Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, in Trauer gedenken wir unseres Mitgliedes Peter Lorenz, der am 6. Dezember für uns alle ganz unerwartet kurz vor Vollendung seines 65. Lebensjahres in Berlin verstarb.
Peter Lorenz entstammte einer Familie, die seit Generationen in Berlin ansässig ist. Am 22. Dezember 1922 dort geboren, blieb er sein ganzes Leben hindurch seiner Heimatstadt auf das engste verbunden; für deren Wohl und deren freiheitliche Belange hat er sich stets mit ganzer Kraft eingesetzt. Er gehörte als Jurastudent zu den Mitbegründern der Freien Universität. Nach Abschluß seiner Examina ließ er sich in Berlin als Rechtsanwalt und Notar nieder und war von 1967 bis 1977 Justitiar des RIAS Berlin.
Peter Lorenz gehörte seit 1945 der CDU an, deren Kurs er als erster Vorsitzender des Landesverbandes von 1969 bis 1981 entscheidend mitgeprägt hat.
Als er 1976 erstmals als Berliner Abgeordneter Mitglied des Deutschen Bundestages wurde, konnte Peter Lorenz bereits auf eine mehr als 20jährige parlamentarische Erfahrung zurückblicken. Er war von 1954 bis 1980 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, von 1967 bis 1975 dessen stellvertretender Präsident und von 1975 bis 1980 dessen Präsident.
Weltweites Aufsehen erregte seine Entführung durch Terroristen im Februar 1975 und danach seine glückliche Befreiung nach fünftägigen dramatischen Verhandlungen.
Im Deutschen Bundestag fanden sein großes Wissen und seine Erfahrungen als Berliner Abgeordneter in vielfältiger Weise Achtung und Anerkennung. Von Oktober 1982 bis März 1987 war er Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundeskanzler und Bevollmächtigter der Bundesregierung in Berlin.
Peter Lorenz hat sich über die Grenzen seiner Fraktion und Partei hinaus ein hohes Ansehen erworben. Seine Verdienste zum Wohl Berlins bleiben unvergessen.
Ich spreche den Familienangehörigen des Verstorbenen, seiner Frau und seinen zwei Kindern sowie der Fraktion der CDU/CSU namens des ganzen Hauses meine tief empfundene Anteilnahme aus. Der Deutsche Bundestag wird Peter Lorenz ein ehrendes Gedenken bewahren.
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen erhoben. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Vorgehen der DDR-Behörden gegenüber Menschenrechts- und Friedensgruppen
2. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Versorgungslage in Rumänien (bereits in der 48. Sitzung erledigt)
3. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung In die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in Stuttgart-Feuerbach gem. § 64 Abs. 2 BHO (Drucksachen 11/903, 11/1455) (bereits in der 48. Sitzung erledigt)
4. Beratung der Sammelübersicht 33 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen (Drucksache 11/1493) (bereits in der 48. Sitzung erledigt)
5. Beratung der Sammelübersicht 35 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen (Drucksache 11/1495) (bereits in der 48. Sitzung erledigt)
6. Beratung der Sammelübersicht 36 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen (Drucksache 11/1496) (bereits in der 48: Sitzung erledigt)
7. Beratung des Antrags des Abgeordneten Stratmann und der Fraktion DIE GRÜNEN: Umbaukonzept für die heimische Steinkohle
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerstein, Wissmann, Dr. Lammert, Müller und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Baum, Beckmann, Dr. Graf Lambsdorff, Dr. Hirsch, Dr. Hoyer, Dr.-Ing. Laermann, Möllemann, Frau Würfel und der Fraktion der FDP: Förderung der deutschen Steinkohle (Drucksache 11/1485)
9. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Ernährungssituation in Äthiopien
10. Aktuelle Stunde: Einhaltung des Beschlusses des Deutschen Bundestages für den Betrieb des Kraftwerks Buschhaus
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Präsident Dr. Jenninger
11. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Sicherung der Stahlstandorte und der Stahl-Arbeitsplätze: Umbau der Stahlindustrie und der Stahlregionen
12. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: 8 Jahre Krieg in Afghanistan
Die zweite und dritte Beratung zum Entwurf eines ERP-Wirtschaftsplangesetzes 1988 — das ist der Tagesordnungspunkt 22 — soll vorgezogen und bereits heute nach Punkt 19 aufgerufen werden.
Des weiteren soll Punkt 20 a der Tagesordnung — Drucksache 11/1155 — abgesetzt werden, da die Fraktion DIE GRÜNEN diesen Antrag zurückgezogen hat.
Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Die Einheitliche Akte muß ein Erfolg werden: Die Reform der Strukturfonds
— Drucksachen 11/929 Nr. 2.3, 11/1209 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Esters Borchert
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Die Einheitliche Akte muß ein Erfolg werden:
Mitteilung der Kommission über die Haushaltsdisziplin
— Drucksachen 11/929 Nr. 2.2, 11/1211 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Esters Borchert
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Die Einheitliche Akte muß ein Erfolg werden:
Zweite Änderung des Vorschlags für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Haushaltsordnung vom 21. Dezember 1977 für den Haushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften
— Drucksachen 11/929 Nr. 2.5, 11/1212 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Esters Borchert
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Sitzung des Europäischen Rates am 29./30. Juni 1987 in Brüssel
— Drucksachen 11/523, 11/1293 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Wulff Brück
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Lippelt
Zur Regierungserklärung liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD sowie der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/1487, 11/1488, 11/1498, 11/1499 und 11/1502 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsamen Beratungen dieser Tagesordnungspunkte fünf Stunden vorgesehen. Die Mittagspause soll von 13 bis 14 Uhr stattfinden. — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Zur Abgabe einer Regierungserklärung erteile ich das Wort dem Herrn Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute geht in Washington das Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow zu Ende. Dieses Treffen wird in die Geschichte eingehen, weil es das erste wirkliche Abrüstungsabkommen erbracht hat. Auf Grund des am 8. Dezember 1987 unterzeichneten INF-Abkommens werden weltweit alle amerikanischen und sowjetischen nuklearen, landgestützten Mittelstreckenflugkörper zwischen 500 und 5500 km Reichweite abgeschafft. Die Sicherheit von Millionen von Menschen — zumal in Europa — wird damit verbessert.
Der 8. Dezember 1987 markiert auch einen großen Erfolg für das Atlantische Bündnis, das seit dem NATO-Doppelbeschluß von 1979 auf dieses Abkommen hingewirkt hat.
Die Bedrohung Westeuropas durch die sowjetischen SS-20-Raketen wird beendet. Vom Boden der Bundesrepublik Deutschland werden 108 Pershing-II-
Flugkörper und 64 Marschflugkörper abgezogen. Das Bündnis wird außerdem ab sofort die noch laufende Stationierung von Marschflugkörpern aussetzen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, dieser Vertrag ist von grundlegender Bedeutung für den Abrüstungsprozeß, weil er eine ganze Kategorie von Waffen beseitigt, weil er stark asymmetrische Reduzierungen und weil er ein umfassendes Überprüfungssystem einschließlich Verdachtskontrollen vorsieht. Dieses Ergebnis — wir haben das oft besprochen hier im Hohen Haus — haben viele nicht für möglich gehalten. An diesem großartigen Erfolg haben viele mitgewirkt, allen voran der amerikanische Präsident Ronald Reagan.
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Bundeskanzler Dr. Kohl
Er ist viel kritisiert worden, auch bei uns. Wir haben heute allen Grund, ihm herzlich zu danken. Auch Generalsekretär Gorbatschow gebührt Anerkennung dafür, daß er den Weg zu einem Kompromiß und einem guten Ergebnis freigemacht hat.
Die Solidarität des Bündnisses war eine grundlegende Voraussetzung für diesen Erfolg. Die Vereinigten Staaten haben ihre Partner laufend und in vertrauensvoller Weise zu allen wichtigen Verhandlungsfragen konsultiert. Die Bündnispartner ihrerseits haben den USA in entscheidenden Verhandlungsphasen den Rücken gestärkt und damit zu dem jetzt erreichten Ergebnis beigetragen.
Zur Geschichte dieses Erfolges gehört aber auch, daß das Bündnis erst Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper stationieren mußte, bevor es zu wirklich ernsthaften Verhandlungen in Genf kam. Dieser Schritt ist uns damals nicht leicht gefallen.
Die Opposition hat seinerzeit von uns die Aufkündigung des NATO-Doppelbeschlusses und damit den Bruch der Vereinbarung verlangt.
Sie war bereit, die einseitige Bedrohung unseres Landes durch die SS 20 hinzunehmen. Wir haben dies abgelehnt und den NATO-Doppelbeschluß durchgeführt.
Meine Damen und Herren, ich verstehe sehr wohl, daß Sie bei diesem Punkt unruhig sind; denn heute ist für Sie die Stunde der Wahrheit gekommen.
Dieses Ergebnis war nur möglich,
weil wir Ihren Diffamierungen und Ihren Fehlprognosen widerstanden haben.
Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik wenige Beispiele dafür, daß in einer so erbärmlichen Weise Geschäfte mit der Angst der Menschen gemacht wurden.
Ich erinnere daran — ich will darauf hinweisen, wie uns das getroffen hat — , daß uns als Union vom Podium des Deutschen Bundestags aus die Fähigkeit zum Frieden abgesprochen wurde.
— Ich bringe Ihnen noch Beispiele, Herr Apel, die nicht sehr lange zurückliegen. Gerade Sie sollten keinen Zwischenruf machen; denn Sie waren in diesem Zusammenhang einer von denen, die das Thema des Krieges und der Kriegshetze besonders betrieben haben.
Herr Bahr sagte am 22. Dezember 1983:
Wir werden diese Entscheidungen, die die Mehrheiten im Bundestag getroffen haben, zu bezahlen haben, auch in unserem Verhältnis zum Osten.
Die Bundesregierung hat sich geirrt.
— So sagte Herr Bahr weiter. —Die Verhandlungen sollten leichter werden nach der Stationierung, die Russen sollten nachgiebiger werden nach der Stationierung. Das Gegenteil ist eingetreten.
Ich finde, der Kollege Bahr sollte hierherkommen und sagen, er habe sich getäuscht. Das kann ja passieren, aber es ist wahr.
— Herr Abgeordneter Vogel, Sie,
der Sie zu diesem Thema gerne sprechen, sagten auf dem Essener Parteitag Ihrer Partei im Mai 1984:
Es ist absichtsvolle Irreführung, wenn die Bundesregierung auch jetzt noch behauptet, durch den Beginn der Stationierungen sei die Sicherheit gewachsen und die Verständigungsbereitschaft größer geworden,
während doch mit Händen zu greifen ist, wie sich der Rüstungswettlauf beschleunigt und wie die Spannungen zwischen den beiden Mächten seit dem November des vergangenen Jahres fast von Monat zu Monat zugenommen haben.
Herr Abgeordneter Vogel, Sie haben sich getäuscht.
Sie haben bewußt — ich sage das noch einmal — mit der Erzeugung von Kriegsangst die deutsche Öffentlichkeit irregeführt. Das ist die Erfahrung.
Als die Verhandlungen zwischen den Großmächten im März 1985 wieder aufgenommen wurden, hat die Bundesregierung sowohl innerhalb des westlichen Lagers wie auch gegenüber der Sowjetunion ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um die beiderseitige Abschaffung dieser nuklearen Mittelstreckensysteme auf dem Verhandlungswege zu erreichen. Der Weg und die Politik der Bun-
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Bundeskanzler Dr. Kohl
desregierung waren folgerichtig und klar. Die Erfolge unserer Politik sind heute für jedermann erkennbar. Wir haben mit dieser Politik den Frieden für unser Volk sicherer gemacht.
Unsere Politik war immer berechenbar und deshalb auch erfolgreich.
Sie ist im übrigen eine glänzende Bestätigung
für das Harmel-Konzept des Bündnisses im Verhältnis zwischen West und Ost.
Herr Abgeordneter Vogel, an einem Tag wie dem heutigen sollten Sie schweigen;
denn Sie waren einer der falschen Propheten.
Um eines parteipolitischen Vorteils und Machtkalküls willen waren Sie bereit, die Sicherheit des Landes aufs Spiel zu setzen.
Ausgehend von gesicherter Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung haben wir uns intensiv um eine Verhandlungslösung bemüht. Wir waren immer überzeugt, daß Ergebnisse in Abrüstungsverhandlungen nur möglich sein können, wenn auch alle anderen Bereiche in die Zusammenarbeit zwischen West und Ost einbezogen werden.
Die Bundesregierung hat wesentliche Beiträge zum Gelingen dieses Abkommens geleistet, was weltweit anerkannt wird.
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft haben bei ihrem Treffen in Kopenhagen das INF-Abkommen als einen „Meilenstein" in den West-Ost-Beziehungen bezeichnet. Mit dieser Würdigung wollten wir besonders zwei Gesichtspunkte zum Ausdruck bringen: einerseits die Genugtuung über dieses Ergebnis und andererseits die Erwartung, daß das Abkommen ein erster Schritt ist zu gesichertem Frieden mit weniger Waffen.
— Meine Damen und Herren von der SPD, ich verstehe ja, daß Sie heute aufgeregt sind. Das ist ein Tag der Blamage für Sie.
Mit Ihrem unkontrollierten Dazwischenschreien wollen Sie ja nur von der Tatsache Ihres Fehlverhaltens ablenken.
Es ist unabdingbar, daß der Prozeß von Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa und weltweit Schritt für Schritt weitergeht. Die Bundesregierung tritt mit aller Kraft dafür ein, daß die jetzt ausgelöste Dynamik zur Kontrolle und zum weiteren Abbau der Rüstungen entschlossen genutzt wird.
Das INF-Abkommen kann das gesamte West-OstKlima verbessern und in einer entscheidenden Weise zur Vertrauensbildung zwischen den Weltmächten beitragen. Wir sollten nicht vergessen, daß dieses Abkommen die weitestgehenden und umfassendsten gegenseitigen Überprüfungen in Form der Verdachtskontrolle vorsieht, die es je gegeben hat.
Die Erwartungen der Bundesregierung richten sich jetzt auf den 50 %igen Abbau der strategischen Nuklearwaffen, auf ein weltweites Verbot chemischer Waffen, auf die Herstellung eines umfassenden und stabilen Kräfteverhältnisses konventioneller Streitkräfte durch die Beseitigung von Ungleichgewichten sowie auf Verhandlungen über deutliche und überprüfbare Reduzierungen amerikanischer und sowjetischer bodengestützter nuklearer Flugkörpersysteme kürzerer Reichweite, die zu gleichen Obergrenzen führen.
Diese vier Verhandlungsschwerpunkte entsprechen den von den NATO-Außenministern im Juni dieses Jahres in Reykjavik festgelegten Prioritäten des Bündnisses. Sie stellen zugleich das Gerüst für das Gesamtkonzept zur Rüstungskontrollpolitik unseres Bündnisses dar, das die NATO-Gremien gemäß Ministerbeschluß derzeit entwickeln.
Die Bundesregierung arbeitet selbstverständlich intensiv an der Ausgestaltung dieses Konzepts mit. Wir gehen dabei von folgenden grundlegenden Bewertungskriterien aus:
Erstens. Die enge Wechselwirkung zwischen Rüstungskontrolle und Verteidigungspolitik macht es erforderlich, einzelne rüstungskontrollpolitische Schritte auf ihre Auswirkung auf die eigene Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit zu prüfen. Die gesamte Sicherheitslage des Bündnisses muß einer ständigen Überprüfung unterzogen werden.
Zweitens. Die Strategie der Kriegsverhinderung durch Abschreckung muß glaubwürdig und durchsetzbar bleiben. Hierfür wird auf absehbare Zeit ein ausgewogenes Verhältnis konventioneller und nuklearer Streitkräfte erforderlich bleiben, wie dies die sieben Mitgliedstaaten der WEU jetzt erneut in ihrer gemeinsamen Plattform der europäischen Sicherheit unterstrichen haben. Der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.
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Bundeskanzler Dr. Kohl
Drittens. Kein Bereich der Rüstungskontrolle darf isoliert und aus dem gesamtstrategischen Zusammenhang herausgelöst betrachtet werden.
Viertens. Jeder Schritt zu Abrüstung und Rüstungskontrolle muß verläßlich überprüfbar sein. Nur so kann gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden.
Fünftens. Zielsetzung eines jeden rüstungskontrollpolitischen Schrittes muß es sein, ein stabiles Kräfteverhältnis auf niedrigerem Niveau zu erreichen.
Sechstens. Die Umgehung getroffener Rüstungskontrollvereinbarungen durch Ausnutzung von Grauzonen muß verhindert werden.
Siebtens. Abrüstung ist kein Selbstzweck. Sie muß dazu beitragen, die gemeinsame Sicherheit zu erhöhen. Am Ende eines Abrüstungsprozesses muß die Sicherheit größer und nicht geringer sein.
Nach dem derzeitigen Kenntnisstand der Bundesregierung hat das Gipfeltreffen von Washington auch wichtige Annäherungen bei den Verhandlungen über eine Halbierung der strategischen Offensivpotentiale der USA und der Sowjetunion erbracht. Dies betrifft vor allem die Obergrenzen für einzelne strategische Waffensysteme. Darüber hinaus gibt es eine Teileinigung über ein befristetes Festhalten am ABM-Vertrag.
Dies bringt uns einer langfristig tragfähigen Einigung der Großmächte über das Verhältnis von Offensiv- und Defensivsystemen näher, die die Bundesregierung als erste westliche Regierung hier im Bundestag immer wieder gefordert hat.
Damit ist ein START-Abkommen, d. h. die Verschrottung von mehr als 10 000 nuklearen Sprengköpfen beider Großmächte, ebenfalls in greifbare Nähe rückt. Wir werden nicht nachlassen, beide Seiten zu ermutigen, sich über ein solches Abkommen zu einigen.
Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion haben auch eine besondere Verantwortung für den Abschluß einer Konvention zum weltweiten Verbot chemischer Waffen. Wir Deutsche haben uns stets wegen unserer ganz besonderen Interessenlage für ein solches Verbot eingesetzt.
Die Verhandlungen in Genf zu diesen Fragen sind weit gediehen. Die noch zu lösenden Kontrollfragen sind kompliziert; wir sind der Überzeugung, sie sind lösbar. Ich rufe deshalb alle beteiligten Seiten dazu auf, einem umfassenden und praktikablen Überprüfungssystem zuzustimmen.
Ein wesentlicher Angelpunkt für die künftige Entwicklung des West-Ost-Verhältnisses insgesamt wird der Verlauf der künftigen Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle in Europa sein. Ich gehe davon aus, daß wir in den nächsten Monaten zu einem einvernehmlichen Mandat mit den Staaten des Warschauer Paktes über solche Verhandlungen kommen werden.
Ziel dieser Verhandlungen muß es sein, auch eine Stabilisierung des konventionellen Kräfteverhältnisses in ganz Europa zu erreichen. Hierzu müssen die zugunsten des Warschauer Pakts bestehenden Ungleichgewichte beseitigt werden. Generalsekretär Gorbatschow hat noch in der vergangenen Woche solche Asymmetrien eingeräumt.
Die Überlegenheit und Invasionsfähigkeit der Sowjetunion ergibt sich aus der Stärke, aus der Dislozierung, der Ausbildung und der Ausrüstung ihrer Truppen. Die Bundesregierung wird verständlicherweise gerade diesen Verhandlungen ihre besondere Aufmerksamkeit widmen. Sie werden sicherlich besonders schwierig und langwierig sein, insbesondere auch im Hinblick darauf, daß die Überprüfung besondere Probleme aufwerfen wird und eben asymmetrische Reduzierungen erforderlich sind.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, das Problem der Kurzstreckenraketen unter 500 km Reichweite ist für uns Deutsche, ist für unser Volk auf Grund von Stationierung, Reichweite und drastischer Überzahl der sowjetischen Raketen von einer ganz besonderen Bedeutung. Die uns bedrohende hohe Überzahl sowjetischer Raketen in diesem Reichweitenband ist durch Gesichtspunkte der Verteidigung nicht gerechtfertigt. Ein Verzicht auf einen Teil dieser Raketen würde deshalb nicht das Sicherheitsinteresse der Sowjetunion beeinträchtigen, es würde gleichzeitig die Glaubwürdigkeit des neuen Denkens erhöhen.
Wir müssen auch die Sowjetunion fragen, was sie mit ihren rund 600 SCUD-Systemen beabsichtigt. Auch diese Raketen veralten. Sollen sie, nachdem das Nachfolgemodell, die SS 23, bereits vom INF-Abkommen erfaßt wird, modernisiert werden?
Die Bundesregierung wird weiterhin darauf hinwirken, daß gemäß dem Kommunique der Außenminister von Reykjavik die sowjetischen und amerikanischen landgestützten nuklearen Kurzstreckenraketen operativ in das Rüstungskontrollkonzept der NATO einbezogen werden. Die Bundesregierung behält sich abschließende Entscheidungen vor. Wesentliche Kriterien werden dabei sein: die im Bündnis erarbeiteten Erfordernisse der gemeinsamen Sicherheit, der weitere Fortgang der Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen und die weitere Entwicklung des gesamten West-Ost-Dialogs.
Meine Damen und Herren, vorrangig geht es jetzt darum, das INF-Vertragswerk in Kraft zu setzen. Die Bundesregierung begrüßt es, daß der Senat der Vereinigten Staaten von Amerika den INF-Vertrag bereits Mitte Januar in seinen Ausschüssen beraten wird. Wir werden dabei jede sich bietende Gelegenheit nutzen, unsere guten Gründe für den Vertrag und unser Interesse an einer zügigen Ratifikation zu verdeutlichen. Eine Neueröffnung der Verhandlungen zwischen den Weltmächten wäre nicht in unserem Interesse.
Unsere eigene vertragliche Einbindung in das INF-Vertragswerk, das sogenannte Stationierungsländerabkommen, muß hier im Bundestag ratifiziert wer-
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Bundeskanzler Dr. Kohl
den, weil es uns verpflichtet, 13 Jahre lang Inspektionen auf unserem Hoheitsgebiet hinzunehmen.
Bereits vorgestern hat das Bundeskabinett den Bundesminister des Auswärtigen ermächtigt, das Abkommen am Rande der Herbsttagung der NATO-Außenminister in Brüssel zu unterzeichnen. Die Bundesregierung wird danach unverzüglich das parlamentarische Verfahren einleiten.
Ebenfalls auf der Brüsseler Tagesordnung steht das Gesamtkonzept unseres Bündnisses für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Grundlage dieses Gesamtkonzepts muß eine gemeinsame Bewertung der Kräfteverhältnisse sein. Diese Aufgabe gewinnt erhöhte Bedeutung für die vor uns liegenden Gespräche und Verhandlungen im konventionellen Bereich.
Für uns und unsere Verbündeten geht es um die entscheidende Frage: Wie können wir auf Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit, auf einem möglichst niedrigen Niveau der Rüstungen, begleitet von konkreten Maßnahmen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung, die gemeinsame Sicherheit auch in Zukunft verbürgen?
Der Washingtoner Gipfel bestätigt erneut grundlegende Erfahrungen: Begegnungen auf höchster Ebene sind besonders geeignet, bei entsprechender Vorbereitung den West-Ost-Beziehungen weiterführende Impulse zu geben. Ich habe seit meinem Amtsantritt immer wieder und konsequent eine solche Gipfeldiplomatie verlangt. Ich stelle mit Befriedigung fest: Wir sind jetzt ein gutes Stück weitergekommen.
Es ist ein besonders gutes Beispiel, daß Ort und Zeit der nächsten Begegnung bereits feststehen: 1988 wird eine vierte Begegnung stattfinden.
Es gilt, die Chancen für solche Begegnungen zu verbessern und sie als normale Form der West-Ost-Beziehungen zu verankern.
Die Bundesregierung hat im abgelaufenen Jahr konsequent derartige hochrangige Begegnungen genutzt, um das verbesserte Klima im West-Ost-Verhältnis im bilateralen Bereich zum Wohl der Menschen einzusetzen. Das war der Sinn der Begegnungen mit Generalsekretär Honecker, mit Generalsekretär Schiwkow sowie mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Grosz. Genauso erwarte ich dies für meine Begegnungen mit Generalsekretär Husak und mit Generalsekretär Gorbatschow.
Die West-Ost-Beziehungen dürfen nicht auf Abrüstung und Rüstungskontrolle verengt werden,
sondern müssen alle Felder der Zusammenarbeit erfassen und weiterentwickeln.
Ich begrüße nachdrücklich, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion Fortschritte nicht nur in Fragen der Sicherheit und Vertrauensbildung erzielt haben, sondern auch bei der friedlichen Lösung regionaler Konflikte, in ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit und im kulturellen Austausch. Ein besonderes Anliegen des Präsidenten war es auch auf dem Gipfel, Fortschritte in humanitären Fragen zu erreichen und mehr Menschenrechte durchzusetzen. Sie sind und
bleiben in Wahrheit das entscheidende Fundament einer dauerhaften Friedensordnung.
Ein umfassender Dialog und die Entwicklung der Beziehungen in allen Bereichen sind ein Erfolgsrezept für eine dauerhafte Stabilisierung des West-Ost-Verhältnisses.
Wir sind dem amerikanischen Präsidenten zu besonderem Dank verpflichtet, daß er wie bei seinen früheren Gipfelbegegnungen gegenüber Generalsekretär Gorbatschow zwei wesentliche deutsche Anliegen zur Sprache gebracht hat: Er hat zusammen mit den Ausreisewünschen sowjetischer Juden das gleiche Anliegen der Sowjetbürger deutscher Nationalität vertreten, und er hat in Fortsetzung seiner BerlinInitiative vom Juni dieses Jahres darauf gedrungen, daß auch Berlin, unsere alte Hauptstadt, bei der Verbesserung von Anfang an voll einbezogen wird zum Nutzen der Lebensfähigkeit der Stadt und zum Zusammenhalt der dort lebenden Menschen.
Meine Damen und Herren, wir hoffen, daß die Begegnung in Washington neue Bewegung in die Frage des Krieges in Afghanistan bringt. Nach fast acht Jahren Krieg mit weit mehr als 100 000 Toten und Millionen Flüchtlingen hoffen wir im Interesse des leidgeprüften Landes, daß dort endlich Frieden einkehrt.
Wir sind davon überzeugt, daß wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen West und Ost beiden Seiten nützt. Wir erwarten, daß die USA und die Sowjetunion ihren Wirtschaftsaustausch nunmehr auf eine breite Grundlage stellen.
Die Reformen, vor allem die wirtschaftlichen Reformen, die sich Generalsekretär Gorbatschow für sein Land und die sich die Mehrzahl der übrigen Staaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe vorgenommen haben, bieten eine Fülle von Ansätzen für neue, vernünftige Wege der Zusammenarbeit. Daher habe ich Generalsekretär Gorbatschow bereits im Sommer 1986 eine West-Ost-Wirtschaftskonferenz vorgeschlagen.
Diese Initiative, meine Damen und Herren, liegt nunmehr als gemeinsamer Vorschlag der EG-Staaten auf dem Verhandlungstisch des Wiener KSZE-Folgetreffens. Die Bundesregierung sieht es als eine der Schwerpunktaufgaben ihrer bevorstehenden EG-Präsidentschaft an, nicht nur diesen EG-Vorschlag der West-Ost-Wirtschaftskonferenz umzusetzen, sondern das Wiener Folgetreffen insgesamt zum Erfolg zu führen. Wir würden es begrüßen, wenn es während unserer EG-Präsidentschaft möglich wäre, die Verhandlungen über ein Abkommen zwischen der EG und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe zum Abschluß zu bringen.
Meine Damen und Herren, ein anderer Gipfel, der Europäische Rat in Kopenhagen, hat — verständlicherweise — für kritische Schlagzeilen gesorgt. Wir haben keine abschließenden Entscheidungen erreicht. Es ist uns aber in zwei Tagen intensiver Diskussion gelungen, in wesentlichen Fragen der künftigen Ausrichtung der Gemeinschaftspolitiken, des so-
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Bundeskanzler Dr. Kohl
genannten Delors-Pakets, ein gutes Stück voranzukommen.
In einer Reihe wichtiger Punkte waren jedoch noch keine kompromißfähigen Lösungen möglich, um die notwendigen, in die Zukunft weisenden Grundsatzentscheidungen zu verabschieden. In dieser Lage habe ich meinen Kollegen den Vorschlag unterbreitet, den Europäischen Rat auf den 11. und 12. Februar 1988 nach Brüssel zu vertagen. Dieser Vorschlag wurde angenommen. Ich hätte in Kopenhagen natürlich lieber mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen, um die Arbeit der deutschen Präsidentschaft im nächsten halben Jahr auf andere Fragen, vor allem auf die Vollendung des Binnenmarktes, konzentrieren zu können, was natürlich auch geschehen muß.
Ich habe diesen frühestmöglichen Termin vorgeschlagen, um klarzumachen, daß wir als künftige Präsidentschaft entschlossen sind, die Entscheidungen möglichst rasch zu treffen und sie nicht auf den Europäischen Rat Ende Juni 1988 in Hannover zu verschieben. Die Gemeinschaft braucht die Entscheidungen über das Delors-Paket, um die notwendige Orientierung in der Agrar- und Strukturpolitik sowie die notwendige solide Finanzgrundlage zu erhalten.
Als Zwischenergebnis von Kopenhagen kann man festhalten: Erstens. Die Mittel der Strukturfonds werden deutlich erhöht. Sie sollen mehr als bisher auf die strukturschwachen Länder der Gemeinschaft konzentriert werden. Dies ist ein notwendiges Zeichen der Solidarität, insbesondere gegenüber Spanien und Portugal. Diese gezielte Strukturhilfe ist zugleich eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung eines funktionierenden Binnenmarkts. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß wir das Ziel auch der politischen Einigung nur erreichen werden, wenn wir den Binnenmarkt verwirklichen. Und wir werden den Binnenmarkt nur verwirklichen, wenn die unterschiedlichen Lebensverhältnisse und auch die verschiedene wirtschaftliche Situation in den einzelnen Staaten der EG einander angenähert werden, und zwar bald, in einer absehbaren Zukunft.
Zweitens. Das Finanzierungssystem der Gemeinschaft wird reformiert. Wir werden neben den bereits vorhandenen Gemeinschaftseinnahmen, den Zöllen, den Abschöpfungen und einem Teil der Mehrwertsteuer, eine vierte Finanzquelle schaffen.
Ihr Ziel ist es, die Gemeinschaftseinnahmen stärker am Wohlstand der einzelnen Mitgliedstaaten zu orientieren.
Drittens. Auch in dem sehr schwierigen Agrarbereich hat der Europäische Rat wesentliche Fortschritte gebracht, die vor allem für die deutsche Landwirtschaft von besonderer Bedeutung sind. Die Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten haben anerkannt, daß angesichts der Überschüsse Flächenstillegungen ein wesentlicher Beitrag zur Markt- und Kostenentlastung sind. Für uns hat der Großversuch in Niedersachsen gezeigt, daß in der Flächenstillegung ein richtiger Ansatz zu finden ist. Bevor wir zu einer bloß einkommensorientierten Preispolitik zurückkehren können, müssen vor allem die Fehlentwicklungen der Vergangenheit korrigiert werden.
Bis dahin muß es in erster Linie darum gehen, die Einkommen in der Landwirtschaft zu stützen und den Strukturwandel auch sozial akzeptabel und erträglich zu machen. Dazu müssen innerhalb der EG und auch national die erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen werden.
Viertens. Der Europäische Rat hat sich erneut auf eine strikte Haushaltsdisziplin verpflichtet. Die Gemeinschaft verwaltet immer mehr Mittel der einzelnen Länder. Für diese Ausgaben müssen selbstverständlich die gleichen strikten Regelungen gelten, wie das in den einzelnen Ländern — auch in der Bundesrepublik — der Fall ist.
Von Beginn der Präsidentschaft an werden wir uns gemeinsam mit der Kommission und unseren Partnern bemühen, die in Kopenhagen erzielten Fortschritte jetzt in konkrete Beschlußvorschläge umzusetzen. Auf Grund der geleisteten Vorarbeit sollte es uns gelingen, im Februar in Brüssel die notwendigen Beschlüsse zu fassen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Gemeinschaft muß sich jetzt stärker auf ein entscheidendes Anliegen der Einheitlichen Europäischen Akte, nämlich die Verwirklichung des Binnenmarktes, konzentrieren. Dieser „Raum ohne Binnengrenzen" umfaßt über 320 Millionen Menschen. Er soll den „freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleisten" , wie es in der Einheitlichen Europäischen Akte heißt. Ein solcher Binnenmarkt stellt für die Wirtschaft der Gemeinschaft und damit im übrigen auch für unsere Volkswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland eine unverzichtbare Basis dar, um im weltweiten Wettbewerb bestehen zu können. Allerdings — ich sage dies mit Bedacht — müssen wir uns alle darüber im klaren sein, daß der Binnenmarkt von den Volkswirtschaften aller Staaten, auch der deutschen, erhebliche Anpassungen verlangt und daß hier mancherlei Schwierigkeiten überwunden werden müssen.
Europa muß sich den Aufgaben der Zukunft stellen. Das ist gleichermaßen Herausforderung und Chance. Die Bundesregierung will das Notwendige dazu beitragen, damit der Integrationsprozeß gerade im Binnenmarkt neuen Schwung erhält.
Weder der Ablauf dieses Europäischen Rates noch mancherlei Erfahrungen in der Vergangenheit noch die schwierigen Aufgaben, die uns gerade im Binnenmarkt bevorstehen, sind für mich ein Grund zu irgendeiner Resignation. Im Gegenteil, die europäische Einigung ist ein schwieriger und, wie wir wissen, ein langwieriger Prozeß. Er muß und wird weitergehen, denn jeder weiß: Es gibt zu dieser Entwicklung nach Europa keine Alternative.
Meine Damen und Herren, bei mancherlei Ärger über den Stand der aktuellen Diskussion dürfen wir nicht vergessen, was in diesen letzten 30 Jahren erreicht werden konnte. Viele, auch bei uns in der Bun-
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Bundeskanzler Dr. Kohl
desrepublik Deutschland, vergessen zu leicht und zu schnell, daß heute mehr als 50 % unserer Exporte in die übrigen Länder der Gemeinschaft gehen, daß heute diese Exporte jeden fünften Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland sichern. Die Gemeinschaft ist für uns nicht nur der Markt vor der Haustür. Sie hat sich in den letzten Jahren auch zu einer Zone wirtschafts- und währungspolitischer Stabilität entwickelt. Diese Rahmenbedingungen sind für eine exportorientierte Wirtschaft wie die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland von entscheidender Bedeutung.
Europa — EG Europa — hat gerade angesichts der Ereignisse in den letzten Wochen an den internationalen Finanzmärkten durch enges und abgestimmtes Handeln gezeigt, daß es sich seiner Verantwortung nicht nur bewußt ist, sondern sie auch praktisch wahrnimmt. Es ist selbstverständlich, daß wir uns auch in Kopenhagen über die jüngsten Turbulenzen und deren eventuelle Rückwirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung in den kommenden Wochen ausgesprochen haben. Sowohl der Präsident der EG-Kommission wie auch die anderen Regierungschefs haben dabei die jüngsten Maßnahmen der Bundesregierung und der Bundesbank zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung positiv gewürdigt. Ich konnte in diesem Zusammenhang auf die Zinsentwicklung verweisen. Ich konnte darauf verweisen, daß sich das deutsche Zinsniveau bereits seit geraumer Zeit auch im internationalen Vergleich auf einem niedrigen Stand bewegt und daß die Deutsche Bundesbank die kurzfristigen Geldmarktzinssätze in den letzten Wochen wiederholt gesenkt und am 3. Dezember 1987 den Diskontsatz auf 2,5 % zurückgenommen hat, d. h. auf den niedrigsten Stand seit Kriegsende überhaupt.
Was die deutsche Finanzpolitik betrifft, konnte ich unterstreichen, daß wir in nur vier Jahren, von 1986 bis 1990, die Steuern netto um rund 50 Milliarden DM, d. h. um rund 2,5 % des Bruttosozialprodukts senken, daß wir die Steuersenkung 1988 auf Grund der internationalen Lage auf 14 Milliarden DM erweitert haben, daß wir steigende öffentliche Haushaltsdefizite aus konjunkturellen Gründen derzeit bewußt in Kauf nehmen und daß wir den Gemeinden und dem Mittelstand in den nächsten drei Jahren zusätzliche zinsgünstige Darlehen in einem Gesamtvolumen von 21 Milliarden DM zur Verfügung stellen werden.
Das positive Echo unserer Partner — das ist wichtiger als das, was Sie dazu sagen —
ist um so verständlicher, als ich in Kopenhagen auch darauf aufmerksam gemacht habe, daß die Bundesrepublik Deutschland bereits seit etwa zwei Jahren einen fühlbaren Beitrag zum Abbau der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte leistet. Denn seit Herbst 1985 geht der sogenannte Außenbeitrag zum Bruttosozialprodukt, also der Überschuß aus Exporten und Importen, in realer Rechnung kontinuierlich zurück. Damit fällt unser jährliches reales Wirtschaftswachstum derzeit spürbar schwächer aus,
weil dieser außenwirtschaftliche Anpassungsprozeß unverändert in vollem Gange ist — im übrigen zugunsten unserer Handelspartner und zu unseren eigenen Lasten. Anders ausgedrückt: Wenn man allein die dynamische Entwicklung unserer Inlandsnachfrage betrachtet, so sieht man, daß diese 1987 ein Wachstum von annähernd 3 % erreicht. Auf diese Erfolge, meine Damen und Herren, konnten wir in der europäischen Diskussion mit Recht verweisen.
Die internationalen Entwicklungen sind in den letzten Jahren in umfassender Weise in Gang gekommen. Ich glaube, bei aller berechtigten Skepsis in bezug auf dieses oder jenes Feld der Politik ist es zu verantworten, zu sagen, daß die Perspektiven auch im Blick auf das nächste Jahr hoffnungsvoll sind. Die Bundesregierung wird selbstverständlich im Sinne Ihres Auftrags ihre ganze Energie einsetzen, um den Frieden in Freiheit für unser Land zu sichern und zum Frieden in der Welt beizutragen.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Abkommen über die Beseitigung von 1 752 sowjetischen und 859 amerikanischen landgestützten atomaren Mittelstreckensystemen und einer noch wesentlich höheren Zahl von Sprengköpfen, das vorgestern von Ronald Reagan, dem amerikanischen Präsidenten, und von Michail Gorbatschow, dem sowjetischen Generalsekretär, in Washington unterzeichnet worden ist, bedeutet einen Sieg der Vernunft und gibt Anlaß zu großer Hoffnung.
In dieser Beurteilung stimmen wir mit der Regierungserklärung und — dessen bin ich gewiß — mit der erdrückenden Mehrheit unseres Volkes, ja der meisten Völker dieser Erde überein.
Noch ist das Abkommen nicht ratifiziert oder gar vollzogen. Noch liegt der Tag, an dem die erste Rakete verschrottet, der erste atomare Sprengkopf unschädlich gemacht wird, vor uns. Noch gibt es Kräfte, die all das verhindern wollen. Aber das steht schon heute fest: Die Dynamik der Aufrüstung ist an einer entscheidenden Stelle durchbrochen. Der Wahn, im atomaren Zeitalter könne Sicherheit gegeneinander errüstet werden, ist an einer entscheidenden Stelle widerlegt worden.
Denn erstmals in der Geschichte haben sich die Weltmächte darauf verständigt, daß nicht die weitere Anhäufung von Waffen, sondern deren Verminderung den Frieden sicherer macht, und sie haben sich auf ein
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Dr. Vogel
Kontrollverfahren verständigt, das in seiner Dichte und Präzision bislang ohne Beispiel ist.
Erfreulicherweise hat es den Anschein, daß dem ersten Schritt weitere folgen werden, daß sich das Klima zwischen den Weltmächten zum Guten verändert, daß Kooperation auch da möglich wird, wo es bisher nur Konfrontation gab. So auch bei der Bewältigung regionaler Krisen oder in der Frage der sozialen und der individuellen Menschenrechte. Darin liegt die eigentliche Bedeutung dessen, was in diesen Tagen in Washington geschehen ist und was entgegen aller Skepsis und Schwarzmalerei aus den Reihen der Union
gerade auch unsere eigene Sicherheit nicht vermindert, sondern erhöht.
Hinter der Freude und Genugtuung über diese Fortschritte sollte heute eigentlich der Streit darüber zurücktreten, welche von den politischen Kräften unseres Landes dazu den größeren Beitrag geleistet hat.
— Warten Sie es ab, meine Herrschaften.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben es in den letzten Tagen und auch heute für richtig gehalten, diesen Streit in den Vordergrund zu rücken, und Sie haben Ihre Koalition als die eigentliche Geburtshelferin der beiden Null-Lösungen dargestellt.
Das ist unredlich.
Denn die vehemente Skepsis gegenüber der ersten Null-Lösung, der entschiedene Widerstand gegen die zweite Null-Lösung und der noch entschiedenere Widerspruch
gegen die Einbeziehung der Pershing-I a-Systeme
kam doch aus Ihren Reihen, meine Herrschaften von der Union.
Sie können doch nicht als Erfolg ausgeben, was aus Ihren Reihen bis in die letzten Wochen hinein erbittert bekämpft worden ist.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben begonnen, Zitate zu verlesen. Ich möchte Ihnen da nichts schuldig bleiben und Ihnen — nachdem Sie diese Zitatenleserei eröffnet haben — einige Texte aus Ihren gesammelten
Werken in Erinnerung rufen. Kohl: Gegen das Gerede von der Null-Option.
Dann wörtlich Helmut Kohl:
Die gleiche Wirkung ... erzeugt nun dieses neue Gerede von der Null-Option. Sie sagen,
— das hat er in Richtung der SPD gesagt —
daß Sie sich im Idealfall sogar eine Null-Option vorstellen können, d. h. den Verzicht auf Nachrüstung, wenn die Sowjets ihre Mittelstreckenraketen gänzlich abbauen. Lassen Sie mich doch in aller Deutlichkeit sagen, . . .
— immer noch Kohl —
dieses Gerede
— von der Null-Option —— etwas anderes ist es nicht — ist eine schlichte Täuschung der deutschen Öffentlichkeit.
So Kohl, der Erfinder der Null-Option.
— Sie kommen auch noch dran; Sie werden auch noch zitiert.
Ich beschränke mich bei den weiteren Zitaten auf die Überschriften. Strauß:
„Null-Lösung unsinnig, irreal und unerreichbar". Als nächster Dregger: „Gorbatschow-Vorschlag" zur Null-Lösung „würde Sicherheit aufs schwerste gefährden". Todenhöfer: „Ich kann Null-Lösung nicht zustimmen". Strauß: „Keine Null-Lösung ohne Einbeziehung der Kurzstreckenraketen". Tandler: „Null-Lösung nicht in unserem Interesse". Lowack: — —
— Ich freue mich ja darüber, daß Sie Ihre eigenen Kollegen erheiternd finden. Wir finden es erheiternd, daß Sie sich auf diesem Hintergrund als Väter der Null-Lösung ausgeben.
Dieser wackere Kollege Lowack, über den Sie so herzlich lachen,
sagte also: „Null-Lösung verstärkt" Forderung nach „Austritt aus der NATO". Rühe: „Kurzstrecken nicht abkoppeln", sonst können wir nicht zustimmen. Biehle — warum lachen Sie bei Biehle nicht? Warum nur bei Lowack? Das ist ungerecht.
Also Biehle, meine Herrschaften: Durch die Null-Lösungen „Frieden nicht sicherer, sondern unsicherer". Rühe: unter keinen Umständen zweite Null-Lösung. So geht es weiter, und da geht dieser Bundeskanzler
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her und gibt sich als Vater der Null-Lösungen aus. Das ist Hochstapelei!
