Rede von
Dr.
Gesine
Lötzsch
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich höre
es schon aus den ersten Reihen: Sie sagt jetzt wieder, dass
sie PDS-Abgeordnete ist. Ich kann diesen Zwischenruf
gleich aufnehmen. Herzlichen Dank.
In einem Brief schreibt mir ein PDS-Stadtrat über die
Situation in seiner Stadt:
Schulen und Schwimmbäder befinden sich in einem
miserablen Zustand. Bäder wurden reihenweise ge-
schlossen. Für weite Teile des ... Nordens mit zehn-
tausenden Einwohnern gibt es kein Hallenbad mehr.
Die ... Verkehrsbetriebe können nur noch durch
Quersubventionierung gehalten werden. Ein Teil der
Busfahrer wurde in eine besondere Gesellschaft ab-
geschoben, mit nur 80 Prozent des Tarifs. Buslinien
wurden eingestellt.
Na klar, werden Sie sich jetzt vielleicht sagen, der Os-
ten – 40 Jahre Misswirtschaft. Dieser Brief ist allerdings
nicht aus dem Osten, sondern von Hermann Dierkes, dem
Vorsitzenden der PDS-Ratsfraktion in Duisburg. Seit
Jahren wird in Duisburg so genanntes Tafelsilber abge-
stoßen, werden öffentliche Betriebe privatisiert, um Geld in
die Stadtkasse zu bekommen. Trotzdem reichen die Mittel
hinten und vorne nicht aus. Nun gut, könnte man sagen, es
gibt auch strukturschwache Regionen in den alten Bundes-
ländern oder, wie gerade von einem Herrn aus den hinteren
Reihen gesagt wurde, „verostete Gebiete“. Doch in Duis-
burg steht, wie Sie wissen, das Hauptwerk von Thyssen
Krupp Stahl und das von den Hüttenwerken Krupp Man-
nesmann – Deutschlands StahlstandortNummer eins also.
Dort entsteht fast die Hälfte der deutschen Stahlproduktion.
Die Schulen am Stahlstandort Nummer eins befinden
sich also in einem miserablen Zustand. Wie geht das zu-
sammen? Es geht zusammen, denn Thyssen Krupp Stahl
und Krupp Mannesmann zahlen fast keine Gewerbe-
steuer. Ich denke: Da stimmt doch etwas nicht. Die Steu-
erausfälle betreffen nicht nur einzelne Kommunen, sie
wirken sich flächendeckend aus.
Acht Bundesländer – das ist vorhin in der Debatte schon
gesagt worden – können keinen verfassungskonformen
Haushalt für das Jahr 2003 erarbeiten und jetzt trifft es
auch den Bund. Artikel 115 des Grundgesetzes ist hier
schon ausführlich erörtert worden. Die geplanten Neuver-
schuldungen sind höher als die öffentlichen Investitionen.
Die Medizin, die hierzulande empfohlen wird, sind dra-
stische Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben, in der
Regel bei den Sozialausgaben oder bei den Investitionen
oder bei beiden. Diese Politik wird seit vier Jahren betrie-
ben, allerdings mit nur recht wenig Erfolg. Vielleicht
muss man sich auch einmal nach anderen Medikamenten
umsehen, meine Damen und Herren von der Koalition.
Und vielleicht muss man in einer Situation, in der die
Bundesländer keinen verfassungskonformen Haushalt
mehr aufstellen können, auch überprüfen, ob denn diese
Verfassungsregelung noch der Wirklichkeit entspricht.
– Es ist immer so: Wenn man Ihnen einmal eine Anregung
zum Nachdenken gibt, Herr Kollege, haben Sie nichts an-
deres als dieses blöde stereotype „Da höre ich doch die
alte DDR trapsen“.
Vielleicht geht es auch mal ein bisschen origineller, ver-
ehrter Kollege von der SPD.
Meine Damen und Herren, falls Sie noch ein Weih-
nachtsgeschenk für Herrn Bundesminister Eichel suchen,
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 771
kann ich Ihnen das Buch „Die Schatten der Globalisie-
rung“ von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz empfehlen.
Ich darf mit Erlaubnis der Präsidentin zitieren:
Seit 60 Jahren vertritt kein seriöser Volkswirt mehr
die Meinung, dass eine Volkswirtschaft, die auf eine
Rezession zusteuert, einen ausgeglichenen Staats-
haushalt haben sollte.
Stiglitz berichtet in dem Buch „Die Schatten der Globali-
sierung“ von einer Kontroverse in der Clinton-Regierung
über die Einführung eines Zusatzartikels in der Verfas-
sung, der einen ausgeglichenen Haushalt fordert. Diese
Forderung des US-Finanzministeriums wird von Stiglitz
mit folgender Begründung abgelehnt – ich zitiere noch
einmal mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Mit der Verabschiedung des Verfassungszusatzes
hätte sich die Regierung von ihrer zentralen Verant-
wortung, der Gewährleistung von Vollbeschäftigung,
verabschiedet.
Ohne Frage kann man auch von den Amerikanern etwas
lernen. Leider ist es hierzulande üblich, sich immer die
falschen Sachen herauszusuchen. Wenn Sie an Amerika
denken, denken Sie an Billigjobs, an Flexibilität und Mo-
bilität. Warum schauen Sie sich nicht einmal diese Facet-
ten der Finanzpolitik der US-Regierung an?
Nun komme ich zum letzten Punkt: dem Stabilitätspakt
und der Europäischen Zentralbank. Herr Prodi sagte vor
einigen Wochen, der Stabiliätspakt sei dumm. Er wurde
dafür sehr gescholten. Er hat aber in vielem Recht. Es war
keine gute Idee, meine Damen und Herren von der CDU,
dass Herr Waigel diesem Stabilitätspakt zugestimmt hat,
denn er erinnert in der Tat wirklich eher an staatssozialis-
tische Vorgaben denn an eine flexible Marktwirtschaft.
Wir sehen jetzt, dass dieser Stabilitätspakt uns ein Korsett
vorgibt, das uns häufig die Luft zum Atmen nimmt. Eine
expansive Finanzpolitik ist mit diesem Pakt in Zeiten der
Rezession nicht möglich und das heißt Abschied nehmen
vom Ziel der Vollbeschäftigung.
Noch ein Wort zur EZB. Das Dilemma ist klar. Die In-
flation soll im Zaum gehalten werden. Doch wie funktio-
niert das? Die Inflationsraten liegen in Europa weit aus-
einander. Bei uns liegt die Rate bei 1,1 Prozent, in
Griechenland bei 3,9 Prozent, in Irland bei 4,6 Prozent. Es
ist klar, dass es fast unmöglich ist, dass 18 Geldpolitiker
bei dieser Situation eine gemeinsame Strategie finden, die
wirklich einschneidende Veränderungen bei den Zinssät-
zen bringen wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns in den nächs-
ten Wochen der Haushaltsberatungen mehr über die
Grundsätze von Finanzpolitik und weniger über soziale
Kürzungen zur vermeintlichen Sanierung des Haushalts
reden. Denn so wird das nicht funktionieren. Haushalt ist
kein Selbstzweck. Es muss um soziale Gerechtigkeit ge-
hen. Dies zu gewährleisten ist meiner Meinung nach die
Aufgabe des Staates und der sollten wir uns stellen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.