt
und Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Gegen-
stand des Bündnisses für Arbeit zu machen. Wir Politike-
rinnen und Politiker, die wir im Bund Verantwortung
tragen, gehen mit gutem Beispiel voran. Entsprechendes
erwarten wir von den Ländern und Gemeinden.
Wir haben von Frau Böhmer, Frau Reiche und Frau
Eichhorn heute Abend sehr viel ideologisches Geplänkel
gehört.
Lassen wir die ideologischen Grabenkämpfe der 70er-,
80er- und 90er-Jahre Vergangenheit sein! Diese Debatten
der letzten 30 Jahre haben uns nicht weitergebracht. Im
Gegenteil, sie haben Deutschland vielmehr auf einen Irr-
weg, ja international aufs Abstellgleis geführt.
Lassen Sie uns deshalb nicht länger darüber streiten,
wer mehr Krippenplätze und Ganztagsschulplätze anbie-
tet, Bayern oder Nordrhein-Westfalen. Fest steht: Beide
Länder bieten längst nicht genug an. Lassen Sie uns statt-
dessen einen konstruktiven Dialog darüber führen, wie
wir möglichst schnell dafür sorgen, dass sich dies ändert.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass in Deutsch-
land überall, und zwar in Berlin, München und auch in
meinem Ennepe-Ruhr-Kreis, die Weichen in Richtung
Modernisierung und Zukunftstauglichkeit gestellt wer-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 837
den. Unser Bundeshaushalt 2003 setzt hierfür die rich-
tigen Prioritäten und Rahmenbedingungen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Menschen, die
uns heute vor den Fernsehgeräten zuhören, erwarten von
uns Lösungen und keine ideologischen Debatten. Zukunft
braucht Mut. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Mut fas-
sen und handeln.
Danke schön.