Nein, Herr Bundeskanzler, Sie waren nicht der Vorkämpfer dessen, was Sie heute feiern. Sie haben sich vielmehr in letzter Minute in das Unvermeidliche gefügt. Deshalb steht es Ihnen schlecht an, uns wegen unserer Haltung in den Jahren vorher zu kritisieren.
Im übrigen spricht vieles dafür, daß nicht die Stationierungen des Jahres 1983, sondern der Wechsel an der sowjetischen Führungsspitze, das Engagement einer weltweiten Friedensbewegung,
die nicht nur in unserem Land, sondern auch in vielen anderen Ländern auf das Bewußtsein Einfluß genommen hat, und schließlich auch die veränderte Haltung des amerikanischen Präsidenten das Mittelstreckenabkommen möglich gemacht haben.
Der Streit über die Vergangenheit, den Sie hier begonnen haben, mag bei anderer Gelegenheit fortgesetzt werden.
Heute geht, es, so meine ich, um die Zukunft. Es geht jetzt darum, daß wir die konstruktive Entwicklung, die nunmehr in Gang gekommen ist, nach besten Kräften fördern.
Die Regierungserklärung enthält dafür Elemente, die mit unseren Positionen übereinstimmen.
Das gilt beispielsweise für die Halbierung der Zahl der strategischen Raketen und für die strenge Einhaltung des Vertrages über das Verbot der Raketenabwehrsysteme im Weltall, eine Einhaltung, die wir stets von beiden Seiten verlangt haben. Das gilt für den Abbau der Nuklearsysteme kurzer Reichweiten und der konventionellen Ungleichgewichte. Es gilt für die Beendigung aller Atomversuche, und es gilt für die weltweite Beseitigung chemischer Waffen.
Die von uns Sozialdemokraten im Gespräch mit der DDR-Führung entwickelten Projekte eines Korridors, der von Atomwaffen und schwerem konventionellen Gerät frei ist, und einer chemiewaffenfreien Zone in Europa stellen auf dem Weg zu diesen Zielen wichtige Zwischenstationen dar. Atomare und konventionelle Streitkräfte müssen dabei im Zusammenhang der besonderen Gefährdung Europas durch sie gesehen werden, und in diesem Zusammenhang muß über sie verhandelt werden. Diese Verhandlungen müssen zu einer konventionellen Stabilität auf möglichst niedrigem Niveau führen, die den beiderseitigen Streitkräften die Fähigkeit zu nachhaltiger Verteidigung beläßt, sie aber zum Angriff unfähig macht.
Im Verlaufe dieses Prozesses werden dann auch alle Atomwaffen, die sich heute noch auf dem Boden nichtatomarer europäischer Staaten befinden, endgültig überflüssig, und auch die endgültige Überwindung der atomaren Abschreckungsdoktrin rückt damit ein Stück näher.
Das ist der Sinn der von uns entwickelten Prinzipien der gemeinsam verantworteten Sicherheit und der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit, zweier Prinzipien, die in der nationalen und internationalen Diskussion ebenso immer stärkere Aufmerksamkeit finden wie unsere Forderung, die herkömmlichen, weit überzogenen Bedrohungsanalysen durch eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Gegebenheiten zu ersetzen. Erfreulicherweise sind gerade in den letzten Tagen auch aus dem amerikanischen Verteidigungsministerium solche realistischeren Einschätzungen bekanntgeworden.
Es liegt im Interesse beider Weltmächte und beider Bündnisse, es liegt aber vor allem in unserem Interesse, daß die Phase der militärischen Konfrontation zwischen Ost und West, die sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, mehr und mehr durch eine Politik des friedlichen Wettstreits der Gesellschaftsordnungen und einer verstärkten ökonomischen, ökologischen und kulturellen Zusammenarbeit abgelöst wird.
Nur eine solche Politik macht die Grenzen durchlässiger, die Menschenrechte wirksamer, den Pluralismus vielfältiger und den Frieden sicherer. Nur mit Hilfe einer solchen Politik kann die Vergeudung der Ressourcen für militärische Zwecke beendet und die Konzentration aller Kräfte auf die Bewältigung der großen Menschheitsaufgaben vorangebracht werden,
etwa zur Überwindung des Hungers in der Dritten Welt. Auch sonst wird in einer solchen neuen Phase der Entspannung und Zusammenarbeit manches möglich, was bisher unlösbar erschien. Das gilt beispielsweise auch für Fortschritte in und um Berlin. Schon jetzt müssen wir übrigens darauf achten, daß Berlin voll in alle positiven Entwicklungen einbezogen wird und nicht immer stärker in den Schatten dieser Entwicklungen gerät.
In diesem Rahmen erscheinen uns in der Frage der Friedenssicherungspolitik gemeinsame Anstrengungen über die Fraktionsgrenzen hinweg denkbar: Anstrengungen, bei denen die Auseinandersetzung nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie geführt wird, eine Gemeinsamkeit, die das Gewicht der Bundesrepublik und die Berechenbarkeit ihrer Politik verstärken würde. Gewisse Äußerungen — ich beziehe mich auf Kollegen Dregger — aus den Reihen der
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Dr. Vogel
Union lassen es als möglich erscheinen, daß sich hierfür Ansatzpunkte ergeben, die wir bei der FDP schon seit längerem erkennen. Wir sind zu Gesprächen darüber mit den anderen Fraktionen des Deutschen Bundestages bereit. Und wir werden selbstverständlich dem Stationierungsländerabkommen zustimmen, weil dies ein notwendiges Element des INF-Vertrages darstellt.
Mit derselben Deutlichkeit sage ich allerdings: Wir sind nicht bereit, Forderungen nach neuerlichen Nachrüstungen etwa auf dem Gebiet der Kurzstrekkenraketen auch nur um einen einzigen Millimeter nachzugeben,
und zwar ganz gleich, ob sie als Modernisierung, als Ausfüllung von Obergrenzen oder in sonstiger Weise kaschiert werden. Wer solches im Schilde führt, wird unserem entschiedenen Widerstand begegnen. Ich bedaure, daß das Bundesverteidigungsministerium gerade am heutigen Tage wieder die Notwendigkeit der Modernisierung der Kurzstreckensysteme betont — gerade an dem heutigen Tage!
Stellt sich der Washingtoner Gipfel danach als ein Erfolg und als eine Ermutigung dar, so gilt für den Gipfel von Kopenhagen das völlige Gegenteil. Er bedeutet einen Fehlschlag, und er bedeutet eine neuerliche Entmutigung für alle, die es mit dem europäischen Gedanken und der Einigung Europas ernst meinen, eine Entmutigung für die, die wissen, daß nur ein einiges Europa seine Interessen wahren und dann auch bei den weiteren Abrüstungsverhandlungen, bei denen es vor allem um das Schicksal Europas geht, mit am Tisch sitzen kann, während wir heute nur als Randfiguren dabeistehen.
Das ist ein Zustand, der nur durch die fortschreitende Einigung Europas verändert werden kann.
In Kopenhagen — Sie haben es im Grunde in Ihrer Regierungserklärung eingeräumt — , ist keines der brennenden Probleme gelöst worden. Einige Probleme, so die Haushaltskrise und die Krise der Agrarpolitik, haben sich sogar noch verschärft, und das in einer Zeit, in der die Handlungsfähigkeit Europas angesichts der weltwirtschaftlichen Gefahrenmomente und der innereuropäischen Strukturkrisen — ich denke dabei insbesondere an die verzweifelte Lage der Stahlarbeiter bei uns, aber auch im übrigen Europa — doppelt notwendig wäre.
Ich behaupte nicht, daß Sie und die Bundesregierung allein für den Fehlschlag von Kopenhagen verantwortlich sind. Dafür gibt es auch noch andere Adressen, so die Adresse der britischen Premierministerin, die einmal mehr dabei ist, den Bogen zu überspannen. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie trifft ein gerüttelt Maß Mitschuld, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen, einmal, weil Sie weiterhin an einer Agrarpolitik festhalten, die unsere Bauern und die Europäische Gemeinschaft gleichermaßen in den
Ruin treibt und zugleich auch noch unsere Finanzen exzessiv in Anspruch nimmt.
Drei Zahlen machen das ganze Ausmaß des Widersinns, der hier praktiziert wird, deutlich.
Seit 1977 sind in der Europäischen Gemeinschaft die Werte der landwirtschaftlichen Produktion um 20 %, die finanziellen Aufwendungen der Gemeinschaft hingegen um 300 %, nämlich von 18 auf 57 Milliarden DM gestiegen. Gleichzeitig stagniert das Durchschnittseinkommen der Landwirte in der Bundesrepublik, ja, es hat sogar real abgenommen und liegt mit rund 25 000 DM im Jahr erheblich unter dem Durchschnittseinkommen anderer Branchen. Dies ist nämlich der eigentliche Wahnsinn bei dem System, daß immer höhere Milliardenaufwendungen den Bauern nur noch sinkende Einkommen ermöglichen, die unter dem Durchschnitt vergleichbarer Berufe liegen; das muß auch zum Schutze und im Interesse der Bauern gesagt werden.
Ich weiß nicht, wer der Feststellung widersprechen wollte, daß dies keine Politik mehr ist, sondern blanker Unsinn. Und dabei können Sie sich nicht auf andere — wie Sie das immer so gern tun — , etwa auf Herrn Ertl, den früheren Bundeslandwirtschaftsminister, hinausreden. Als Kollege Ertl Anfang der 80er Jahre Maßnahmen gegen die Überproduktion einleiten wollte und vorschlug, da sagte der Herr Kollege Kiechle, agrarpolitischer Sprecher Ihrer Partei, noch am 25. März 1982 — am 25. März 1982! — : Wir richten unseren Blick nicht engstirnig auf vielleicht gerade momentan vorhandene Lebensmittelüberschüsse und glauben nicht, daß wegen solcher Überschüsse sofort die ganze Agrarpolitik der EG reformiert werden müßte.
In Ihrer bilderreichen Sprache, Herr Bundeskanzler, haben Sie zur EG-Agrarpolitik gesagt — ich zitiere wörtlich —, Sie müßten den Bockmist, den andere angerührt haben, auslöffeln.
Mir ist übrigens dieses Wort nicht ganz geläufig; Sie rechnen offenbar Bockmist unter die Nahrungsmittel,
weil Sie von Auslöffeln sprechen, eine ungewöhnliche Ernährungsweise.
Herr Bundeskanzler, um in Ihrem Sprachgebrauch zu bleiben: Der Bockmist, mit dem Sie sich da zu beschäftigen haben, das ist schon Ihr eigener Bockmist aus den letzten fünf Jahren.
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Dr. Vogel
Und dieser Bockmist wird sich noch vermehren, wenn Sie die notwendigen, von uns stets bejahten Maßnahmen zur Erhaltung der bäuerlichen Familienbetriebe nicht endlich von der produktionsorientierten Einkommensstützung auf eine flächen- und personenbezogene Stützung umstellen. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch; Sie brauchen sie nur zu übernehmen, und dann können Sie das Konzept von Jacques Delors unterstützen, ohne daß unsere Bauern noch zusätzlichen Schaden erleiden.
Ein zweiter gravierender Fehler liegt in Ihrer Weigerung, die Mittel des EG-Strukturfonds in dem von der Kommission vorgeschlagenen Maße zu erhöhen. Wer den Binnenmarkt wirklich will — seine Realisierung liegt doch gerade auch in unserem wirtschaftlichen Interesse — , der muß den strukturell schwächeren Mitgliedstaaten auf diese Weise helfen, mit den Problemen fertig zu werden, die der Binnenmarkt für sie schon in seiner Anfangsphase mit sich bringt; das ist ein Gebot der europäischen Solidarität und ein Gebot der Vernunft. Mit der Vertagung der notwendigen Entscheidungen auf den 11. und 12. Februar 1988 ist für die Abwendung einer Krise, die uns in Europa weit zurückwerfen würde, eine allerletzte Frist gesetzt worden. Da die Präsidentschaft am 1. Januar 1988 auf die Bundesrepublik übergeht, ist es jetzt vor allem Ihre Pflicht, diese Frist zu nutzen. An unserer Unterstützung wird es nicht fehlen, wenn Sie nur endlich handeln und wenn Sie bedenken, daß Europa nicht nur ein Europa der Landwirtschaft, sondern ein Europa der Arbeitnehmer sein muß, wenn es eine Zukunft haben soll.
Ich wiederhole: Wir sind zur Kooperation bereit, und wir wissen auch, daß die Bundesrepublik ihre finanziellen Leistungen für Europa erhöhen muß. Aber genauso klar sage ich: Jede zusätzliche Mark für Europa ist verloren und vertan, wenn die Agrarpolitik nicht durchgreifend geändert wird.
Wir haben es nicht nur mit einer europäischen Krise, wir haben es mittlerweile auch mit einer weltwirtschaftlichen Krisensituation zu tun. Als ich vor einem Vierteljahr von dieser Stelle aus auf die damals schon erkennbaren Symptome hinwies, haben Sie das als Miesmacherei abgetan und unsere Warnungen in den Wind geschlagen. Inzwischen können auch Sie die Alarmglocken nicht mehr überhören. Mehr noch: Sie müssen sich eingestehen, daß Ihre Angebotspolitik nach fünf Jahren gescheitert ist, daß Sie mit dieser Angebotspolitik am Ende sind.
Das sind die Fakten. Entgegen all Ihren Ankündigungen hat nämlich die weit überdurchschnittliche Steigerung der Unternehmensgewinne und die ebenso deutliche Absenkung der Lohnquote, des Anteils der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen, weder das Absinken der Investitionsquote auf unter 20 % noch das Anwachsen der Arbeitslosigkeit, die im Durchschnitt dieses Jahres wieder deutlich über 2,2 Millionen liegt, verhindert. Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich doch selber nach dem Sinn
einer Politik fragen, die bei steigenden Unternehmensgewinnen zu sinkenden Investitionen und steigender Arbeitslosigkeit führt.
Das ist doch ein Widerspruch, der auch Ihnen einleuchten muß. Zugleich hat sich das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht in diesen fünf Jahren dramatisch verstärkt.
Diese Fakten, dieses Ergebnis von fünf Jahren Angebotspolitik, lagen doch bereits auf dem Tisch, bevor die Aktienkurse an den internationalen Börsen zusammengebrochen sind und bevor der Dollar in wenigen Wochen noch einmal um 10 % auf seinen historisch tiefsten Stand gefallen ist. Daß ein armes Land in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, daß in einem armen Land eine wachsende Zahl von Menschen arbeitslos wird, daß in einem armen Land ganze Regionen und Städte zum Erliegen kommen, das ist nicht weiter verwunderlich. Sie, Herr Bundeskanzler, haben in den letzten fünf Jahren das Kunststück fertiggebracht, daß dies alles in einem reichen Land, nein, in einem der reichsten Länder der Erde geschieht,
in einem Land, dessen Bruttosozialprodukt dank des Fleißes der Menschen und aller Beteiligten in diesen fünf Jahren um 350 Milliarden DM gestiegen ist.
Können Sie eigentlich nicht nachempfinden, Herr Bundeskanzler, daß gerade diese Tatsache, daß gerade dieser Reichtum die Erbitterung, ja die Wut derer noch verstärkt, die ihre Arbeitsplätze verloren haben oder noch verlieren sollen, ohne daß ihnen eine andere Chance geboten wird?
Die Wut der Männer und Frauen von Rheinhausen kommt doch gerade auch daher, daß sie den Reichtum und unsere Leistungsfähigkeit sehen.
Es ist die Wut der Männer und Frauen, die erkennen, daß es in dieser Situation nicht an den finanziellen Mitteln, sondern am politischen Gestaltungswillen dieser Bundesregierung und ihres Kanzlers fehlt.
Jetzt werden Sie von allen Seiten zum Handeln gedrängt. Nicht nur wir, nicht nur die Gewerkschaften, auch die Sprecher der deutschen Industrie und das Ausland mahnen Ihre politische Führung an, und die Zustimmung Ihrer europäischen Kollegen ist wohl unter „geheim" im verschlossenen Kämmerlein erteilt worden. Nach außen ist sie nicht deutlich geworden. Es sind nicht allein die Herren Reuter und von Kuenheim, die das Fehlen dieser Führung beklagen. Die Herren Rodenstock, Herrhausen und Necker kritisieren Sie doch in der gleichen Weise. Heute gibt es in der „Welt" eine ganze Seite sogar mit Abbildungen der Herren, die Ihre Führung und Ihre Handlungen anmahnen.
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Dr. Vogel
Aber gerade diese Führung lassen Sie vermissen. Sie haben zunächst überhaupt nichts getan und dann halbherzig und schwächlich gehandelt. Dabei tadele ich nicht, daß Sie Bruchstücke unseres Programms „Arbeit und Umwelt" kopiert haben, daß Sie zum Erstaunen und zur Kritik Ihrer eigenen Parteifreunde etwas in Gang setzen, was Sie jahrelang und noch vor wenigen Wochen als typisch sozialdemokratisch mit stereotypen Redewendungen abgelehnt haben. Das stört uns nicht.
Wir kritisieren etwas anderes. Wir kritisieren das viel zu geringe Volumen Ihres Programms, für das Sie — das muß man der Öffentlichkeit sagen — 1988 '70 Millionen DM und 1989 200 Millionen DM ausgeben wollen. Wir kritisieren die ungerechte Verteilung dieser Mittel, die vielleicht von den prosperierenden Regionen, von den Städten, denen es gut geht, in Anspruch genommen werden können, die aber doch an den Regionen und Städten, die sich in Not befinden, deswegen vorbeigehen, weil sie doch nicht eine einzige Mark mehr an Schulden aufnehmen können. Das wissen Sie doch.
Wir kritisieren die Tatsache, daß Sie hartnäckig an Steuerplänen festhalten, die in erster Linie die hohen Einkommen entlasten und die finanziellen Schwierigkeiten derjenigen Länder und Gemeinden erhöhen, die gerade jetzt zusätzliche Mittel benötigen. Dazu gehören doch auch Länder, die von der CDU regiert werden: Für Niedersachsen ist es doch nicht anders als für Nordrhein-Westfalen.
In Schleswig-Holstein ist die Situation doch eher noch bedrohlicher und bedrängender. Es ist doch gar nicht wahr, wenn hier immer so getan wird, als wenn das an einem Unterschied zwischen SPD- und CDU-regierten Ländern liegt.
Die Kritik an diesem Programm ist denn auch allgemein. Niemand erwartet im Ernst von dem, was Sie auf den Weg gebracht haben, ein verstärktes Wirtschaftswachstum oder gar positive Auswirkungen auf die Weltwirtschaft.
Wie stark der Handlungsbedarf wirklich ist, zeigt der Umstand, daß die durchaus notwendige, wenn auch späte, und mit anderen Zentralbanken abgestimmte Zinssenkung der Bundesbank an den Märkten so gut wie nichts bewirkt hat. Das kann man jetzt nach acht oder zehn Tagen ja sagen.
Das kann ja auch nicht verwundern. Denn bei den Leistungsbilanzungleichgewichten zwischen den USA einerseits und Japan und der Bundesrepublik andererseits handelt es sich um Beträge in einer Größenordnung von 150 Milliarden Dollar. Das sind selbst nach heutigem Kurs 250 Milliarden DM oder fast 13 unseres gesamten Bruttosozialprodukts. Wenn die Amerikaner jetzt vernünftigerweise darangehen, die-
ses Ungleichgewicht abzubauen, dann müssen doch unsere Ausgleichsmaßnahmen dazu vom Volumen her in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Daran fehlt es.
Davon — wie bedauern das — kann bei Ihrem Miniprogramm keine Rede sein.
Unser Programm „Arbeit und Umwelt" wird dieser Anforderung hingegen gerecht. Selbst bei vorsichtigen Schätzungen steigert es die Binnennachfrage und zusätzliche Investitionen — wobei uns die zusätzlichen Investitionen fast noch wichtiger sind als die zusätzliche Konsumnachfrage, weil das für die Zukunft wirkt — ,
selbst bei vorsichtigen Schätzungen steigert unser Programm die Binnennachfrage in den nächsten beiden Jahren um 40 bis 50 Milliarden DM. Vor allem: Es hilft dort, wo Hilfe am dringendsten gebraucht wird. Durch unseren Vorschlag, den Gemeinden 3 Milliarden DM Sozialhilfeleistungen durch Verlängerung und Erhöhung der Arbeitslosenhilfe abzunehmen, helfen wir denen, die die Hilfe am dringendsten brauchen,
also gerade an den Stahlstandorten und Montanregionen im Ruhrgebiet, an der Saar, in der Oberpfalz, im Osnabrücker Raum, wo heute verhandelt wird und möglicherweise eine neue Katastrophe auf die Menschen zukommt, an den Werftstandorten und an der Küste.
Wir haben aus den Erfahrungen der Jahre 1929 und 1930 gelernt. Ich fürchte, Sie sind drauf und dran, die damaligen Fehler zu wiederholen. Deshalb können wir Ihnen nur raten, wir können Sie nur bitten: Übernehmen Sie unser Programm möglichst rasch und nicht nur bruchstückweise, wie Sie das viel zu spät bei unserem Programm „Arbeit und Umwelt" getan haben.
Sagen Sie bitte auch nicht, ein solches Programm sei nicht finanzierbar oder es sei zu teuer. Dem setze ich entgegen: Eine neue Weltwirtschaftskrise würde mit Sicherheit um ein Vielfaches teurer werden im Vergleich zu dem, was jetzt aufgewendet werden müßte.
Außerdem: Zumindest ein Teil der notwendigen Maßnahmen kann jedenfalls ab 1990 mit den Beträgen finanziert werden, die Sie für konjunkturell unwirksame steuerliche Maßnahmen vorgesehen haben. Lassen Sie uns doch darüber im zuständigen Ausschuß noch einmal vernünftig reden, ob man hier nicht Korrekturen anbringen kann, die eine wirkliche Investitionsoffensive möglich machen.
Schließlich — da scheint sich ja jetzt allmählich sogar Übereinstimmung abzuzeichnen — ist angesichts der gegenwärtigen Konstellation zur Verstärkung der Investitionen und zur Steigerung der Binnennachfrage auch eine vorübergehende Erhöhung der Kreditaufnahme durch den Bund vertretbar. Der Bund
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würde damit nur einen Bruchteil des Kapitals in Anspruch nehmen, das bisher nach Amerika fließt und das in den USA ja gar nicht mehr benötigt wird, wenn es dort wirklich zum dringend notwendigen Abbau des Leistungsbilanzdefizits kommt. Es ist doch ein Gebot der Vernunft, so zu verfahren.
Auf allen drei Feldern, die heute Gegenstand der Debatte sind, ist entschlossenes Handeln, ist politische Führung gefordert. Aber gerade daran mangelt es in bedrohlicher Weise. Im politischen Zentrum unserer Republik, dort, wo Sie stehen oder sitzen, herrscht Ratlosigkeit, machen sich zunehmend Hilflosigkeit und Kleinmut bemerkbar, die auch die regelmäßigen und lautstarken polemischen Auseinandersetzungen in Ihrer Koalition nicht überdecken können.
Ihr Finanzminister, Herr Stoltenberg, hat infolge seiner Verstrickung in den Niedergang der schleswigholsteinischen CDU rapide an Ansehen und Überzeugungskraft verloren. Er ist durch die Doppelbelastung als Vorsitzender der CDU in Kiel und als Bundesfinanzminister auch zunehmend überfordert. Herr von Hassel hat diesen wichtigen Punkt ja zum Gegenstand der öffentlichen Äußerung gemacht, wobei nicht klar war, ob er die Entlastung oder die Entlassung forderte. Ich will annehmen, er hat die Entlastung gefordert.
Herr Bangemann beschränkt sich auf mehr oder minder muntere Redensarten, von denen Sie übrigens wissen sollten, welche zusätzliche Empörung diese aufgesetzte Munterkeit bei den Menschen draußen auslöst —
sie ist sicher aufgesetzt — , oder auf briefliche Ratschläge an Herrn Stoltenberg, wenn seine Gedanken nicht gerade in Richtung Brüssel wandern.
Sie selbst lassen zu, Herr Bundeskanzler, daß Ihre Koalition gerade jetzt einen großen Teil ihrer politischen Energie auf die Frage verschwendet, ob die Polizei gegen die ohnehin verbotene Vermummung auf jeden Fall oder nur dann einschreiten soll, wenn es ihr zweckmäßig erscheint. Dazu, nicht etwa zur Krise der Europäischen Gemeinschaft oder zu den Gefahrenmomenten der weltwirtschaftlichen Entwicklung, dazu, nicht zur Notlage der Stahlarbeiter und Bergleute veranstaltet Herr Bangemann sogar einen Sonderparteitag. Das ist das Thema, auf das diese Koalition ihre politische Kraft lenkt.
Sie selbst, Herr Bundeskanzler, halten dieses Thema für so wichtig, daß Sie deswegen erstmals in Ihrer Amtszeit Ihre Minister sogar öffentlich zur Ordnung rufen, wobei nebelhaft bleibt, wen Sie eigentlich gemeint haben; wahrscheinlich Herrn Bangemann. Vielleicht halten Sie das unter Beratung des Adenauerhauses auch noch für eine gelungene Taktik, weil Sie hoffen, daß dieser Streit über das Problem der Vermummung vom Versagen auf anderen Gebieten ablenken wird. In Wahrheit offenbart es jedoch einen Mangel an Führung; denn unser Wohlergehen und unsere Zukunft hängen nicht von dieser Frage ab, die die Koalition Tag und Nacht beschäftigt. Sie hängt
von der Bewältigung der Probleme ab, von denen hier und heute die Rede ist: von der weiteren Abrüstung, von der Einigung und Handlungsfähigkeit Europas und von der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und der weltweiten Krisensymptome.
Diese Themen, so sagen wir, lohnen den Streit, aber sie lohnen auch die Zusammenarbeit. Wir Sozialdemokraten sind auf beides vorbereitet.
Herr Strauß, der Katastrophenphilosoph von Sonthofen, wollte 1974 in einer Lage, die damals im Vergleich um ein Vielfaches besser war als die Lage, der wir uns heute gegenübersehen, wollte — ich zitiere — lieber eine weitere Inflationierung, lieber weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit, lieber weitere Zerrüttung der Staatsfinanzen in Kauf nehmen, als seine Alternativen zu nennen. Er empfahl — wiederum wörtlich; Empfehlung Strauß — , nur anzuklagen und zu warnen, aber keine konkreten — —
— Herr Strauß ist doch noch immer da. Oder ist der schon weg? Das könnte Ihnen so passen. Der bleibt Ihnen noch, darauf können Sie sich verlassen.
Der bleibt Ihnen noch länger, als Sie hier mitzureden haben. — Seine Aufforderung an die Opposition von damals: nur anklagen, nur warnen, keine konkreten Rezepte nennen. Und dann weiter: Es müsse alles noch schlechter werden. Das war damals die Botschaft der Opposition. Es müsse alles noch schlechter werden, das war Ihre Philosophie, meine Damen und Herren; unsere ist es nicht. Wir wollen, daß die Gefahren gebannt und überwunden werden, und dafür werden wir auch in Zukunft unermüdlich arbeiten.
Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, vor zwei Tagen ist in Washington ein Abkommen unterzeichnet worden, das ohne den Beitrag der Bundesregierung, vor allem auch des Bundeskanzlers Helmut Kohl, nicht zustande gekommen wäre.
Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, daß es dem Führer der Opposition schwerfällt, dem Bundeskanzler hier in aller Öffentlichkeit Lob auszusprechen. Aber mir fehlt jedes Verständnis dafür, Herr Kollege Vogel, daß Sie es nicht fertiggebracht haben, wenigstens den früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt an dieser Stelle einmal zu loben, Helmut Schmidt, den Sie 1982 im Stich gelassen haben.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3413
Rühe
Das ist ein Verhalten, das Ihnen offensichtlich bis zum heutigen Tage peinlich ist.
Herr Vogel, Sie haben heute wieder einmal gezeigt, daß Sie mit Zitaten auf dem Kriegsfuß stehen. Sie haben den Bundeskanzler aus der Zeit vor der Stationierung zitiert, als er vor dem Gerede von der NullOption auf Ihrer Seite gewarnt hat, weil Sie sich um die schwierige Entscheidung herumdrücken wollten, die damals zu fällen war.
— Warten Sie doch mal ab.
Sie haben gesagt, ich hätte im Frühjahr in einer strittigen Debatte vor einer Abkoppelung der Kurzstreckenwaffen gewarnt. Das war doch wohl richtig. Es hat sich doch gezeigt, daß unser Spielraum für die Abrüstung bei den kürzeren Systemen, die uns politisch-psychologisch die meisten Probleme machen, geringer geworden ist. Was wollen Sie mir also in diesem Zusammenhang vorwerfen?
Herr Kollege Vogel, nicht nur, daß Sie Probleme haben, aus dem Jahre 1983 richtig zu zitieren; Sie schaffen es ja nicht einmal, aus der „Welt" von heute richtig zu zitieren.
Sie haben gesagt, da ständen die Wirtschaftsführer Schlange, um an der Führungslosigkeit der Bundesregierung Kritik zu äußern.
Ich habe mir das eben einmal angeschaut. Schon ein erster Blick zeigt folgendes. Es gibt erstens eine breite Zustimmung zur Steuerreform und dann Vorschläge, die Steuerreform vorzuziehen. Ich kann nur sagen: Mit einer solchen Kritik an einem richtigen Programm kann man in der Tat leben. Das ist doch keine Kritik, sondern das ist Zustimmung zu einer richtigen Politik.
Sie stehen hingegen mit Ihrer Ablehnung der Steuerreform im Abseits.
Ich kann dort lesen: Die Politik der Bundesregierung hat 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Schließlich wird in der Tat die Kritik geäußert: Die Regierung muß ihre Erfolge offensiver verkaufen. Dieser Kritik möchte ich mich ausdrücklich im Namen der Bundestagsfraktion anschließen.
Das sind Beispiele für die Fähigkeit des Herrn Dr. Vogel, aus der heutigen „Welt" richtig zu zitieren.
Lieber Herr Dr. Vogel, wenn Sie dem Kollegen Wirtschaftsminister Bangemann Munterkeit und Optimismus vorwerfen und sagen, daß die Menschen
sich darüber beschwert fühlen, dann kann ich nur erwidern: Diese Munterkeit und der Optimismus, der auch von dieser Regierung ausgestrahlt wird, sind unseren Mitbürgern allemal lieber als die Miesmacherei und die Griesgrämigkeit, mit der Sie hier angetreten sind.
Sie sind auch heute wieder angetreten, alles mies zu finden, egal, wie die Tatsachen sind.
Mit dem Europa-Gipfel werden sich andere Kollegen noch beschäftigen.
Lassen Sie mich hier vor allem zur Sicherheitspolitik sprechen. Ich will auch ein Wort dazu sagen, warum wir heute streiten müssen und wie es mit den Gemeinsamkeiten aussieht.
Das Abkommen von Washington ist — ich glaube, da stimmen wir alle überein — ein historisches Ereignis. Hier wird das erste Mal vertraglich abgerüstet. Es wird asymmetrisch abgerüstet: Derjenige, der mehr vorgerüstet hat, muß mehr abrüsten. Schließlich werden Vereinbarungen über die Vertragsüberprüfungen geschlossen, die vielleicht noch wichtiger sind als die Substanz des Vertrages selbst, weil sie einen Durchbruch bedeuten und weitere Verträge erleichtern werden.
Dieser Abrüstungserfolg ist ein Erfolg für das ganze Bündnis und für alle, Herr Dr. Vogel, die die Politik des Bündnisses zu allen Zeiten mitgetragen und mitgestaltet haben, und dazu gehören Sie leider nicht.
Insofern besteht Anlaß zur Genugtuung auf seiten der Bundesregierung und auf seiten der Koalitionsfraktionen und sollte Anlaß zur Nachdenklichkeit und zur Selbstkritik bei Sozialdemokraten, bei GRÜNEN und bei der Friedensbewegung bestehen.
Sie, Herr Dr. Vogel, spekulieren auf die Vergeßlichkeit der Menschen. Aber niemand hat in dieser emotional zugespitzten Situation von 1983 den Wortbruch der deutschen Sozialdemokratie gegenüber dem Bündnis vergessen, Ihr Abrücken vom Bundeskanzler Helmut Schmidt und Ihre Illoyalität gegenüber der Verhandlungspolitik des Bündnisses, ganz zu schweigen von den Prognosen über „Eiszeit" und den „schwarzen Sonntag von Reykjavik". Lieber Herr Dr. Vogel, das ist nicht vergessen, das werden Sie auch nicht tilgen können aus der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Ich will Ihnen nicht alle Beispiele geben, aber ich will Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, welchen sowjetischen Vorschlägen Sie jeweils zustimmen wollten, um noch einmal deutlich zu machen, was die Alternative zu diesem Abkommen, das jetzt auf dem Tisch liegt, gewesen wäre.
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Rühe
Im Herbst 1983, wenige Tage vor dem Stationierungsbeginn und der leidenschaftlichen Debatte im Deutschen Bundestag, an die ich mich noch sehr gut erinnere, hat die Sowjetunion vorgeschlagen, ihre Systeme auf 140 bzw. 120 SS 20 zu reduzieren — das wären noch über 400 Sprengköpfe gewesen — , wenn der Westen bereit wäre, bei Null zu bleiben, also nicht zu stationieren. Sie haben Ihre volle Zustimmung signalisiert und uns angegriffen. Wir hätten also 400 zu 0 bekommen, wenn wir Ihnen damals gefolgt wären.
Die Sowjetunion hat damals über Jahre hinweg immer wieder die Einbeziehung der britischen und französischen Raketen gefordert. Wir haben das abgelehnt. Sie haben diesem sowjetischen Vorschlag immer wieder Zustimmung signalisiert. Ich frage mich: Wo wären wir heute, auch gegenüber unseren britischen und französischen Bündnispartnern, wenn wir Ihnen gefolgt wären, Herr Dr. Vogel?
Nach Beginn der Nachrüstung hat die Sowjetunion mehrere Moratoriumsvorschläge gemacht, d. h. Stopp der westlichen Nachrüstung auf einem niedrigen Niveau und Beibehalten der sowjetischen Systeme. Jedem sowjetischen Moratoriumsvorschlag haben Sie, Herr Dr. Vogel, zugestimmt. Jeder dieser Vorschläge hätte bedeutet, daß wir nicht gleichgewichtige Abrüstung bekommen hätten, sondern Festschreiben und Einfrieren eines enormen Ungleichgewichts zwischen Ost und West. Das ist Ihre Bilanz der letzten Jahre.
Deswegen ist dieser Vertrag von Washington ein Erfolg der Standfestigkeit der Bundesregierung und des Bundeskanzlers, der gerade auch in den letzten Wochen und Monaten sich immer wieder um einen fairen Interessenausgleich bemüht hat und der dieses konkrete Verhandlungsergebnis letztlich auch durch seine Flexibilität hinsichtlich der Pershing-I-a-Raketen der Bundeswehr mit ermöglicht hat.
Herr Kollege Vogel, Anlaß zu wenn auch später Genugtuung hätten andere Sozialdemokraten: Helmut Schmidt und z. B. auch Georg Leber, über den ich nachher noch etwas sagen werde. Für Sie ist das Ganze Anlaß zur Nachdenklichkeit. Sie haben zusammen mit Willy Brandt in der letzten Woche angedeutet, daß Sie Irrtümer begangen haben; aber ich habe in dieser Debatte von Ihnen davon nichts gehört.
Sie haben jetzt gesagt: Warum über die Vergangenheit streiten? Es ist verständlich, daß Sie am liebsten zur Tagesordnung übergehen möchten. Es geht nicht um Nachkarten, es geht auch nicht um sozialdemokratische Vergangenheitsbewältigung, Herr Kollege Vogel, sondern es geht um das richtige Verständnis des Weges, der zu diesem Vertrag geführt hat. Letztlich geht es um die Zukunft. Denn nur dann, wenn wir den Weg richtig verstehen, der diesen Vertrag ermöglicht hat, werden wir auch für die Zukunft die richtigen Entscheidungen treffen können.
Es ist doch gerade für die künftigen, noch wesentlich schwierigeren Abrüstungsverhandlungen wichtig, daß Sie sich klar darüber werden, daß Erfolge in der Abrüstungspolitik eben nur zu erreichen sind, wenn
man zu beiden Teilen der NATO-Politik im HarmelBericht steht, nämlich nicht nur zur Gesprächsbereitschaft, sondern auch zur Grundlage aller Politik, zu den Verteidigungsanstrengungen innerhalb des Bündnisses.
Deswegen wäre es fatal, Herr Dr. Vogel, wenn Sie jetzt den Eindruck zu erwecken versuchten, als hätten wir dieses Abrüstungsergebnis vor allem, ja nur durch den Wechsel in der sowjetischen Führung erreicht.
Gorbatschow soll bei Ihnen alles erklären.
Das wäre die falsche Lehre aus den letzten Jahren. Denn dieses Abrüstungsergebnis ist kein Zufall, sondern es ist hart und mühsam erarbeitet worden. Es handelt sich weder um ein Geschenk Gorbatschows noch um ein Wunder.
Im übrigen, wenn Sie jetzt auch den amerikanischen Präsidenten loben: Er hat seine Politik nicht geändert. Er war von Anfang an bereit, ein solches Abkommen zu vereinbaren, Herr Dr. Vogel.
Herr Abgeordneter Rühe, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Das einzige Neue ist, daß Sie in diesem Fall zugeben, daß Ihre Einschätzung des amerikanischen Präsidenten in der Vergangenheit falsch gewesen ist, Herr Dr. Vogel.
Herr Abgeordneter Rühe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Scheer?
Bitte.
Bitte sehr, Herr Kollege Scheer.
Herr Kollege Rühe, wollen Sie bestreiten, daß Sie im Mai durch westliche Hauptstädte gereist sind, um dort massiv gegen die doppelte Null-Lösung Stellung nehmen?
Herr Kollege Scheer, wenn Sie aufgepaßt hätten, hätten Sie gemerkt, däß ich mich dazu schon geäußert und deutlich gemacht habe, daß es unser Anliegen war, die Kurzstreckensysteme unterhalb der künstlichen Grenze von 500 km einzubeziehen. Ich glaube, das war ein berechtigtes deutsches Anliegen.
Wer aber das Fundament dieses Abrüstungserfolgs verleugnet, nämlich westliche Standfestigkeit und Verhandlungsbereitschaft, der versucht nicht nur, sein eigenes Versagen in der Vergangenheit zu überdecken, sondern, Herr Dr. Vogel — und deswegen müssen wir darüber sprechen — , Sie bereiten schon die Irrtümer von morgen vor, wenn Sie nicht verste-
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hen, welches die notwendigen Schritte auf diesem Weg zu dem Abrüstungserfolg von Washington gewesen sind.
Echte Einsicht und echte Gemeinsamkeiten werden von niemandem von uns zurückgewiesen werden. Aber wir sind auch nicht zu bloßen Scheingemeinsamkeiten in der Stunde des Erfolgs bereit.
Wenn Sie jetzt wieder zu mehr Gemeinsamkeit in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zurückfinden wollen, dann werden wir das begrüßen. Aber Sie werden dafür nicht nur durch Ihre Worte, sondern vor allem durch neue Taten klare Antworten geben müssen.
Ich will einige Fragen stellen, Herr Dr. Vogel. Stehen Sie wieder zu beiden Teilen des Harmel-Berichts, nicht nur zu Gesprächen, sondern auch zu Verteidigungsanstrengungen?
Wieweit sind Sie bereit, wieder die Lasten der notwendigen Verteidigungsanstrengungen unseres Landes mitzutragen? Wie stehen Sie zur nuklearen Abschreckung? Sie haben heute wieder eine nebulose Formulierung verwendet.
Wie stehen Sie zum Beispiel zu dem, was Georg Leber, der große Verdienste um die Bundeswehr und die Sicherheit dieses Landes hat,
vor wenigen Tagen in Hamburg bei der Verleihung der Freiherr-vom-Stein-Medaille gesagt hat:
Solange wir Menschen uns in unserem Verhältnis zur Gewalt nicht geändert haben, heißt die Alternative zu der Angst vor Atomwaffen nicht Frieden ohne Angst, sondern vermutlich wieder Krieg ohne Atomwaffen. ... Wenn diese verdammungswürdigen Atomwaffen alle wirklich weggetan würden, dann würden wohl viele angesichts der Erkenntnis ratlos werden, daß es auch nicht annähernd einen Ersatz für sie gibt, der uns die Gewalt vom Halse hält.
Wie stehen Sie zu dieser Aussage von Georg Leber, Herr Vogel? Die Antwort darauf ist ein wirkliches Indiz für die Chancen zu Gemeinsamkeit. Sind Sie bereit, einen überzeugenden Beitrag zu leisten, um die Notwendigkeit atomarer Abschreckung und die Notwendigkeit ausreichender konventioneller Verteidigungsfähigkeit für die Öffentlichkeit nachvollziehbar und damit akzeptabel zu halten? Teilen Sie unsere Auffassung, daß zur Friedenssicherung auf absehbare Zeit eine glaubwürdige nukleare Abschreckung, allerdings begrenzt auf das qualitative und quantitative Minimum, auch von Europa und für Europa notwendig sein wird? Oder gehen Sie weiter auf Ihrem Weg zu einer atomwaffenfreien Zone, wie es Ihr heutiger Antrag in diesem Hause wieder zeigt, auf Ihrem Weg in Richtung einer Denuklearisierung in Europa?
— Wenn es Ihnen mit der Gemeinsamkeit ernst ist, dann sollten Sie diesen Fragen zuhören und darauf präzise antworten: hier durch Worte und in den nächsten Monaten durch Taten draußen im Lande, Herr Dr. Vogel.
Deswegen werden Sie mich auch nicht davon abhalten können, Ihnen noch eine Frage zu stellen:
Werden Sie künftig westliche Verhandlungspositionen mittragen, z. B. bei den Chemiewaffen und den Nuklearwaffen, oder — und das ist eine Alternative — erarbeiten Sie zusammen mit der SED weiterhin Sonderpositionen, die vom Bündnis nicht mitgetragen werden?
— Herr Dr. Vogel, entweder wollen Sie Gemeinsamkeit mit uns oder mit der SED.
Die Positionen, die Sie in der Sicherheitspolitik mit der SED vereinbart haben, sind Positionen, bei denen es nicht nur keine Gemeinsamkeiten mit uns, sondern auch keine Gemeinsamkeit mit auch nur einem einzigen Land im westlichen Bündnis gibt.
Deswegen können Sie sich um die Beantwortung dieser Fragen nicht herumdrücken.
Nun, meine Damen und Herren, liebe Kollegen, ich glaube, es ist wichtig, daß wir an dieser Stelle, wo der Washingtoner Gipfel scheinbar ein Raketengipfel ist, gerade hier von Deutschland aus mit aller Klarheit deutlich machen, daß wir ein zu verengtes Vorstellungsvermögen von Sicherheit hätten,
wenn wir nur über Raketen, nur über Waffen sprechen
würden. Wer Spannungen abbauen will, muß tiefge-
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hendes Vertrauen zwischen den Menschen schaffen.
Da ist es wichtig, wenn gestandene Generäle auf dem Manöverfeld auf Grund der Vereinbarung jetzt mehr Vertrauen haben, daß die Zahlen bei den Manövern stimmen, daß man sich da nicht beschummelt. Aber viel wichtiger ist es, wenn der Austausch zwischen jungen Leuten, Schülern, Studenten, Praktikanten, nicht nur von West nach Ost, sondern auch von Ost nach West erfolgt.
Das schafft das Vertrauen, das wir alle brauchen.
Offenheit, Freizügigkeit, Einhaltung der Menschenrechte — das ist keine Girlande, das ist kein aufgepfropftes Thema, sondern das ist der Kern der Sicherheitsdiskussion. Denn ohne tieferes Vertrauen ist das nicht möglich. Deswegen müssen weitere Fortschritte in diese Richtung gemacht werden. Ich würde mir wünschen, daß der Gipfel von Washington nicht nur ein Gipfel der Raketen ist, sondern auf ihm auch über Stipendien gesprochen wird. Ich frage noch einmal: Warum bieten wir Herrn Gorbatschow nicht an, einige tausend junge russische Studenten ins westliche Ausland zu schicken? Da können sie etwas lernen, und das schafft wirklich Vertrauen. Warum ist es immer noch unmöglich, das sowjetische Schulklassen hierherkommen, in unseren Familien leben können? Warum wird ihnen das von den sowjetischen Führern untersagt?
So schafft man das Vertrauen, das die Grundlage dafür ist, daß dann Abrüstung auch wirklich tiefgehend und berechenbar weiter betrieben werden kann.
Menschliche Erleichterungen, Menschenrechte sind wichtig, und darüber müssen wir mit den Sowjets sprechen. Ich hoffe, daß auch das auf dem Gipfel geschieht, auf dem über die Ausreise von Juden, auch von Deutschen, aus der Sowjetunion gesprochen werden soll. Es ist erfreulich, wenn die Zahlen angestiegen sind. Aber im Grunde genommen ist es willkürlich, in dem Fall positiv.
Wer über Menschenrechte spricht — und Herr Gorbatschow tut das —, wer für sich in Anspruch nimmt, eine Konferenz über Menschenrechte in Moskau veranstalten zu wollen, muß wissen, daß man Menschenrechte nicht zuteilen kann, sondern das sind Rechte, die auch rechtlich, verfassungsrechtlich fixiert werden müssen. Das sind keine Rechte, die der Staat seinen Bürgern zuteilen kann: mal mehr, mal weniger. Darüber sollte der Westen im Zusammenhang mit der Menschenrechtskonferenz in Moskau reden.
Offenheit, Öffentlichkeit bei dieser Veranstaltung muß gewährleistet werden. Und natürlich müssen wir erwarten, daß die deutlichen Fortschritte, die z. B. in Bern vereinbart waren, bestätigt werden, daß man darüber hinausgeht, konkrete Aufträge für weitere
Verbesserungen im humanitären Bereich vergibt. Dann kann man über eine solche Menschenrechtskonferenz durchaus sprechen.
Was wir brauchen — ich denke, da gibt es Übereinstimmung — , ist eine neue Dimension der Vertrauensbildung. Das geht nicht allein durch den Abbau von Waffen. Der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow hat im September in einem Prawda-Artikel erklärt, daß die Welt nicht sicher sein könne, solange es Verletzungen der Menschenrechte gebe. Ich teile diese Auffassung von Generalsekretär Gorbatschow ausdrücklich. Wir sollten versuchen, diese Maxime in die Wirklichkeit umzusetzen.
Wie ein Land Menschenrechte berücksichtigt, wie ein Land, etwa auch die Sowjetunion, mit seinen eigenen Bürgern umgeht, das sagt sehr viel über die Friedfertigkeit dieses Landes. Hören wir auf, die Friedfertigkeit eines Landes nur quantitativ, an der Zahl der Panzer, über die es verfügt, zu messen! Wie friedfertig, wie wenig aggressiv ein Land ist, kann man sehr gut daran erkennen, wie es mit seinen eigenen Leuten umgeht, wie Menschenrechte in diesem Land gesichert und garantiert sind.
Sie wissen, daß in Wien über dieses Thema gesprochen wird. Leider gibt es dort im Augenblick noch eine Stagnation. Wer dort hingeht und Gespräche führt, der spürt den Unterschied zwischen den Reden über Glasnost und Perestroika in Moskau und dem, was auf dem Verhandlungstisch in Wien bisher möglich gewesen ist, gerade auch im Korb III. Ich denke, es kann nicht angehen, daß in Moskau offener gesprochen wird, mehr Erwartungen geweckt werden, als dann die sowjetischen Verhandlungsführer bereit sind in Wien auf den Verhandlungstisch zu legen. Nein, die Glasnost-Reden von Moskau müssen sich am Verhandlungstisch in Wien bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa niederschlagen.
Das Abrüstungsabkommen von Washington kann eine Trendwende zu einem Prozeß einer umfassenden Abrüstung für mehr Sicherheit in Ost und West sein, wenn diesem ersten Schritt weitere Schritte folgen, wenn dieses Abkommen also nicht isoliert stehenbleibt. Es muß deshalb darum gehen, daß dieser Vertrag durch eine Vereinbarung über die Reduzierung der strategischen Systeme nach oben hin abgesichert wird. Es muß uns darum gehen, möglichst schon im nächsten Jahr endlich die weltweite Beseitigung aller Chemiewaffen zu vereinbaren. Weiterhin muß es darum gehen, daß endlich die eigentliche Bedrohung für uns in Europa, die Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts auf Grund seiner konventionellen Waffen abgebaut wird. Auch müssen Reduzierungen bei den Kurzstreckensystemen der Reichweiten bis 500 Kilometer möglich sein. Ich bin dankbar, daß der Bundeskanzler diese Position in seiner Regierungserklärung ausdrücklich noch einmal angesprochen hat,
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denn wir können in diesem Zusammenhang keinen künstlichen Halt bei einer künstlichen Grenze einlegen.
Grundlage für die weiteren Abrüstungsschritte muß ein geschlossenes, in sich flexibles und politisch überzeugendes westliches Gesamtkonzept sein. Dabei wird es darauf ankommen, die Notwendigkeit von nuklearer Abschreckung und ausreichender konventioneller Verteidigungsfähigkeit für die Öffentlichkeit nachvollziehbar und damit auch akzeptabel zu halten. Das bedeutet, daß unser politisches Ziel nachvollziehbar sein muß, wie das westliche Bündnis künftig jede Art von Krieg, konventionell wie nuklear, verhüten und dabei zugleich — wie es der Bundeskanzler am 4. Juni dieses Jahres gesagt hat — die Rolle der Nuklearwaffen auf das qualitativ und quantitativ erforderlich absolute Mindestmaß beschränken und die konventionellen Potentiale in Europa auf ein stabiles Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau begrenzen will. Ich denke, daß diese Aussage des Bundeskanzlers über das absolute Mindestmaß von nuklearen Waffen in Europa noch zu wenig beachtet worden ist. Sie sollte eine wichtige Grundlage für die Erarbeitung des Gesamtkonzepts innerhalb des westlichen Bündnisses sein.
Wie könnte dieses Gesamtkonzept aussehen? Ich möchte dazu einen konkreten Diskussionsbeitrag leisten.
Erstens. Zu diesem Konzept muß der Gesamtzusammenhang der Erfordernisse der westlichen Sicherheit, Strategie und Rüstungskontrolle und deren Rückwirkung auf das verbleibende konventionelle und nukleare Dispositiv gewahrt werden.
Zweitens. In der Geschichte der Ost-West-Rüstungskontrolle hat das Schwergewicht bisher zu sehr auf der nuklearen Rüstungsbegrenzung gelegen. Alle Verträge, die es gibt, sind nukleare Verträge. Doch gerade die bestehende Invasionsfähigkeit des Warschauer Paktes stellt für die Westeuropäer, insbesondere für unser Land, die eigentliche Bedrohung dar. Deshalb liegt ein besonderes deutsches Interesse im Abbau dieser Invasionsfähigkeit.
Drittens. Das kann allerdings nicht bedeuten, daß die Rüstungsbegrenzung bei den Atomwaffen unter 500 Kilometer Reichweite ans Ende des europäischen Abrüstungsprozesses geschoben und der augenblickliche Waffenbestand eingefroren oder gar erhöht werden kann.
Dies ist ebenso unakzeptabel, Herr Kollege Voigt, wie es Ihre Bestrebungen für eine Denuklearisierung Europas sind.
Viertens. Ziel von Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle muß es sein, die östliche Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zur großangelegten Offensive abzubauen, bestehende Ungleichgewichte zu beseitigen und konventionelle Stabilität in Europa zwischen Ural und Atlantik herzustellen. Hier sollten zunächst beim kampfentscheidenden Gerät
wie Panzern und Artillerie gleiche Obergrenzen auf niedrigerem Niveau hergestellt werden. Die NATO wird dafür zu eigenen Reduzierungen bereit sein; doch wird der Warschauer Pakt während dieses Reduzierungsprozesses deutlich mehr, also asymmetrisch, abrüsten müssen.
Fünftens. Die Herstellung konventioneller Stabilität sollte über die zahlenmäßigen Reduzierungen hinaus auch Maßnahmen vorsehen, die die für die Invasionsfähigkeit besonders kennzeichnenden Eigenschaften wie die Dislozierung der Streitkräfte, ihre Einsatzbereitschaft und ihre Verstärkungsmöglichkeiten begrenzen.
Sechstens. Endlose Zahlendiskussionen über den Umfang der jeweiligen Potentiale, wie wir sie über 14 Jahre hinweg bei den Wiener MBFR-Verhandlungen erlebt haben, müssen vermieden werden.
Deshalb sollten nicht vor Beginn des Reduzierungsprozesses die Ausgangsdaten geklärt werden; vielmehr sollten absolute Zahlen für die jeweiligen Höchststärken vereinbart werden, auf die dann beide Seiten innerhalb einer festgelegten Frist hinunterzureduzieren haben. Das Ergebnis dieser Reduzierungen und die weitere Einhaltung dieser Höchststärken müssen dann allerdings sorgfältig überprüft werden.
— Ich sage viel Richtiges; aus unserer Sicht heraus ist das sogar fast alles richtig, Herr Kollege Voigt.
Ob die Sowjetunion zur Beseitigung ihrer konventionellen Überlegenheit bereit ist, das wird nach unserer Auffassung der eigentliche Test dafür sein, ob es in der sowjetischen Außenpolitik nicht nur ein neues Denken, sondern auch ein neues Handeln gibt.
Lassen Sie mich das einmal mit aller Klarheit sagen: Herr Gorbatschow steht vor der Frage, ob er in Zukunft einmal sein Land modernisieren will, nachdem alle seine Vorgänger und auch er selbst zunächst immer nur die Waffen modernisiert haben.
Das ist die entscheidende Frage, vor der die Sowjetunion steht. In dem Moment, wo sich der sowjetische Generalsekretär im Sinne seines Volkes entscheidet, alle Mittel darauf zu konzentrieren, dieses Land zu modernisieren, bekommen wir auch Luft zum Atmen für Abrüstungsverhandlungen im konventionellen Bereich in Wien.
Siebtens. Mit der Unterzeichnung des Mittelstrekkenabkommens in Washington ist eine neue Situation gegeben. Selbstverständlich wird die NATO-Strategie der flexible response dadurch weder wirkungslos noch überholt sein. Doch sollten auch die politischpsychologischen Auswirkungen nicht unterschätzt werden, die die verbleibende Struktur der westlichen Nuklearwaffen in Europa hat. Es kommt nicht von ungefähr, daß die nukleare Abschreckung nicht nur wie gewohnt von links her kritisert wird, sondern daß
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inzwischen wegen dieser Struktur — nicht im Grundsatz, sondern wegen dieser Struktur — auch Kritik aus dem Bereich der grundsätzlichen Befürworter der nuklearen Abschreckung kommt. Es stellt sich also die Frage nach der langfristigen Glaubwürdigkeit des künftigen Abschreckungspotentials der NATO und damit auch die Frage, wie weit in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland die Zustimmung zur westlichen Abschreckungsstrategie langfristig gewahrt werden kann.
Achtens. Wegen der jetzt neu gegebenen Situation kann es jetzt nicht einfach zur Umsetzung der 1983 in Montebello ins Auge gefaßten Maßnahmen kommen. Deswegen steht die Frage der Modernisierung des in Europa verbleibenden Nuklearwaffenpotentials der NATO nicht auf der Tagesordnung der Politik.
Neuntens. Vielmehr sollte jetzt wegen der neu gegebenen Situation in dem von der NATO zu erarbeitenden Gesamtkonzept definiert werden, durch welche Maßnahmen und Schritte unter Berücksichtigung des konventionellen Kräfteverhältnisses zwischen Ost und West das in Europa verbleibende Nuklearwaffenpotential neuformiert und zugleich weiter reduziert werden kann.
Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Das Ziel müßte entsprechend dem, was der Bundeskanzler im Juni formuliert hat, lauten: Deutlich weniger, aber politisch glaubwürdiger. Im Sinne der Glaubwürdigkeit der Abschreckung sollten drastische Reduzierungen insbesondere bei den kürzesten Reichweiten, also der nuklearen Artillerie, erfolgen.
Dafür muß geprüft werden, ob Reduzierungen durch einseitige Maßnahmen oder durch bilaterale Verhandlungen oder auch durch eine Mischung von beiden Möglichkeiten erfolgen sollten. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Bundesrepublik Deutschland bei der Erarbeitung dieses Gesamtkonzepts, zu dem sich alle bekennen, das aber bisher inhaltlich noch wenig ausgefüllt ist, eine aktive und führende Rolle zu spielen hat, weil wir auf Grund unserer besonderen Lage den schwierigsten Part haben.
Deswegen, Herr Dr. Vogel, und um den Kreis zu schließen, möchte ich auch noch einmal an Sie appellieren, hier wirklich die Chance zu echten Gemeinsamkeiten zu nutzen und es nicht — wie in der Frage der Nominierung des NATO-Generalsekretärs — an Solidarität missen zu lassen. Das hat uns alle sehr bestürzt.
Wissen Sie, wenn so etwas in Frankreich passiert wäre und ein Gaullist — das ist ein schönes gegriffenes Beispiel — zum NATO-Generalsekretär vorgeschlagen worden wäre — das kann man sich ja einmal vorstellen — , dann bin ich sicher, daß auch die kommunistische Partei Frankreichs das mit unterstützt hätte.
— Jetzt sagen Sie, man habe mit Ihnen nicht geredet. Sie kennen doch den Manfred Wörner und seine Fähigkeiten.
Es ist doch unglaublich, daß, nachdem seine Fähigkeiten in allen übrigen NATO-Ländern geschätzt werden, von Ihnen der Versuch gemacht wird, dies international zu hintertreiben, Herr Dr. Vogel.
Prüfen Sie sich, Herr Dr. Vogel, und bitte nicht nur die Gemeinsamkeit des Jubels, wenn Verträge unterzeichnet werden. Nicht nur die Gemeinsamkeit des Feierns, sondern prüfen Sie,
ob Sie wirklich eine Wende gegenüber Ihrem Versagen 1983 einleiten wollen. Für echte Gemeinsamkeit stehen wir immer zur Verfügung,
denn das wird uns allen in der Bundesrepublik Deutschland nutzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mechtersheimer.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Das Washingtoner Abkommen ist ein Erfolg des Abrüstungswillens der Menschen über die Kräfte der Aufrüstung.
Weil aber der Erfolg bekanntlich viele Väter und wohl auch Mütter hat, feiern Nachrüstungsgegner und Nachrüstungsbefürworter das Washingtoner Abkommen als ihren Sieg. Allerdings fällt auf, daß in beiden Lagern eine merkwürdige Tendenz besteht, dieses Abkommen herunterzuspielen. Man spricht von nur
3 %, die abgerüstet werden sollen. Das ist eine wenig hilfreiche Interpretation dieses Abkommens,
denn weder die Friedensbewegung noch die Befürworter der Nachrüstung haben sich jemals über 3 oder
4 % gestritten. Von beiden Seiten wurde immer darauf hingewiesen, daß das eine Frage der Qualität sei.
Die Kriseninstabilität dieser Waffen — natürlich ein Qualitätsbegriff — und auf der anderen Seite die permanenten Hinweise darauf, daß die Abschreckung glaubwürdig bleiben müsse: Das war die Begründung. Dann kann man nicht sagen: Es sind nur 3 % dieser Waffen abgerüstet worden.
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Dr. Mechtersheimer
Alleine die Vereinbarungen zur Verifikation sind die größten vertrauensbildenden Maßnahmen in der Ost-West-Geschichte.
Schon allein deshalb ist es richtig, dieses Abkommen hoch einzuschätzen.
Natürlich werden wir nicht hier, Herr Bundeskanzler und die anderen Vertreter der Regierungskoalition in der Regierung, zu entscheiden haben, wer nun wirklich Anteil am Zustandekommen dieses Vertrages hat und wie groß dieser Anteil ist. Aber mit Sicherheit werden sich die Historiker sehr wundern, wenn sie z. B. einmal Ihren Beitrag, Herr Genscher, in der letzten Ausgabe des „Stern" lesen. Dort steht der unvorstellbare Satz — ich zitiere — :
Die Behauptung, die Nachrüstung sei zur Stärkung des Abschreckungsverbundes ohnehin notwendig gewesen, die sowjetische SS-20-Rüstung habe nur einen zusätzlichen Grund geliefert, ist eine von den Gegnern der doppelten Null-Lösung nachgeschobene Erfindung.
Herr Genscher, das tut weh. Ich kann zu Ihren Gunsten nur annehmen, daß Sie das, was Sie geschrieben haben,
nie lesen konnten; denn in Papieren, die Ihr Haus zu verantworten hat — „Argumente zum Doppelbeschluß des Nordatlantischen Bündnisses" — , finden Sie an mindestens vier Stellen Beschreibungen dieses Abschreckungsverbundes und die Begründung, die nämlich lautet: Wir brauchen den Abschreckungsverbund, und wir brauchen für diesen Abschreckungsverbund die Stationierung.
Dazu nur ein Satz:
Dieser Nachrüstungsbeschluß bedeutet für die Allianz politisch einen weiteren sichtbaren Beweis für die enge Koppelung gerade der USA an die Verteidigung Europas.
Was ist das anderes als Abschreckungsverbund? Ich möchte also wirklich darum bitten, daß solche Entstellungen wie die in diesem Artikel von Ihnen hier korrigiert werden.
1986 fand die „Frankfurter Allgemeine Zeitung"
— wobei man ja „FAZ" zweckmäßigerweise mit „Frankfurter Aufrüstungszeitung" übersetzen
sollte —
es geboten, ehrlich zu sein. Man ahnte nicht, was da auf diese Position zukam.
— Nein, nein, da steht: Das Angebot einer Null-Lösung war für die Öffentlichkeit gedacht und im Vertrauen darauf ausgesprochen, daß Moskau nicht bereit wäre, seine Mittelstreckenraketen total zu beseitigen.
Vergessen Sie das doch bitte nicht!
Die Historiker werden hoffentlich Gelegenheit haben, auch in die Kabinettsprotokolle Einblick zu nehmen. Da hat beispielsweise der damalige Generalinspekteur Jürgen Brandt am 31. März 1982 gesagt: Es geht nicht darum, dem Waffensystem SS-20 entsprechende Waffensysteme des Westens entgegenzusetzen. Er hat das dann noch ausführlich begründet. Das alles sind Vorgänge, die in der Öffentlichkeit noch nicht klar sind, aber ich bin sicher, daß das in aller Deutlichkeit herausgestellt werden wird.
Etwas verwundert bin ich darüber, daß Sie, Herr Bundeskanzler, zumindest am Anfang Ihrer Rede in einer sehr unfriedlichen Form über einen Abrüstungsvertrag gesprochen haben. Da stimmt irgend etwas nicht zusammen. Wer wirklich — auch inhaltlich und emotional — Abrüstung will, kann eigentlich nicht so um sich hauen. Deswegen möchte ich auch, obwohl das hier so ganz unüblich ist, durchaus einmal von Fehleinschätzungen unserer Seite sprechen. Das paßt vielleicht nicht in das Haus, aber ich möchte es trotzdem einmal machen.
Zum einen haben wir nicht damit gerechnet, daß das Wettrüsten so schnell an seine wirtschaftlichen Grenzen stößt. Dadurch wurde eine tiefgreifende Neudefinition der Nuklearbeziehungen zwischen den beiden Supermächten in Gang gesetzt. Die Mittelstreckenraketen sind offenkundig auch für die Supermächte selbst sehr gefährlich geworden.
Es war auch nicht zu erwarten, daß die Vorherrschaft der USA entgegen der bisherigen Praxis nicht dazu benutzt wurde, die Bundesrepublik zu Aufrüstung zu drängen, sondern dazu, sie zu Abrüstung zu veranlassen. Auch damit hatten wir nicht gerechnet.
Es gibt eine zweite Fehleinschätzung unsererseits, die vielleicht gewichtiger ist: Wir haben den westlichen Demokratien mehr Abrüstungsbereitschaft abverlangt als einem kommunistischen Staat.
Das war ein Irrtum. Niemand konnte erwarten, daß die Sowjetunion einmal das Doppelte an Trägersystemen und — man höre — das Fünffache an Sprengköpfen in einen Vertrag einbringen wird. Als Gorbatschow tat, was unter Breschnew nicht möglich gewesen wäre, zeigte sich aber erst wirklich, wer Abrüstung will und wer nicht.
Das war die Stunde der Wahrheit. Da hat sich nämlich gezeigt, daß wir befürchtet hatten, daß die Sowjetunion die Null-Lösung nicht wird annehmen können. Die Bundesregierung und die NATO hingegen haben erwartet und gehofft, daß sie es nicht tun wird,
und auf der Basis dieser Erwartung haben sie das Wettrüsten fortgesetzt. Wie ist es sonst zu erklären, daß Franz Josef Strauß als Anhänger des Vereins zur Förderung der klaren Sprache damals gesagt hat, wenn die Sowjets jemals diese Null-Lösung annehmen, werde er mit der Kerze in der Hand von Schongau nach Altötting pilgern? Das sagt man doch nur,
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Dr. Mechtersheimer
wenn man ganz sicher ist, daß die Sowjetunion einem solchen Abkommen nie zustimmen wird.
Es wäre unvorstellbar, mit einem Herrn Breschnew ein solches Abkommen zu machen. Das ist versucht worden; es ist gescheitert. Deswegen ist der Schlüssel für die Veränderung nicht im Nachrüstungsbeschluß, sondern in den Änderungen in Moskau zu sehen. Alles andere mag irgendwo eine Rolle gespielt haben, aber der entscheidende Grund liegt nicht in der Denkweise, die Sie hier als Grund anführen. Die ist das Gegenteil dessen, was Gorbatschow praktiziert hat.
Die Opposition und die Friedensbewegung haben, seit sichtbar wurde, daß es eine einfache und eine doppelte Null-Lösung geben könnte, dies nachhaltig, voll und ohne Vorbehalt begrüßt.
Dagegen haben Sie mit dem Boykott begonnen. Ich muß hier noch einmal Herrn Todenhöfer zitieren:
Ich kann und werde einer Null-Lösung bei der Mittelstreckenraketenfrage nicht zustimmen.
Herr Todenhöfer hat eine Konsequenz gezogen, die Respekt abnötigt. Herr Wörner hat am 30. Juni 1987 gesagt:
Zur flexiblen Reaktion brauchen wir auch solche taktischen Nuklearwaffen, die das Territorium der Sowjetunion erreichen können.
Herr Wörner, brauchen Sie nun die Waffen, oder brauchen Sie sie nicht? Das muß einmal gesagt werden. Ich kann verstehen, daß Zweifel laut werden, ob bei einer derartigen Wetterwendischkeit der Position die richtigen Voraussetzungen für ein so wichtiges Amt gegeben sind, das Sie anstreben. Deswegen verstehe ich die Diskussion auch über Ihre Person.
Weshalb haben Sie Bauchschmerzen gegenüber einem Abkommen, das auch rein rechnerisch ein ausgezeichnetes Geschäft ist? Die Gründe liegen wohl im Politischen. Dieses Abkommen öffnet die Türen für eine neue politische Ordnung in Mitteleuropa.
Nach dem Abzug der mehr als 4 000 Atomwaffen wird Europa nicht mehr wie bisher sein. Diese Raketen sind wie Nägel, mit denen man eine antiquierte politische Struktur in Europa vor dem Verfall geschützt hat. Werden diese Nägel herausgezogen, dann wird sich zeigen, daß das Bewußtsein der Menschen mit der heutigen militärischen Blockkonstellation immer weniger übereinstimmt.
Die militärischen Folgen sind ähnlich weitreichend. Denn nach dem Abzug von Pershing II, Cruise Missiles und Pershing I ändern die verbleibenden Nuklearsprengköpfe auf dem Territorium der Bundesrepublik natürlich ihre Qualität. Sie sind dann nicht mehr Bestand eines Abschreckungspakets, sondern sind, losgelöst von ihrer Klammer zu dem strategischen Potential der USA, nichts anderes als Gefechtsfeldwaffen. Dann können Sie in amerikanischen Vorschriften,
in Air/Land-Battle und anderswo nachlesen, was mit denen geschehen soll. Sie sollen im Sinne herkömmlicher Kriegführung eingesetzt werden. Zum Glück haben auch Unionspolitiker begriffen, daß das mit Sicherheitspolitik überhaupt nichts mehr zu tun hat. Nur sehe ich im Augenblick gar keine Chance, in der NATO für diese dritte Null-Lösung Unterstützung zu finden. Nur — das dürfen wir von seiten der GRÜNEN eindeutig sagen — : Wenn Sie hier wirklich Position gegen die NATO beziehen sollten, dann können Sie mit einer Allparteienunterstützung aus diesem Parlament rechnen.
Nur habe ich meine Zweifel, ob Sie das machen werden.
Die Regierung brüstet sich heute mit einem Abkommen, das sie nicht verhindern konnte. Das ist die Wirklichkeit.
Wir von den GRÜNEN können damit sehr gut leben, weil die militärischen und politischen Folgen dieses Doppel-Null-Abkommens unseren Zielen der Blocküberwindung und Denuklearisierung sehr wohl dienen. Ihren Zielen, sofern sie klar bekannt sind, dienen sie sicherlich nicht. Sie bekommen nämlich jetzt die Quittung für Ihre maßlosen Bedrohungskampagnen, die Sie gemacht haben, um die Nachrüstung durchzupeitschen. Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie nicht übersehen sollten.
Die Bevölkerung glaubt nämlich Ihrer Bedrohungspropaganda nicht mehr. Sie glaubt ihr immer weniger. Denn die Sowjetunion, die die Regeln des Wettrüstens über Bord wirft, eignet sich nicht zur Kultivierung von Feindbildern. Das hat weitreichende innenpolitisch-psychologische Konsequenzen. Wenn Sie die jüngste Umfrage über die Einstellung der 14- bis 18jährigen zur Bundeswehr gehört haben, werden Sie hoffentlich nachdenklich geworden sein, 41 % dieser jungen Leute beschreiben die Bundeswehr als „nicht so wichtig, überflüssig oder schädlich".
Das waren 1980 noch 24 %. Diese Veränderungen müssen Sie erkennen, wenn Sie auch im eigenen Interesse realistische Politik machen wollen. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer erhöht sich seit mehreren Jahren jährlich um rund 10 000. Es sieht so aus, als wenn sich dieser Prozeß fortsetzen würde.
Insgesamt sind die Bedingungen für eine Fortsetzung des Entnuklearisierungsprozesses in Europa günstig, und zwar aus ganz klaren Gründen.
Erstens wird die Sowjetunion Vorschläge machen, die wiederum so gut sein werden, daß Sie nicht in der Lage sind, nein zu sagen. Das Merkwürdige ist, daß hier Überlegenheit, die als Bedrohung dargestellt wird, plötzlich zum Schlüssel für erfolgreiche Abrüstungsprozesse wird.
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Dr. Mechtersheimer
Der zweite Grund. Keine Regierung in Westeuropa — da kann ich aufgreifen, was die FAZ realistischerweise feststellt — kann die Kraft aufbringen, eine erneute Nachrüstung auf ihrem Territorium innenpolitisch durchzusetzen.
Das ist eine große Leistung der Friedensbewegung für die Zukunft, die oft nicht begriffen wird, übrigens auch in der Friedensbewegung selbst nicht.
Sie werden feststellen, das selbst bei einem Ungleichgewicht, Herr Rühe, von 88 : 1 368 bei den Kurzstreckenraketen keine Nachrüstung nötig ist, um mit der Sowjetunion Abrüstungsabkommen anzugehen. Die 10 Milliarden Dollar sind nicht zu rechtfertigen, die man ausgegeben hat für diese sogenannte Nachrüstung im Mittelstreckenbereich. Dieses Gesetz wird auch in der konventionellen Rüstung gelten. Die Sowjetunion ist bereit, ihre Überlegenheiten zum Instrument von Abrüstungschancen zu machen, und das ist eine historisch neue Situation, die viele erst noch begreifen müssen.
Eine Regierung, die auch nur den Funken eines Abrüstungswillens hätte, müßte in der konkreten Situation den Verteidigungshaushalt kürzen und den Streitkräfteumfang reduzieren.
Was Herr Carlucci machen kann, warum kann das nicht auch Herr Wörner oder sein Nachfolger?
— Ja, bitte. Fortschritte, Veränderungen begeistern mich immer, weil das ein Ausdruck von Positivem ist, das ich immer unterstütze. Weitere Fortschritte wird es allerdings in diesem Land nach der bisherigen Erfahrung immer nur in Verbindung mit Landtagswahlen geben. Erst wenn die CDU vor der Alternative steht „Abrüstung oder Machtverlust" — Herr Stoltenberg, das ist vielleicht auch für Schleswig-Holstein von Interesse —, erst dann wird sie sich in Richtung Abrüstung bewegen. Die Wähler müssen dieser Regierung die Waffen aus den Händen winden, sonst macht sie keine Abrüstungspolitik.
Lassen Sie mich zum Schluß daran erinnern, daß wir heute den Tag der Menschenrechte feiern. Da gibt es einen engen Zusammenhang, den man sehr wohl auch anders darstellen kann, als Sie, Herr Rühe, das getan haben. Im Schatten von Kriegen ist immer Völkermord betrieben worden, und im Schatten von Rüstung werden die Menschenrechte besonders stark verletzt. Deshalb zeigt sich die Ernsthaftigkeit Ihrer Bekenntnisse zu den Menschenrechten auch daran, ob Sie wirklich Abrüstungspolitik betreiben oder nicht. Wer also von Menschenrechtsverletzungen spricht, der sollte aktive Abrüstungspolitik betreiben, dann ist er glaubwürdig. Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Der Begriff „historischer Augenblick" wird oft verwendet, selten hat er jedoch geschichtlichen Bestand. Die Unterzeichnung des Abkommens über die Vernichtung der Mittelstreckenraketen durch Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow war aber mit Sicherheit ein solcher historischer Augenblick, der geschichtliche Bedeutung haben wird. Die Bundesrepublik Deutschland hat durch ihren Einsatz und ihre geradlinige Haltung entscheidend dazu beigetragen, daß dieses Ziel erreicht wurde; ich möchte hier ausdrücklich dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister für ihre Aktivität zur Erreichung dieses Ziels danken.
Meine Damen und Herren, die Linie der Freien Demokraten in der Außen- und Sicherheitspolitik hat sich als richtig, als erfolgreich erwiesen, nämlich Aufrechterhaltung einer gesicherten Verteidigungsfähigkeit auf der einen Seite und Wille zum Dialog, zur Kooperation und zur Abrüstung, wo immer möglich, auf der anderen Seite. Beides gehört zusammen, und dies haben wir ständig zum Leitmotiv unserer Politik gemacht.
Meine Damen und Herren, der Wille zur Kooperation manifestiert sich nun im ersten wirklichen Abrüstungsabkommen, durch das die völlige Vernichtung von Waffensystemen hochmoderner Bauart auf beiden Seiten erfolgen wird. Für uns Deutsche, für die Europäer ist dies von besonderer Bedeutung, da ja diese Waffen in Europa stationiert sind und für uns die größte Bedrohung auf beiden Seiten darstellen.
Die Beseitigung der Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von 500 bis 5 500 km ist nicht nur ein Zeichen guten Willens auf beiden Seiten, sondern vor allen Dingen das Ergebnis einer konsequenten Politik, die mit dem NATO-Doppelbeschluß 1979 begann. Wir, die Freien Demokraten, standen allem Widerstand zum Trotz zum NATO-Doppelbeschluß und haben dafür in der Öffentlichkeit manches auf uns nehmen müssen.
Wenn Sie, Herr Kollege Vogel, heute zu diesen Dingen Stellung nehmen, dann sage ich: Wir — ich sage das selten — können ein wenig stolz sein auf dieses Ergebnis, weil wir von Anbeginn bis zum Schluß den Kurs durchgehalten haben und nicht schwankend geworden sind, wie es in Ihren Reihen geschehen ist.
Meine Damen und Herren, natürlich hat es, als der NATO-Doppelbeschluß geboren wurde, Bedenken, Vorbehalte auf vielen Seiten gegeben. Natürlich ist darüber diskutiert worden. Wenn Sie, Herr Kollege Vogel, davon sprechen, wieso wir auf die Idee kommen, einen Parteitag über Vermummung zu machen, muß ich Sie daran erinnern, daß wir zu einer Zeit über den NATO-Doppelbeschluß Parteitage durchgeführt und die Linie festgelegt haben, mit heftigen Diskussionen, aber mit klaren Entscheidungen, die bis heute ihre Gültigkeit haben, während Sie auf Ihrem Partei-
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Mischnick
tag den Weg vom NATO-Doppelbeschluß weg gegangen sind.
Wenn Sie sagen, wir sollten Parteitage durchführen, um die drängenden politischen Fragen unserer Zeit zu behandeln, so sage ich Ihnen: Unsere Kollegen in Nordrhein-Westfalen haben am vergangenen Wochenende über Strukturmaßnahmen, über Energiepolitik, über Bildungspolitik, sie haben in dem Land über Sachfragen gesprochen, um das es hier in erster Linie geht. Diese Mahnungen an unsere Adresse können Sie also ruhig sein lassen. Wir wissen schon selber, was wir parteipolitisch richtig und notwendig zu tun haben.
Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Scheer?
Bitte schön.
Herr Kollege Mischnick, können Sie sich erinnern, daß wir 1983 u. a. gesagt haben: Wir können der Stationierung nicht zustimmen, weil wir sehen, daß große Teile der Regierungskoalition ausschließlich die Nachrüstung, unabhängig von der Existenz der sowjetischen Mittelstreckenraketen, im Auge haben, d. h. die Nachrüstung aus den Gründen wollten, aus denen sie später gegen die doppelte NullLösung waren?
Verehrter Herr Kollege, wenn Sie diese Entwicklung nicht haben wollten, hätten Sie sich nur 1981/82 in Ihrer Partei konsequent an den NATO-Doppelbeschluß halten müssen, um das dann mit uns gemeinsam weiterzuführen. Daß Sie davon abgewichen sind, war doch einer der Gründe, weshalb eine neue Regierung gebildet werden mußte, weil Sie den Mut verloren hatten, nicht wir.
Leider war der Umweg der Stationierung westlicher Waffen erforderlich, im Gegensatz zu dem, was wir hier wieder von den GRÜNEN gehört haben, um sowohl den Willen der NATO zur Verteidigung glaubwürdig zu vertreten als auch die Solidarität in der Allianz in dieser schwierigen Frage unter Beweis zu stellen. Wichtig ist auch, daß dadurch das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Politik nicht nur erhalten, sondern bestärkt worden ist. Wir haben seit 1979 in allen entscheidenden Debatten deutlich gesagt, daß unser Ziel nicht die Aufrüstung, sondern die NullLösung bei den Mittelstreckenwaffen war. Unsere Bürger sehen nun, daß dies in einem Teilbereich der Rüstung dieser Welt tatsächlich verwirklicht worden ist. Die, die noch vor einigen Jahren glaubten, uns mit Mahnwachen von diesem Weg abbringen zu sollen, sollten heute wenigstens im stillen Kämmerlein einsehen: Nur dieser Weg hat uns zur Entscheidung gebracht und nicht die Irrwege, die sie gepredigt haben.
Der Vertrag über die Vernichtung der Mittelstrekkenwaffen hat neben der Beseitigung dieser Systeme eine noch weit tiefergehende Bedeutung. Er ist
gleichzeitig Signal für das weitere Abrüsten. Sein Erfolg wird hoffentlich dazu beitragen, daß auch für die strategischen Waffensysteme bald die angestrebte 50 %ige Reduktion vereinbart wird. Dieser Vertrag gibt hoffentlich auch ein Signal dafür, daß die Achtung und Vernichtung der chemischen Waffen beschlossen wird und durch geeignete Verifizierungsmaßnahmen überprüfbar wird.
Hier hat man entscheidende Schritte für die Überprüfung getan; wir hoffen, daß das auch im chemischen Bereich möglich sein wird.
Dieser Vertrag soll auch das Signal für eine umfassende Abrüstung vor allem im Bereich der konventionellen Streitkräfte in Europa sein. Dabei gehen wir ohne Illusionen an diese schwierigen Fragen heran; denn wir wissen, daß beim Abbau der konventionellen Streitkräfte noch viele Probleme zu lösen sein werden. Die Beseitigung der Asymmetrie in diesem Bereich ist für uns unabdingbar; denn nur so wird mehr Stabilität in Europa erreicht. Wir sind sehr froh darüber, daß dies im Warschauer Pakt anerkannt worden ist. Es wird jetzt festgestellt werden müssen, ob das, was dort erklärt worden ist, auch am Verhandlungstisch zu einem Ergebnis führt. Das gleiche gilt selbstverständlich auch für die Waffen mit weniger als 500 km Reichweite, insbesondere für das nukleare Potential in Europa.
Der Abschluß des Mittelstreckenraketenvertrages gibt Anlaß zu der Hoffnung, daß dies tatsächlich der Beginn eines Weges in eine von weniger Waffen geprägte Welt sein kann. Über die Maßnahmen zur Abrüstung hinaus gewinnt das Abkommen doch auch an Bedeutung für die generelle Weiterentwicklung der Ost-West-Beziehungen, für den Handel, die Wirtschaft, Umwelt, Kultur; ich will nicht alles aufzählen. Ich bin sicher, auch die Durchsetzung der Menschenrechte wird leichter möglich sein, wenn man über Vereinbarungen der Abrüstung zum Abbau von Mißtrauen und zur Bildung von Vertrauen kommt. Deshalb ist hier dieser enge Zusammenhang.
Die Signalwirkung des INF-Abkommens für den OstWest-Dialog veranlaßt mich an dieser Stelle, an den amerikanischen Senat zu appellieren, dieses Abkommen möglichst bald zu ratifizieren.
Eines hat sich allerdings auch gezeigt, nämlich die Erfahrung, was Einigkeit in der Allianz bedeutet und daß damit auch in politisch schwierigen und anfänglich kaum lösbaren Fragen international ein Ergebnis erzielt werden kann, wenn die Allianz geschlossen auftritt und genau weiß, was sie will, und dies mit Konsequenz gegenüber jedermann vertritt.
Meine Damen und Herren, ein paar Bemerkungen zu den Fragen der gegenwärtigen EG-Politik. In diesem Jahr haben wir den 30. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge begangen. Ohne Zweifel wurden in den drei zurückliegenden Jahrzehnten wesentliche Fortschritte auf dem Weg zu einer europäischen Einigung erreicht. Dennoch ist unbestritten, daß die Gemeinschaft heute vor schwierigen Aufga-
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Mischnick
ben steht. Wenn ich immer wieder höre: „Das Ende der Gemeinschaft steht vor der Tür", dann muß ich aus meiner jahrzehntelangen parlamentarischen Erfahrung sagen: In den letzten 30 Jahren stand ihr Ende eigentlich jedes Jahr vor der Tür. Wir sind erfreulicherweise doch jedes Jahr weitergekommen.
Bei den Problemen handelt es sich vor allem um die Problemkreise des Delors-Pakets, nämlich die Reform der Agrarpolitik, die Reform des Strukturfonds, Haushaltsdisziplin sowie ein neues Finanzierungssystem für die Gemeinschaft. Eine Lösung dieser Probleme ist die Voraussetzung dafür, daß das, was wir uns mit der Verwirklichung der Europäischen Akte als Ziel gesetzt haben, erreicht werden kann.
Eine Lösung der Probleme der Agrarpolitik hat weit über den Landwirtschaftsbereich hinaus Bedeutung.
Über Kohle und Stahl, die natürlich ebenfalls von größter Wichtigkeit sind, wird ja heute und morgen in gesonderten Tagesordnungspunkten gesprochen. Ich will deshalb hier heute morgen nicht dazu Stellung nehmen.
Die Gemeinschaft leidet unter großen Agrarüberschüssen, damit unter überquellenden Lägern und unvertretbaren Haushaltsbelastungen. Dadurch ist eine Verunsicherung der Bevölkerung in den ländlichen Räumen eingetreten. Ausgewogene und flexible Reformen in der Agrarpolitik der Gemeinschaft sind unumgänglich. Die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen dürfen wir allerdings nicht nur unter agrarpolitischen Reformnotwendigkeiten betrachten, sondern wir müssen uns auch die Frage stellen und uns auch der Frage stellen, was der europäischen Landwirtschaft insgesamt und in den jeweiligen Mitgliedsländern bei der gegenwärtigen Einkommenslage und der allgemeinen Beschäftigungssituation überhaupt zugemutet werden kann.
Wir halten an den Vorstellungen des bäuerlichen Familienbetriebs fest. Das ist nicht nur das Erfordernis einer vernünftigen Strukturpolitik, sondern ein Grundelement der wirtschaftlichen und sozialen Struktur des gesamten ländlichen Raumes überhaupt. Den wollen wir erhalten wissen und nicht zerstört wissen.
Die vordringlichste agrarpolitische Aufgabe ist die Verminderung der landwirtschaftlichen Erzeugung in der Europäischen Gemeinschaft, damit die Märkte entlastet werden und die gemeinsame Agrarpolitik finanzierbar bleibt. Die beste Lösung besteht darin — das fordern wir schon lange —, landwirtschaftliche Betriebe im Rahmen einer Vorruhestandsregelung für ihre Besitzer stillzulegen. Viele Landwirte in Europa haben keine Nachfolger und tragen sich mit der Absicht, ihre Betriebe über kurz oder lang aufzugeben. Betriebsstillegung gegen Entgelt befreit sie von der Notwendigkeit, bis ins hohe Alter weiterzuwirtschaften, und ermöglicht somit neben der Marktentlastung zugleich einen sozial erträglichen Ausstieg aus
der Landwirtschaft. Diese Vorruhestandsregelung bietet also eine doppelte positive Möglichkeit.
Viele Landwirte bei uns warten darauf, daß ihnen auf diese Weise geholfen wird. Das dürfte auch in den Mitgliedstaaten kaum anders sein. Aus Wettbewerbsgründen ist es erforderlich, daß alle Mitgliedstaaten ihren Landwirten die Stillegung zu realistischen Konditionen anbieten.
Eine attraktive Mitfinanzierung durch die Gemeinschaft ist durchaus vertretbar, da Honorierung der Betriebsstillegung, d. h. die Nichtproduktion, für den EG-Fiskus billiger ist als die weitere Beseitigung von Überschüssen, wie die Erfahrung gelehrt hat.
Trotz Überangebots und drastischen Preisverfalls fördern andere Mitgliedstaaten immer noch Investitionen in der Schweine- und Mastrinderhaltung. Ausschlaggebendes Motiv mag sein, daß man mehr Marktanteile in diesen Produktionsbereichen gewinnen will. Es macht aber keinen Sinn, die Errichtung zusätzlicher Kapazitäten in der Ferkelerzeugung, Schweine- und Rindermast mit staatlichen Mitteln zu provozieren, wenn die Märkte ohnehin überlastet sind. Es macht die EG kaputt, wenn ich dort weiterfinanziere, wo ich nicht mehr finanzieren, sondern abbauen muß.
Leidtragend sind doch letztlich die Landwirte in der gesamten Gemeinschaft, die bei den niedrigen Preisen keine Gewinne erzielen. Dadurch sind viele in Existenznot geraten.
Dringend erforderlich ist ein EG-weites striktes Verbot staatlicher Investitionsförderung in den genannten Erzeugungsbereichen. Leider hat auch der Gipfel in diesen Fragen zu keinem erfolgreichen Abschluß geführt. Wir bedauern das. Wir sollten uns jedoch vor zu einfachen Schuldzuweisungen hüten. Die Bundesregierung für das Ausbleiben eines befriedigenden Kompromisses auf dem Kopenhagener Gipfel verantwortlich zu machen entspricht nicht den tatsächlichen Gegebenheiten.
Der Präsident des Europäischen Parlamentes hat auf eine Frage in diese Richtung — ob die Franzosen und die Deutschen mehr unter Druck hätten gesetzt werden müssen — klipp und klar gesagt: Nein, das stimmt nicht, ich akzeptiere das nicht. Das heißt, auch im Europäischen Parlament ist klar, daß von einer einseitigen Schuldzuweisung nicht die Rede sein kann, wenn man überlegen muß, was zu geschehen hat.
Es geht darum, daß wir die Realitäten erkennen. Es geht darum, daß wir in den Bereichen, in denen wir seit Jahren konsequente Entscheidungen verlangt haben, endlich zu Ergebnissen kommen.
In einer Phase der weltwirtschaftlichen Entwicklung, die durch tiefe Veränderungen in den Wirtschaftsstrukturen vieler Länder gekennzeichnet ist und von der ganze Industriezweige betroffen sind, kann es keine Patentrezepte für die Lösung der damit verbundenen vielfältigen Probleme geben. Wir dürfen den Blick für das jeweils Machbare nicht verlieren.
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Mischnick
Wir müssen bei den einzelnen Entscheidungen auch die soziale Verträglichkeit — das gilt für alle Bereiche der Strukturreform — für die Betroffenen berücksichtigen.
Eines darf allerdings nicht eintreten: daß wir uns durch das Nichtergebnis von Kopenhagen entmutigen lassen. Im Gegenteil.
Am 11. und 12. Februar 1988 wird der Rat ja zu einer weiteren Sitzung zusammenkommen. In der Zwischenzeit besteht eine realistische Möglichkeit, Kompromißvorschläge zu erarbeiten. Das wird eine schwierige, aber, wenn es zur Lösung kommt, auch dankbare Aufgabe während der deutschen Präsidentschaft sein. Wir wissen, daß es dazu vieler Unterstützung und Mitarbeit bedarf; denn wenn wir den Binnenmarkt wirklich bis 1992 vollenden wollen und damit für 320 Millionen Menschen in allen Mitgliedstaaten zusätzliche Chancen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung ihrer eigenen Möglichkeiten eröffnen wollen, dann ist es notwendig, Anfang nächsten Jahres in diesen Fragen Lösungen zu finden.
Meine Damen und Herren, wir werden alles, was in unseren Kräften steht, tun, um die Bundesregierung bei diesen Bemühungen zu unterstützen. Wir sind allerdings auch der Auffassung, daß man den Mut haben muß, in all diesen Fragen die Fakten auf den Tisch zu legen, und nicht durch Versprechungen Hoffnungen erwecken darf, die nicht erfüllt werden können.
Meine Damen und Herren, zwei Gipfel, wenn ich das so sagen darf, haben stattgefunden: der eine mit einem weithin sichtbaren Erfolg, der andere mit einer Vertagung. Beide Gipfel haben deutlich gemacht, daß die Bundesrepublik Deutschland ein erhebliches Gewicht einbringen kann. Es hat sich gezeigt, wieviel wir durch unsere Möglichkeiten, den mittleren und kleineren Staaten unsere Meinung darzulegen und ihre Auffassungen mit einzubeziehen, erreichen konnten. Das zeigt, daß das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland in diesen Fragen gewachsen ist. Es ist um so stärker, je geschlossener wir Deutschen dieses Gewicht auf die Waagschale legen. Deshalb bitte ich alle darum, diese vernünftige Politik für die Zukunft voll zu unterstützen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Interesse der Regierungsparteien und der Regierung scheint heute morgen eher darauf abgestellt zu sein, weniger vom Scheitern eines Gipfels, an dem sie selbst Verantwortung getragen haben, zu sprechen, als von den Ergebnissen eines Gipfels zu reden, für dessen Zustandekommen und dessen Ergebnisse sie keinerlei Verantwortung tragen.
Ich möchte diese Strategie gern durchkreuzen, indem ich von dem Gipfel in Kopenhagen spreche. Übrigens wäre es nach den Ergebnissen wohl angemessen, eher von einem Mittelgebirge als von einem Gipfel zu sprechen.
Es war jedenfalls ein Offenbarungseid der EG-Regierungschefs in ihrer Mehrzahl. Es war nicht der Offenbarungseid der Europäer und Europäerinnen oder der europäischen Idee. Im Gegenteil: Vor manchen solcher Regierungen muß man die europäische Idee schützen.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle insbesondere dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors danken, der sich als einer der wenigen mit europäischem Weitblick gezeigt hat und der ein Glück für die Europäische Gemeinschaft ist.
Entgegen allen Trends der Verharmlosung, die heute morgen im Zusammenhang mit der Bewertung des Gipfel deutlich wurden, will ich aus „Le Monde" vom 8. Dezember 1987 zitieren. Es heißt dort:
Die Entente Paris—Bonn war in Kopenhagen nichts anderes als eine Art konservativer Komplizenschaft. Die Entente hat mehr als Bremse gewirkt als die britische Unnachgiebigkeit. Frankreich hat, obwohl es den Vorschlägen von Herrn Delors in großen Zügen zugestimmt hat, sich in Kopenhagen auf die deutsche Seite geschlagen und die Starrköpfigkeit gedeckt, die der Bundeskanzler den Vorschlägen entgegensetzte. Diese Blockade hat eine Einigung über die anderen Punkte unmöglich gemacht.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß selbst mehrfache Versuche der Verharmlosung es nicht schaffen können, die öffentliche Meinung und die Bevölkerung in der Europäischen Gemeinschaft über das Scheitern und die Ursachen des Scheiterns dieses Gipfels im unklaren zu lassen.
Zwei Tage vor dem historischen Vertrag über die Beseitigung der Mittelstreckenwaffen auf europäischem Boden hätten die europäischen Bürger und Bürgerinnen von den zwölf EG-Regierungschefs einen Beweis europäischer Selbstbehauptung erwartet. Statt dessen haben sie einen Akt der Aufgabe europäischer Handlungsfähigkeit erlebt; das war ein wirklicher „Tu-nix-Gipfel".
Wo ein Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von über 15 Millionen Menschen in der EG und zur Gegensteuerung gegen die weltwirtschaftliche Rezession notwendig gewesen wäre, haben die Regierungschefs versagt. Wo das Konzept von Jacques Delors zur Abstimmung stand, haben sich die Regierungschefs in Einzelheiten verstrickt, den politischen Überblick verloren, die Reform an Haupt und Gliedern vertan und die Chancen zur Verwirklichung des großen gemeinsamen Binnenmarkts im absehbaren Zeitraum gemindert. Das ist ein Tatbestand, liebe Kolleginnen und Kollegen. Alle Fachleute sagen, daß durch diese Nichtentscheidung die Verwirklichung
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Frau Wieczorek-Zeul
des Binnenmarktes sich um mindestens ein Jahr verschieben wird.
Das Scheitern hat allerdings auch tieferliegende grundsätzliche Ursachen. Diese möchte ich im folgenden nennen: Die Mehrzahl der aktuellen, sich selbst als konservativ begreifenden Regierungen der EG-Mitgliedsländer hat sich einem Wirtschaftskonzept verschrieben, das die wirtschaftlichen Entwicklungen dem Selbstlauf überläßt. Dieser Ansatz hat aber drastische Konsequenzen für die europäische Integration und den europäischen Zusammenhalt. Die Politik des: „Nimm's vom Nachbarn" — „beggar my neighbour" —, des Umverteilungskampfs zwischen den Mitgliedstaaten um Arbeitsplätze und finanzielle Ressourcen, wird schärfer. Die Chancen zu einer Einigung, bei der es einen gerechten Ausgleich gäbe, sinken.
Deshalb trägt die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP mit ihrer wirtschaftspolitischen Reformunfähigkeit zu einer derartigen integrationsfeindlichen Entwicklung bei.
Ich will in diesem Zusammenhang Helmut Schmidt zitieren, der zu Recht vor wenigen Tagen gesagt hat:
Diese konservativen Regierungen, die heute in Europa regieren, ob Chirac oder Thatcher oder Kohl, die kommen mir zur größeren Hälfte so vor, daß sie wirtschaftsideologische Prediger sind; und zur kleineren Hälfte sind das Klempner, aber die klempnerischen Fähigkeiten sind relativ geringfügig ausgeprägt.
Das Scheitern des EG-Gipfels zeigt, wohin eine Politik führt, die zu jeder Reform unfähig ist. Ohne eine Reform der Agrarpolitik hat die EG keine Zukunft. Wer sich wie die Bundesregierung die Agrarpolitik von den Vertretern der Großagrarier im Bauernverband und den Interessierten aus der Industrie diktieren läßt, blockiert die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft und macht sie handlungsunfähig. Diese Verantwortung muß er dann auch tragen.
Ab dem 1. Januar 1988 trägt die deutsche Bundesregierung als Ratspräsidentschaft noch mehr Verantwortung als bisher für die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft. Wir erwarten als allererstes von der Bundesregierung, daß sie durch eine Änderung ihrer Haltung in der Agrarpolitik den Weg freimacht für eine Neuordnung der Agrarpolitik und damit für die Verabschiedung des gesamten Pakets von Jacques Delors. Nur dadurch wird nämlich der Weg frei für neue finanzielle Eigenmittel der Gemeinschaft, die zur Weiterentwicklung der EG notwendig sind. Die bisherige Haltung der Bundesregierung schadet nicht nur der Europäischen Gemeinschaft, sondern — Jochen Vogel hat heute morgen darauf hingewiesen — sie schadet auch der Mehrzahl der deutschen Bauern, die ohnehin von der Preissubventionierung nur noch maximal 30 % erhalten. Deshalb muß dieses Konzept geändert werden.
Herr Mischnick, Sie haben gesagt, es sei wichtig, daß wir die deutschen Interessen einbringen. Unser Vorwurf lautet, daß die Bundesregierung die Prioritäten in dieser Europäischen Gemeinschaft falsch setzt, daß sie das Gewicht der deutschen Bundesregierung und Deutschlands nicht dafür einsetzt, z. B. den großen gemeinsamen Binnenmarkt zu verwirklichen,
sondern daß sie sich an Konzepte, die längst überholt sind, in der Agrarpolitik klammert, daß sie ihr Gewicht also für die falschen Interessen einsetzt.
Wir, die SPD, verlangen von der Bundesregierung, daß sie sich für eine Verdoppelung der Strukturfonds engagiert. Ich muß sagen, ich halte es für ein kleinkariertes Feilschen, wenn sich die Bundesregierung weigert, dieser Forderung des Delors-Paketes nachzukommen. Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, um zusätzlich 300 Millionen DM pro Jahr in diesem Zeitraum. Man muß wissen, daß zum Beispiel die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um Spanien allein dazu geführt hat, daß sich der Export der Bundesrepublik Deutschland um 2 Milliarden DM verdoppelt hat.
Wer sich dann hinstellt und sagt, wir wollen aber nicht verdoppeln, der leistet eben keinen Beitrag zur Solidarität mit den südlichen Ländern und den Ländern an der Peripherie der EG,
sondern betreibt kleinkariertes Feilschen, und er wird dazu beitragen, daß der Binnenmarkt nicht zustande kommt. Denn zu Recht werden sich die Spanier und Portugiesen solchen Ansinnen widersetzen, wenn wir keinen Ausgleich dafür leisten, daß sie sich dem großen gemeinsamen Binnenmarkt anschließen.
Von der Bundesregierung verlangen wir, daß sie sich neben einer Verdoppelung der Strukturfonds auch dafür engagiert, daß Industrieregionen, die in der Krise sind — auch in der Bundesrepublik Deutschland — , weiterhin zusätzlich zu den nationalen Maßnahmen durch die EG-Strukturfonds finanziert werden. Oder wollen Sie sich in Hannover nach dem Gipfel im Juni hinstellen und sagen, daß zum Beispiel Regionen wie das Ruhrgebiet künftig ohne Finanzierung aus den EG-Fonds bleiben sollen? Das halten wir für völlig unerträglich. Deshalb gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Forderung nach Verdoppelung der Strukturfonds — ich habe die dafür notwendigen Finanzmittel vorhin genannt — und der Weiterfinanzierung von Regionen, die in den Industrieländern in der wirtschaftlichen Krise sind.
Man sieht auch hier: Die Position der Bundesregierung schadet deutschen und europäischen Interessen. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, ihre Position in dieser Frage zu revidieren und sich der Position anzuschließen, die Christdemokraten — man höre! — , GRÜNE und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament in dieser Frage eingenommen haben. Sie entspricht dem, was ich hier skizziert habe.
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Frau Wieczorek-Zeul
Ich habe schon gesagt: Diese Bundesregierung setzt die falschen Prioritäten und deshalb droht eine Fortsetzung der Stagnation der Europäischen Gemeinschaft. Ich frage mich, wenn es schon um Prioritäten geht: Warum wird das Marktprinzip in der EG-Landwirtschaft verweigert, aber von der Bundesregierung zum Beispiel für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen der Stahlindustrie verteidigt? Hätten sich Herr Kohl und Herr Bangemann so für die Erhaltung der Arbeitsplätze in der Stahlindustrie und gegen die Liberalisierung in diesem Bereich eingesetzt, wie sie es für den Unsinn der Agrarpreissubventionierung in der Landwirtschaft getan haben,
dann wären wir heute in der Stahlindustrie auch im Ruhrgebiet in einer anderen Situation.
Wir erwarten von der Bundesregierung — ich habe es vorhin angedeutet — , daß sie sich mit Vorrang für die Verwirklichung des einheitlichen europäischen Binnenmarkts starkmacht. Wann begreift diese Regierung endlich, daß der Binnenmarkt im Rahmen der EG die letzte Chance in diesem Jahrhundert ist, das Modell einer staatenübergreifenden Lösung wirtschaftlicher und politischer Probleme zu verwirklichen?
Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, warum die Regierung des größten Industrielandes der EG in der Praxis — nicht mit Worten — ihren Schwerpunkt nicht in dem Bereich setzt, wo die Arbeitsplätze der Exportindustrie der Bundesrepublik den größten Vorteil haben, und warum sie statt dessen auf die Fortsetzung des bisherigen verfehlten Agrarsystems hin orientiert. Wenn sie nicht auf die Sozialdemokratie hört — das tut sie ja leider öfters nicht — , sollte sie wenigstens das Memorandum des BDI einmal lesen, das ihr jedenfalls zu dieser Frage einiges ins Stammbuch geschrieben hat.
Wir erwarten, daß sich die Bundesregierung in ihrer Ratspräsidentschaft um die wirklich drängenden Fragen kümmert. Der Binnenmarkt bedarf der sozialen Gestaltung. Alles, was bisher vorliegt, orientiert sich an der wirtschaftlichen Integration. Aber genauso notwendig ist es, daß in diesem Prozeß die Mitbestimmung der Arbeitnehmer nicht ausgehöhlt wird — die Gefahr besteht — und nicht unterlaufen wird und daß die Mitbestimmungsrechte in diesem Prozeß der Verwirklichung des Binnenmarktes erhalten bleiben, ausgebaut und zum Beispiel verpflichtend für sogenannte europäische Aktiengesellschaften vorgeschrieben werden.
Wir verlangen von der deutschen EG-Ratspräsidentschaft, daß sie die Politik verstärkt, die zur Sicherung des Friedens in der Welt beiträgt. Weil Sie im Moment mit den eigenen Problemen beschäftigt sind, haben diese wichtigen Fragen nicht im Vordergrund gestanden.
Notwendig ist aus unserer Sicht, daß die deutsche EG-Ratspräsidentschaft eine Initiative zur Entschuldigung der Länder der sogenannten Dritten Welt ergreift. Dies ist ein aktiver Beitrag zur Friedenssicherung. Notwendig ist, daß das Mandat für die neuen Lomé-Verhandlungen, das in die Zeit der Ratspräsidentschaft fällt, der dramatisch verschlechterten Situation dieser Länder Rechnung trägt.
Und wir verlangen, daß die Bundesregierung alles unternimmt, um den Friedensplan für Mittelamerika zu fördern. Dazu muß sie aus unserer Sicht — entsprechend dem Beispiel der EG — die Finanzierung für Nicaragua wiederaufnehmen.
Wir erwarten, daß die Bundesregierung in der Zeit ihrer Ratspräsidentschaft ihre Bremserrolle bei der Bekämpfung des Apartheid-Regimes in Südafrika endlich aufgibt. Gerade am heutigen Tage der Menschenrechte sagen wir: Die Apartheid kann man nicht reformieren, man kann sie nur beseitigen. Ich fordere Sie auf: Folgen Sie dem Beschluß und dem Appell des Europäischen Parlaments vom 30. Oktober 1987
und beschließen Sie in der EG endlich, wirkliche Sanktionen gegen Südafrika, die die Mehrzahl der EG-Länder längst fordern.
Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ob eine Regierung europa- oder parlamentsfreundlich ist, erweist sich nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten. Deshalb wollen wir wissen: Ist die Bundesregierung bereit, nicht nur von mehr Rechten für das Europäische Parlament zu sprechen, sondern z. B. auch ein inter-institutionelles Abkommen zwischen den drei EG-Institutionen abzuschließen, mit dem die Rechte des Europäischen Parlaments, wenn die Haushaltsdisziplin verwirklicht wird, von der Bundeskanzler Kohl heute morgen gesprochen hat, ohne etwas zum Europäischen Parlament dazu zu sagen, gesichert werden sollen. Es würde der Ratspräsidentschaft gut anstehen, wenn sie sich dafür einsetzte, daß die Haushaltsrechte des Europäischen Parlaments bei Entscheidungen über die neuen Eigenmittel der EG erweitert werden. 1975 ist das bei der Veränderung der Eigenmittel der EG geschehen. Wir meinen, dies ist ein Beispiel, das nachgeahmt werden muß.
Und zuletzt — deshalb stellen wir ja diese Forderungen — : „Europäischer Fortschritt darf nicht zu einem Verlust an parlamentarischer Substanz werden. " Das hat Richard von Weizsäcker 1985 vor dem Europäischen Parlament formuliert. Notwendig ist deshalb, daß sich die Bundesregierung dafür engagiert — mit den anderen zusammen — , daß das demokratisch gewählte Parlament, das Europäische Parlament endlich die Rechte erhält, die einer demokratisch gewählten Volksversammlung zukommen, und damit einen Beitrag zur Demokratisierung in der Europäischen Gemeinschaft leistet.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Geiger.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der EG-Gipfel am vergangenen Wochenende in Kopenhagen ist nicht so erfolgreich beendet worden, wie wir uns das alle gewünscht hätten. Das sollte uns aber nicht veranlassen, jetzt Horrorgemälde zu malen, Frau WieczorekZeul.
Erinnern wir uns: Wir haben in diesem Jahr den 30. Jahrestag der Römischen Verträge gefeiert. In dieser Zeit hat unser gemeinsames Europa so manches Auf und Ab erlebt. Trotzdem bleibt es eine ganz großartige Leistung, was die Gründerväter Europas damals fertiggebracht haben. Denn als Winston Churchill 1946 in seiner berühmten Züricher Rede dazu den ersten Impuls gab, war Europa weitgehend verwüstet, hungerten und froren die Menschen, waren sie nach einem furchtbaren Krieg am Ende ihrer Kräfte. An den Geist, der damals geherrscht hat, sollten wir uns heute erinnern. Gemessen an den damaligen Widerständen sind die heutigen wahrhaft gering.
Ober eines müssen wir uns allerdings im klaren sein: Wenn Europa beim Dialog der Großmächte in Zukunft ein gewichtiges Wort mitsprechen will, muß es mit einer Stimme sprechen. Das ist uns nicht zuletzt bei den jüngsten Abrüstungsverhandlungen klar geworden. Wir müssen uns deshalb gegen den allgemeinen Trend stellen, der die Probleme Europas lauthals beklagt und die Erfolge aber immer wieder kleinschreibt.
Der Osten preist immer wieder die sogenannten Errungenschaften des Sozialismus. Sie sind bei Lichte besehen äußerst dürftig: schlechte Versorgung der Bevölkerung, Wohnraumnot, schlechte Altersrenten und vor allem Einschüchterung und Einengung der Freiheit des einzelnen, was Kreativität und Innovation lähmt. Wir im Westen, in der Europäischen Gemeinschaft haben dagegen weitaus bessere Errungenschaften. Aber wir vergessen nicht nur, sie herauszustreichen. Wir sind uns dessen auch kaum noch bewußt. Unsere Freiheit und unser Wohlstand sind uns viel zu selbstverständlich geworden.
Wir wissen alle, daß die gemeinsame Agrarpolitik heute mit das größte Problem der EG ist. Zwar hat die Agrarpolitik zu einer enormen Leistungssteigerung in der Landwirtschaft beigetragen und für ein reichhaltiges Angebot an preisgünstigen Nahrungsgütern für uns alle gesorgt. Aber es ist von früheren Regierungen versäumt worden, die Marktordnung rechtzeitig umzustellen, als die Erzeugnung die Absatzmöglichkeiten immer mehr überstieg. Es war auch ein entscheidender Nachteil, daß die am intensivsten betriebene Landwirtschaft den größten Nutzen aus der europäischen Agrarpolitik gezogen hat. Was eigentlich als Klammer für die Europäische Gemeinschaft gedacht war, hat sich mehr und mehr zu einem Sprengsatz entwickelt.
Wir müssen den gordischen Knoten EG-Landwirtschaft durchschlagen, denn ohne die Lösung dieses
Problems werden wir auch die politische Einigung Europas nicht voranbringen.
Der gordische Knoten EG-Landwirtschaft muß jedoch durchgeschlagen werden, ohne daß unsere bäuerlichen Familienbetriebe auf der Strecke bleiben. Dies sage ich ganz bewußt als Abgeordnete eines ländlichen Gebietes.
Wenn Frau Wieczorek-Zeul in ihrer Presseerklärung zum EG-Gipfel meint, daß die EG-Regierungschefs nicht die Interessen der 320 Millionen Europäer wahrgenommen hätten,
sondern keinkarierte Rangeleien betrieben hätten,
so kann ich mich nur wundern, denn die Existenz Tausender bäuerlicher Familien hängt von den Ergebnissen eines solchen Gipfels ab.
Ich finde, Bundeskanzler Dr. Kohl hat richtig und verantwortungsvoll gehandelt, als er eine Vertagung beantragt hat, statt mit schlechten Ergebnissen für unsere Bauern nach Hause zu kommen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Oostergetelo?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, im Zusammenhang mit der Agrarpolitik: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir zwar mit enormen Anstrengungen Finanzmittel an den Umsatz gebunden haben, die Einkommen der Bauern aber in den letzten fünf. Jahren rapide nach unten gegangen sind, also genau entgegengesetzt zu den eingesetzten Mitteln?
Herr Oostergetelo, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß die Weichen für diese verfehlte Agrarpolitik unter Ihrer Regierung gestellt wurden?
Heute muß jedem Partnerland klar sein, daß es für das Europa der EG kein Zurück gibt. Allen Schwierigkeiten zum Trotz gibt es keine Alternative zur Gemeinschaft. Jede Option einer splendid isolation gehört der Vergangenheit an. Jeder Alleingang muß zwangsläufig in der Sackgasse landen.
Der europäische Einigungsprozeß kann auch Modell für die Völker Mittel- und Osteuropas sein. Er kann ihnen zeigen, daß Ausgleich und Versöhnung auf der Grundlage von Menschenrechten und Gewaltverbot konkrete Wirklichkeit werden können, denn nur im Westen unseres Kontinents herrscht eine
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Frau Geiger
dauerhafte Friedensordnung. Im Osten sind immer wieder brutale Machtmittel oder unverhüllte Drohungen eingesetzt worden, um die sowjetische Vormacht über Mittel- und Osteuropa zu erhalten. Daran hat sich auch im Zeichen von Glasnost und Perestrojka nichts wesentliches geändert. Das Festhalten der Sowjetunion an einem allein auf militärischer Stärke begründeten Hegemonialmachtkonzept hat in Europa dazu geführt, daß auf unserem Kontinent so viel Waffen angehäuft wurden wie sonst nirgendwo auf der Welt.
Bei der sinnlosen Überrüstung haben die westlichen Verbündeten in diesem Ausmaß nicht mithalten können und auch nicht mithalten wollen. So entstand die sowjetische Überlegenheit bei allen konventionellen Offensivsystemen, bei den C-Waffen und auf dem nuklearen Gebiet. Dabei ist die Sowjetunion selbst ins Hintertreffen geraten. Denn nur auf dem militärischen Gebiet ist der Warschauer Pakt heute führend. Wirtschaftlich hat ihn die Überrüstung an den Rand des Abgrunds getragen.
Michail Gorbatschow, ein Mann der neuen Generation sowjetischer Führer, ist ein Politiker, der sich über den traurigen Zustand der sowjetischen Wirtschaft im klaren ist und der offensichtlich Veränderungen will. Über eines müssen wir uns allerdings im klaren sein: Gorbatschow will zwar abrüsten und Kosten sparen; er will aber gleichzeitig die sowjetische Überlegenheit nicht aufgeben.
Was bedeutet dies für uns nach der Unterzeichnung des INF-Vertrages am vergangenen Dienstag in Washington? Für uns muß auch nach dem 20. Jahrestag des Harmel-Berichts über die künftigen Aufgaben der Allianz noch das gelten, was die 15 Unterzeichnerstaaten als ihr höchstes Ziel herausstellten, nämlich eine gerechte und dauernde Friedensordnung in Europa mit geeigneten Sicherheitsgarantien zu erreichen.
Im Geist der beiden Teile des Harmel-Berichts begrüßen wir das INF-Abkommen als Einstieg zu einer viel weitergehenderen Abrüstung. Daß dieses Übereinkommen zustande kommen konnte, verdanken wir allein der Festigkeit des Westens in der Nachrüstungsfrage. Dazu darf ich Gerhard von Glinski zitieren, der im „Rheinischen Merkur" folgendes ausführte :
Diese Waffen, die Pershing II und Cruise Missiles, die so viele Diskussionen, Demonstrationen, Sitzblockaden und richterliche Entscheidungen hervorgerufen haben, werden wir also in absehbarer Zeit loswerden. Jene, die sich seinerzeit dagegen wandten, werden das als Lohn ihres Einsatzes interpretieren. Zu Unrecht, denn erst die Stationierung selbst hat die Sowjets an den Verhandlungstisch genötigt. Der Vertrag ist insofern ein Triumpf westlicher Einheit und Verhandlungsstrategie.
Ja, meine Damen und Herren von der SPD, auch wenn Sie das heute nicht mehr hören wollen: Helmut Schmidt hatte recht, als er die Nachrüstung forderte.
Es war der historische Fehler der SPD, ihm dafür die Gefolgschaft zu verweigern.
Auch Willy Brandt hat ähnliches bei letzten Gesprächen eingeräumt.
Das INF-Abkommen ist in unseren Augen als Einstieg in eine weitergehende Abrüstung nützlich. Es darf jedoch nicht isoliert stehenbleiben. Denn nur ein Bruchteil aller atomaren Sprengköpfe wird von diesem Abkommen erfaßt. Die überwältigende Mehrheit atomarer Sprengköpfe bleibt weiterhin erhalten.
Deshalb müssen baldmöglichst weitere Schritte folgen. Alle Westeuropäer bleiben nach wie vor von den sowjetischen interkontinentalen Nuklearraketen bedroht, denn diese Raketen sind auch auf kürzere Reichweiten einstellbar. Jeder Punkt Westeuropas kann getroffen werden. Deshalb liegt es in unserem unmittelbaren europäischen und deutschen Interesse, wenn die beiden Weltmächte diese Waffenkategorie, wie es in den START-Verhandlungen geplant ist, um 50 % absenken.
Wir verlangen auch eine zuverlässige und überprüfbare Null-Lösung bei den chemischen Waffen. Das enorme C-Waffen-Potential der Sowjetunion kann nicht hingenommen werden. Seit langem fordert meine Fraktion die weltweite Null-Lösung für diese besonders heimtückischen Waffen, deren Einsatz bereits im Genfer Protokoll von 1925 völkerrechtlich verboten wurde. Die Sicherheit aller Staaten kann auch ohne diese barbarischen chemischen Waffen gewährleistet werden.
Durch jeden nuklearen Abrüstungsschritt gewinnt das Übergewicht des Warschauer Paktes bei den konventionellen Streitkräften an Bedeutung. Deshalb muß das Hauptaugenmerk der Rüstungskontrolle in den nächsten Jahren gerade auf den konventionellen Waffengattungen liegen. Die Sowjetunion hat die Fähigkeit zu raumgreifender Offensive, zur Invasion und zum Überraschungsangriff. Wenn es in Zukunft mehr Stabilität in Europa geben soll, muß die Sowjetunion auf diese Offensivfähigkeit verzichten.
Solange die sowjetische Übermacht bei den chemischen und konventionellen Waffen besteht, sind wir auf die kriegsverhütende Abschreckungswirkung der nuklearen Waffen und auf ein glaubwürdiges Minimum an Kernwaffen angewiesen. Kernwaffen haben in Europa in den letzten 40 Jahren als Waffen zur Kriegsverhinderung gedient.
Mit konventionellen Waffen dagegen wurden in vielen Gebieten der Erde Kriege geführt. Die heutigen konventionellen Waffen sind außerdem alles andere als harmlose Waffen. Dresden wurde im letzten Krieg durch konventionelle Waffen in einem unsäglichen Inferno zerstört. Bis heute ist auch die Entwicklung konventioneller Waffen weitergegangen, und auch diese Waffen können heute unvorstellbare Verwüstungen anrichten.
Das krasse Ungleichgewicht bei den bodengestützten nuklearen Flugkörpern bis 500 km Reichweite stellt für die Deutschen in beiden Teilen Deutschlands eine große und eine besondere Bedrohung dar und
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Frau Geiger
kann auf Dauer nicht hingenommen werden. Diese Systeme müssen in die Verhandlungen über ein neues Gesamtabrüstungskonzept, das auch die chemischen und die konventionellen Waffen umfaßt, mit einbezogen werden. Im NATO-Bereich darf es auch künftig keine Zonen mit geringerer Sicherheit geben, denn dies würde die gesamte NATO-Strategie gefährden.
An einer weiteren Maxime wollen wir mit allem Nachdruck festhalten: Die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa sind auch künftig auf die enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika angewiesen. Die Vereinigten Staaten bleiben unser wichtigster Partner und Verbündeter. Sie garantieren unsere Sicherheit. Daran hat sich bis heute nichts geändert, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.
Europa muß aber auch verstärkt eigene Verteidigungsanstrengungen machen. Europas Stärke hängt von seiner Einheit ab. Vorreiter dieser Einheit sind Deutschland und Frankreich. Die deutschfranzösische Zusammenarbeit ist die Lokomotive der politischen Einigung der EG. Sie bestimmt deshalb auch das Tempo des Einigungsprozesses. Deshalb hat die gemeinsame Brigade für uns durchaus mehr als einen symbolischen Charakter.
Für uns ist die westliche Allianz von Anfang an nicht allein ein Verteidigungsbündnis gewesen; sondern vor allem auch ein Wertebündnis. Uns im Westen verbindet die Staatsform der freiheitlichen Demokratie, die auf der Erhaltung der Menschenrechte und auf christlichen Werten gründet. Das unterscheidet uns vom Warschauer Pakt. Dies schließt für uns von vornherein jegliches Äquidistanzdenken aus, das derzeit bei der SPD mehr und mehr um sich greift.
Herr Bahr hat am letzten Montag einige beachtliche Äußerungen dazu gemacht.
Eine echte Lösung der Spannungen zwischen Ost und West kann im Kernwaffenzeitalter nur durch eine politische Lösung erreicht werden. Wir fürchten uns z. B. nicht vor französischen Raketen und Panzern, weil uns mit Frankreich heute Freundschaft und Demokratie verbinden. Nachdem sich unsere Väter und Großväter in vielen mörderischen Kriegen bekämpft haben, ist dies eine kaum glaubliche großartige politische Leistung.
Auch in diesem Zusammenhang ist das Urteil des Landgerichts Frankfurt, wonach Soldaten als „potentielle Mörder" bezeichnet werden dürfen, ein Skandal. Unsere Soldaten der Bundeswehr sind Garanten des Friedens und verdienen solche Beschimpfungen nicht.
Eine politische Lösung, so wie sie mit Frankreich möglich war, sollte auch mit dem Osten möglich sein. Voraussetzung dafür ist, daß die Sowjetunion Abschied nimmt von ihrer totalitären Ideologie und von der planmäßigen Verletzung der Menschenrechte. Der Maßstab für die Friedfertigkeit eines Landes ist und bleibt die Einhaltung der Menschenrechte. Wenn die Menschenrechtsfrage gelöst sein wird, wird es
auch für uns keine Bedrohung mehr aus dem Warschauer Pakt geben. Davon sind wir heute leider noch weit entfernt. Afghanistan ist dabei nur ein Stichwort.
Meine Fraktion wird nicht zögern, die sich bietenden Chancen zu einer wirklichen Entspannung zu ergreifen. Wir werden aber auch nicht aufhören, gegebene Versprechungen immer wieder anzumahnen. Ein umfassender Austausch von Wirtschaftsgütern, von Rohstoffen und technologischem Know-how, die dringende Lösung der Ost und West gleichermaßen bedrückenden Umweltprobleme, die Bekämpfung von Not und Elend in der Dritten Welt: all das sind Aufgaben, die durch eine intensive Zusammenarbeit von Ost und West leichter zu lösen wären. Es wäre sicherlich ganz großartig, wenn unsere Enkel dereinst feststellen könnten, daß mit den INF-Vereinbarungen und mit der doppelten Null-Lösung dazu der Grundstein gelegt wurde.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Beer.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Freunde und Freundinnen aus der Friedensbewegung! Es ist wahrlich bemerkenswert, was sich in den letzten Wochen und besonders heute morgen hier abgespielt hat. Alle haben die Abrüstung entdeckt. Jeder will der gewesen sein, der das Abkommen herbeigeführt hat, und jeder will weitere Abrüstung. Ist das nicht wunderbar?
Ich möchte mich in dieser feierlichen Stunde zunächst an Herrn Bundesverteidigungsminister Wörner wenden. Herr Minister, Sie haben es immer für völlig unmöglich gehalten, daß der Westen jemals würde diese Raketen abbauen müssen. Weil Sie es für völlig ausgeschlossen hielten, daß das jemals passiert, haben Sie unklugerweise am 16. September 1983 hier im Bundestag ein Versprechen gegeben. Sie haben damals erklärt:
Ich habe das in der Öffentlichkeit gesagt, und ich wiederhole es vor den Augen und den Ohren der Mitglieder dieses Parlaments: Ich rutsche auf den Knien von meinem Wahlkreis aus nach Bonn, wenn es uns gelingt, unser Ziel zu verwirklichen, die Mittelstreckenwaffen schlechthin aus dieser Welt zu verbannen.
Herr Minister, wir hoffen, daß Sie dieses Ihr Männerwort heute oder in nächster Zeit einlösen werden, und damit es nicht gar zu schwer für Sie wird, hier ein Geschenk der grünen Fraktion für Sie. Ich möchte es Ihnen am Ende der Sitzung überreichen, damit Sie nicht wie beim letztenmal wieder weglaufen müssen. Es sind ein Paar solide Knieschoner.
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Frau Beer
— Ja, natürlich, aber ich muß sie erst auspacken. — Hier sind sie.
Guten Rutsch!
Aber jetzt eine Erinnerung an die Wirklichkeit: Abrüstung gibt es jetzt also vielleicht, wenn der US-Senat das Abkommen ratifiziert, bei einer speziellen Kategorie von Atomwaffen. Der Preis, den die Sowjetunion gezahlt hat, damit dieses Abkommen zustande kommt, bestand darin, nicht mehr über französische Atomwaffen und auch nicht mehr über britische zu reden.
Bei denen passiert folgendes — das sind Zahlen, die Sie sich anhören sollten — : An die Stelle der 128 britischen Polaris-U-Boot-Raketen tritt in den nächsten Jahren die Trident-Rakete mit mindestens 640 — ich wiederhole: mindestens 640 — Atomsprengköpfen. Aus den 274 französischen Atomsprengköpfen in diesem Bereich werden in den nächsten Jahren 710 Atomsprengköpfe, davon 592 seegestützte und 118 landgestützte Systeme. Die Engländer und die Franzosen rüsten also jetzt — gerade jetzt, in diesem Moment — nuklear auf! Die NATO baut 396 in Europa stationierte amerikanische Atomraketen ab und baut in derselben Zeit mindestens 948 britische und französische Atomraketen auf.
Aber wenigstens die Amerikaner rüsten doch ab — so heißt es —, insgesamt — nimmt man nicht nur die in Europa stationierten, sondern alle Systeme zusammen — sogar 692 Sprengköpfe. Doch auch das hat einen ganz gewaltigen Haken, denn parallel dazu sind die USA dabei, insgesamt etwa 9 600 neue Cruise Missiles zu stationieren — ich wiederhole: etwa 9 600 — , davon knapp 4 000 auf See und 4 000 in der Luft, an Bord von Flugzeugen. Von diesen etwa 9 600 neuen Cruise Missiles, die in den nächsten Jahren stationiert werden, werden etwa 5 400 mit Atomsprengköpfen ausgerüstet sein. Das Plutonium, das bei den jetzt bei uns abzubauenden Raketen übrigbleibt, wird also gleich für neue, andere Atomwaffen neue Verwendung finden!
Wir haben immer vor der besonderen Gefährlichkeit gerade der Nachrüstungswaffen, besonders der Pershing II mit ihrer hohen Treffsicherheit und großen Eindringfähigkeit, gewarnt. Das Jammern mancher Militärs, daß sie diese wichtige Waffe verlieren, ist natürlich Musik in unseren Ohren. Es ist einfach total gut, daß diese Raketen wegkommen. Nur, das hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, daß jetzt der Durchbruch zur Abrüstung schon erreicht wäre. Dazu müßte sich der politische Wille ändern, zuallererst bei uns im Westen. Der Wille, immer weiter aufzurüsten, wenn nicht mit dem einen Waffensystem, dann mit einem anderen, diese wahnwitzige Grundeinstellung, Sicherheit durch Rüstung herbeiführen zu wollen, und diese teils offenen, teils verdeckten Hintergedanken, man könne ja vielleicht auch einmal wieder eine echte militärische Überlegenheit erlangen, das alles
muß aufhören. Aber davon kann keine Rede sein. Dieser Wille ist nicht vorhanden. Selbst wenn — was wir sehr hoffen und wünschen — noch weitere Abkommen zustande kommen — Verminderung der Zahl der strategischen Atomwaffen auf je 5 100, wozu anzumerken ist, daß dabei vom zwanzigfachen Weltvernichtungspotential auf das zehnfache heruntergegangen würde, und Verbot der chemischen Waffen —, wird trotzdem und gerade deswegen weitergerüstet, und zwar in den Bereichen, die außerhalb der Abkommen liegen.
In diesem Bereich steht das harte Nein der NATO zu jeder Rüstungsbegrenzung felsenfest im Raum: keine Verhandlungen über Seestreitkräfte, keine Verhandlungen über Luftstreitkräfte und erst recht keine Verhandlungen über die Waffen, die die Schiffe und Flugzeuge an Bord haben, z. B. die neuen Cruise Missiles. Das ist die solide Basis, auf der die NATO agiert. In diesem Bereich soll unbedingt alles offen bleiben für das Weiterdrehen der Rüstungsspirale. Warum gerade hier? Weil die NATO dem Warschauer Vertrag in diesen Bereichen zahlenmäßig und besonders technologisch jetzt schon haushoch überlegen ist und diese Überlegenheit natürlich ausbauen und nicht beschränken möchte.
Der Osten hingegen ist — so hört man — bei den konventionellen Truppen überlegen, jedenfalls, wenn man nicht die Truppen in Europa, sondern weltweit vergleicht, also so tut, als höre die Sowjetunion am Ural auf und habe keine Ost- und keine Südgrenze. Was von der beliebten Abrüstungsrhetorik in diesem Bereich zu halten ist, Herr Wörner, beleuchtet ein kleiner Blick auf den Anschaffungskatalog, den die westeuropäischen Verteidigungsminister bei ihrer Tagung Anfang Dezember vereinbart haben — ich zitiere aus der Presse — :
1988 kommen 250 moderne Kampfpanzer, über 1 000 andere gepanzerte Fahrzeuge und 50 schwere Artilleriegeschütze dazu, außerdem 350 Panzerabwehrkanonen, 400 verbesserte Milan-Raketen und 10 000 modernste Panzerfäuste, 75 neue Hubschrauber zur Unterstützung von Landstreitkräften, 200 Kampfflugzeuge der Typen Tornado und F 16, 40 Flugabwehrraketensysteme, 7 größere Geleitschiffe für die Marinestreitkräfte der Eurogroup, 3 U-Boote, 5 Marinekampfboote.
Fazit:
Die Minister stellten fest, daß die NATO-Strategie „auch in Zukunft auf einer angemessenen Mischung geeigneter nuklearer und konventioneller Kräfte beruhen muß".
Ich denke, das spricht für sich.
Wir GRÜNE haben es immer abgelehnt, auf Kräftevergleiche zu starren. Beide Seiten haben viel zu viel Militär. Jede Seite sollte und könnte bei sich mit dem
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Frau Beer
Abrüsten anfangen. Wir sollten das am besten bei uns tun, anstatt mit dem Finger nach Osten zu zeigen.
Herr Wörner hat für diesen einzigen Fingerzeig ein Wort geprägt, das weite Verbreitung gefunden hat und mich veranlaßt, nun doch einmal an einem Beispiel auf diesen Kräftevergleich einzugehen
— das macht nichts; das kann er nachlesen, ich glaube, er hört es schon — : das Wort von der Fähigkeit zur konventionellen Invasion des Warschauer Vertrages. Die sicherheitspolitischen Experten gingen immer von einem ungefähren Kräftegleichgewicht in Europa aus. Die Panzer möchte ich als Beispiel nennen. Da stehen in Europa 19 720 westliche gegen 46 200 östliche Panzer. Denkt man den Wahnsinn der Militärs, mit diesen Panzern aufeinander loszugehen, einmal mit, erscheint der Osten also mächtig überlegen. Bloß, was Herr Wörner natürlich nicht erzählt, ist, daß die Hälfte der östlichen Panzer, 23 000 Stück, Uraltmodelle sind, die aus den 50er Jahren stammen. Wenn man Herrn von Bülow von der SPD glauben darf, ist fraglich, ob diese Panzer überhaupt noch fahren können, weil es nämlich in Osteuropa mit den Batterien aus diesen Panzern einen schwungvollen Schwarzhandel gibt. So sieht es mit Herrn Wörners Invasionsfähigkeit aus. Warum redet er solchen Unfug? — Eine gute Frage.
Wie widerwillig unsere Regierenden selbst auf diesen kleinen Abrüstungsschritt reagieren, konnten die Menschen in Hasselbach am Montag erleben. Da fuhren die nuklearen Cruise Missiles auf den Landstraßen ins Manöver, als hätte es die Unfälle beim Transport der Pershing nie gegeben und als sei vom Abkommen keine Rede. Diese Manöver gefährden die Bevölkerung. Sie müssen sofort eingestellt werden.
Einen entsprechenden Antrag der GRÜNEN stellen wir heute zur namentlichen Abstimmung.
Ich möchte noch ein Wort zu den Folgen der Raketen sagen, die trotz des Vertrages zu bleiben drohen. Es sind die vielen tausend Strafverfahren gegen Menschen, die gegen die Stationierung protestiert haben. Diese Menschen haben dazu beigetragen, das Klima zu schaffen, in dem der Westen von der Null-Lösung nicht mehr herunter konnte.
Ihnen und nur ihnen gebühren Dank und Achtung, nicht Strafverfolgung.
Wir bringen heute einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, der für alle diese Strafverfahren aus dem Widerstand gegen die Stationierung eine Amnestie zum Ziel hat.
Zugleich schlagen wir eine Änderung des Nötigungsparagraphen vor, damit die gewaltfreien Aktionsformen der Sitzblockade und des zivilen Ungehorsams in Zukunft nicht länger kriminalisiert werden können.
Liebe Freundinnen und Freunde aus der Friedensbewegung, wir haben allen Grund zur Freude, einmal wegen eines kleinen aber wichtigen Erfolges, besonders und viel mehr aber wegen der Streitigkeiten, in die die Herrschenden des Westens geraten sind. Es ist herrlich anzusehen, wie ratlos sie über die weitere Zukunft sind. Die Nachrüstungsraketen kommen weg, und dazu haben wir das Unsere beigetragen. Die Mühe hat sich gelohnt. Besonders aber haben wir Grund zur Freude wegen der Streitigkeiten, in die die Herrschenden des Westens geraten sind. Es ist herrlich; es gehört gewissermaßen zu den wenigen Freuden grünen Parlamentarierdaseins, diese Wirrnis aus der Nähe zu sehen.
Im Grunde haben die Leute drei große Probleme. Erstens ist es das Geld. Man kann einfach nicht mehr alle Waffensysteme kaufen und bezahlen, die technisch machbar und militärisch wünschbar sind. Man kann nicht wie in der glücklichen Zeit der sozialliberalen Koalition Waffen einfach draufloskaufen. Der Rüstungswille ist da, aber das Geld ist, ach, so knapp. Man muß sich für das eine und — das ist das besonders Schlimme — gegen das andere entscheiden. Das fällt ziemlich schwer, sehr schwer.
Zweitens ist es dieser Gorbatschow. Die immer neuen Vorschläge der Sowjetunion, die durchweg durch ihre Vernünftigkeit bestechen, sind nicht mehr mit Plattheiten zu beantworten wie ehedem. Früher konnte man einfach sagen: Gute Idee, aber man kann ja doch nicht nachprüfen, ob sich die Russen daran halten, also sinnlos. Seit die Sowjetunion selbst auf schärfere Verifikationsbestimmungen drängt, muß sich der Westen etwas anderes einfallen lassen und bei jedem Vorschlag neue Positionen vereinheitlichen und Störmanöver entwickeln.
Die Zeit reicht nicht, um die zum Teil wirklich lustigen Dinge auf die der Westen bei der konventionellen Rüstungskontrolle und ähnlichem so kommt, hier aufzuzeigen. Bei der konventionellen Rüstungskontrolle will der Westen zwar die Waffen auf beiden Seiten zählen, aber nicht die eigenen, die in Depots liegen, weil ein Panzer im Depot irgendwie kein Panzer ist. Oder man entdeckt plötzlich, daß die Türkei gar nicht zur NATO gehört, sondern nur ein Streifen an der Schwarzmeerküste; der Rest der Türkei ist irgendwie Grauzone und soll nicht berücksichtigt werden.
Der Einfallsreichtum ist erheblich, wenn es darum geht, Abrüstungshindernisse aufzubauen, immer in der Hoffnung, daß die Sowjetunion doch nicht ewig so weitermachen kann.
Der dritte Grund — und das meine ich ganz ernst — sind wir.
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Frau Beer
Ihr solltet nicht unterschätzen, was für eine Angst die Etablierten vor einer Neuauflage der Stationierungsdebatte 1983 haben.
Sie mußten damals ein Jahr nach dem anderen Spießruten laufen, hatten bis weit in ihr eigenes Lager die Bevölkerung gegen sich, weil die Bevölkerung diesen Rüstungswahnsinn einfach nicht mehr mitmachen wollte. Ein Jahr lang und länger in Veranstaltungen immer nur ausgelacht zu werden ist keine angenehme Erfahrung. Diese Erfahrung sitzt tief. Und gemeinsam mit den beiden anderen Faktoren, dem Geldmangel und der Außenpolitik der Sowjetunion, trägt das Trauma von 1983 dazu bei, der NATO ihre neuen Aufrüstungsentscheidungen deutlich schwer zu machen.
Liebe Freundinnen und Freunde, wir haben allen Grund, froh zu sein, und dies ist ein Erfolg von uns, ein kleiner Erfolg, und ich kann nur sagen: weiter geht es, auf in die nächste Runde!
— Die will ich doch noch abgeben.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen.
Sie haben Sorgen! Die GRÜNEN sind Ihr Problem, Herr Kollege, nicht unseres.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Ergebnis des Kopenhagener Gipfels kann sicher niemand zufrieden sein. Es wäre gut und richtig gewesen, wenn die Europäische Gemeinschaft — nicht zuletzt auch am Vorabend des amerikanischsowjetischen Gipfels — sich in der Lage gezeigt hätte, ihre internen Probleme zu lösen. Aber es besteht kein Zweifel, daß der Zeitpunkt für eine Entscheidung noch nicht reif war. Es sind in der Tat wichtige Annäherungen erzielt worden, auf denen wir jetzt in unserer Präsidentschaft aufbauen können.
Es ist unrichtig, der Bundesregierung oder irgendeiner anderen Regierung für den Ausgang des Gipfels in Kopenhagen einen Vorwurf zu machen. Es ist auch in der Tat nicht zu einem Austausch solcher Vorwürfe gekommen. Wir haben uns verständigt, daß der Strukturfonds deutlich erhöht und konzentriert wird. Es wäre falsch — meine Kollegen von der SPD, Sie sollten hier Ihre Meinung noch einmal überprüfen —, wenn wir den gesamten Strukturfonds verdoppeln würden. Dann würden wir die Reichen reicher machen, ohne denjenigen, die es brauchen, ausreichend helfen zu können. Es geht darum, die Mittel für den
Regionalfonds für die Staaten zu verdoppeln, bei denen eine zusätzliche Entwicklung erforderlich ist. Das sind die beiden neu beigetretenen Länder Spanien und Portugal, das ist natürlich Irland, das ist natürlich Griechenland, und das gilt zu einem gewissen Grade auch für bestimmte Regionen in Italien. Wir haben uns darauf verständigt, daß wir durch Konzentration der Erhöhung der Mittel erreichen wollen, daß für diese Gebiete eine Verdoppelung geschaffen werden kann. Auch die Einigung über eine vierte Einnahmequelle ist ein bedeutender Fortschritt, weil damit die Aufbringung der Mittel gerechter, nämlich stärker nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, erfolgen wird.
Die Einführung der Stabilisatoren in die gemeinsame Agrarpolitik wird ein wichtiger Schritt zur Begrenzung der Agrarausgaben sein. Aber widerstehen wir der Gefahr, dem einen vorzuwerfen, er kümmere sich mehr um die Gruppe, und dem anderen vorzuwerfen, er kümmere sich um jene Gruppe! Wir dürfen nicht die Stahlarbeiter gegen die Bauern ausspielen. Beiden muß in einem Prozeß schwerwiegender Strukturanpassungen geholfen werden.
Hier haben Sie zu Recht, Herr Kollege Vogel, auf die Verzweiflung vieler Menschen an Rhein und Ruhr und im Saarland hingewiesen; darüber wird morgen noch zu debattieren sein. Nur bitte ich Sie, auch zu erkennen: Die einzigen wirklichen Ausdehnungsmöglichkeiten, die wir für neue Arbeitsplätze haben, liegen weitgehend im Dienstleistungssektor und in der Flexibilisierung unseres Arbeitsmarktes. Bitte helfen Sie uns, das Korsett gesetzlicher Einschränkungen zu beseitigen, und denunzieren Sie nicht jeden Schritt in dieser Richtung als Sozialabbau! Es ist in Wahrheit Hilfe für die Arbeitslosen und für die, die Sorge um ihre Arbeit haben.
Meine Damen und Herren, wir werden diese Präsidentschaft mit allem Ernst betreiben,
weil wir wissen, daß wir unsere wirtschaftlichen Probleme nur dann lösen können, wenn wir die Kraft eines Marktes von 320 Millionen Verbrauchern sich entfalten lassen,
und wenn wir in der Währungspolitik weitere Fortschritte machen,
aufbauend auf dem Europäischen Währungssystem in Richtung auf eine Währungsunion, wenn wir eine technologische Zusammenarbeit in Europa schaffen, denn nur die neuen Technologien können es uns möglich machen, mit den Vereinigten Staaten und Japan mitzuhalten, unseren großen Wettbewerbern am Weltmarkt. Dieser Aufgabe stellt sich die Bundesregierung. Ich denke, hier sollten wir konstruktiv zusammenarbeiten.
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Bundesminister Genscher
Offen gesagt, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, ich habe mich gewundert, wie Sie sich ausgerechnet in einer Debatte, wo es auch um Mittelstreckenraketen geht, auf Helmut Schmidt berufen konnten.
Fast auf den Tag genau vor acht Jahren, am 14. Dezember 1979, habe ich in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag den NATO-Doppelbeschluß begründet. Ich habe damals an die Sowjetunion und ihre Verbündeten appelliert, unsere Absichten ernst zu nehmen und ihren Beitrag zu leisten, damit die Rüstungsspirale gestoppt und schließlich zurückgedreht werden kann.
Das Rüstungskontrollangebot
— so hieß es in dieser Regierungserklärung —
will verhindern, daß sowjetische Vorrüstung und westliche Nachrüstung einen neuen Rüstungswettlauf einleiten.
Die Regierungserklärung schloß mit dem Versprechen:
Wir werden mit Geduld und Beharrlichkeit alle
gegebenen Verhandlungsmöglichkeiten nutzen.
Das Protokoll verzeichnet anhaltenden Beifall bei allen Fraktionen. Die Regierung aus FDP und SPD konnte auf dem schweren Weg, den sie antrat, auf die Unterstützung der damaligen Opposition aus CDU und CSU rechnen.
Die Wege von damals bis zum 8. Dezember 1987, dem Tag der Unterzeichnung des Abkommens über die Mittelstreckenraketen, haben sich auf lange Strecken voneinander entfernt, zuweilen haben sie sich auch gekreuzt. Jetzt feiern den Vertrag diejenigen, die auch um den Preis der Inkaufnahme verbleibender sowjetischer Raketen gegen unsere Stationierung eingetreten sind, und auch diejenigen, die Bedenken hatten gegen die doppelte Null-Lösung. Besonderen Anlaß zur Befriedigung haben jedoch die, die der Philosophie der Entscheidung vom Dezember 1979 in ihren beiden Teilen auch unter schwersten Bedingungen bis zum Schluß und mit allen Konsequenzen treugeblieben sind.
Meine Damen und Herren, wer unseren schweren Weg — wenn Sie mir diese Feststellung mit dem Blick auf meine politischen Freunde erlauben — in diesen acht Jahren mitgegangen ist, weiß, wovon ich rede. Wir werden mit dieser Standhaftigkeit und Konsequenz auch in Zukunft handeln, wenn es darum geht,
die Politik der aktiven Friedenssicherung durchzusetzen.
— Darauf komme ich gleich.
Es ist ja ein kleines Wunder geschehen. Der Wettbewerb um den größeren Anteil am Zustandekommen der doppelten Null-Lösung ist entbrannt.
Ein Zeitungskommentator hat daran Anstoß genommen. Ich sehe weder Anlaß zur Kritik noch zur Ironie, sondern nur zur Zufriedenheit. Es ist doch ein gutes Zeichen für die Friedensverantwortung in unserem Land, wenn die Parteien darum wetteifern, wer das meiste zu einem historischen Schritt zur Friedenssicherung beigetragen hat. Es hat schon schlechtere Themen in der politischen Auseinandersetzung bei uns gegeben.
Die Chance eines neuen außen- und sicherheitspolitischen Konsensus, die in diesem Wettstreit liegt, sollten wir nutzen, — wenn sie denn besteht. Wir werden einen solchen Konsensus noch brauchen. Wir sollten ihn in unserer besonderen Lage suchen, auch um unserer Soldaten in unserer Wehrpflichtarmee willen.
Meine Damen und Herren, wenn ich von Soldaten spreche, dann kann ich hier im Deutschen Bundestag als Mitglied der Bundesregierung nicht daran vorbeigehen, daß in diesen Tagen ein deutsches Gericht es für straflos erklärt hat, wenn man unsere Soldaten als „potentielle Mörder" bezeichnet. Wer das sagt, der sät Haß in unserem Volke. Er hat seine Friedensfähigkeit verloren.
Der Dienst in der Bundeswehr ist Dienst für den Frieden. Der Auftrag unserer Soldaten lautet nicht, andere Völker zu überfallen, Kriege zu führen, der Auftrag ist einfach und klar: Dienst zu leisten, damit der Frieden bewahrt bleiben kann. Meine Damen und Herren, der Soldat ist unser Bruder genauso wie der Kriegsdienstverweigerer. Beide haben das Recht auf Achtung, und keinen werden wir diffamieren lassen.
Meine Damen und Herren, wir werden unser Ziel der dauerhaften Friedenssicherung nur erreichen, wenn wir in der Analyse der Entwicklung ehrlich sind. Das bedeutet Festigkeit und Verhandlungsbereitschaft. Der Wille zur Verteidigung und der Wille zur Abrüstung waren notwendig. An keinem von beiden durfte es fehlen. Vor allem sind Stetigkeit, Berechenbarkeit und Kontinuität unserer Außen- und Sicherheitspolitik gefordert.
Gefordert ist auch die Einsicht, daß sich der unverzichtbare Zusammenhalt unseres Bündnisses nicht nur bei der Verteidigung, sondern auch bei der Abrüstungspolitik bewähren muß.
Die NATO ist keine Aufrüstungsgemeinschaft.
Sie ist eine wertbestimmte Sicherheitsgemeinschaft, für die Abrüstung und Rüstungskontrolle integraler Bestandteil ihrer Politik sind.
3434 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Bundesminister Genscher
Erforderlich war aber auch eine grundlegende Veränderung in der sowjetischen Haltung zu den Fragen der Abrüstung und des West-Ost-Verhältnisses. Auch im Westen waren neue Einsichten notwendig. Präsident Reagan hat das in eindrucksvoller Weise getan. Dafür ist ihm zu danken.
Das neue Denken bei der zunächst in ihrer Bedeutung von vielen unterschätzten, ja gescholtenen Begegnung von Reykjavik, die Erkenntnis, daß im nuklearen Zeitalter Sicherheit Kooperation verlangt und nicht Konfrontation, haben den Weg freigemacht.
Wenn Gorbatschow schließlich bereit war, die vom Westen lange Zeit vergeblich geforderte und von der Sowjetunion ebenso beharrlich abgelehnte gänzliche Beseitigung aller Mittelstreckenraketen weltweit zuzugestehen, so hat er jedenfalls in dieser wichtigen Frage seinen Worten Taten folgen lassen.
Für uns Europäer ist wichtig, daß die doppelte NullLösung die Bedrohung mit einer ganzen Kategorie von Vernichtungswaffen von uns nimmt. Sie schafft mehr und nicht weniger Sicherheit.
Genauso wichtig ist, daß beide Großmächte damit nicht haltmachen wollen, daß sie die uns ebenso bedrohenden strategischen Waffen in einem ersten Schritt um 50 % reduzieren wollen.
Zum Gesamtkonzept unserer Abrüstungspolitik gehören mit gleicher Dringlichkeit die weltweite Beseitigung der chemischen Waffen, die Herstellung konventioneller Stabilität durch Gleichgewicht und durch Beseitigung von Invasionsfähigkeit und die Erarbeitung eines Mandats für die nuklearen Kurzstrekkenwaffen. Dieses Konzept der NATO-Außenministerkonferenz von Reykjavik muß weiterentwickelt und den sich verändernden Gegebenheiten angepaßt werden.
Aber die unbestreitbar notwendige Fortschreibung dieses Konzepts darf uns nicht daran hindern, die Schritte zu tun, die heute schon möglich sind.
Der entscheidende geistige Durchbruch des Abkommens über die doppelte Null-Lösung besteht in der Einsicht, daß mehr Waffen keineswegs mehr Sicherheit bringen, daß vielmehr die Aussage in der Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" ihre Berechtigung hat und ihre Rechtfertigung erfährt.
Vernichtungswaffen werden aus freier Entscheidung derjenigen, die sie besitzen, aus der Hand gelegt und nicht als Konsequenz des Sieges des einen über den anderen. Das ist das Neue, das sich in diesen Tagen ereignet.
Diese Entscheidung verlangt Weitsicht, Verantwortung, Festigkeit und einen starken Willen, sich gegen altes Denken durchzusetzen, das es auf allen Seiten gibt. Wir werden diese Verantwortung und diese Festigkeit auch in Zukunft brauchen.
Nicht nur Verteidigung, auch Abrüstung verlangt Durchsetzungskraft und Standfestigkeit. Ganz sicher aber verlangt sie jenes neue Denken, das es allein möglich gemacht hat, die Rüstungsschraube nicht nur anzuhalten, sondern sie nach unten zu drehen. Dieser Sieg der Vernunft ist auch ein Anlaß zur Hoffnung. Aber diese Hoffnung wird sich nur erfüllen, wenn der gleiche Geist auch alle anderen Abrüstungsverhandlungen beseelt und wenn wir zwei prinzipielle Durchbrüche bei dem Mittelstreckenabkommen verwirklichen können, nämlich die asymmetrische Abrüstung zur Beseitigung von Überlegenheit und die wirksame Nachprüfbarkeit, auch durch Kontrolle vor Ort, zur Überwindung von Mißtrauen.
Abrüstungspolitik als ein wesentlicher Teil unserer Kriegsverhinderungsstrategie erfordert ein Denken über den Tag hinaus. Das verlangt zuallererst, daß wir den Grundsatz ernst nehmen, zu dem sich heute West und Ost bekennen: Wenn eine Seite überlegen ist, dann soll es an ihr sein, diese Überlegenheit abzubauen, und nicht Sache des Unterlegenen sein, gleichzuziehen. Die erste Verantwortung liegt dabei bei dem Überlegenen.
Der direkte Weg zur Abrüstung ist der bessere. Wer mehr Waffen hat, muß auch mehr abrüsten. Die Einsicht, daß derjenige, der überlegen ist, abrüstet, muß sich bewähren, wenn es entsprechend der NATO-Erklärung von Reykjavik darum geht, bei Kurzstrekkenraketen die sowjetische Überlegenheit durch Verhandlungen über gleiche Obergrenzen auf gleiche Obergrenzen zu beschränken und zu reduzieren.
Das ist der Weg, der zum Gleichgewicht führt. Sie haben recht, Herr Kollege Rühe: Deshalb kann eine Modernisierung nicht auf der Tagesordnung stehen.
Genauso bedeutsam ist die konsequente Beachtung der Tatsache, daß nukleare Waffen eine politische Funktion zu erfüllen haben. Die Verwischung der qualitativen Unterschiede zwischen atomaren und konventionellen Waffen kann leicht den abschüssigen Weg zu Kriegsführungsszenarien und damit zur Führbarkeit von Kriegen eröffnen. Bei der Strategie der flexiblen Erwiderung handelt es sich um eine Strategie der Kriegsverhinderung. Abschreckung bedeutet Abschreckung von Krieg, von jeder Art von Krieg, vom nuklearen ebenso wie vom konventionellen.
Es geht deshalb um die Ausweitung der Optionen für die Kriegsverhinderung. Aber es kann beim Besitz nuklearer Waffen nicht um den Ausgleich konventioneller Schwachstellen gehen.
Jedes andere Verständnis müßte unser Land zum atomaren Experimentierfeld machen. Ein solches Verständnis wäre das Gegenteil der politisch-operativen Leitsätze der NATO-Strategie.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3435
Bundesminister Genscher
Modernes sicherheitspolitisches Denken darf sich nicht darin erschöpfen, Kriege weniger schrecklich zu machen, sondern es muß die Voraussetzungen verbessern, um sie unführbar zu machen. Es muß darum gehen, wirksame Strukturen kooperativer Sicherheitspolitik zu entwerfen. Diese Verantwortung darf niemand mehr für sich allein oder gar gegen den anderen wahrnehmen wollen.
Zur eigenen Fähigkeit der Kriegsverhinderung durch Abschreckung von der Aggression muß auf beiden Seiten die Beseitigung der Fähigkeit zur Invasion hinzukommen, wie das für unser Bündnis heute schon gilt. Unter den Bedingungen des nuklearen Zeitalters muß es darum gehen, den Bestand konventioneller nuklearer Potentiale als einen wechselseitigen Zwang zu verstehen, militärische Auseinandersetzungen erst gar nicht entstehen zu lassen, Konflikte nur noch auf dem Verhandlungsweg zu lösen und von der Konfrontation allmählich, aber unaufhaltsam zur Zusammenarbeit überzugehen.
Kooperative Sicherheitspolitik erfordert auch die Entwicklung entsprechender Mechanismen eines weltweiten politischen Krisenmanagements. Die Zustimmung, die heute im Deutschen Bundestag zur doppelten Null-Lösung ausgedrückt wird, ist auch eine Botschaft an das frei gewählte amerikanische Parlament, verbunden mit der Erwartung, daß der Vertrag, den wir wollen, der in unserem deutschen und europäischen Interesse liegt, dort die zur Ratifizierung notwendige Mehrheit finden möge.
Nicht nur bei den Verhandlungen über die chemischen Waffen, über die konventionelle Stabilität, über weitere vertrauensbildende Maßnahmen, bei denen die Europäer selbst am Verhandlungstisch sitzen, auch für die konsequente Fortsetzung des KSZE-Prozesses und für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen mit den Staaten des Warschauer Pakts tragen die europäischen Verbündeten der USA eine große Verantwortung. Niemand kann uns diese Verantwortung abnehmen, auch nicht die Vereinigten Staaten. Die Stimme Europas, die europäische Identität, wie sie zuletzt in der Plattform der Westeuropäischen Union zum Ausdruck kam, darf nicht verfremdet werden zu einer Stimme der Bedenken, der Angst vor der eigenen Courage. Die Interessen Europas verlangen, daß wir Verteidigung, Rüstungskontrolle und Abrüstung als integrale Bestandteile unserer Sicherheitspolitik verstehen
und daß wir durch Zusammenarbeit und Dialog mit unseren östlichen Nachbarn aus neuem Denken eine neue Wirklichkeit werden lassen. Die zentrale deutsch-sowjetische Beziehung hat dabei ein durch Geschichte und Geographie, durch Interessen und Verantwortung bestimmtes besonderes Gewicht.
Meine Damen und Herren, nicht Kleinmut und Spekulationen über das, was in der Sowjetunion vor sich geht, dürfen uns leiten, sondern allein der klare und nüchterne Wille, jede Möglichkeit der Zusammenarbeit zu nutzen und jede Entwicklung zur Öffnung im Osten durch diese Zusammenarbeit zu fördern.
Durch vertiefte, in beiderseitigem Interesse liegende Zusammenarbeit muß ein unumkehrbarer, ein systemöffnender Prozeß gestaltet werden. Er muß der gegenseitigen Abhängigkeit ebenso Rechnung tragen wie der unteilbaren Verantwortung für das Oberleben der Menschheit. Es muß letztlich ein irreversibler, zwangsläufiger Prozeß der Zusammenarbeit werden.
Bei der Durchsetzung dieser Politik wiegt die breite Unterstützung der Völker schwerer als die Kräfte der Beharrung und des Kleinmuts, die sich nur schwer aus den alten Feindbildern und dem Denken in rein militärischen Kategorien lösen können.
Präsident Reagan forderte bei der Unterzeichnung des Mittelstreckenabkommens, wahren und dauerhaften Frieden zu schaffen. Generalsekretär Gorbatschow würdigte das Streben der Menschen nach einer Welt ohne Kriege. Beide meinen das gleiche.
Kooperative Bemühungen um Sicherheit sollen unsere Welt friedlicher machen. Sie sollen die Grundlagen schaffen, um gemeinsam die Zukunftsaufgaben der Menschheit bewältigen zu können.
Meine Damen und Herren, wir sind Realisten. Wir wissen, wie schwer auch die nächsten Schritte sein werden auf dem Weg zur Abrüstung, zu mehr Entspannung, auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung. Hans Jonas sagt uns, daß es nicht um die überschwengliche Hoffnung auf ein irdisches Paradies geht, sondern um die bescheidenere Hoffnung auf die weitere Wohnlichkeit der Welt und ein menschenwürdiges Fortleben unserer Gattung.
Wir sind mit dem Abkommen über die doppelte Null-Lösung diesem Ziel ein kleines Stück nähergekommen. Aber noch wichtiger ist, daß wir mit diesem Abkommen den Beweis erbringen: Abrüstung ist möglich, Abrüstung kann man vertraglich erreichen, Abrüstung kann man nachprüfen. Wir müssen Abrüstung nur wollen, und das auf beiden Seiten.
Meine Damen und Herren, wenn es darum geht, im nuklearen Zeitalter durch Zusammenarbeit das Überleben der Menschheit zu sichern, dann sollte man gerade am Tag der Menschenrechte daran erinnern, daß es Freiheit und Menschenrechte immer nur dort geben kann, wo auch noch Leben ist.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spöri.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Bundesaußenminister hat sich hier vorrangig mit einem erfreulichen Gipfel beschäftigt; das ist gut, und das ist richtig. Die
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Dr. Spöri
CDU hat bei dieser Rede, finde ich, ein bißchen zuwenig geklatscht;
sie war in großen Teilen sehr gut, meine Damen und Herren. Aber die Beschäftigung mit diesem positiven Gipfel sollte hier debattenstrategisch nicht von dem ablenken, was in Kopenhagen passiert ist.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung hervorgehoben, daß Europa angeblich durch ein abgestimmtes Handeln wirtschaftspolitisch auf die Krise an den Devisenmärkten reagiert und die wirtschaftspolitische Verantwortung wahrgenommen hätte. Meine Damen und Herren, diese Feststellung ist nicht etwa nur Schönfärberei; es ist die schlichte Unwahrheit. Die Wahrheit ist: Der europäische Gipfel in Kopenhagen hat wieder einmal in aller Deutlichkeit gezeigt, daß wir uns heute in einer sehr schweren Krise der ökonomischen Führung in Europa befinden. Er hat in einer prekären wirtschaftlichen Krisenlage nicht einmal den Versuch abgestimmter wirtschaftspolitischer Aktion gebracht. Das ist ein schlimmes Armutszeugnis für Europa. Die Bundesrepublik als größte Handelsnation der Welt ist wirtschaftspolitisch inzwischen auf internationalem Parkett auf Zwergengröße zusammengeschrumpft. Der Verlust an wirtschaftspolitischer Führungskompetenz, d. h. ganz konkret das Gefälle von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl wird gerade in diesen Tagen unübersehbar.
Das Wort vom Politikversagen macht zu Recht die Runde in der Bundesrepublik Deutschland.
— Sie haben ihn doch abgewählt, Herr Bohl!
Die Bundesregierung ist sich offenbar der internationalen Verantwortlichkeit ihrer nationalen Wirtschaftspolitik nicht hinreichend bewußt. Nicht beachtet hat die Bundesregierung auch viel zu lange, daß heute Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht ohne Bezug zur existentiellen Krise unserer Umwelt betrieben werden kann.
Angesichts des gigantischen Investitionsbedarfs zum Schutz und zur Sanierung unserer Umwelt ist eine Integration dieser beiden Politikbereiche unverzichtbar. Das sterile Kästchendenken in der Politik: hier Umweltpolitik, da Wirtschaftspolitik, bei dem immer noch die Umwelt stupid gegen Arbeitsplätze ausgespielt wird, ist nicht nur wirtschaftspolitisch Unsinn, sondern gefährdet unsere menschliche Existenz. Das müssen wir hier endlich in seiner vollen Dramatik erkennen. Wir müssen auch im Bundestag danach handeln.
Wir Sozialdemokraten haben mit unserem Programm „Arbeit und Umwelt" einen möglichen Weg gewiesen — es gibt sicherlich auch andere diskussionsfähige Wege —, wie der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für uns und unsere Kinder und Enkel mit der dringenden Notwendigkeit, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, versöhnt werden kann.
Die Bundesregierung hat jahrelang unser Konzept dafür aus rein ideologischen Gründen zurückgewiesen. Der Bundesfinanzminister hat noch am 9. September in der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag unser Programm „Arbeit und Umwelt" mit wahrheitswidrigen Argumenten diffamiert. Sie haben einfach nicht begriffen, daß die ökologische Krise und die Beschäftigungskrise gemeinsam gemeistert werden müssen und gemeinsam gemeistert werden können.
Fünf Jahre lang haben Sie alle, die hier auf dieser Regierungsbank sitzen — leider sind Herr Bangemann und Herr Stoltenberg nicht mehr da — , mitten in einer weltwirtschaftlichen Aufschwungphase die Massenarbeitslosigkeit in unserem Land achselzuckend hingenommen. Das ist die Wahrheit. Fünf Jahre lang haben Sie unsere ökologische Krise nur in Sonntagsreden so richtig ernst genommen.
Erst der Krach an den Börsen und die Verluste der Aktionäre haben Sie jetzt richtig wachgerüttelt. Jetzt sind Sie in einen hastigen und halbherzigen Aktionismus verfallen.
Das vom Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung so gefeierte Konjunkturprogramm, das ja nicht so genannt werden darf, weil Herr Stoltenberg sonst böse würde, ist aber nichts weiter als weiße Salbe. Sie versuchen, Substanz, d. h. wirksames wirtschaftspolitisches Handeln durch Propaganda und viele Worte zu ersetzen. Die Reaktion auf den Finanzmärkten hat gezeigt, daß Ihr Programm dort sofort als dünnes Brett durchschaut worden ist. Die Wirtschaft hat mit massiver Kritik, ja sogar mit höhnischem Gelächter bis in die Koalitionsreihen hinein, bis zum Wirtschaftsgrafen hin reagiert.
Sie haben mit Ihrem Konjunkturprogramm aber auch die Widersprüchlichkeit Ihrer gesamten Wirtschaftspolitik peinlich entlarvt.
Jahrelang hat die Koalition uns hier gebetsmühlenhaft ihre angebotsorientierte Wirtschaftsphilosophie vorgetragen, die einfache Formel: mehr Gewinne — mehr Investitionen — weniger Arbeitslosigkeit.
Wie sehen die Erfahrungen nach fünf Jahren dieser angebotsorientierten Politik aus? Der Umfangsverteilungseffekt bei den Einkommen ist durchaus stattlich. Die Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sind um 61 % gestiegen. Die Anlageinvestitionen — und das ist entscheidend — sind in der gleichen Zeit aber nur um real 8 % gestiegen. Deshalb haben wir heute 400 000 Arbeitslose mehr als vor fünf Jahren — mit weiter steigender Tendenz. Sie haben es als erste Regierung der Nachkriegszeit fertiggebracht, einen starken konjunkturellen Aufschwung nicht zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu nutzen. Das ist in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik einmalig.
Nach diesen unwiderlegbaren Fakten muß jetzt nach diesen fünf Jahren festgestellt werden: Die einseitige, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung ist gescheitert. Sie können sich nicht länger Illusionen machen. Ihre wirtschafts- und fi-
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Dr. Spöri
nanzpolitische Glaubenslehre hat in der Praxis völlig versagt, meine Damen und Herren.
Ihr halbherziges Konjunkturprogramm ist ja bereits ein zaghaftes Eingeständnis in diese Richtung. Aber die Lehren aus den bitteren Erfahrungen der letzten fünf Jahre haben Sie immer noch nicht gezogen.
Worum geht es denn eigentlich? Unternehmensgewinne, meine Damen und Herren, müssen sein, wenn in unsere Wirtschaft investiert werden soll. Aber Ihr Fehler, den Sie als Koalition gemacht haben, war es doch, daß Sie mitten im weltwirtschaftlichen Boom die finanzpolitischen Spielräume für die weitere Stärkung eh steigender Unternehmensgewinne jahrelang einseitig ausgeschöpft haben. Jetzt haben Sie finanzpolitisch Ihr Pulver verschossen. Für die notwendige Stärkung der Binnennachfrage ist nichts mehr in der Kasse.
In dieser verfahrenen Situation versuchen Sie jetzt, Ihr Steuerpaket 1990 als Maßnahme zu verkaufen, die das Wachstum bereits im Jahre 1988 stärken soll. Das können Sie selbst nicht glauben. Und Sie glauben wohl auch nicht daran, daß der gemeinsame Binnenmarkt in Europa, der — hoffentlich — 1992 geschaffen sein soll, die Konjunktur schon im Jahre 1988 belebt. Diese Behauptung ist geradezu lachhaft. Sie glauben doch nicht im Ernst daran, daß die Konjunktur durch die Privatisierung von Staatsanteilen an Unternehmen wie Volkswagen, VIAG oder DSL-Bank besser läuft und auch nur ein einziger Arbeitsplatz zusätzlich geschaffen wird. Herr Bangemann soll mir einmal zeigen, wie das geht. Nein, nein, die Motive sind ganz andere: Sie wollen durch diese Verkäufe Kasse machen, indem Sie Volksvermögen verscherbeln. Sie wollen Kasse machen, um den Bundeshaushalt statistisch zu schminken. Das ist das wahre Motiv dieser Verkaufspolitik, meine Damen und Herren.
Wenn man sich das Kreditprogramm einmal ansieht, das der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung so gelobt hat und das auf internationaler Ebene angeblich auf so große Zustimmung stößt, dieses Kreditprogramm, das Sie jetzt bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau auflegen wollen, dann könnte man fast meinen, daß das ein bißchen aus unserem Programm „Arbeit und Umwelt" abgeschrieben worden ist.
Wir hätten zwar überhaupt nichts gegen ein gutes Plagiat — das würden wir sogar begrüßen, meine Damen und Herren — , aber leider haben Sie falsch abgeschrieben.
Denn Sie haben es versäumt, für die zusätzlichen Investitionen der Gemeinden, die Sie damit anregen wollen, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen.
So wie Ihr Programm jetzt konzipiert ist, wird es nur den finanzstarken Kommunen nützen, die ohnehin investieren können. Sie nehmen Ihre Zinssubventionen natürlich gerne mit, ohne zusätzlich zu investieren. Die vielen finanzschwachen Städte und Gemeinden aber, die keinen Spielraum mehr für zusätzliche Kredite haben, werden dieses Programm nicht in Anspruch nehmen können. So ist die Situation.
Damit wird den Gemeinden und Regionen, die besonders dringend Hilfe benötigen, gerade nicht geholfen. Mit diesem Programm legen Sie einen atemberaubenden wirtschaftlichen Zickzackkurs hin. Ich gebe ja zu, meine Damen und Herren von der Koalition: Wir waren in unserer Regierungszeit wirtschaftspolitisch auch nicht die Weltmeister.
Aber wir haben — unter schwierigsten weltwirtschaftlichen Bedingungen einer massiven Ölpreisexplosion und weltweiter Rezession —
mit einer offensiven Investitionspolitik in der zweiten Hälfte der 70er Jahre immerhin mehr als 800 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Bei Ihnen sind dagegen am Ende des Aufschwungs 400 000 Menschen mehr arbeitslos als im Tiefpunkt der letzten Rezession. Das sind die Fakten, das sind die Ergebnisse Ihrer Politik. Sie können sich nicht länger daran vorbeimogeln.
— Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Abgeordneter Spöri, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gerne.
Herr Dr. Spöri, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Regierung Kohl seit Regierungsantritt darum besorgt war, daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden konnten, daß zwischenzeitlich darauf verwiesen werden kann, daß die Zahl von neuen Arbeitsplätzen bei weitem über 600 000 liegt und daß im gleichen Zeitraum vor der Regierungsübernahme durch Kohl über 900 000 Arbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland vernichtet worden sind?
Lieber Herr Kollege, die Unterschiede liegen darin: Wir haben in einer Zeit der Ölpreisexplosion und einer weltweiten Rezession in der zweiten Hälfte der 70er Jahre durch eine offensive Investitionspolitik die Arbeitslosenquote — statistisch nachweisbar — massiv abgesenkt. Bei Ihnen war es genau umgekehrt. Bei Ihnen haben wir jetzt 400 000 zusätzliche Arbeitslose gegenüber dem Tiefpunkt der Rezession im Jahre 1982.
3438 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Herr Abgeordneter Spöri, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Urbaniak? — Einverstanden. Bitte sehr.
Herr Kollege Spöri, können Sie mir bestätigen, daß wir es nicht nur in diesem Jahr mit einer steigenden Arbeitslosigkeit zu tun haben, sondern auch für das kommende Jahr von den Sachverständigen weit mehr als 40 000 zusätzliche Arbeitslose angekündigt sind?
Dies ist leider so. Die Entwicklungstendenz im Sachverständigengutachten ist so. Das kann ich nur bestätigen.
— Bitte, Herr Kollege.
Herr Spöri, sind Sie auf Grund meines Nachfassens bereit, jetzt endlich meine Frage zu beantworten?
Natürlich. Ich habe sie schon beantwortet, aber ich kann die Antwort noch einmal variieren. Was Ihnen nicht paßt und was Ihnen stinkt, ist die Tatsache, daß ich hier festgestellt habe, daß Sie es als Koalition nicht geschafft haben, mitten in einem weltwirtschaftlichen Boom den hohen Arbeitslosigkeitssockel abzubauen. Das sind die Fakten.
Wir gehen in eine sehr schwierige weltwirtschaftliche Situation mit einem hohen Arbeitslosensockel hinein. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, meine Damen und Herren.
Sie sollten aus Ihren politischen Defiziten lernen. Auch wir haben politische Defizite gehabt. Auch wir haben daraus lernen müssen. Deshalb haben wir unser Programm „Arbeit und Umwelt" als Programm für ein qualitatives Wachstum konzipiert, das 400 000 Dauerarbeitsplätze schafft und zugleich notwendige Aufgaben im Bereich der Ökologie erfüllt.
Davon ausgehend haben wir als unsere Antwort auf die drohende Gefahr einer bevorstehenden Rezession in der vergangenen Woche unsere Initiative „Arbeit, Umwelt und Investition" als rasch wirksames Sofortprogramm vorgelegt. Ein wesentliches Element dieses Programms — Herr Kollege, das ist der entscheidende Unterschied zu Ihrem Pseudoprogramm — sind gezielte Hilfen für die finanzschwachen Regionen und Gemeinden, die auf sich allein gestellt nicht die notwendigen Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Lösung von Umweltproblemen durchführen können. Dies geht nur, wenn wir dort den Druck der kommunalen Soziallasten mindern. Anders geht es nicht. Ihr halbherziges Konjunkturprogramm wird nirgendwo ernst genommen. Es wird deshalb auch nicht von unseren internationalen Partnern als ein Zeichen guten Willens, geschweige denn als ein substantieller deutscher Beitrag zu einer international koordinierten Politik für mehr Beschäftigung akzeptiert werden. Sie können sich aus Ihrer weltwirtschaftlichen Verantwortung nicht länger herausstehlen.
Die Bundesbank hat ihre Möglichkeiten weitestgehend ausgeschöpft. Die Verantwortung liegt gerade währungspolitisch jetzt bei der Bundesregierung. Sie liegt in der Notwendigkeit, wirklich einen ernst zu nehmenden Beitrag zur Stärkung der Binnennachfrage zu leisten. Nur dies kann im Rahmen einer international abgestimmten Aktion die Handelsbilanzungleichgewichte verringern und die Devisenmärkte nachhaltig stabilisieren.
Meine Damen und Herren, stellen Sie sich endlich dieser Verantwortung. Erfüllen Sie Ihre Pflicht. Mit Aussitzen und Schönfärberei ist es nicht mehr getan. Handeln Sie endlich, damit die Massenarbeitslosigkeit nicht noch weiter steigt und unsere Umwelt weiter zerstört wird. Wir Sozialdemokraten sind bereit, Sie zum Wohle unsres Landes und unserer Bürger dabei zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben es heute morgen erneut erlebt: Die europapolitischen Katastrophenredner haben wieder einmal Hochkonjunktur. Ihr Repertoire ist offenkundig unerschöpflich. Da ist die Rede von Scherbenhaufen, Krise, Scheitern, Handlungsunfähigkeit
oder, wie Sie, Herr Vogel, formuliert haben, von einem eklatanten Fehlschlag. Wenn wir diese pauschalen Reaktionen nicht schon fast nach jedem europäischen Gipfel bis zum Überdruß immer wieder gehört hätten, könnte es die Gemüter vielleicht noch erregen, so aber beim besten Willen nicht.
Diese Inflation der Negativurteile — auch Frau Wieczorek hat sich ja dort eingereiht — , die sich selbst bestätigend immer neue produzieren, verstellt den Blick für die Realitäten.
Sie schafft vielmehr — diese Feststellung scheint mir sehr wichtig zu sein — in breiten Schichten der Bevölkerung teils Gleichgültigkeit und teils Enttäuschung gegenüber Europa. Auch das ist eine ernste Gefahr für das europäische Einigungswerk.
Keiner käme doch ernsthaft auf den Gedanken, von einem Scheitern des Föderalismus zu reden, wenn sich die Kultusministerkonferenz in der Bundesrepublik wieder einmal nicht über wichtige Fragen der Neuregelung des Abiturs einigen kann oder wenn wir in Fragen des Finanzausgleichs zwischen den Ländern unterschiedliche Auffassungen haben. Lassen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3439
Bohl
Sie doch bei Ihrer Kritik die Kirche im Dorf, meine Damen und Herren von der Opposition.
Ich kann mich noch entsinnen, was Sie, als es damals, Herr Vogel, um die Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte ging, für Horrorgemälde an die Wand gemalt haben. Es hieß, wir würden nicht rechtzeitig ratifizieren, wir würden nicht zu Ende kommen. Davon konnte doch gar keine Rede sein. Alles, was Sie in diesem Zusammenhang immer beschwören, trifft doch gar nicht ein.
Was ist — das ist doch die Frage — in Kopenhagen nun wirklich geschehen?
Klären wir das doch einmal ganz genau. Die Staats- und Regierungschefs haben über ein Bündel schwerwiegender und komplizierter Probleme, wie sie im Delors-Papier zusammengefaßt sind, nicht abschließend entscheiden können; das ist der Sachverhalt. Es waren zu viele Detailpunkte nach den umfangreichen Papieren der dänischen Präsidentschaft bei den vorbereitenden Arbeiten nicht geklärt worden. Die Kommission hatte die von den nationalen Regierungen vorgelegten Vorschläge nicht hinreichend aufgearbeitet und nach meinem Eindruck nicht zur Genüge geprüft, ob und wie sie mit dem Delors-Paket zusammengefügt werden könnten. Ich finde, diese Arbeit mußte vorher geleistet werden.
Dieser Gipfel war mit Detailpunkten belastet, so daß man vernünftigerweise Ergebnisse weder erwarten konnte noch hätte überhaupt versuchen dürfen, auf dieser unsicheren Grundlage zu einem Ergebnis zu kommen.
Sie wissen, Herr Kollege Vogel — ich will auch das offen sagen —, wie schwierig es für kleine Länder mit kleiner Bürokratie und Verwaltung ist, so schwierige Dinge zu bewerkstelligen.
Ich will das einmal mit dieser Deutlichkeit hier sagen.
Es ist ja bei vergleichbaren Gipfeln ähnlich gewesen. Deshalb ist es richtig gewesen, daß sich die Regierungschefs darauf verständigt haben, nicht zu entscheiden, zu vertagen und einen neuen Anlauf zu unternehmen. Daher kann auch keine Rede davon sein, daß in erster Linie die deutsche Delegation hier gemauert hat. Es waren zu viele unterschiedliche Fragen und Wünsche gerade im Agrar- und Finanzkomplex offen. Es war noch keine Entscheidungsreife gegeben. Ich glaube, es ist deshalb gut, daß wir erst im Februar in Brüssel dann eine Entscheidung zu erwarten haben.
Herr Abgeordneter Bohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Herr Präsident, wenn ich es nicht auf die Redezeit angerechnet bekomme, gerne.
Es geht auf Kosten der Mittagspause, meine Damen und Herren, damit Sie sich darüber in klaren sind.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Schily.
Herr Kollege Bohl, wollen Sie mit Ihren Ausführungen tatsächlich der Öffentlichkeit gegenüber die Behauptung aufstellen, daß das so sympathische Land Dänemark für das Scheitern des Gipfels verantwortlich ist?
Herr Kollege Schily, das habe ich nicht gesagt.
Ich habe nur gesagt, daß es — das haben wir immer wieder festgestellt — für kleine Länder, wenn sie die Präsidentschaft im Rat haben, ausgesprochen schwierig ist, bei sehr, sehr komplizierten Sachverhalten die genügende Vorarbeit zu leisten, um die unterschiedlichen Interessen zusammenzufügen.
— Das haben wir x-mal erlebt. Ich will als Beispiel Griechenland — wir haben den Athener Gipfel gehabt — und andere Länder nennen. Ich kritisiere das ja doch nicht in der Weise, daß ich sage: Die sind schuld, und wir haben keine Schuld. Ich nehme also keine einseitige Schuldzuweisung vor, sondern ich sage nur: Es bereitet kleineren Ländern Schwierigkeiten, so etwas vorzubereiten. Bei diesen Urteil bleibe ich. Ich glaube, darin sind wir uns — unter vier Augen hört man das auch von Ihren Kollegen — ja einig.
Ich finde, Frau Kollegin Traupe, die SPD hat es schon gerade nötig, in Sachen Europa zu jammern. Gerade Sie hatten doch in Ihrer Regierungszeit nicht die Kraft und den Mut, die richtige Politik durchzusetzen.
So wurde doch vollmundig beschlossen, die Europäische Union bis 1980 zu vollenden.
Aber die notwendigen Korrekturen wurden nicht vorgenommen. Statt dessen wurde immer wieder die falsche Politik betrieben, und es wurden falsche und faule Kompromisse geschlossen.
Zurück zu Kopenhagen. Erfreulich — trotz des auch uns nicht zufriedenstellenden Sachverhalts — ist die Tatsache, daß in einigen wichtigen Grundsatzfragen, die im deutschen Interesse liegen, Übereinstimmung erzielt wurde. Ich möchte auch an Herrn Vogel, der gerade gegangen ist, gerichtet sagen: Die Probleme sind dadurch keineswegs verschärft worden, sondern hier ist durchaus, wenn auch auf niedrigem Niveau,
eine Übereinstimmung in wichtigen Grundsatzfragen erzielt worden, so z. B. — das wird hier immer wieder geleugnet — daß die Mittel für die Strukturfonds aufgestockt werden; die Strukturfondsmittel für die vier schwachen Länder werden verdoppelt.
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Bohl
Darum kommt doch niemand herum, dies kann doch niemand leugnen.
— Jetzt im Hinblick auf die Mittagszeit und meine Redezeit bitte nicht. — Es ist auch bezüglich des Finanzierungssystems Einigkeit erzielt worden, nämlich dahin gehend, daß auch in Zukunft das Bruttosozialprodukt die Grundlage bei den Finanzzuweisungen sein soll. Ein wichtiger Fortschritt und ein Erfolg unserer Politik ist auch, daß die kostendämpfenden Maßnahmen im Bereich der Landwirtschaft auch in der Drosselung der Überschußproduktion und in Flächenstillegung bestehen soll. Wir haben uns also auch hier durchgesetzt. Letztlich — das soll nicht vergessen werden — hat sich die Gemeinschaft dazu bekannt, endlich die notwendige strikte Haushaltsdisziplin zu wahren.
Deshalb bin ich sehr, sehr zuversichtlich, daß es der deutschen Präsidentschaft ab dem 1. Januar nächsten Jahres gelingt, auf dieser Grundlage zu guten weiteren vorbereitenden Papieren,
bei denen es im Detail sicherlich auch Schwierigkeiten geben wird, zu kommen und daß wir in Brüssel einen gewaltigen Schritt weiter nach vorn kommen.
Hier wird ja auch immer schlankweg gesagt, die Vorschläge der Kommission — gerade zum Agrarbereich — sollten angenommen werden. Frau Kollegin Wieczorek, Sie haben das ja hier auch gesagt. Dazu muß ich bemerken: Das heißt doch, daß die Opposition will, daß sich die Bundesregierung mit einer Preispolitik abfindet, die die deutsche Landwirtschaft ruinieren würde. Das Hauptübel der Überproduktion würde doch dadurch gerade nicht beseitigt. Die Landwirte in Europa würden vielmehr weiterhin versuchen, ihre Einkommen durch eine Steigerung der Hektarerträge zu sichern und zu verbessern. Daß diese notwendige Agrarreform im wahrsten Sinne des Wortes eine Altlast ist, kann doch niemand leugnen.
Unsere Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch, und ich bin eigentlich sehr, sehr zuversichtlich, daß dieses Angebot an die Gemeinschaft auch auf große Resonanz stößt.
Lassen Sie mich noch einen ganz wichtigen Punkt anführen, der für meine Begriffe auch in der Debatte und in der öffentlichen Diskussion ein wenig untergeht. Wir müssen den Weg zum europäischen Binnenmarkt freimachen. Wir müssen deutlich machen, daß auch die Bundesrepublik Deutschland große Vorteile aus dem gemeinsamen Binnenmarkt zieht, daß er in unserem nationalen Interesse liegt. Der heutige große europäische Markt mit seinen 320 Millionen Verbrauchern ist zwar nicht mehr durch Zollschranken zersplittert, aber an deren Stelle sind eine Vielzahl von technischen, bürokratischen und administrativen Handelshemmnissen getreten. Mehr als 30 Milliarden DM muß die europäische Wirtschaft Jahr für Jahr aufwenden, um Grenzparcours und Handelshemmnisse zu überwinden.
Mit anderen Worten, der europäische Binnenmarkt ist auch eine Chance für uns. Er ist ein wirksamer Hebel für mehr wirtschaftliches Wachstum. Er kann zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit dienen, er kann eine Trumpfkarte bei der Einführung neuer Spitzentechnologien sein, und er eröffnet uns den Handlungsrahmen für eine wirksame europäische Umweltpolitik. Ich glaube, indem wir den Binnenmarkt vollenden, schaffen wir das Europa der Bürger, den Raum für eine Europäische Union und damit auch für die Selbstbehauptung Europas.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen weiterhin — darauf möchte ich besonders hinweisen — der Motor für die Einigung Europas sein. Dies ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, so hat es der Bundeskanzler wiederholt gesagt. Und es klang ja hier auch schon an: Das Mittelstreckenabkommen der Supermächte, auf das auch wir erfolgreich hingearbeitet haben, hat ohne Zweifel die Sicherheitslage in Europa verändert, und dem müssen wir Rechnung tragen, dem müssen wir mit einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit auch im außen- und sicherheitspolitischen Bereich entsprechen.
Deshalb wollen wir die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten stärken und gleichzeitig unsere spezifischen europäischen Interessen wahren. Ich glaube, auf dieser Grundlage können wir weitergehen und Frieden, Freiheit und Wohlstand für Europa erfolgreich sichern und auch unserer Verantwortung gegenüber anderen Teilen der Welt gerecht werden.
Meine Damen und Herren, trotz der Tatsache, daß Europa immer wieder Schwächeperioden auf Grund des Gegeneinanders der Einzelinteressen, der nationalen Interessen, und der Lähmungen durch die Bürokratie durchgemacht hat, bleibt festzustellen, daß Europa eine Erfolgsgeschichte ist und hat. Es hat sich viel verändert — in der Sache, in unseren Köpfen, in unseren Herzen.
Konrad Adenauer, der große Europäer, hat gesagt: Man kann Europa nicht bauen, wie man ein Haus baut; Europa ist eher wie ein Baum, der wächst, der eine Schicht nach der anderen ansetzt. Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher, daß dieser Baum weiter kräftig wachsen wird — zum Wohle Europas und aller seiner Bürger.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist wieder eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung erweitert werden, und zwar um den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Solidarität mit dem Widerstand der Bergleute und Stahlarbeiter gegen Arbeitsplatz- und Standortvernichtung. Es liegt Ihnen ein Antrag auf Drucksache 11/1511 vor. Diese
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3441
Vizepräsident Cronenberg
Vorlage soll zusammen mit dem Punkt 17 der Tagesordnung aufgerufen werden. Ist das Haus mit dieser Regelung einverstanden? — Widerspruch ergibt sich nicht. So kann ich das als beschlossen betrachten.
Wir setzen nunmehr die Beratung zu Punkt 16 der Tagesordnung fort.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Erler.
— Der Abgeordnete Erler, Entschuldigung. Herr Abgeordneter, sehen Sie, die Gleichberechtigung ist schon weiter, als man denkt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt unterschiedliche Wertungen dessen, was vorgestern am 8. Dezember 1987, in Washington besiegelt worden ist. Aber in einem Punkt sind sich alle Politiker und Kommentatoren einig, nämlich über die historische Dimension des INF-Abkommens. Auch der Herr Bundeskanzler hat heute morgen davon gesprochen, daß dieser Akt in die Geschichte eingehen werde.
Die Frage ist nur, ob das, was danach folgte, insbesondere bei ihm und auch bei dem Herrn Kollegen Rühe, dieser historischen Dimension angemessen war. Wir haben erlebt, daß die Debatte sehr schnell in eine kleinkarierte Parteienrechthaberei ausglitt und in Vaterschaftsklagen, die hier vorgetragen wurden.
Ich glaube nicht, daß das den Erwartungen entspricht, die die Menschen an das Niveau dieser Debatte in diesem historischen Moment haben.
Das ist auch deswegen schade, weil es sich lohnt einen etwas näheren Blick auf die vertragliche Seite dieses Erfolges, also des nun unterzeichneten Abkommens, zu werfen.
Das Paket umfaßt 31 Seiten, dazu zwei noch längere Protokolle und 100 Seiten MoU. In diesen komplizierten Texten sind alle Produktionsstätten und Stationierungsorte aufgeführt, sind die Methoden zur Zerstörung der Raketen und ihrer Abschußrampen beschrieben, und vor allem ist minutiös festgehalten, wie der Abrüstungsvorgang wechselseitig kontrolliert werden soll. Um die Philosophie dieses Inspektionsprogramms zu beschreiben, zitierte Präsident Reagan bei der Unterzeichnung ein russisches Sprichwort: Dowerjai no prowerjai. Ich weiß nicht, ob er wußte, daß das eine Lieblingslosung von Lenin war, die am besten so übersetzt werden kann: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Zwei Dinge an diesem Verifizierungsteil sind festhaltenswert, der praktisch das Mark des Washingtoner Abkommens darstellt. Das eine ist die Bereitschaft, Spezialisten der anderen Seite, also lebendige Menschen der anderen Nation, in die geheimsten Produktions- und Lagerstätten nuklearer Waffen zur Überprüfung des Verschrottungsprozesses hereinzulassen. Da mußten beide Weltmächte über ihren Schatten springen. Da ist Packeis gebrochen worden,
das bisher tonnenschwer auf allen Abrüstungsverhandlungen gelegen hat.
Das zweite könnte sich vielleicht als noch bedeutungsvoller herausstellen. Denn trotz des perfektionistisch anmutenden Inspektionsrasters: Lücken bleiben doch. Wo die Technik zwangsläufig Schlupflöcher offen läßt, kann nur Vertrauen weiterhelfen. Vielleicht hat die langsam gewachsene, schließlich sensationell weitgehende Bereitschaft, sich der Verdachtskontrolle des anderen zu unterwerfen, am Ende dieses wechselseitige Vertrauen möglich gemacht. Das ist jetzt ein Modell: Diese Symbiose von Kontrolle und Vertrauen hat den Durchbruch gebracht. Das kann man jetzt übertragen z. B. und als erstes auf ein Abkommen zur weltweiten Abschaffung aller chemischen Waffen. Hier liegt ein Teil der historischen Bedeutung des INF-Abkommens, dessen wir uns bewußt werden sollten, aus dem heraus wir Zukunft gestalten können.
Wieviel brauchbarer und hoffnungsvoller ist es, wenn man das Washingtoner Abkommen aus diesem mühsamen Annäherungsprozeß heraus, der auf beiden Seiten nicht selten die Grenze der Selbstverleugnung gestreift hat, begreift und nicht mit dem Holzhammerargument kommt, das wir heute hier auch gehört haben, nämlich nach dem Muster: Wir haben nachgerüstet, die Russen sind eingeknickt, und jetzt akzeptieren sie leise weinend das, was wir immer wollten, nämlich unsere Abrüstungsvorschläge.
Diese fatale Logik einer Abrüstung durch Aufrüstung hat durch das INF-Abkommen keinerlei Bestätigung erfahren.
Aber dieses falsche Konzept lebt weiter. Noch vor wenigen Tagen wollte man uns allen Ernstes in diesem Hause weismachen, daß der Weg zu einem C-
Waffen-Abkommen nach dieser Logik eben über die Aufnahme der Produktion neuer binärer Chemiewaffen in den Vereinigten Staaten führe. 10 Milliarden Dollar haben die Mittelstreckenwaffen des Westens gekostet. Niemand weiß heute, was die binären C-Waffen, die in sechs Tagen in die Endmontage gehen dürfen, kosten werden. Aber eines steht heute schon fest: Jeder Dollar dafür ist falsch investiert.
Das Modell INF heißt: Der Weg über die kontrollierte Abrüstung ist möglich, wenn auf dem letzten Stück des Wegs ein wenig Vertrauen hinzukommt. Und nur dieses Modell wird in Genf zum endgültigen Aus der teuflischen C-Waffen führen.
Alle Welt fragt nun, wie es weitergehen soll. Washington und Moskau peilen bereits den nächsten Schritt, nämlich die Halbierung der von Kontinent zu Kontinent reichenden Atomraketen, an. Und was, kann man fragen, trägt Europa zum Abrüstungsfahrplan bei, was die Bundesrepublik?
Es ist ein Chaos. Von Ihrer Seite hört man täglich etwas anderes. Am häufigsten warnen Vertreter der Koalition davor, jetzt an die nuklearen Kurzstreckenwaffen heranzugehen. Noch vor wenigen Tagen hat Staatssekretär Rühl in der „Neuen Züricher Zeitung" wörtlich festgestellt, die NATO müsse — ich zitiere —
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Erler
„gewisse Neuaufstellungen oberhalb der Minimalreichweite von 120 Kilometern ins Auge fassen" , um ein Gegengewicht zur Überzahl der sowjetischen Kurzstreckenwaffen zu schaffen, und er fügte hinzu — ich zitiere — : „Es ist klar, daß solche amerikanischen NATO-Missile-Systeme vor allem in der Zentralregion, d. h. für alle praktischen Zwecke in Westdeutschland, aufgestellt werden müßten."
Noch weiterreichende Vorstellungen entwickelte die 42. Tagung der Nuklearen Planungsgruppe der NATO in Monterey. Seitdem wissen wir, weshalb wir uns vor dem Abbau der Mittelstreckenwaffen nicht zu fürchten brauchen, weil nämlich schon technischer Ersatz in Sicht ist.
Was die Pershings und landgestützten Marschflugkörper nicht mehr erreichen, sollen nun in ihrer Reichweite verlängerte Lance-Raketen, see- und luftgestützte Cruise Missiles sowie sogenannte Abstandswaffen übernehmen. Der Code, unter dem das laufen soll, heißt: Modernisierung. Das klingt nämlich besser als Nachrüstung.
Es hat nun nicht an Stimmen gefehlt, auch von Sprechern der Koalition, die eine Nachrüstung von Kurzstreckenwaffen ablehnen. Wir haben heute von Herrn Rühe, vorher von Herrn Wörner, gehört, daß sie nicht auf der Tagesordnung stehen, jedenfalls nicht heute, vielleicht aber Anfang der 90er Jahre. Der eigentliche Grund ist, daß eine solche Nachrüstung nicht durchsetzbar sei. Wer soll eigentlich auch begreifen, daß ein Abbau bei den Kurzstreckenraketen, von denen der Warschauer Pakt nach NATO-Rechnungen 1 365 Systeme unterhält, der Westen aber ganze 88, unsere Sicherheit beeinträchtigen soll?
Das Motiv für die Modernisierungs- und Nachrüstungsideen ist schnell gefunden: Es geht um die Aufrechterhaltung einer Verteidigungsstrategie, die aus den 60er Jahren stammt und sich flexible response nennt. Die Verteidiger dieser Doktrin klammern sich verbissen an das Argument, sie habe immerhin bisher nicht versagt. Aber jetzt nach dem Abkommen von Washington erweist sich diese Strategie als Korsett. Dem westlichen Bündnis droht jetzt die Stagnation einer, so möchte ich das nennen: „strukturellen Nichtabrüstungsfähigkeit".
Verzweifelt versucht man, für die herausgebrochene Sprosse der Mittelstreckenwaffen Ersatz zu finden, um eine komplette Eskalationsleiter zu retten. Das ist der falsche Weg!
Wir müssen jetzt den Mut zu einer Triade der Abrüstung haben: bei den Chemiewaffen, bei den atomaren Kurzstreckenraketen, bei den konventionellen Waffen, wo wir bisher noch nicht einmal nachgefragt haben, was der neue sowjetische Begriff „razumnaja dostatotschnost" , der vernünftigen Suffizienz, eigentlich konkret heißen soll, geschweige denn selber über eigene quantitative und qualitative Vorstellungen verfügen, wie konventionelle Stabilität in Europa aussehen müßte. Am Ende eines solchen Prozesses werden in Ost und West die militärischen Strategien und Einsatzkonzepte ganz anders aussehen als heute.
Die Bedeutung der Erklärung des Politischen Beratenden Ausschusses der Warschauer-Vertragsstaaten vom 30. Mai dieses Jahres besteht vor allem in dem Angebot, gemeinsam über den Charakter und die wechselseitigen Perzeptionen dieser Strategien zu reden. Übrigens ist auch dies ein alter westlicher Vorschlag, den Anfang der 80er Jahre der heutige norwegische Verteidigungsminister Johan Jorgen Holst bereits mit seiner Idee eines „Seminar an Strategy" formuliert hat.
Wir fordern die Bundesregierung auf, im westlichen Bündnis dafür zu werben, diesen Vorschlag endlich aufzugreifen. Das Gebot der Stunde nach dem Washingtoner Abkommen kann nicht heißen — ich bin sofort fertig — , den alten löchrigen Sack der flexible response immer weiter zurechtzuflicken, sondern aus den Grundstoffen Abrüstung, Strategiedialog und vertrauensbildende Maßnahmen ein neues Kleid für ein konsensfähiges internationales Sicherheitssystem zu schneidern.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Lintner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß die Regierungserklärung des Bundeskanzlers zu dem soeben in Washington unterzeichneten Abrüstungsabkommen gerade am internationalen Tag der Menschenrechte, nämlich heute, abgegeben wird, ist sicher ein Zufall.
Und doch ist dieses Zusammentreffen nicht ohne eine tiefere Logik; denn Rüstungskontrolle und Abrüstung sind nur in einem Klima gegenseitigen Vertrauens zwischen Ost und West möglich. Ein solches Vertrauen kann nur geschaffen werden, wenn alle Felder der Politik in diesen Prozeß mit einbezogen werden. Eine Beschränkung auf ein Gebiet, z. B. die Sicherheitspolitik, ist dem Vertrauen als einem bestimmten Zustand völlig wesensfremd.
Deshalb war es folgerichtig und ganz in unserem Sinne, wenn der amerikanische Präsident bei seinem Treffen mit dem sowjetischen Generalsekretär auch nach der Verwirklichung der Menschenrechte gefragt hat. Die große Ernsthaftigkeit dieses Anliegens kommt dabei auch darin zum Ausdruck, daß künftig eine eigene Arbeitsgruppe sich des Themas „Menschenrechte" annehmen wird.
Die Menschen wollen in einer Welt leben, in der das Recht auf Leben, Freiheit und Glück für alle gewährleistet wird,
hat der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow in seiner Rede nach der Vertragsunterzeichnung in Washington u. a. gesagt. Dann hat er hinzugefügt:
Die Menschen wollen in einer demokratischen und freien Welt leben, wo alle gleich sind, wo jedes Volk ein Recht auf die Wahl seiner Gesellschaft ohne Einmischung von außen hat.
Ein großes Wort, meine Damen und Herren.
Die Lösung der deutschen Frage könnte das praktische Beispiel für die Gültigkeit dieses Wortes sein.
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Lintner
Wenn also Michail Gorbatschow mit seiner Ankündigung Ernst machen will, dann soll er dem deutschen Volk die — wie er sich wörtlich ausgedrückt hat —„Wahl seiner Gesellschaft ohne Einmischung von außen" ermöglichen.
Präsident Reagan hat uns aus dem Herzen gesprochen, als er bei seinem Besuch in Berlin öffentlich von Gorbatschow die Beseitigung der Mauer gefordert hat. Ebenso war es als der stellvertretende amerikanische Außenminister Whitehead wenig später im Gespräch mit Erich Honecker schlicht feststellte, den Amerikanern werde es immer unverständlich bleiben, wieso ein Staat auf seine eigene Bevölkerung schießen lasse. Gott sei Dank scheint in diesem Punkt bei der DDR-Führung heute Nachdenklichkeit zu herrschen; denn das Schießen ist an der innerdeutschen Grenze zumindest seltener geworden.
Vertrauensbildung ohne die Achtung von Menschenrechten — wie z. B. der Respekt vor der Persönlichkeit des einzelnen Menschen — ist unmöglich. Wenn für den Machterhalt jedes Mittel recht ist, dann werden Rechte und Pflichten letztlich zu bloßen, unglaubwürdigen Lippenbekenntnissen. Der tatsächliche Umgang mit Menschenrechten — nicht der verbale — ist sozusagen das Spiegelbild der eigentlichen politischen Absichten, ein Charakteristikum des politischen Systems und deshalb auch für alle übrigen Felder der Politik bedeutsam.
Als Deutsche liegt uns vor allem die menschenrechtliche Situation unserer Landsleute am Herzen. Hier tragen wir eine ganz unmittelbare und in den Augen der Welt sicher auch ganz selbstverständliche Verantwortung.
Wir haben daher nicht nur das Recht, sondern geradezu die Verpflichtung, an einem Tag wie heute jene Staaten des Ostblocks, in denen Deutsche und deutsche Minderheiten leben, daran zu erinnern, daß sie allen menschenrechtlichen, im Völkerrecht relevanten Verträgen und Vereinbarungen zugestimmt haben. Sie haben sich dadurch aber auch allen anderen Unterzeichnerstaaten gegenüber verpflichtet, die elementaren Menschen- und Bürgerrechte zu garantieren.
Damit haben sie sich — wie übrigens ganz selbstverständlich auch wir — einer Art ständigen weltweiten öffentlichen Kontrolle über den Grad der Verwirklichung dieser Vertragspflichten bei ihnen zu Hause unterworfen. Das bedeutet im Klartext: Wenn wir die Einhaltung dieser Zusicherungen einfordern, dann kann uns nicht entgegengehalten werden, das sei eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates.
Im übrigen müssen sich die Machthaber in den Ostblockstaaten natürlich auch von ihrer eigenen Bevölkerung fragen lassen, ob sie denn auch meinen, was sie draußen in der Welt beteuern und häufig in ihren eigenen Länderverfassungen sogar auch noch ausdrücklich schriftlich verankert haben. Der offene Widerspruch zwischen öffentlichen Bekundungen und der Wirklichkeit ist heute zu eklatant, als daß darüber nicht auch in diesen Ländern offen debattiert werden müßte.
Solange das aber z. B. in der DDR unter Strafdrohung steht, sind wir freie Deutsche im demokratischen Staat Bundesrepublik in besonderem Maße verpflichtet, über die menschenrechtliche Wirklichkeit in der DDR die Welt offen zu informieren. Selbstverständlich sind die Bundesregierung und wir an vernünftigen Beziehungen zu der Regierung der DDR und zu den Ostblockstaaten interessiert. Aber es wäre ein folgenschweres Mißverständnis, wenn daraus der Schluß gezogen würde, wir würden um der lieben Beziehungen willen zu Menschenrechtsverletzungen schweigen oder einfach zur Tagesordnung übergehen.
Selbstverständlich kann auch Schweigen manchmal hilfreich sein; zahlreiche Einzelbeispiele belegen das. Aber Schweigen zu bestimmten Zuständen allgemeiner Art droht in Komplizenschaft mit den Unterdrückern auszuarten. Diesen Vorwurf wollen wir uns nicht zuziehen.
Diese Haltung kommt auch darin zum Ausdruck, daß wir uns künftig von einer unabhängigen Wissenschaftlerkommission beim Bundesjustizministerium regelmäßig in objektiver Form über die menschenrechtliche Situation der Deutschen in den Staaten des Ostblocks berichten lassen. Der erste Bericht wird uns in Kürze als Bundestagsdrucksache vorliegen.
Für die Deutschlandpolitik möchte ich in diesem Zusammenhang besonders hervorheben, daß die Forderung der Deutschen nach Einheit zunächst und vor allem die Forderung nach Einlösung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes ist, ein Recht, das uns genauso selbstverständlich wie allen übrigen Völkern der Welt zusteht und auch zugestanden werden muß. Es gibt daher keinen einsehbaren Grund, dieses ganz natürliche, in der Menschenwürde verankerte Recht gerade den Deutschen vorzuenthalten. Die Forderung der Deutschen nach Wiedervereinigung ist daher keine typisch deutsche Besonderheit, sondern ein ganz selbstverständlicher Wunsch des deutschen Volkes.
Selbstbestimmungsrecht für die Deutschen meint aber logischerweise zugleich auch immer Selbstbestimmungsrecht für die anderen betroffenen Völker. Wenn wir also für unser Selbstbestimmungsrecht eintreten, dann bieten wir damit auch den Völkern im Ostblock eine demokratische Perspektive, denen ja ebenfalls bis heute das Selbstbestimmungsrecht verweigert worden ist. Das Wiedervereinigungsgebot hat daher nichts, aber auch gar nichts mit Revanchismus oder ähnlichem zu tun, sondern es ist ein völkerrechtlich längst anerkanntes Menschenrecht, ein unverzichtbarer Anspruch auch für das deutsche Volk.
Meine Damen und Herren, daß es innerhalb des Kommunismus auch in bezug auf nationale Minderheiten anders geht, zeigt beispielhaft die Volksrepublik Ungarn. Dort sind heute den Deutschen jene Minderheiten- und Volksgruppenrechte verbindlich zugesagt und verwirklicht, deren Geltung wir in be-
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Lintner
zug auf unsere Landsleute auch von den Regierungen in der CSSR, in Polen, in der UdSSR und in Rumänien fordern.
Das Beispiel Ungarn stellt einen großen Erfolg der Politik der Bundesregierung bei der Implementierung von Menschen- und Minderheitenrechten dar.
— Zugegeben, auch der Einsicht der Ungarn.
Gemäß der mit der ungarischen Regierung getroffenen Vereinbarung werden es die in Ungarn lebenden Deutschen künftig leichter haben, sich ihrer Kultur in Wort und Schrift zu bedienen, eigene Gottesdienste abzuhalten und die deutsche Sprache in der Schule zu lernen.
Das Beispiel Ungarn muß jetzt dazu genutzt werden, auch die übrigen Ostblockregierungen von der Richtigkeit dieses Umgangs mit den deutschen Minderheiten zu überzeugen.
Der Tag der Menschenrechte, den wir heute begehen, muß auch ein Tag sein, an dem wir die deutsche Frage auf die Tagesordnung der Politik setzen. Dabei können wir, weil es sich um eine menschenrechtlich begründete Forderung handelt, auf das Verständnis und die Unterstützung auch unserer ausländischen Freunde und der übrigen Welt rechnen und hoffen.
Ich füge hinzu: Angesichts der Reden von Gorbatschow jetzt in den USA sollte uns eigentlich auch das Verständnis der Sowjetunion für diesen Wunsch sicher sein.
Wir können unsere Forderung deshalb mit großer Selbstverständlichkeit und großem Selbstbewußtsein erheben. Wir sollten dies auch immer wieder möglichst gemeinsam mit einer Stimme tun.
Überhaupt glaube ich, daß diese Gemeinsamkeit für die Durchsetzung dieses Anliegens besonders wichtig ist. Da sich alle Fraktionen und Parteien zu den Menschenrechten bekennen, sollte es möglich sein, diese Gemeinsamkeit auch zu erreichen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Flinner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der EG-Gipfel in Kopenhagen ist ohne Einigung über die Agrar- und Finanzreform zu Ende gegangen. Herr Kohl sagt: Von einem Scheitern des Gipfels kann man nicht sprechen. Was ist es denn sonst?; so frage ich.
Ich möchte mit dem Agrarbereich beginnen, der für die meisten Schwierigkeiten, die höchsten Ausgaben und die dicksten Schlagzeilen sorgt. Ich finde es aber schade, daß weder Herr Kiechle noch einer seiner Staatssekretäre anwesend sind.
— Ja, die Bauern zu verkaufen; das ist richtig.
Hier ist eine Neuordnung schon lange dringend notwendig. Aber schon wieder ist sie durch eine gegenseitige Blockadepolitik verschoben. Dabei kostet jede Verzögerung wieder riesige Geldsummen. Die hohen Summen werden nicht für uns Bauern verbraucht — bei uns kommt nur ein geringer Prozentsatz an —, sondern für die Erzeugung riesiger Überschüsse, die nirgendwo abgesetzt werden können, nicht bei uns, nicht innerhalb der EG und auch nicht auf dem Weltmarkt.
Das Geld fließt überwiegend in die Agro-Industrie. Lagerhaus- und Kühlhausbetreiber sowie Transportunternehmen kassieren ab. Es sieht aber so aus, als ob wir Bauern von den Milliarden profitierten.
Erst kürzlich hieß es aus SPD-Kreisen, wenn man die Stahlarbeiter so hoch subventionierte wie uns Bauern, dann drohten keine Massenentlassungen. Hier liegt der große Irrtum. Wofür werden denn die Millionen ausgegeben? Dienen sie wirklich dem Erhalt von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft? Nein; denn die ganzen Programme der Regierung, die sie auch EG-weit durchsetzen will, haben nur das eine Ziel: die bäuerliche Landwirtschaft abzubauen.
Die Politik des Herrn Kiechle hat das Sterben von 100 000 Betrieben schon fest ins Agrarkonzept einprogrammiert. Das ist der sogenannte Strukturwandel. Wenn Herr Kiechle beklagt, daß es eine in Jahrhunderten gewachsene Landwirtschaftsstruktur ist, die er nicht nach dem Krieg aus dem Boden stampfen konnte, dann verrät sich sein Ziel, den Strukturwandel zu Lasten der Kleinen zu beschleunigen.
Die Programme zur Flächen- und Betriebsstillegung sowie zur Vorruhestandsregelung, die die Bundesregierung EG-weit durchsetzen will, sind eine gewaltige Aktion zur Vernichtung von Arbeitsplätzen.
Aber nicht nur das; gestern wurde im Agrarausschuß ganz deutlich: Die Überschüsse und deren Finanzierung bekommen wir durch diese Programme nicht weg. — Auch Sie waren im Ausschuß dabei. — Denn ertragreiche Flächen werden nicht stillgelegt, da hierfür 1 200 DM/ha zuwenig sind; das macht kein Bauer mit. Somit ist doch offenkundig, daß hier auch wieder Preissenkungen und Einkommensverluste durch die Hintertür uns Bauern abverlangt werden wie die Mitverantwortungsabgabe und die Stabilisatoren.
Da sagt der Landwirtschaftsminister: Uns Agrarpolitikern stehen weiterhin schwierige Zeiten bevor. Er meint in Wirklichkeit: Den Bauern stehen schwierige Zeiten bevor. Er versüßt diesen Satz mit dem völlig unpassenden Leitspruch — den hat er unlängst, letzte Woche, gesagt — : „Um Honig zu essen, muß man auch einmal in den Bienenstock klettern. " Aber von Honigessen kann bei uns Bauern keine Rede sein. Diejenigen, die den Honig essen, sind nicht dieselben
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Frau Flinner
wie diejenigen, die in den Bienenstock klettern müssen.
Es heißt: — Wir Deutsche sind in der EG die größten Nettobeitragszahler, aber gleichzeitig auch die größten Nutznießer. — Im großen und ganzen stimmt das auch, angesichts dessen, daß der deutsche Exportüberschuß im wesentlichen innerhalb der EG verbleibt. Aber die Vorteile und die Nachteile sind ungerecht verteilt. Während die deutsche Industrie vom Export kräftig profitiert, leidet unsere deutsche Landwirtschaft. Weil die Regierung der Industrie gegenüber immer nachgibt, müssen wir Bauern die Folgen tragen. Das heißt für Tausende: Aufgabe ihrer Höfe, ihrer Existenzen, ich möchte sogar behaupten: auch das Aufgeben ihrer Heimat.
Mit solcher EG-Agrarpolitik kann man den zur Zeit vielzitierten ländlichen Raum nicht erhalten.
Wie soll es in der EG weitergehen, wenn demnächst Deutschland, der sogenannte Zahlmeister, die Präsidentschaft übernehmen wird?
Um erfolgreich zu sein, damit es unter Herrn Kohls Präsidentschaft keinen Zusammenbruch gibt, muß er Herrn Kiechle zu weiteren Bauernopfern drängen. 10 bis 15 % Einkommenseinbußen sind einkalkuliert. Es ist ein aussichtsloses Rückzugsgefecht.
Für uns deutsche Bauern hat die EG das Aus gebracht. Aber wie sollte es anders sein, wenn in der Hauptsache die Interessen der Industrie berücksichtigt werden? Solange die EG nur nach ökonomischen Gesichtspunkten geführt wird, kann es keine befriedigenden Ergebnisse geben. Zwar gibt es als Alibi Umweltprogramme sozusagen nebenbei, als Bonbon oder Trostpflaster, aber in Wirklichkeit bleibt der Umweltschutz doch auf der Strecke. Von einer ökologischen Gemeinschaft sind wir leider weit entfernt.
Im Gegenteil: Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit eines EG-weiten Vorgehens werden sinnvolle und notwendige Maßnahmen zum Umweltschutz blockiert, abgeschwächt oder verzögert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an den Katalysator, die Schadstoff- und Grenzwertdiskussionen und ähnliches. Gerade in diesen Bereichen wären nationale Alleingänge zwingend notwendig.
Ein weiterer Punkt sind die Infrastrukturen, die ausgeglichen werden sollen. Aber mit diesen Angleichungen sind auch wieder Umweltprobleme verbunden. Mit europäischer Gleichmacherei werden nicht nur die regionalen Eigenheiten zerstört, sondern gewachsene Strukturen und ländliche Räume der anderen EG-Länder sind in Gefahr. Die einzigen, die dabei verdienen, sind wieder die Großindustrien.
Nun war das Scheitern des Gipfels in Kopenhagen keine große Überraschung. Schließlich hatten dort die Regierungen ganz unterschiedlicher Länder eine Einigung zu finden. Wenn man dagegen betrachtet, daß
sich hier nicht einmal die Parteien dieses Hauses auf eine kurze Empfehlung an die Regierung einigen konnten, ist das Versagen in Kopenhagen nur logisch.
Was wir brauchen, ist eine ganz andere Politik: eine ökologische Ausrichtung der EG. Ökonomische Nutzen fallen dabei von alleine an. Ein ökologischer Umbau der EG-Agrarpolitik fordert die Abkehr von der Industrialisierung und der Chemisierung, vom Abbau der bäuerlichen Landwirtschaft, der so schön neutral immer „Strukturwandel des ländlichen Raumes" genannt wird.
Nicht die Förderung der Alternativen zur Landwirtschaft, sondern die Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft ist notwendig zum Erhalt des ländlichen Raums. Dazu gehört auch ein dringend notwendiges Programm gegen die EG-weite Massenarbeitslosigkeit.
Wir GRÜNEN sind der Auffassung, daß Arbeitsplätze neu geschaffen werden könnten. Einige Beispiele möchte ich aufzeigen: im ökologischen Landbau, in der Forstwirtschaft und bei der Herstellung technischer Geräte für die ökologische Landwirtschaft. Im gesamten Umweltbereich könnte man vielen einen Arbeitsplatz verschaffen. Ich denke weiterhin an einen umfassenden Überstundenabbau. Wir GRÜNEN haben schon oft in unseren Beiträgen Ideen und Vorschläge entwickelt, neue Wege für eine EG-Politik, die gangbar sind.
Wir fordern Sie auf, endlich den Weg einzuschlagen, der uns alle aus der europäischen Katastrophe führt.
Danke.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Herren! Sehr geehrte Damen! Der Gründer von Amnesty International, Peter Benenson, schrieb 1961:
Schlagen Sie Ihre Zeitung an irgendeinem beliebigen Tag auf, und Sie werden eine Meldung aus irgendeinem Teil dieser Welt lesen, die folgendermaßen lautet: Ein Mensch ist eingekerkert, gefoltert, hingerichtet worden, weil seine Ansichten oder religiösen Überzeugungen nicht mit denen der Machthaber übereinstimmten.
Leider gilt dies heute noch. Millionen solcher Menschen sitzen in Gefängnissen, keineswegs nur hinter dem Eisernen oder dem Bambusvorhang; und ihre Zahl wächst.
Die Unterzeichnung des Vertrages über den Abbau atomarer Mittelstreckenraketen durch Präsident Reagan und Parteichef Gorbatschow war für die Weltöffentlichkeit ein Signal von besonderer Tragweite. Wer könnte sich angesichts dieses historischen Ereignisses nicht des persönlichen Gefühls erwehren, daß hiermit ein Weg beschritten worden ist, durch den wir womöglich alle eine neue, eine andere Lebenschance, ja, Lebensqualität erhalten können?
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Frau Würfel
Heißt aber die Unterzeichnung dieses ersten wirklichen Abrüstungsabkommens, daß die Völker unserer Erde von nun an ohne Angst leben werden? Ganz bestimmt heißt es das nicht.
In unserem Jahrzehnt finden in jedem dritten Staat der Erde brutale Folter- und Mißhandlungspraktiken Anwendung.
In etwa 130 Staaten ist die Todesstrafe nach wie vor gesetzlich verankert, und nach wie vor nehmen Regierungen ihren Bürgern das Leben, sei es in Form von Hinrichtungen, sei es durch politische Morde.
In unzähligen Gefängnissen sitzen Menschen ein, weil sie dafür bestraft wurden, daß sie sich zu ihren politischen oder religiösen Überzeugungen bekannt haben.
In zahlreichen Staaten der Erde sind Menschen wegen politischer Vergehen in Haft, ohne daß ihnen Gelegenheit gegeben wird, sich in einem fairen Gerichtsverfahren zu verteidigen.
In unzähligen Haftzentren, Gefängnissen und Militärlagern werden Menschen brutal mißhandelt und gefoltert.
Selbstverständlich sind von Menschenrechtsverletzungen Männer und Frauen gleichermaßen betroffen, so wie die Menschenrechte für Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen zu gelten haben.
Dennoch gibt es besondere Formen von Menschenrechtsverletzungen, die ausschließlich an Frauen verübt werden. Frauen werden verfolgt und inhaftiert, weil sie gegen kulturelle jahrtausendealte Normen und Sitten aufbegehren und gegen die ihnen von der Gesellschaft zudiktierte Rolle opponieren. Frauen werden als Geiseln genommen, inhaftiert und gefoltert, um ihre Männer oder Familienangehörigen zu zwingen, sich zu stellen. Frauen sind in ihren Verfolgungssituationen einem Polizei- und Militärapparat ausgeliefert, der oft ausschließlich aus Männern besteht. Vergewaltigungen und sexueller Mißbrauch weiblicher Häftlinge in Verhör- und Haftsituationen sind an der Tagesordnung. Sexuelle Gewalt wird häufig als ein überlegtes Mittel eingesetzt, um Persönlichkeit und Menschenwürde der Frauen zu zerstören.
Es besteht eine große Kluft zwischen den Verpflichtungen von Regierungen zur Achtung der Menschenrechte und ihren tatsächlichen Praktiken.
Die Realisierbarkeit der Menschenrechte hängt vielfach nicht nur von schriftlichen Garantien eines Staates oder einer Staatengruppe ab, sondern auch von einer Menschenrechtspolitik, mit der andere Länder sowie Organisationen und Publizisten die Bewahrung und Einlösung solcher geschriebener Rechtsgarantien wirkungsvoll unterstützen können. Keine Regierung der Welt darf für sich in Anspruch nehmen, das Recht zu haben, ihre Bürger willkürlich zu verhaften, zu foltern, zu töten oder derartige Praktiken auch nur zu dulden.
— Keine!
Eine ganz besondere Mahnung, den Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen fortzusetzen, ist der
nicht enden wollende Strom von Flüchtlingen, die auf der Suche nach Sicherheit schon fast jede Staatsgrenze dieser Welt überschritten haben. Während die einen ihre Heimat auf Grund von Hungersnöten oder kriegerischen Auseinandersetzungen verlassen mußten, wurden viele andere zur Flucht gezwungen, weil sie von Menschenrechtsverletzungen betroffen waren. Verletzungen der Menschenrechte sind nicht symptomatisch für bestimmte Regionen oder politische Systeme. Herr Lintner hat auf die Menschenrechtsverletzungen im östlichen Teil unseres Vaterlandes hingewiesen.
Ich hatte im November dieses Jahres Gelegenheit, pakistanische Flüchtlingslager an der Grenze zu Afghanistan zu besichtigen. Ich möchte Ihnen kurz davon berichten.
Im Januar geht der Krieg von Afghanistan ins neunte Jahr. Die Auswirkungen dieses Krieges auf die zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Zivilbevölkerung sind groß. Die wichtigste und sichtbarste Folge des Krieges ist die größte zusammenhängende Flüchtlingsbewegung der Welt. Der Flüchtlingsstrom aus Afghanistan ergießt sich in die Nachbarländer. Die Zahl der Flüchtlinge ist inzwischen auf viereinhalb Millionen angestiegen. Von einem 15 Millionen Menschen umfassenden Volk hat bereits ein Drittel — als Folge der Gewalt, des Unrechts und der Leiden — seine Heimat verlassen. Dies ist ein Faktum, meine Damen und Herren, das bereits an sich ein Menschenrechtsproblem darstellt.
Afghanistan blutet aus. Die Strategie der Sowjetunion zielt offensichtlich darauf ab, die Bevölkerung durch nicht nachlassende Bombardierung der Dörfer, der Städte und der Ernten zum Verlassen des Landes zu zwingen. Diese Entvölkerungspolitik zeigt deutliche Erfolge. Wie gesagt, jeder dritte Afghane hat sein Land bereits verlassen und ist geflohen. Besonders die Kinder, die älteren und schwachen Menschen sind den Strapazen der Flucht in der Regel nicht gewachsen. Die Kindersterblichkeit lag im Winter 1985 beinahe bei 85 %.
Ich habe Flüchtlingslager in Belutchistan angetroffen, in denen die Menschen Mangel an Nahrung, an Kleidung, an Schutz vor Kälte und vor allem an Hygiene haben. Ein einziger künstlich angelegter Wassergraben läuft durch ein riesiges Wüstengebiet, in dem das Wasser stundenweise morgens und abends angestellt wird. Diesem Wassergraben wird das Trinkwasser ebenso entnommen, wie man sich gleichzeitig darin wäscht. Sie können sich vorstellen, wie Krankheiten durch diesen Mangel an Hygiene im Flüchtlingslager begünstigt werden. Auf der anderen Seite gibt es nicht die geringste medizinische Versorgung.
Die Registrierung der Flüchtlinge durch die pakistanischen Behörden in Belutchistan erfolgt durch die Vielzahl der angekommenen Flüchtlinge so schleppend, daß wir Flüchtlinge angetroffen haben, die seit Monaten nicht registriert worden sind und die, um nicht zu verhungern, weil nur registrierte Flüchtlinge Nahrung erhalten, tagelange Fußmärsche in Kauf
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Frau Würfel
nehmen, um beim pakistanischen Straßenbau ein paar Rupien verdienen zu können.
Meine Damen und Herren, meine Zeit reicht nicht aus, um weiteres zu schildern. Wir beschäftigen uns ja auch morgen noch einmal mit Afghanistan. Deshalb möchte ich zusammenfassen:
Die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge ist zweifellos eine wichtige Aufgabe, die von vielen Hilfsorganisationen zu leisten versucht wird. Humanitäre Hilfe kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn Menschenrechtsverletzungen, die so viele Flüchtlingsbewegungen erst auslösen, begegnet und ein Ende bereitet wird.
Die internationale Staatengemeinschaft, aber auch wir in der Bundesrepublik sind aufgerufen, allen vor Krieg oder staatlichen Repressionen fliehenden Menschen zu helfen. Aber wir müssen auch daran arbeiten, den Menschenrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten, die so viele Menschen in unfreiwilliges Exil zwingen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gautier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die bisherige Debatte verfolgt hat, kann man zu einem ganz eigenartigen Eindruck kommen: entweder Thema verfehlt, oder es war, was die Ergebnisse des Kopenhagener Gipfels angeht, der Bereich Schönfärberei. Das, was ich am besten fand, war die außenpolitische Rede des ab 1. Januar 1988 personifizierten Ratspräsidenten, Herrn Genscher, die ich wirklich sehr beeindruckend fand.
Aber er hat quasi kein Wort zu den Aufgaben der deutschen Ratspräsidentschaft ab 1. Januar 1988 gesagt.
— Doch, das steht auf der Tagesordnung, nämlich der Kopenhagener Gipfel, die Schlußfolgerungen, die wir daraus ziehen, und was die Aufgaben der deutschen Ratspräsidentschaft sind.
Herr Genscher, Sie als personifizierter Ratspräsident haben ja ab 1. Januar 1988 das Vergnügen, die Geschicke der EG wesentlich mitzubestimmen.
— Das weiß ich nicht. Das hoffe ich jedenfalls nicht. Ich bin an sich ein ganz friedlicher Mensch. Von daher nehme ich das nicht an.
Am 1. Januar 1988 haben wir übrigens noch einen sehr bemerkenswerten Tag. Am 1. Januar 1988 sind nämlich die Römischen Verträge 30 Jahre lang in Kraft. Wenn wir einmal ganz kurz zurückblicken, hat es seit 1958 sicher ein in weiten Bereichen einen europapolitischen Aufbruch gegeben. Wir haben damals durch den Abbau der Grenzen, Verwirklichung der Zollunion, gemeinsame Handelspolitik, gemeinsame Agrarpolitik — damals noch als erfolgreich verstanden — , Niederlassungsfreiheit, Freizügigkeit und vieles mehr, viele Sachen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft verwirklicht. Wir hatten dann in den 70er und zu Beginn der 80er Jahre zwei Erweiterungen der Gemeinschaft mit Großbritannien, Dänemark, Irland und später mit Griechenland, Spanien und Portugal. Diese Erweiterungen der Gemeinschaft fielen auch mit erheblichen ökonomischen Krisen zusammen, mit denen sich alle Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft auseinandersetzen mußten. Ich erinnere nur an die Ölpreisschocks, die wir zweimal hatten, und daran, daß viele Mitgliedsstaaten nicht die Konsequenz daraus gezogen haben, gemeinsam eine Politik zu betreiben, sondern die nationalen Egoismen zugenommen haben.
Die EG hatte nach meiner Einschätzung kaum die Kraft zu einem gemeinsamen Handeln. Das Ergebnis der Politik der 70er und 80er Jahre ist so, wie es die Bürger draußen auch verstehen. Man hört dies, wenn man auf Veranstaltungen ist. Die Bürger verstehen die Europäische Gemeinschaft nämlich vielfach als einen Verein zur Finanzierung der Agrarpolitik. Da diese gemeinsame Agrarpolitik bei der Bevölkerung ein relativ schlechtes Image hat — darüber kann man nun lange reden, das ist so; das erfährt jeder, egal ob er in der Regierung oder in der Opposition ist — , spielt dies auch eine Rolle für das Image der EG insgesamt.
Was wir, glaube ich, brauchen, ist eine neue Identifikation der Bürger mit der Europäischen Gemeinschaft. Ich glaube, daß hier Jacques Delors Bemerkenswertes geleistet hat, als er mit den Stichworten Binnenmarkt bis 1992, Selbstbehauptung Europas, Demokratisierung Europas und Loslösung von der Vorherrschaft des Dollar — als einige Stichworte, die ich hier nennen möchte — einen neuen Impuls gegeben hat.
Doch eine solche Vision von Europa nützt herzlich wenig, wenn sich nicht auch faktisch die Politik ändert. Eine Änderung dieser Politik sollte ja auf dem Gipfel in Kopenhagen erreicht werden. Drei Punkte sollten die Regierungschefs entscheiden, da die Fachminister dazu nicht in der Lage waren: die zukünftige Finanzierung der EG und Haushaltsdisziplin, die Rolle der Strukturfonds und die Reform der Agrarpolitik. Leider ist dieser Gipfel gescheitert. Warum? Weil die notwendige Reform der EG-Agrarpolitik nicht beschlossen werden konnte. Bundeskanzler Kohl und Agrarminister Kiechle haben dies zumindest mit verhindert und damit, glaube ich, langfristig auch den Interessen Deutschlands geschadet.
Worum geht es im Bereich der Agrarpolitik? Ich möchte einmal ein paar Zahlen sagen. Die Kosten der Agrarpolitik sind, glaube ich, für fast keinen Bürger mehr verständlich. Im Haushalt 1988 stehen sage und schreibe 57 Milliarden DM für Agrarmarktordnungsausgaben. Das sind 68 % des EG-Haushalts oder umgerechnet 160 Millionen DM pro Tag oder, in einer
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Dr. Gautier
anderen Zahl, 170 DM pro Kopf der Bevölkerung in der Europäischen Gemeinschaft. Wir haben in den letzten Jahren jährliche Steigerungsraten des Agrarhaushalts von 10 bis 20% gehabt. Die Subventionen in der Landwirtschaft, ausgedrückt in Haushaltszahlen, übersteigen mittlerweile die Nettowertschöpfung in der Landwirtschaft.
— Nein. Ich komme noch darauf zurück, warum sie nicht Millionäre sind.
Warum ist es so, daß wir solche explodierende Agrarausgaben haben?
— Ja, ja. Seien Sie einmal ganz ruhig! — Warum ist dies so? Ich glaube, es ist ein grundsätzlicher Mangel der europäischen Agrarpolitik, daß wir sie so wie Leistungsgesetze in der Bundesrepublik Deutschland konzipiert haben. Zum Beispiel richten sich Kindergeldzahlungen in der Bundesrepublik Deutschland nach der Anzahl der Kinder. Dies sind typische Leistungsgesetze, und das ist gut so. Wenn die Geburtenrate hoch ist, dann entstehen eben mehr Kosten für Kindergeld. Aber genauso ist auch die europäische Agrarpolitik konzipiert. Wir subventionieren das Produkt. Wird viel Getreide produziert, dann wird es halt teuer; es ist wie bei einem Leistungsgesetz. Dies kann halt nicht gutgehen; denn im Gegensatz zu den Geburtenzahlen wird jedes Jahr mehr an Getreide, Rindfleisch, Ölsaaten usw., usf. produziert, und die EG muß bezahlen, unabhängig davon wieviel produziert wird.
Das Ziel dieser Politik, nämlich die Sicherung des landwirtschaftlichen Einkommens, wird dadurch erwiesenermaßen ja nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Agrareinkommen stagnieren, und die Einkommensschere innerhalb der Landwirtschaft geht immer weiter auseinander.
Wenn man sich die Agrarausgaben der EG einmal nach Produkten ansieht, stellt man fest, daß der größte Batzen des Geldes für Getreide, Milch, Rindfleisch und Fette ausgegeben wird.
Herr Abgeordneter, Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche. Ich habe ja viel Verständnis für interfraktionelle Beratungen, insbesondere wenn der Bundesaußenminister daran beteiligt ist. Aber ich wäre doch sehr dankbar, Herr Bundesaußenminister, wenn die interfraktionellen Beratungen an einen anderen Ort verlegt würden.
Danke schön. Sie können fortfahren.
Auch ich würde es sehr begrüßen, wenn der Ratspräsident seine Beratungen entweder außerhalb machen oder zuhören würde.
Ich will noch einmal eine Zahl nennen: Allein für Raps und Sonnenblumenkerne — die meisten Bürger kennen das gar nicht — geben wir jährlich fünf Milliarden DM aus. Dann streiten wir uns hier im Bundestag darüber, ob wir für die Förderung von Stahlstandorten 20 oder 50 Millionen DM ausgeben. Dies ist doch wirklich lächerlich.
Wenn wir uns die Zahlen weiter ansehen, stellen wir fest, daß 40 % der gesamten Ausgaben auf die Exportsubventionierung entfallen. 20 Milliarden DM — das ist der Prozentsatz in Zahlen ausgedrückt — werden verwendet, um europäische Agrarprodukte auf den Weltmärkten zu verschleudern. Wenn eine Tonne Weizen bei uns in der EG ungefähr 400 DM kostet, müssen wir 200 DM drauflegen, um sie überhaupt exportieren zu können, und dies noch in Abhängigkeit vom Dollar-Kurs. Das heißt, die Amerikaner bestimmen, wieviel Geld wir im Haushalt der Europäischen Gemeinschaft ausgeben, und nicht wir selber.
Da ist es kein Wunder, wenn wir dann in Konflikte mit unseren Handelspartnern kommen.
Wenn man diese Zahlen einmal kurz zusammenfaßt, stellt man fest: Wir geben 0,7 % des Bruttosozialprodukts für die EG-Marktordnung aus. Diese 0,7 werden ausgegeben für Lagerung, Vernichtung und Verschleuderung von Agrarprodukten.
Welche Lösungen können wir denn überhaupt anbieten? Da ist ja ganz verwunderlich, was die Regierung im Augenblick an Lösungen anbietet. Herr Bangemann — er ist der Oberderegulierer und der oberste Marktwirtschaftler — erklärt uns das immer; Herr Mischnick hat uns das heute morgen erklärt. Bloß soll dies alles nicht im Agrarbereich gelten. Dort soll mehr Dirigismus eingeführt werden; da soll jeder Hektar oder jeder Teilhektar erfaßt und teilstillgelegt oder ganz stillgelegt werden.
Ich glaube, daß wir zur Ursprungskonzeption der Agrarmarktpolitik zurück müssen. Die Intervention darf nicht die Regel sein, sondern muß die Ausnahme für den Ausgleich von saisonalen und regionalen Schwankungen in der Produktion sein. Die Intervention muß ein Auffangnetz sein und keine Dauerregelung.
Wir Sozialdemokraten wollen mehr Marktwirtschaft in der Agrarpolitik. Das hat auch die EG-Kommission vorgeschlagen. Der holländische Christdemokrat Frans Andriessen findet in dieser Frage die volle Unterstützung der SPD. Leider findet er keine Unterstützung bei seinen Parteifreunden Kohl und Kiechle. Unter anderem deswegen ist der Kopenhagener Gipfel gescheitert.
Wenn wir Sozialdemokraten sagen, wir wollten mehr Marktwirtschaft in der Agrarpolitik, dann wissen wir auch, daß die Bedeutung der Agrarstrukturpolitik und der Agrarsozialpolitik steigen wird. Darüber kann man mit uns reden. Wir benötigen eine Politik für den ländlichen Raum. Wir benötigen auch eine Agrarsozial- und eine Agrarstrukturpolitik inklusive dessen, was auch Herr Mischnick heute morgen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3449
Dr. Gautier
gesagt hat, nämlich einer Form von direkter Einkommensübertragung, einer Vorruhestandsregelung und ähnlichem mehr. Wir sind auch bereit, darüber zu reden, welchen Beitrag man für die Extensivierung in der Landwirtschaft ausgeben kann. Dies ist aber eine andere Konzeption als die, die vertreten wird.
Ich kann nur darüber lachen, wenn Herr Kohl in seiner Regierungserklärung heute morgen wieder von einkommensorientierter Preispolitik gesprochen hat. Diese einkommensorientierte Preispolitik ist ausweislich Ihrer eigenen Statistiken gescheitert.
Dann kommt in derselben Regierungserklärung — Herr Stoltenberg zetert ja jeden Tag darüber — das berühmte Wort von der Haushaltsdisziplin vor. Haushaltsdisziplin soll für alle Bereiche gelten, bloß nicht für die Agrarpolitik. Da wird die Haushaltsdisziplin von Herrn Stoltenberg, von Herrn Kiechle und auch von Herrn Kohl verhindert. Wir sagen: Mit der Haushaltsdisziplin sind wir einverstanden, aber sie muß für jeden Bereich gelten, also auch für den Bereich der Agrarpolitik. Dies kann nicht eine Open-end-Garantie sein, sondern auch hier muß einmal ein Deckel draufgesetzt werden.
Herr Präsident, ich habe nur noch wenig Zeit, wenn ich das richtig sehe; aber ich habe hier noch eine ganze Reihe von Notizen. Das ist das Problem, wenn man der Parlamentsreform nachkommen will, die ja anstrebt, daß man keine getippten Reden haben, sondern daß man sich ein paar Stichworte machen und spontan reden soll. Ich will aber die restliche Zeit nutzen, um ganz kurz einen Satz oder zwei Sätze zur Frage der Verwirklichung des Binnenmarktes zu sagen.
Selbstverständlich sind wir Sozialdemokraten für die Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts. Wenn Sie als Präsidentschaft Schwerpunkte setzen, werden wir Sie in diesem Bereich sicher tatkräftig unterstützen. Bloß, der europäische Binnenmarkt ist nach unseren Vorstellungen nicht zum Null-Tarif zu haben. Wir sagen auch: Der europäische Binnenmarkt muß mit einem sozialen Rahmen und mit einem europäischen Beschäftigungspakt verknüpft werden. Dem dient u. a. die Verdoppelung der Mittel für die Strukturfonds.
Dies ist nichts anderes als ein vernünftiges Investitionsprogramm. Europa darf sich nicht ausschließlich zu einem Europa der multinationalen Unternehmen entwickeln, die sicher davon profitieren werden. Wir wollen vielmehr auch ein Europa haben, in dem sich auch die Arbeitnehmer und die normalen Bürger wiederfinden.
Schönen Dank.
Herr Abgeordneter, was die Parlamentsreform anlangt, haben Sie sich lediglich nach § 33 unserer Geschäftsordnung gerichtet.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Flinner von der Fraktion DIE GRÜNEN, Sie haben vorhin kritisiert, daß Bundesminister Kiechle während Ihrer Ausführungen nicht anwesend gewesen sei. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß jedenfalls ich dahin unterrichtet bin, daß zwischen den Fraktionsgeschäftsführern aller vier Fraktionen eine Struktur der Debatte abgesprochen worden sei, nach der in der letzten Stunde dieser Debatte die menschenrechtlichen Fragen im Mittelpunkt stehen sollten. Das ist der Grund, weshalb Herr Kiechle nicht anwesend gewesen ist. Ich wollte es nur sagen, damit auch für diejenigen, die uns zuhören, deutlich wird, daß der Grund keineswegs eine Mißachtung dieser Debatte ist.
Meine Damen und Herren, die heutige Regierungserklärung des Bundeskanzlers und das Washingtoner Gipfeltreffen zwischen den Führern der beiden mächtigsten Staaten der Erde haben noch einmal deutlich aufgezeigt, daß zwischen der Verwirklichung der Menschenrechte und der Gesamtentwicklung der Beziehungen zwischen Staaten ein enger Zusammenhang besteht. Gerade am Tag der Menschenrechte sollten wir der Versuchung widerstehen, nur feierliche Bekenntnisse zu der weltweiten Geltung der Menschenrechte abzulegen. Verantwortliche Menschenrechtspolitik muß immer sorgfältig auf der Suche nach dem Weg sein, wie Menschen, deren unveräußerliche Menschenrechte verletzt werden, tatsächlich geholfen werden kann und wie in einem Staat, in dem die Menschenrechte systematisch verletzt werden , die allgemeine Menschenrechtslage verbessert werden kann.
Die von Generalsekretär Gorbatschow in Aussicht gestellten Verbesserungen im humanitären Bereich sind durch die auf reale Entspannung und Stärkung des Vertrauens gerichtete Politik der Supermächte, die zu einer so wichtigen Abrüstungsvereinbarung geführt hat, ermöglicht worden. In Europa haben wir uns weitgehend darauf eingestellt, im Rahmen des KSZE-Prozesses, der mit der Formulierung eines für West- und Osteuropa geltenden Verhaltenskodex in der KSZE-Schlußakte eine neue Dimension der Zusammenarbeit über die Systemgrenzen hinweg eröffnet hat, immer auch auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage dort hinzuarbeiten, wo die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit, wie es im Prinzipienkatalog der KSZE-Schlußakte heißt, noch nicht verwirklicht ist.
Meine Damen und Herren, heute beginnt in Moskau ein Seminar über Menschenrechte und Fragen der humanitären Hilfe, zu der der Moskauer Presseclub „Glasnost" eingeladen hat. Ich glaube, wir sollten dies begrüßen und sollten denen, die an diesem Seminar teilnehmen, unseren Gruß schicken und unsere besten Wünsche für ein erfolgreiches Gelingen dieses Seminars übermitteln.
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Herr Abgeordneter Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte, Herr Kollege.
Bitte sehr.
Lieber Kollege Vogel, darf ich Sie bitten, diesen Wunsch vielleicht noch dahin zu erweitern, daß diejenigen, die — seien es nun Mitglieder dieses Parlaments, Bürger der Bundesrepublik oder anderer Staaten — an diesem Seminar teilnehmen möchten, auch die Möglichkeit zur Teilnahme erhalten sollen, im Gegensatz und in Abweichung von dem, was sowjetische Behörden bisher entschieden haben?
Herr Kollege Voigt, ich bin Ihnen dankbar für diese Frage, weil sie mir die Möglichkeit gibt, darauf hinzuweisen, daß Anträge von Kollegen aus diesem Hause auf Erteilung von Visa bedauerlicherweise abgelehnt worden sind und daß in einem Falle noch offen ist, ob ein solches Visum erteilt wird. Ich kann nur sagen: Dies bedaure ich, und dies steht nicht im Einklang mit den Bemühungen um eine Entspannungspolitik, die eben die Menschenrechte nicht außen vor läßt, sondern das Bemühen um Verwirklichung der Menschenrechte mit einschließt.
Meine Damen und Herren, wer nur die Debatten des gestrigen Tages zu den Ereignissen um die Zionskirche in Ost-Berlin, zu Südafrika und Rumänien einmal sorgfältig analysiert, wird leicht feststellen können, daß wir noch nicht in jedem Falle eine Politik entwickelt haben, die überall in der Welt Menschenrechtsverletzungen mit der gleichen Elle mißt, aber auch überall mit der gleichen peinlichen Sorgfalt den Weg auskundschaftet, der zu einer wirklichen Verbesserung der Lage der Menschen in den jeweiligen Ländern führen kann.
Ich habe die gestrige Debatte über die Versorgungslage in Rumänien erwähnt, und ich möchte auch hier die bedauerliche Tatsache mitteilen, daß die rumänische Botschaft die Erteilung eines Einreisevisums für die beiden Kollegen verweigert hat, die wir gebeten haben, nach Rumänien zu fahren, um an Ort und Stelle festzustellen, ob und in welcher Weise wir helfen können, die Versorgungslage in Rumänien zu verbessern. Ich möchte an die rumänische Regierung hier nur den Appell richten, daß sie diese Haltung noch einmal überprüft, auch im Interesse der Menschen, die in Rumänien leben.
Meine Damen und Herren, richtig ist, daß Menschenrechtsverletzungen klar beim Namen genannt werden müssen. Da darf es wirklich kein Schielen nach rechts oder nach links geben. Wer aber — das möchte ich hinzufügen — Menschenrechtsverletzungen beim Namen nennt, muß sich immer auch seiner Verantwortung dafür bewußt bleiben, daß von ihm mehr als Rhetorik, nämlich ein Beitrag zur realen Verbesserung der Lage geleistet werden muß. Es gibt keine Patentrezepte dafür, worin dieser Beitrag jeweils bestehen kann. Sicher ist für mich nur, daß weder Aggressivität auf der einen noch Leisetreterei auf der anderen Seite die probatesten Mittel sind. Meistens geht es um das Herausfinden der rechten Mischung zwischen — wie die Angelsachsen es nennen — „quiet diplomacy" und „open diplomacy", also zwischen stiller Diplomatie und öffentlicher Geltendmachung. Nur das zählt wirklich, was die Menschenrechte für die Menschen alltagswirksam macht. Darauf müssen wir auch bei der Arbeit des Unterausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe achten, den der Deutsche Bundestag in dieser Legislaturperiode erstmals eingesetzt hat. Allerdings wollen wir diesen Unterausschuß auch zielbewußt als ein zusätzliches Instrument unserer Menschenrechtspolitik einsetzen.
Meine Kolleginnen und Kollegen, immer wieder werden wir uns bei unserer Menschenrechtspolitik dem Vorwurf der betroffenen Staaten ausgesetzt sehen, wir mischten uns in unzulässiger Weise in ihre inneren Angelegenheiten ein. Diese Staaten haben noch nicht mitbekommen oder wollen nicht mitbekommen, welche Veränderungen im Völkerrecht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingetreten sind. Inzwischen ist ein so dichtes menschenrechtliches Normengeflecht im Völkerrecht entwickelt worden, daß heute kein Staat der Erde mehr mit Fug und Recht die Einforderung der Einhaltung dieser Normen mit dem Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten abwehren kann. Dem gilt es, wie ich meine, mit geduldiger Beharrlichkeit Geltung zu verschaffen, und ich möchte auch und vor allem das Auswärtige Amt ermutigen, daran mit seinen Möglichkeiten stetig mitzuwirken.
Ein völkerrechtlicher Anknüpfungspunkt für Demarchen bei fremden Regierungen ist nicht nur dann gegeben, wenn Deutsche von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind. Wohl bin ich der Auffassung, daß deutsche Landsleute vor allen anderen unseren Einsatz erfordern, ganz gleich, ob es sich um unsere Landsleute in der DDR, um deutsche Minderheiten in anderen Staaten des Warschauer Paktes oder um die Deutschen in der „Colonia Dignidad" in Chile handelt. Ein zureichender völkerrechtlicher Anknüpfungspunkt liegt nach meiner Überzeugung jedenfalls auch überall dort vor, wo Menschenrechtsverletzungen von Regierungen zu verantworten sind.
Meine Damen und Herren, ich bin froh darüber, daß wir die heutige Debatte auch dazu genutzt haben, des Tages der Menschenrechte, der in jedem Jahr am 10. Dezember begangen wird, zu gedenken. Aber lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, daß wir auch an den übrigen 364 Tagen des Jahres an die Verwirklichung der Menschenrechte denken und uns überall dort zu Wort melden, wo Menschenrechte verletzt werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Brück. — Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesem letzten Redner vor der Abstimmung auch noch in Ruhe zuhören könnten.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lange Zeit verlief die heutige Debatte so, wie es meine Kollegin Heidi Wieczorek-Zeul vermutet hatte: Die Abgeordneten der Koalitionsparteien sprachen vor allem vom Washingtoner Gipfel, weil das ein Erfolg war, obwohl die Bundesregierung dort nicht vertreten war; sie sprachen kaum vom Kopenhagener Gipfel, obwohl die Bundesregierung dort vertreten war, weil das eben ein Mißerfolg war. Aber dann kam ja noch der Kollege Bohl. Und er hat über diesen Kopenhagener Gipfel gesprochen und versucht, nun, Herr Präsident, weiß ich nicht, ob das Wort, das ich auf den Lippen habe, parlamentarisch genug ist: aber er hat versucht, daraus eben Gold zu machen. Und das ist ihm nicht gelungen.
Aber ich muß auch fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob wir immer in diesen klischeehaften Bahnen diskutieren müssen - lieber Friedrich Bohl, die Frage geht an Sie — , daß die Abgeordneten der Opposition alles schlecht finden, was die Regierung macht, und die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen eben alles gut finden, was die Regierung macht. Wäre es nicht besser gewesen, wir hätten uns einmal auf das geeinigt, was alle Zeitungen geschrieben haben, was wir im Fernsehen gesehen und gehört haben, daß nämlich der Kopenhagener Gipfel gescheitert ist?
Dann hätten wir darüber reden können, wer denn daran schuld sei.
Sie haben das heute morgen schon gehört: Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat die Schuld nicht der Bundesregierung allein gegeben. Wir denken nicht daran, hier einseitige Schuldzuweisungen zu verteilen.
Lassen Sie mich am Schluß dieser Debatte auch fragen, ob wir uns nicht in die eigene Tasche lügen würden, wenn wir uns damit begnügten, in einer solchen Debatte nur Schuldzuweisungen zu machen; denn eines ist ja deutlich geworden, jetzt in Kopenhagen wieder: Wir sind in Europa an die Grenzen dessen gestoßen, was im Rahmen der institutionellen Verfassung, wie wir sie jetzt haben, möglich ist. Trotz aller Bekenntnisse zu Europa haben sich der Rat und der Europäische Rat bisher nicht als Lenkungsgremien erwiesen, die die Einigung energisch und zum Wohl der Gemeinschaft vorantreiben könnten. Kopenhagen hat gezeigt, daß beide nicht einmal mehr zum Krisenmanagement fähig sind. Die Gemeinschaft, so meine ich, braucht politische Gestaltung, wenn sie nicht zu einer Freihandelszone verkümmern soll.
Am Anfang der europäischen Einigung stand das Bewußtsein, daß die europäischen Nationalstaaten nicht mehr die Macht haben, sich allein in der Weltpolitik zu behaupten. Jetzt müssen wir die Erfahrung gemeinschaftlicher Ohnmacht machen. Die Regierungen der zwölf europäischen Mitgliedstaaten streiten sich wie einst deutsche Duodezfürsten um die kleinliche Wahrung ihrer Eigeninteressen.
Natürlich, die Einigungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft werden immer schwieriger, je enger die Gemeinschaft auf den einzelnen Politikgebieten zusammenwächst. Das ist nur zu natürlich. Da gibt es nationale Interessen. Wer möchte sie bestreiten? Und immer wieder finden in irgendeinem Mitgliedstaat Wahlen statt.
Konflikte sind in der Europäischen Gemeinschaft unausweichlich, weil es unterschiedliche Interessen gibt. Wir werden diese Konflikte nur auflösen können, wenn wir auch in der Europäischen Gemeinschaft die Grundregel demokratischer Staaten einführen, nämlich: Bei unterschiedlichen Auffassungen wird mit Mehrheit darüber entschieden, was zu geschehen hat,
nicht darüber, was auf alle Fälle richtig ist. Denn auch das wissen wir: Die Mehrheit hat nicht immer recht.
Ich will ein Beispiel aus unserer Arbeit nennen. Wir haben in der vergangenen Woche mit Mehrheit den Länderfinanzausgleich in der Bundesrepublik Deutschland neu geregelt. Jeder von uns weiß, wie groß die Interessenunterschiede natürlicherweise zwischen den einzelnen Bundesländern waren und sind. Wir haben eine Regelung getroffen, die nicht meine Zustimmung fand. Aber wir haben eine getroffen. Ich habe dieses Beispiel bewußt gewählt, weil meine Partei bei dieser Entscheidung in der Minderheit war, bei der auch gegen die Interessen meines Bundeslandes entschieden worden ist. Ich habe es auch deshalb gewählt, weil die Interessengegensätze in der Europäischen Gemeinschaft mindestens so groß sind wie in diesem Fall zwischen den deutschen Bundesländern. Nur mit Mehrheitsentscheidungen werden wir sie auflösen können.
Deshalb wird es immer mehr deutlich, wie wenig wir eigentlich mit der Einheitlichen Europäischen Akte Europa nach vorn gebracht haben. Ihr Hauptfehler: Das Europäische Parlament hat durch sie nicht die Rechte erhalten, die es haben muß, wenn wir die Probleme lösen wollen. Vielleicht nutzt die Bundesregierung jetzt in der Zeit ihrer Präsidentschaft im Ministerrat wenigstens die Gelegenheit, um ein bißchen mehr Einfluß für das Europäische Parlament zu schaffen, die ihr auch durch die Einheitliche Europäische Akte gegeben wird.
Mein Fraktionskollege Bernd Reuter hat dieser Tage Sprüche des Berliner Satirikers Adolf Glaßbrenner verschickt, der von 1810 bis 1876 lebte. Einer dieser Sprüche lautete:
Setze dem Überfluß Grenzen und lasse die Grenzen überflüssig werden.
Er war ein weiser Mann, dieser Adolf Glaßbrenner vor mehr als hundert Jahren. Wenn es uns nicht gelingt, dem Überfluß in unserer Agrarproduktion Grenzen zu setzen, werden wir die Grenzen in Europa nicht überflüssig machen können.
Kopenhagen hat gezeigt: Der europäische Zug ist wieder einmal auf ein Abstellgleis gefahren. Auch ein neuer Lokomotivführer aus der Bundesrepublik Deutschland wird den Zug nur schwer von diesem Abstellgleis heruntermanövrieren können.
Es wäre gut, wenn wir endlich erkennen würden, daß in Europa die Weichen anders gestellt werden müssen. Wenn wir das nicht tun, wird der europäische
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Brück
Zug immer wieder auf ein Abstellgleis fahren. Die Weichen in Europa richtig stellen heißt die demokratischen Institutionen stärken, dem Europäischen Parlament mehr Rechte geben, die gewählten Vertreter mit Mehrheit darüber entscheiden lassen, was in Zukunft in Europa zu geschehen hat.
Die Weichen neu stellen, das heißt, der Gemeinschaft — das ist meine Auffassung — eine eigene Steuer zu geben, über die sie verfügt, die die Abgeordneten des Europäischen Parlaments aber auch gegenüber den Wählern selbst verantworten müssen.
Weichen richtig stellen, das heißt auch weise Selbstbeschränkung der Kommission.
Nicht alles und jedes muß in Europa zentralistisch geregelt werden. Manchmal hat man den Eindruck, in Brüssel denke man ununterbrochen darüber nach, was alles noch zentral geregelt werden könne, obwohl es dezentral gar nicht so schlecht geregelt ist. Das heißt auch für das Europäische Parlament, sich zu beschränken, sich um die wesentlichen Dinge zu kümmern, nicht zu allem und jedem in der Welt eine Resolution zu verfassen.
Nun weiß ich auch — ich bin ja nicht von einem anderen Stern — , daß in den nächsten Jahren unser Hauptaugenmerk wohl der Schaffung des Binnenmarktes gelten muß. Dazu sind die Regierungen aufgerufen. Ich bin skeptisch, ob sie es bis 1992 schaffen werden.
Aber wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dürfen uns nicht darauf beschränken. Wir müssen weiter drängen, daß die politischen Institutionen in Europa geändert werden. Wir müssen dem Europäischen Parlament helfen. Wir müssen den Vertragsentwurf für die Europäische Union noch einmal zur Debatte stellen; denn wir brauchen diese Europäische Union. Wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, daß die Weichen in Europa anders gestellt werden, sonst läuft der Zug immer öfter in ein Abstellgleis hinein.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Abstimmung über verschiedene Entschließungsanträge. Da das zum Teil relativ kompliziert ist, bitte ich um Ihre verstärkte Aufmerksamkeit.
Bevor wir mit dem Abstimmungsverfahren beginnen, hat der Abgeordnete Becker um das Wort zur Geschäftsordnung gebeten, und dies erteile ich ihm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie haben vor sich liegen einen Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 11/1488 . Dieser Entschließungsantrag befaßt sich mit der Erklärung der Bundesregierung zum Gipfeltreffen in Washington und zum Europäischen Rat in Kopenhagen. Wir haben versucht, noch während der laufenden Debatte den Antrag so zu gestalten, daß er allgemein zustimmungsfähig ist. Dies hat sich im Ergebnis nicht erzielen lassen.
Aber wir glauben, daß der Punkt 1 dieser Entschließung in diesem Hause unstrittig sein müßte, und bitten deswegen, daß über diesen Punkt 1, in dem der Deutsche Bundestag das begrüßt, was auf dem Gipfel stattgefunden hat, nun getrennt abgestimmt wird.
Wir sind mit der Überweisung der übrigen Punkte an den zuständigen Ausschuß einverstanden.
Der Abgeordnete Seiters hat das Wort zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion hat, auch bezogen auf die Ziffer 1 dieses Antrags, kurzfristig eine Neuformulierung als Antrag eingebracht.
Diese Ziffer 1 behandelt einen Ausschnitt aus der Gesamtthematik, die heute und hier zur Debatte steht. Deswegen beantrage ich, über einen jetzt einzubringenden Entschließungsantrag der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion abzustimmen, der da lautet:
Der Bundestag wolle beschließen: Der Deutsche Bundestag begrüßt die Regierungserklärung des Bundeskanzlers und unterstützt sie.
— Herr Vogel, die Absicht steht Ihnen, meilenweit sichtbar, auf der Stirn geschrieben. Das wollen wir doch mal feststellen. Das war doch Ihre Absicht. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Sie mit einem kurzfristig so formulierten Antrag
die Koalition in irgendwelche Unruhe versetzen können. Wir wären bereit gewesen, Ihren Antrag zu überweisen und ihn im Ausschuß in allen Bereichen zu diskutieren. Das haben Sie abgelehnt. Deswegen sagen wir: Wir bitten um Zustimung zu unserem Entschließungsantrag, und Ihren lehnen wir ab.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert . Zur Geschäftsordnung, Herr Abgeordneter!
Herr Präsident, wozu denn sonst?
Die Fraktion der GRÜNEN ist der Auffassung, daß der Bundestag das von der SPD-Fraktion vorgeschlagene Verfahren hier akzeptieren sollte. Es macht einen guten Sinn, über den Punkt 1 des SPD-Entschließungsantrages hier gesondert abzustimmen. Es macht überhaupt keinen Sinn, diesen Punkt 1 des SPD-Antrags an die Ausschüsse zu überweisen. Denn in diesem Punkt 1 geht es ausschließlich darum, daß der Bundestag heute eine grundsätzliche Bewertung des-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3453
Kleinert
sen vornimmt, was in diesen Tagen in Washington vor sich geht. Darüber muß heute abgestimmt werden und nicht nach irgendwelchen Ausschußberatungen.
Insofern machen dieses Argument und das Verlangen der CDU-Fraktion, auch das zum Gegenstand der Überweisung zu machen, überhaupt keinen Sinn. Ihre Einlassung, Herr Seiters, soeben hat vielmehr deutlich gemacht, daß Sie einmal mehr einer solchen Abstimmung hier ausweichen wollen,
die deutlich machen würde, wie es in Ihren eigenen Reihen in dieser Frage tatsächlich aussieht.
Sie wollen einer solchen Abstimmung aus dem Wege gehen, weil dadurch einmal mehr deutlich würde, wie Sie bis zum letzten Moment eigentlich das, was dort hoffentlich in Gang gekommen ist, politisch torpediert haben. Darum geht es an dieser Stelle.
— Ich rede zur Geschäftsordnung.
Die zweite Begründung, die Sie hier vorgetragen haben, ist nun wirklich mehr als fadenscheinig, ja, ich erlaube mir zu sagen, sie ist ja geradezu unverschämt. Wenn hier versucht wird, die grundsätzlich positive Bewertung dessen, was in Washington vor sich geht, die grundsätzlich positive Bewertung dieses Hauses jeder Chance wirklicher Abrüstung zu vermengen mit einer Art — na, wie soll man sagen? — grundsätzlicher Zustimmungserklärung zur Politik dieser Bundesregierung, dann ist das meines Erachtens ein ganz übler Trick, den Sie hier umzusetzen versuchen.
Herr Abgeordneter, Sie vergessen ja nicht, den Bezug zur Geschäftsordnung herzustellen!
Herr Präsident, ich beziehe mich darauf, daß Herr Seiters hier den Vorschlag vorgetragen hat, eine Abstimmung darüber herbeizuführen, daß das Hohe Haus hier beschließt: Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers wird bejubelt. So können wir hier doch nicht verfahren. Wir wollen hier doch eine Sachabstimmung durchführen,
und die Sachabstimmung geht darüber, wie der Bundestag bewertet, was in Washington in dieser Woche vor sich gegangen ist. Da kann man selbstverständlich ganz anders abstimmen, auch von seiten der Opposition,
als, wenn Sie hier versuchen, das mit einer Art von
Zustimmungserklärung gegenüber der Politik dieser
Bundesregierung zu vermengen, die natürlich niemand von der Opposition akzeptieren kann. Darum geht es.
Deswegen appelliere ich noch einmal an Sie: Lassen Sie es doch bleiben, auf diese fadenscheinige Art einer solchen Abstimmung aus dem Wege zu gehen. Es gibt überhaupt keinen Grund, diese Abstimmung über Ziffer 1 hier nicht durchzuführen. Deswegen sollten wir das auch tun.
Meine Damen und Herren, wenn ich jetzt in numerischer Reihenfolge vorginge, müßte ich erst über den Antrag auf der Drucksache 11/1487 abstimmen lassen. Da sich aber alle Geschäftsordnungsbeiträge auf den Entschließungsantrag 11/1488 beziehen, halte ich es für sinnvoll, daß wir zunächst einmal diese Abstimmung vornehmen.
Nun liegt mir der Wunsch der SPD-Fraktion vor, über den neuen Antrag auf Drucksache 11/1488 getrennt abstimmen zu lassen, zunächst einmal über die Ziffer 1 und dann über die Ziffern 2 bis 6, also einschließlich der Ergänzung mit einem etwas unterschiedlichen Schriftbild, die Ihnen verteilt vorliegt.
Die SPD-Fraktion wünscht — darüber lasse ich abstimmen — , daß auch über die Ziffern 2 bis 6 in der Sache abgestimmt wird, daß also nicht überwiesen wird. Insofern haben wir eine etwas geänderte Geschäftslage. Ich werde dann anschließend über den Antrag der Koalitionsfraktionen CDU/CSU/FDP, der vom Abgeordneten Seiters als Entschließungsantrag mündlich eingebracht worden ist, abstimmen lassen.
Nachdem wir uns so über das Verfahren geeinigt haben, rufe ich zunächst einmal die Ziffer 1 des Antrages 11/1488 auf. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Damit ist die Ziffer 1 des Antrages abgelehnt.
— Meine Damen und Herren, wenn Sie Ihre Beifalls- und Mißfallensäußerungen bis zur endgültigen Abstimmung des Antrages zurückstellen würden, ginge das einfacher.
Ich lasse nunmehr über die Ziffern 2 bis 6 des Antrags der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/1488 abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist — —
— Enthaltungen? — Bei Enthaltung des Abgeordneten Stratmann sind die Ziffern 2 bis 6 des Antrags
— und somit der gesamte Antrag — abgelehnt.
Ich lasse nunmehr über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, der vom Abgeordneten Seiters begründet worden ist. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Antrag angenommen.
Ich lasse nunmehr über den Antrag auf Drucksache 11/1487 abstimmen. Es handelt sich um den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt
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Vizepräsident Cronenberg
dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieser Antrag abgelehnt.
Ich lasse nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1498 abstimmen. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung beantragt.
Ich muß Sie bedauerlicherweise bitten, erhöhte Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, die richtige Abstimmungskarte zu benutzen. Der Anteil der Abgeordneten, bei denen Namensverwechslungen vorgekommen sind oder die mit fremden Abstimmungskarten abgestimmt haben, hat in der letzten Zeit in unangenehmer Weise zugenommen.
Es geht mir dabei nicht nur um das Eigentumsrecht, sondern auch um die Erleichterung der Auszählung der Stimmen. Ich wäre daher dankbar, wenn Sie darauf achten würden.
Im übrigen ist Ihnen das Verfahren bekannt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung.
Meine Damen und Herren, die Geschäftsführer der Fraktionen bitten mich, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß nach dieser namentlichen Abstimmung noch weitere kontroverse Abstimmungen stattfinden.
Meine Damen und Herren, ich frage, um der Form Genüge zu tun: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann kann ich die Abstimmung schließen. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Abstimmungsergebnis gebe ich später bekannt. *)
Wir kommen zunächst zum Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1499. Es ist beantragt, diesen Entschließungsantrag zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß zu überweisen. Ist das Haus mit diesen Überweisungsvorschlägen einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist dies so beschlossen.
Wir stimmen nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1502 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Bei Enthaltung der SPD-Fraktion ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 16b, und zwar über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/1209. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Gegen die Stimmen der SPD und der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.
*) Ergebnis Seite 3482 D
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 16c, und zwar über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/1211. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir stimmen nunmehr über Tagesordnungspunkt
16d ab. Die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses liegt Ihnen auf Drucksache 11/1212 vor. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir stimmen nunmehr über Tagesordnungspunkt
16e ab. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/1293, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/523 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses, den SPD-Antrag abzulehnen, zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 17, die Zusatzpunkte 7 und 8 sowie den heute mittag zusätzlich aufgesetzten Tagesordnungspunkt auf:
17. a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Kohlevorrangpolitik
— Drucksache 11/958 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung
Zustimmungsbedürftige Verordnung über den Prozentsatz der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz für das Jahr 1988
— Drucksachen 11/1350, 11/1446 —
Berichterstatter: Abgeordneter Gerstein
ZP7 Beratung des Antrags des Abgeordneten Stratmann und der Fraktion DIE GRÜNEN
Umbaukonzept für die heimische Steinkohle — Drucksache 11/1476 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
Förderung der deutschen Steinkohle — Drucksache 11/1485 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
ZP Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Solidarität mit dem Widerstand der Bergleute und Stahlarbeiter gegen Arbeitsplatz- und Standortvernichtung
— Drucksache 11/1511 —
Zu Tagesordnungspunkt 17b liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1478 und ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1486 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältenstenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte zwei Stunden vorgesehen. — Widerspruch gegen diese Vereinbarung erhebt sich offensichtlich im Hause nicht. Damit ist dies beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster der Abgeordnete Meyer, Dortmund.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Aktuellen Stunde am 9. Oktober 1987, als es um die Haltung der Bundesregierung in der Kohlerunde ging, hat der Kollege Dr. Lammert ein Gesamtkonzept gefordert, das unter Mitwirkung aller Beteiligten zustande kommen müsse. Es sei Aufgabe der Kohlerunde, drei jeweils für sich sicher berechtigte, aber miteinander nicht zu vereinbarende Positionen aufeinander zuzubewegen. Es gehe darum, die in den Verstromungsgesetzen niedergelegten Rechtsansprüche zu wahren, den Kohlepfennig möglichst wieder zu senken und die Mengenvereinbarungen nach dem Jahrhundertvertrag zu halten — so Kollege Lammert.
Die Bundesregierung hat dem Bundestag nun buchstäblich in letzter Minute eine Verordnung über den Prozentsatz der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz für das Jahr 1988 vorgelegt. Die Ausgleichsabgabe soll danach von 7,50 % auf 7,25 % gesenkt werden.
Ist das nun die Gesamtlösung, von der Herr Dr. Lammert vor gut vier Wochen sprach, meine Damen und Herren? Ist das wenigstens ein Schritt dahin, oder ist dies ein Schritt, der weiter von einer Gesamtlösung fortführt?
Ich glaube nicht, daß sich durch diesen Vorschlag der Bundesregierung nicht zu vereinbarende Positionen, wie Herr Dr. Lammert sie nannte, aufeinander
zubewegen werden. Deshalb kann dies kein Beitrag zur Gesamtlösung sein.
Denn ganz wesentliche, dazugehörende Entscheidungen sind offen. Wenn in der Kohlerunde morgen eine Verständigung herbeigeführt werden sollte, dann wissen wir heute eines schon ganz zuverlässig: Das Herzstück der Kohlepolitik, nämlich die Verstromung deutscher Steinkohle, wird dort überhaupt nicht zur Diskussion gestanden haben.
Auf den ersten Blick erscheint dies widersprüchlich und auch widersinnig; aber bei genauerer Betrachtung des tatsächlichen Zusammenhangs ist das ja folgerichtig. Der Bundeswirtschaftsminister ist zwar in der Lage gewesen, durch eine Kette von Versäumnissen und auch von Torheiten, Herr Bundeswirtschaftsminister, das Problem, das zugegebenermaßen unter den jetzt gegebenen ökonomischen Verhältnissen in der Ausgleichsabgabe liegt, zuzuspitzen. Es ist ihm aber nicht gelungen, auf soliden Verhandlungswegen mit den Beteiligten einer Lösung, wie sie angestrebt worden war, auch nur einigermaßen näherzukommen.
Im Sommer 1986 haben Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, viel zu spät und dann auch noch vollkommen unzureichend den Kohlepfennig erhöht. Seit Monaten war damals die Erhöhung überfällig. Ausgerechnet wenige Wochen nach der Katastrophe von Tschernobyl hatten Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, nicht den Mut, hier im Deutschen Bundestag zu begründen — denn das wäre notwendig gewesen —, daß die Sicherheit der Energieversorgung durch deutsche Steinkohle ihren Preis hat. Darum hat es sich damals gehandelt.
Im März 1987 haben Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, festgelegt, es bestehe Einvernehmen, daß die Strukturelemente des Kohlepfennigs einschließlich seiner Berechnungsmethode neu entschieden werden müssen — und das in dieser Legislaturperiode.
Es wird in dieser Vereinbarung noch ein deutlicher Satz angefügt, der die Richtung dessen, was gemeint ist, vorgibt. Der Satz lautet: „Die Anpassung der Kapazitäten im Kohlebergbau muß sozial flankiert werden." Beide Sätze stehen hintereinander. Man muß ja blind sein oder von den Zusammenhängen keine Ahnung haben, um nicht zu erkennen, daß in der Verbindung dieser beiden Sätze die eigentliche Dramatik dessen liegt, was sich gegenwärtig abspielt und was auch in dieser morgen stattfindenden Kohlerunde nicht entschieden werden kann und wohl auch nicht entschieden werden soll.
Was heißt das? Was heißt das für die, die heute und morgen nach Bonn schauen — es werden immer mehr in den Montanrevieren —
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Meyer
— ich habe weder mit Fernsehen noch mit Rundfunk etwas zu tun, Herr Kollege Hinsken —,
und die darauf warten, daß ihnen Unsicherheit und Angst genommen werden. Vielleicht hilft ihnen das; sehen Sie: darum geht's nämlich, dies zu erreichen.
Aber diese Unsicherheit und Angst werden ihnen nicht genommen werden. Denn weitere Unsicherheit im Steinkohlebergbau und in den Steinkohlebergbaurevieren wird nun die Folge sein, ebenso weiter drängende Fragen danach, wo die Reise in den nächsten Jahren wirklich hingehen soll: keine Investitionen, oder nur in einem beschränkten Umfang? Denn wie soll jemand in die Zukunft investieren, vor allem im Steinkohlenbergbau, unter diesen im Gegensatz zu anderen Wirtschaftszweigen doch ganz andere Produktionsmethoden, wenn diese Zukunft durch politisch herbeigeführte und immer weiter geführte Diskussionen unsicher gemacht worden ist und weiter unsicher bleibt — sie bleibt weiter unsicher, Graf Lambsdorff —?
Dies ist verbunden mit der Folge, daß nicht als erstes der Steinkohlenbergbau selber aus den Schuhen kippt, sondern die Unternehmen und Betriebe, die herkömmlicherweise für ihn arbeiten, die international über hohes Ansehen verfügen und gegenwärtig auch noch von der internationalen Seite in den Würgegriff genommen werden. Das sind nämlich die Bergbauzulieferer und auch die Bergbauspezialgesellschaften.
Erst als der bestehende 4,5-%-Zustand unhaltbar geworden war, hat sich der Bundesminister für Wirtschaft aufgerafft, dem Bundestag den Entwurf einer Verordnung für die Anhebung auf 7,5 % in der Mitte dieses Jahres vorzulegen. Wir Sozialdemokraten haben diesem Entwurf damals zugestimmt. Wir wußten, daß es das Minimum war, das zu der Zeit gerade noch verantwortet werden konnte. Ausgegangen waren wir aber auch davon, daß es im Laufe des Jahres gelingen könnte, eine einvernehmliche Lösung mit allen Beteiligten herbeizuführen. Heute wissen wir: Diese einvernehmliche Lösung mit allen Beteiligten war nicht möglich. Sie erscheint heute weiter entfernt denn je. So sehe ich das; und ich denke, ich sehe das deutlich.
Der Vorschlag auf Anhebung der Ausgleichsabgabe kam zu spät. Und da er wiederum zu spät kam, war wiederum die damals schon erforderliche Höhe nicht durchsetzbar. So wird ein Problem verschärft.
Und nun liegt erneut in allerletzter Minute dieser Vorschlag der Bundesregierung auf dem Tisch. Auch er kann die bisher entstandenen Probleme nicht lösen, er verschärft sie weiter.
Das Dritte Verstromungsgesetz sagt klipp und klar, daß der Bundesminister für Wirtschaft bei der Festlegung des Prozentsatzes der Ausgleichsabgabe zu berücksichtigen hat, daß das Aufkommen aus der Ausgleichsabgabe den vom Bundesamt zu schätzenden Bedarf an Mitteln decken soll. Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen Vorschrift nimmt es sich doch wie Hohn aus, wenn in der Begründung der vorgelegten Verordnung gesagt wird — ich zitiere — :
Obwohl die voraussichtlichen Ansprüche gegen den Verstromungsfonds eine höhere Ausgleichsabgabe rechtfertigen würden, soll mit dem Abgabesatz von 7,25 % deutlich werden, daß der Bundesminister für Wirtschaft eine schrittweise Verminderung des Kohlepfennigs für geboten hält, .. .
Für solche Absichtserklärungen läßt das Gesetz überhaupt keinen Raum.
Das, was der Bundesminister für Wirtschaft die Rechtfertigung eines höheren Satzes nennt, ist ein klarer gesetzlicher Auftrag.
Aber in diese Klemme oder in dieses Dilemma ist er ja nicht etwa hineingetrieben worden. Nein, er hat sich selbst hineinbegeben, als er sich auf die Senkung der Einnahmen des Verstromungsfonds festgelegt hat, ohne gleichzeitig zu wissen, wie er auch die Ausgaben nach unten führen will. Das ist der Kern des Problems.
Dieser Widerspruch, meine Damen und Herren, ist auch in der Rede des Bundeskanzlers in der Haushaltsdebatte deutlich geworden. Auch er hat davon gesprochen, daß es — ich zitiere — „um eine Verringerung der Belastung durch den Kohlepfennig auf ein wirtschaftlich vertretbares Maß" gehe — „und dies bei Aufrechterhaltung der im Jahrhundertvertrag vorgesehenen Kohleeinsatzmengen". Das, meine Damen und Herren, nenne ich die Quadratur des Kreises. Mit diesen beiden Zielsetzungen ist das energiepolitische Ziel, den Jahrhundertvertrag bis 1995 unverändert durchzutragen, was die Kohleeinsatzmenge betrifft, nicht zu erreichen. Sie mögen da anderer Meinung sein. Ich sage: Das ist so nicht zu erreichen.
Lösbar ist der hier liegende Widerspruch nur, wenn endlich mit dem nicht verantwortbaren Gerede von den angeblich untragbaren Lasten aufgehört wird. Sicherheit hat ihren Preis. Dies war lange allgemeine Erkenntnis zwischen allen Fraktionen des Deutschen Bundestages. Auch wenn dieser Preis zur Zeit hoch ist, ist er noch tragbar.
— Wie hoch er wäre, wie hoch er sein könnte, wie
hoch er gegenwärtig sein müßte? Nach meiner Meinung müßte er um 9 % sein. Aber ich weiß, was Sie mir
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Meyer
sagen wollen. Das muß man ja längerfristig betrachten, also für die vor uns liegende Zeit.
— Wieso soll ich denn den D-Mark-Betrag dazu sagen?
— Nein, das löst ja das eigentliche Problem nicht, Herr Kollege Hinsken. Es geht ja nicht um den D-MarkBetrag. Was haben Sie denn davon, wenn der D-Mark-Betrag insgesamt sinkt und damit das allgemein angesteuerte Ziel nicht erreicht werden kann?
Herr Abgeordneter Meyer, nach diesem Dialog wünscht Herr Graf Lambsdorff eine Zwischenfrage zu stellen.
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Meyer, können Sie aus Ihrer Kenntnis bestätigen, daß es für eine Anhebung — Sie sagen: auf 9 %; wenn es ausreichend sein sollte, müßte es wohl auf 12 To gehen
— auf 12 % — eine Mehrheit im Bundesrat bei den revierfernen Ländern nicht gibt, und hätten Sie die Freundlichkeit, uns in Ihren Ausführungen vielleicht auch ein, zwei Sätze zu dem Brief Ihrer Kollegen Niggemeier und Stahl zu sagen, der ja wohl mit dem Widerstand der revierfernen Länder etwas zu tun hat?
Herr Kollege Lambsdorff, darüber wäre viel zu sagen. Ich will Ihnen darauf eine Antwort geben. Wäre zur jeweils richtigen Zeit der Kohlepfennig in der jeweils richtigen Höhe angehoben worden, hätten wir diese Probleme nicht in der Form, über die wir gegenwärtig reden. Darauf habe ich hingewiesen.
— Ich weiß sehr wohl, daß das nur ein Teil des Problems ist. Aber ich darf bitte zu Ende reden. Sie wissen, wir haben begrenzte Redezeiten. Sie möchten eine Antwort auf Briefe anderer Abgeordneter. Die sind hier im Raum; Sie können sie persönlich fragen.
Herr Abgeordneter, ich rechne Ihnen das nicht an.
Meine Damen und Herren, ich sprach eben davon, daß Sicherheit ihren Preis hat. Auch wenn dieser Preis gegenwärtig hoch ist, ist er noch tragbar. Ich möchte darauf hinweisen, daß die Elektrizitätsunternehmen — nicht nur die beiden, von denen in der Presse immer die Rede gewesen ist, sondern auch andere — doch bisher eigentlich unisono erklärt haben, daß sie auf ihre Rechtsansprüche nicht verzichten wollen, die sie auf Grund von gesetzlichen Bestimmungen haben; ich füge hinzu: rechtlich wohl auch nicht verzichten können. Die Elektrizitätswirtschaft hat Ihnen doch, Herr Minister, deutlich genug gesagt, was die Folgen einer Beschneidung, einer Reduzierung ihrer rechtlichen Ansprüche sind. Da behaupten nun manche, daß bei einer Reduzierung der Ansprüche der Bund verklagt wird. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, Sie, Graf Lambsdorff, auch nicht, wie ich sehe. Aber ich kann mir um so deutlicher vorstellen, daß die Elektrizitätswirtschaft von ihren vertraglichen Kündigungsmöglichkeiten Gebrauch machen würde.
Sie würde die Mengen, zu deren Abnahme sie sich verpflichtet hat, kürzen.
Da gibt es ja einen Paragraphen in diesem Vertrag, der nie zitiert wird. Es wird immer nur auf einen hingewiesen. Da heißt es nämlich:
Sollten die gesetzlichen Voraussetzungen vorzeitig entfallen,
— eine entsprechende Änderung des Verstromungsgesetzes —
entfallen auch die darauf basierenden Verpflichtungen beider Seiten.
— Der andere Paragraph ist doch genügend bekannt; den muß ich doch nicht hinzufügen. Den habe ich doch oft genug aus Ihrem Munde gehört, und den lese ich auch jeden zweiten Tag in den Zeitungen.
Also würde sie die Abnahme verweigern. Und was ist dann? Neue Unsicherheit; ein dann überhaupt nicht mehr lösbares Problem. Wer will dies eigentlich angesichts der politischen Erklärungen, die von vielen Politikern aus allen Parteien in den Revieren abgegeben sind, verantworten? Vielleicht, nein, ganz gewiß käme es dann zu Neuverhandlungen über den Jahrhundertvertrag — während der Laufzeit, vor 1995. Doch stände am Ende von Neuverhandlungen oder auch ohne Neuverhandlungen jener schwerwiegender Einbruch in das Mengengerüst des Jahrhundertvertrages, den die Bundesregierung nach allen ihren bisherigen Erklärungen vermeiden will. Dabei ist es von Ihnen erklärtes Ziel der Kohlerunde, endlich die Unsicherheit in den Kohlerevieren und im Steinkohlenbergbau zu beseitigen, und diesen Zielen schließe ich mich an. Ich wünschte, daß wir uns diesem Ziel alle anschließen können.
Sie bewirken genau das Gegenteil. Sie tragen neue Ängste und neue Unsicherheiten in die Reviere hinein. Sie reden davon, daß mit dieser Senkung der Ausgleichsabgabe ein Signal gesetzt werden soll. Wenn das so ist — auch ich sehe es so — dann ist dies das falsche Signal. Es ist das Signal, daß auf dem bisher
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Meyer
eingeschlagenen Weg, die Ausgleichsabgabe weiter abzusenken, fortgefahren werden soll — mit den Risiken für den Bestand des Jahrhundertvertrages. Da können Sie noch so viel erklären und argumentieren: Sie werden nicht wegdiskutieren können, daß trotz aller anderen Erklärungen, die Sie abgeben, bei der Verfolgung dieses Zieles auch der Zusammenbruch des Jahrhundertvertrages in Kauf genommen wird.
Ich wundere mich, meine Damen und Herren, nein, ich bin sogar entsetzt, daß Sie aus Erfahrungen nicht klug geworden sind und nun erneut die Senkung der Einnahmen beschließen wollen, ohne zu wissen, wie Sie die Ausgaben den gesunkenen Einnahmen anpassen können.
Ist das, Herr Bangemann, die Klarheit, die Sie für die Energiepolitik der nächsten Jahre versprochen haben? Sind die Probleme nicht schon ohne solche falschen Signale groß genug? Paßt das in das Gesamtkonzept, das Sie, Herr Dr. Lammert, gefordert haben? Wie paßt das — wenn Herr Biedenkopf im Saal wäre, würde ich ihn fragen —
— entschuldigen Sie — , Herr Professor Biedenkopf, in die Richtung, die der nordrhein-westfälische Landtag mit seiner gemeinsamen kohlepolitischen Entschließung vom 15. Oktober 1987 vorgegeben hat?
Ich will noch einmal auf den 9. Oktober zurückkommen. Da haben Sie, Herr Kollege Lammert, darauf hingewiesen, daß es auch für die Senkung des Kohlepfennigs Mehrheiten geben müßte. Wenn ich das richtig sehe, scheinen sie trotz Ihrer eigenen besonders großen Anstrengungen und trotz der Bekundung Ihrer Fraktionskollegen aus Nordhrein-Westfalen nun da zu sein, obwohl sachlich alles dagegenspricht. Ich hätte mir gewünscht, daß Ihre gemeinsame Erklärung, meine sehr verehrten CDU-Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, und die gemeinsame Entschließung der SPD- und CDU-Fraktion des nordrhein-westfälischen Landtages den Weg zu einer nüchternen, vorurteilslosen Betrachtung der energiepolitischen Probleme geöffnet hätte.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Biedenkopf?
Meine Rede ist sofort zu Ende; entschuldigen Sie.
Das hätte der Anfang auf einem Weg, der zu einer neuen Gemeinsamkeit geführt hätte, werden können. Aber die Chance haben wir noch im nächsten Jahr. Dann muß Butter bei die Fische. So wie bisher kommen Sie, Herr Dr. Bangemann, im nächsten Jahr nicht noch einmal über die Runden.
Wenn Sie wirklich aus energiepolitischen Gründen und aus politischen Gründen das Mengengerüst des Jahrhundertvertrages aufrechterhalten wollen, dann müssen Sie die gesetzlichen und natürlich auch die finanziellen Grundlagen dafür absichern.
Wir wollen das. Deshalb haben wir einen Antrag vorgelegt, der die Beibehaltung des Prozentsatzes von
7,5 % will. Dafür bitten wir um Ihre Zustimmung. Dies wäre ein erster Schritt zu einer kohlepolitischen Gemeinsamkeit mit Optionen auf energiepolitische Entwicklungsfähigkeit.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Gerstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu dem, was der Kollege Meyer hier vorgetragen hat, bin ich der Meinung, daß gerade die Kohlerunde morgen, deren Erfolg sich abzeichnet, einen ganz wichtigen Beitrag dazu leisten wird, daß Unsicherheit und Angst in den Revieren verringert, daß sie genommen werden. In dieser Kohlerunde wird Klarheit für die kommenden Jahre geschaffen,
und es wird Klarheit geschaffen für die Größenordnung des unvermeidbaren Anpassungsbedarfs, der von ganz anderen Faktoren bestimmt wird als von denen, die Herr Meyer hier vorgetragen hat, und auch als von denen, die sich in dem Antrag der SPD wiederfinden.
Ich bin auch im Gegensatz zu Herrn Meyer der Auffassung, daß diesmal der Vorschlag zur Festlegung der Ausgleichsabgabe zum rechten Zeitpunkt kommt. Es wird gelegentlich übersehen, daß dieser Vorschlag immerhin bedeutet, daß wir die Neuregelung, die 7,25 %, für das ganze nächste Jahr haben werden. Das heißt im Endergebnis, daß die Einnahmen für den Ausgleichsfonds um einen erheblichen Beitrag steigen werden.
Ich füge hinzu — und auch da befinde ich mich wohl im Gegensatz zu Herrn Meyer — , daß ich der Auffassung bin, daß gerade die Kohlerunde morgen zusammen mit dem, was wir in der Haushaltsdebatte vom Bundeskanzler und vom Bundeswirtschaftsminister gehört haben, und zusammen mit dem, was wir im Wirtschaftsausschuß beschlossen haben, davon ausgehen kann, daß in der Tat die vereinbarten Absatzmengen nach dem Jahrhundertvertrag auch bis 1995 in der Größenordnung, wie sie vereinbart worden sind, erhalten bleiben. Dies scheint mir eine ganz wichtige Basis für die morgigen Vereinbarungen zu sein.
Meine Damen und Herren, in dieser Situation ist es meiner Meinung nach gefährlich und nicht richtig, daß die Sozialdemokraten in dem uns heute vorliegenden Antrag Fragen der Energie- und Kohlepolitik mit Unterstellungen und Übertreibungen beschreiben.
Gerade in dieser Lage muß man doch ehrlich und wahrhaftig mit den Hoffnungen und den Sorgen der betroffenen Bergleute umgehen.
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Gerstein
Die Menschen müssen verstehen können, warum Anpassungen stattfinden müssen, und sie müssen verstehen können und sehen, daß wir bei der Lösung der damit verbundenen Probleme helfen. Es ist aber überhaupt nicht hilfreich, wenn Sie, wie das in Ihrem Antrag geschieht, anstelle realistischer Vorschläge zur Lösung der Probleme durch Unterstellungen aus einer Krise, die niemand bestreiten kann, eine Katastrophe herbeizureden versuchen.
Meine Damen und Herren, Sie unterstellen uns und dem Bundesminister für Wirtschaft z. B., wir betrieben sozusagen einen grenzenlosen Abbau der Kohleförderung. Dies stimmt doch einfach nicht. In der Kohlerunde — jeder, der das verfolgt, wird das bestätigen können — wird sicherlich nicht vereinbart werden, was Sie angeben. Es geht in der Kohlerunde eben nicht um einen Abbau von 30 Millionen t Steinkohle bis 1990 und den Verlust von 60 000 Arbeitsplätzen. Das ist einfach nicht wahr. Die Ergebnisse der Kohlerunde werden belegen, daß bei der notwendigen Anpassung weit weniger als die Hälfte des von Ihnen bis 1995 in die Diskussion gebrachten Anpassungsvolumens in Verhandlung stehen und daß das natürlich auch für die Zahl gilt, um die die Belegschaft zurückgeht.
Sie haben in Ihrem Antrag ferner noch einmal festgehalten, die Kohle werde zugunsten der Kernenergie geopfert. Ich betone mit allem Nachdruck: Diese Feststellung ist ebenfalls falsch. Wer wie Sie argumentiert, daß durch den Einsatz der Kernenergie die Schließung weiterer Zechen und damit die Gefahr von Arbeitslosigkeit im deutschen Steinkohlebergbau besteht, der verfälscht den Sachverhalt, ja, er stellt ihn auf den Kopf. Der Einsatz von Kohle und Kernenergie ermöglicht den Elektrizitätsversorgungsunternehmen, wie im Jahrhundertvertrag nun einmal ausdrücklich vereinbart, eine Mischkalkulation der Strompreise.
Lassen Sie mich dazu noch eine wichtige Zahl nennen. Der Einsatz deutscher Steinkohle in der Stromerzeugung hat doch nun einmal 1986 entsprechend den Vereinbarungen mit 41,7 Millionen t Steinkohle einen neuen Höchstwert erreicht.
Meine Damen und Herren, damit ist erstmalig — das wird auch im Jahre 1987 der Fall sein — mehr als die Hälfte des Gesamtabsatzes deutscher Steinkohle in die Verstromung gegangen. Ich bin sicher: Dabei kann und soll es auch bleiben.
Meine Damen und Herren, es wäre für die Problemlösung viel hilfreicher, wenn Sie statt der Übertreibungen und Unterstellungen Ihre Politik des Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie zugunsten der deutschen Kohle überdenken würden.
Ich begrüße in diesem Zusammenhang nachhaltig die Haltung der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie.
— Wir haben ja gerade gehört, wer das ist. Wenn Herr Meyer das hier heute vielleicht auch nicht ausgesprochen hat, so gibt es genügend deutliche Hinweise darauf, daß von dieser Stelle aus Bemühungen um eine Wiederherstellung des Konsenses zwischen Kohle und Kernenergie mit wesentlich mehr Nachdruck und Glaubwürdigkeit verfolgt werden als von der Mehrheit Ihrer Fraktion.
Die Kollegen Stahl und Niggemeier sind hier schon genannt worden; sie haben eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, mit Hilfe derer man den Konsens in der Energiepolitik tatsächlich wiederfinden könnte, aber das wollen Sie mit Ihrer Mehrheit nicht.
Die revierfernen Länder, deren Stromverbraucher den Einsatz der deutschen Steinkohle in der Verstromung in erheblichem Maße mitfinanzieren, dürfen eben nicht daran gehindert werden, die Kernenergie zu nutzen.
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Stratmann zulassen?
Wenn ich eben diesen Gedankengang zu Ende führen kann, gerne. — Wenn sich die SPD-Regierungen des Saarlandes und Nordrhein-Westfalens weiter wie bisher gegen die Nutzung der Kernenergie, gegen Wackersdorf, gegen den Schnellen Brüter und dergleichen aussprechen, dürfen sie sich doch nicht wundern, wenn die revierfernen Stromverbraucher zunehmend die Lust verlieren, der Kohle durch den Kohlepfennig wirklich zu helfen.
Das ist der wahre Tatbestand!
— Fragen Sie doch einmal die Stromverbraucher im Süden der Bundesrepublik!
Jetzt gestatte ich gerne die Zwischenfrage des Kollegen Stratmann.
Bitte sehr, Herr Stratmann.
Herr Gerstein, können Sie mir bei den von Ihnen gerade noch einmal betonten Gemeinsamkeiten mit Herrn Meyer, Herrn Niggemeier und Herrn Stahl folgendes Rätsel auflösen? Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel „Förderung der deutschen Steinkohle" wird als Antrag der Abgeordneten Gerstein, Wissmann, Dr. Lammert, Müller und Genossen bezeichnet. Handelt es sich bei diesem Antrag um einen Gemeinschaftsan-
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Stratmann
trag der CDU/CSU-Fraktion und der Genossen Niggemeier und Stahl?
Herr Stratmann, Sie wissen, daß bei den Anträgen, die im Bundestag eingebracht werden, die Fraktionskollegen als Genossen bezeichnet werden. Ich weiß nicht, ob das unbedingt ein Vorteil ist. Dies ist ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun noch eine Bemerkung zur Absenkung des Kohlepfennigs auf 7,25 % machen. Aus unserer Sicht ist diese Absenkung ein notwendiger — meinetwegen bedauerlicherweise notwendiger — Beitrag zur Erhaltung der politischen Akzeptanz des Kohlepfennigs in der ganzen Bundesrepublik. Das Problem ist doch, daß Sie durch Ihre Ausstiegspolitik gerade diese politische Akzeptanz der Kohle gefährdet haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Nein, ich möchte jetzt im Zusammenhang vortragen und zum Schluß kommen.
Meine Damen und Herren, ich betone noch einmal, daß diese Senkung mit der Maßgabe erfolgt, daß — wie wir es im Wirtschaftsausschuß als Ziel festgelegt haben — die vereinbarten Absatzmengen der Steinkohle an die Kraft- und Stromwirtschaft erhalten bleiben. Auch wenn das sicherlich eine sehr schwierige Aufgabe ist, die an die Quadratur des Kreises erinnert, glaube ich schon, daß wir dafür im kommenden Jahr Lösungen finden werden, denn es ist eben nicht eine mathematische Aufgabe, sondern eine politische Aufgabe, und von daher ist sie lösbar.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu den Ereignissen am vergangenen Freitag machen, als bei den Beratungen zum Länderfinanzausgleich hier — in Übernahme eines Bundesratsantrages — auch der Antrag der SPD vorgelegen hat, die Lasten der Kohle voll auf den Bund zu verlagern. Wenn wir diesen Antrag angenommen hätten, wäre das, was jetzt in der Kohlerunde geschieht, in der Tat nicht möglich gewesen. Wir hätten dann eben nicht mehr einen sozialverträglichen Kapazitätsabbau mit Hilfe einer längeren Weiterführung der hochsubventionierten Kokskohlenexporte in die Europäische Gemeinschaft durchführen können. Dies wäre in der Tat gefährdet worden.
An die Adresse des Landes Nordrhein-Westfalen gerichtet, möchte ich noch darauf hinweisen, daß gerade dieser Export und seine Subventionierung eben nicht aus einem Interesse an der nationalen Sicherung unserer Energieversorgung erfolgen, sondern aus beschäftigungspolitischen Gründen, aus Gründen, die sehr wohl im unmittelbaren Interesse des Landes Nordrhein-Westfalen liegen. Der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen geht es eben offensichtlich nicht um die Hilfen für die Kohle, sondern um Hilfen für den Haushalt des Landes zu Lasten der Kohle. Dem können wir nicht beipflichten. Wir sind der Überzeugung, daß wir in der Kohlerunde durch konstruktive Zusammenarbeit aller Beteiligten Lösungen finden werden, die tatsächlich den betroffenen Menschen in den Revieren helfen, und darauf kommt es uns an.
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! In den letzten Wochen hat in den Montanregionen der Bundesrepublik die Unruhe in der Bevölkerung, insbesondere bei den Belegschaften der Schachtanlagen und der Stahlwerke, angesichts der offengelegten Pläne der Unternehmen zu massenhafter Arbeitsplatzvernichtung und sogar zu Standortvernichtung zugenommen. Diese Entwicklung hat in der letzten Woche im Zusammenhang mit der geplanten Stillegung des Krupp-Stahlwerkes in DuisburgRheinhausen ihren Höhepunkt erreicht. Während wir heute nachmittag hier die Kohledebatte führen, einen Tag vor der Kohlerunde, finden gleichzeitig in Duisburg und im gesamten übrigen Ruhrgebiet Widerstandsaktionen der Stahlbelegschaften und von Teilen der Bevölkerung gegen diese Unternehmenspläne und Unternehmensstrategien statt.
Ich halte es für an der Zeit, daß wir uns hier im Bundestag gemeinsam mit diesen Widerstandsaktionen der Stahlbelegschaften und der Bergbaubelegschaften in diesen Wochen solidarisch erklären.
Deswegen möchte ich Sie bitten, unserem Antrag auf Solidarität mit dem Widerstand der Bergleute und Stahlarbeiter gegen Arbeitsplatz- und Standortvernichtung zuzustimmen.
Zur Debatte stehen hier u. a. der Verordnungsentwurf der Bundesregierung zur Verringerung des Kohlepfennigs von derzeit 7,5 auf 7,25 %. In der Begründung des Verordnungsentwurfs der Bundesregierung ist deutlich erklärt, daß die Bundesregierung damit die Absicht verbindet, in den nächsten Jahren den Kohlepfennig schrittweise weiter zu reduzieren. Was das zur Folge hätte, hat in einem Brief das Energieversorgungsunternehmen Badenwerk deutlich gemacht, vorher auch schon RWE und VEW, die ganz klar gesagt haben: Sollte es zu dieser geplanten Reduzierung des Kohlepfennigs kommen, werden die Energieversorgungsunternehmen das Mengengerüst des Jahrhundertvertrages nicht einhalten, während gleichzeitig der weitere Betrieb der Atomanlagen als auch der geplante und in Realisierung befindliche Ausbau der Atomanlagen bei diesen Energieversorgungsunternehmen überhaupt nicht zur Disposition steht.
Auf diesem Hintergrund muß man eindeutig sagen: Der von der Bundesregierung heute vorgelegte Entwurf zur Reduzierung des Kohlepfennigs leistet der Verdrängung der heimischen Steinkohle durch die Atomenergie Vorschub. Wenn Herr Bangemann sagt, daß er auf der einen Seite den Kohlepfennig kürzen wolle, aber gleichzeitig das Mengengerüst des Jahrhundertvertrages einhalten wolle, gleicht er einem
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Stratmann
Glatzköpfigen, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen will.
Der Antrag der SPD, der geplanten Kürzung des Kohlepfennigs nicht zuzustimmen, sondern es bei dem bisherigen Kohlepfennig zu belassen, löst das Problem für die heimische Steinkohle in keiner Weise; denn die Berechnungen zeigen, daß wir auch bei einer Beibehaltung der 7,5 % ein Defizit beim Kohleausgleich in der Größenordnung von 1 Milliarde DM haben würden, wohingegen das Verstromungsgesetz die Verpflichtung beinhaltet, daß die Kohleausgleichsabgabe so hoch sein muß, daß der Ausgleichsbedarf tatsächlich abgedeckt werden kann. Um dieser Verpflichtung des Dritten Verstromungsgesetzes nachzukommen, legen wir GRÜNEN den Antrag vor, den Kohlepfennig von derzeit 7,5 auf 9,3 To zu erhöhen und damit die notwendige aktuelle Sicherung der heimischen Steinkohle in der Verstromung zu gewährleisten.
Auf diesem Hintergrund ist etwas ganz besonders interessant: In den letzten Wochen ist ein Brief auf den Tisch des Kollegen Meyer, IG Bergbau, geflattert, und zwar aus der IGBE-Hauptverwaltung selbst. Dieser Brief ist auch an alle Betriebsratsvorsitzenden der Schachtanlagen geschickt worden. Er soll den Betriebsratsvorsitzenden als Argumentationshilfe gegenüber der grünen Kohlepolitik dienen. Ich zitiere aus diesem Brief der IG-Bergbau-Hauptverwaltung:
Zielsetzung GRÜNER Strategie ist es, vor dem Hintergrund der Bedrohung des Steinkohlenbergbaus einen „neuen Konsens zwischen den von Arbeitsplatzverlusten bedrohten und aktionsbereiten Bergleuten und der Anti-AKW- und Ökologie-Bewegung" zu suchen. Diesem Ziel dienen alle mittlerweile örtlich begonnenen oder noch beginnenden Kontaktaufnahmen zu Haupt- und/oder ehrenamtlichen Funktionären der IGBE. Insbesondere Betriebsräte werden Ansprechpartner dieser GRÜNEN Offensive sein.
So weit ist dem Brief der IG BE vorbehaltlos zuzustimmen. Er zitiert dann weiter, und zwar verkürzt:
Die GRÜNEN fordern einen Umbau der Kohlesubventionspolitik, eine Verlagerung der Kohle-subvention von der heimischen Steinkohle in den Alternativenergiebereich.
Dann wertet die IG BE:
Diese Forderung bedroht die Existenz des lebensnotwendigen Beihilfesystems für den Steinkohlenbergbau. GRÜNE und Bangemann Hand in Hand.
Nach dem, was ich eben zu der geplanten Kürzung des Kohlepfennigs zu unserem Antrag — Erhöhung des Kohlepfennig auf 9,3 % — gesagt habe, stellt sich diese Behauptung in der sogenannten Argumentationshilfe der IG BE als eine ganz bewußte Unwahrheit und Täuschung ihrer Betriebsratsmitglieder heraus.
Offensichtlich weiß sich die IG BE wie auch Herr Niggemeier nicht mehr anders zu helfen, als nach der Unwahrheit gegenüber unseren Argumenten zu greifen.
Dieser Stil der ganz gezielten und gewollten Unwahrheit geht weiter. Es heißt in dem Brief:
Die GRÜNEN fordern: Ökologische Energiepolitik ist Vorrangpolitik für Energieeinsparung und erneuerbare Energiequellen.
So weit, so gut. Dann folgert die IG BE:
Dies ist der Kern grüner Kohlepolitik. Es geht nicht um die Sicherung von Arbeitsplätzen im Steinkohlenbergbau!
Die Tatsache sieht folgendermaßen aus.
Die IG Bergbau bietet,
in ihrem Überbrückungskonzept für die heimische Steinkohle die Vernichtung von 25 000 Arbeitsplätzen im heimischen Steinkohlenbergbau an,
fordert den Ausbau der Atomenergie und nennt das Kohlevorrangpolitik.
Wir GRÜNEN sagen dagegen: Es darf jetzt und auch morgen keinen Beschluß für eine Kapazitäts- und Arbeitsplatzvernichtung in der heimischen Steinkohle geben, und dies so lange nicht, als in der Bundesrepublik noch ein Atomkraftwerk läuft, und so lange nicht, als nicht vorher in den Bergbauregionen Ersatzarbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden.
Was von der ganz bewußten Strategie der Unwahrheit bei der IG BE zu halten ist, zeigt sich auch daran — ich möchte zitieren, wo auch Herr Lafontaine da ist — : Der Bezirksleiter der IG BE Saarland fordert die SPD-Landesregierung auf — was die Landesregierung nicht will; so in der Zeitung nachzulesen — , daß die Landesregierung bei den Saarbergwerken der geplanten Schließung der Zeche Camphausen zustimmen soll.
Der Bezirksleiter der IG Bergbau Saarland befindet
sich somit im Gegensatz zur SPD-Landesregierung.
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Stratmann
Das entnehme ich der Zeitung. Herr Lafontaine hat die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen.
Am letzten Sonntag hat in Oberhausen eine alternative Ruhrgebietskonferenz mit ca. 800 Teilnehmern aus einem breiten Bündnisspektrum von Kirchenleuten, Vertretern der verschiedensten Gewerkschaften, von Bürgerinitiativen, Frauen der Bergarbeiter, Stahlarbeiter und der GRÜNEN getagt. Wir haben uns dort mit Perspektiven für das Ruhrgebiet beschäftigt und eine Abschlußerklärung verfaßt und beschlossen, aus der ich einen ganz entscheidenden Satz zitieren möchte, die Kohle betreffend:
In der anstehenden Kohlerunde in Bonn darf kein Kapazitäts- und Arbeitsplatzabbau beschlossen werden. Vielmehr ist durch den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie, ein Verbot des Imports südafrikanischer Kohle sowie die Bereitstellung entsprechender öffentlicher Mittel die gegenwärtige Krise im Steinkohlenbergbau zu bekämpfen.
Ich freue mich, daß unsere kohlepolitischen Vorstellungen mittlerweile in einem breiteren Spektrum im Ruhrgebiet und anderswo Anklang finden. Sie ist nicht mehr als grüne Spinnerei zu diffamieren nach diesem letzten Sonntag in Oberhausen, Herr Niggemeier. In der Abschlußerklärung ist eindeutig festgestellt worden, daß das Überbrückungskonzept der IG Bergbau als falsch angelegt abgelegt wird.
Ein wichtiges Element des Beschlusses der alternativen Ruhrgebietskonferenz ist, daß wir ein Verbot des Imports südafrikanischer Steinkohle fordern. Die Zahlen sehen folgendermaßen aus. Die Kohleimporte aus Südafrika nach Nordrhein-Westfalen haben sich in den Jahren 1984 bis 1986 folgendermaßen entwikkelt: 1984 377 000 Tonnen Südafrikakohle nach Nordrhein-Westfalen, 1985 750 000 Tonnen, 1986 949 000 Tonnen. Da sagen wir GRÜNEN ganz eindeutig: Jede Tonne importierter Südafrikakohle ist ein Stück Apartheid in der Bundesrepublik.
Damit muß sofort Schluß sein.
Interessant ist, was die Statistiken weiterhin aussagen. Mehr als die Hälfte der nach Nordrhein-Westfalen importierten Südafrikakohle gingen 1985 und 1986 in die öffentlichen Energieversorgungsunternehmen in Nordrhein-Westfalen, ein erheblicher Anteil auch als Kokskohle in die Stahlindustrie.
Wir haben den Pressesprecher der VEW — unter kommunaler Kontrolle, Herr Urbaniak, auch der SPD in Dortmund — gefragt, wie es mit Südafrika-Importkohle bei VEW aussieht. Dort wurden wir abgewiesen, und es wurde gesagt: Es gibt einen Anteil von Südafrikakohle. Wir wissen aber nicht, wie hoch er ist, weil der Kohlemix schon von den Importeuren der Kohle an der Küste vorgenommen wird. — Daraufhin haben wir die Vereinigung der deutschen Kohleimporteure gefragt und erfahren, daß der Kohlemix keineswegs von den Importeuren vorgenommen wird, sondern in den Großkraftwerken selbst, weil sie allein wissen, für welche Kesselanlagen sie welchen Mix brauchen.
Daraus folgt: Die Kommunen in den öffentlichen Energieversorgungsunternehmen — seien es VEW, RWE oder andere — haben die Aufsicht und Kontrolle darüber auszuführen, daß kein Stück Apartheid in ihren Energieversorgungsunternehmen stattfindet und keine Südafrikakohle dort zur Verstromung gelangt.
Wir GRÜNEN haben in unserem Antrag betreffend einen Umbau der Kohlepolitik Elemente einer solch ökologisch orientierten Kohlepolitik dargestellt. Aus Zeitgründen möchte ich mich auf wesentliche Elemente, die für die heutige aktuelle Debatte von Bedeutung sind, beschränken. Erstes Element einer solchen am Vorrang für Energieeinsparung und erneuerbaren Energiequellen orientierten Politik ist: Der Jahrhundertvertrag muß in seinem Mengengerüst bis 1995 durchgehalten und verteidigt werden.
Zweites Element: Es darf keinen Kapazitäts- und Arbeitsplatzabbau bei der heimischen Steinkohle geben, solange noch ein Atomkraftwerk in der Bundesrepublik läuft, und zwar deswegen, weil wir die heimische Steinkohle mit der heutigen Kapazität auch für den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie brauchen, um den Atomstrom nicht nur, aber auch durch die heimische Braunkohle substituieren zu können.
Drittens. Eine ökologisch orientierte Energiepolitik ist natürlich gleichzeitig eine Absage an eine Kohlevorrangpolitik, weil — das möchte ich zu dem Antrag der SPD kritisch anmerken — eine Kohlevorrangpolitik systematisch die ökologisch verheerenden Folgen der Kohleförderung verschweigt. Ihr Antrag spricht mit keinem Wort von den ökologischen Verheerungen des Braunkohlentagebaus und der Nordwanderung der heimischen Steinkohle.
Aus dem Grunde sagen wir: Zu einem ökologischen Umbaukonzept für die heimische Kohle gehört, daß zum einen keine neuen Tagebaue in der Braunkohle in Betrieb genommen werden dürfen, und zum anderen muß es ein Moratorium für die Nordwanderung der heimischen Steinkohle geben, eine Forderung aller Bürgerinitiativen am Nordrand des Ruhrgebiets.
Viertens sagen wir: Eine ökologisch orientierte Energiepolitik wird durch die Konzentration der öffentlichen Mittel auf die Förderung von Energieeinsparung und erneuerbare Energiequellen mehr Arbeitsplätze in den Bergbauregionen sichern und schaffen als das traditionelle Weiterfahren der Kohlevorrangpolitik, und sie wird gleichzeitig die ökologischen Schäden der Kohlevorrangpolitik vermeiden. Für eine solche Politik werben wir um Zustimmung in der Bevölkerung, und das ist uns mit einem wichtigen Schritt auf der alternativen Ruhrgebietskonferenz am letzten Sonntag gelungen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3463
Stratmann
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Beckmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir beschließen heute hier über die Ausgleichsabgabe für das Jahr 1988. Eigentlich müßte der Abgabensatz, gemessen an dem Finanzbedarf des Fonds, über der 9 %-Grenze liegen. Das ist hier eben auch schon angedeutet worden. Jeder weiß aber, daß damit der Sprengsatz der gemeinsamen Kohlepolitik gezündet wäre. Dies wäre auch sicherlich der Fall, wenn wir dem Antrag der GRÜNEN zustimmen würden.
Die FDP-Fraktion begrüßt, daß die Bundesregierung ein Konzept zur mittelfristigen Rückführung der Abgabe entwickelt hat. Ich appelliere an dieser Stelle an die Revier- und revierfernen Länder, das Mögliche zu tun, um die gemeinsame Kohlepolitik fortzuführen. Auch die Elektrizitätswirtschaft muß noch deutlicher erkennen, daß nur Kohle mit Kernenergie und nicht Kernenergie mit ein klein wenig Kohle der politisch getragene Konsens für eine gemeinsame Energiepolitik sein kann.
Wir stehen vor einer Kohlerunde, die morgen stattfindet, die bei den Beteiligten ein Höchstmaß an Konsensbereitschaft voraussetzt. Die Lage der Kohle ist nicht nur auf Grund der veränderten weltwirtschaftlichen Energiesituation, sondern auch vor dem Hintergrund der Probleme in der deutschen Stahlindustrie wirtschaftlich außerordentlich schwierig. Nur wenn alle Beteiligten bereit sind, jetzt Opfer zu bringen, kann es zu einer einvernehmlichen Lösung und zu Verabredungen über die notwendigen Anpassungsmaßnahmen, begleitet durch soziale Flankierung, kommen.
Ich will ein Wort zur IG Bergbau und Energie sagen. Sie hat sich in den vergangenen Wochen, wie in der Vergangenheit überhaupt, sehr konstruktiv an dem Dialog beteiligt. Ich möchte ihr hierfür ausdrücklich meine Anerkennung aussprechen.
Die Diskussion der letzten Wochen hat uns, so glaube ich, weitergebracht. Der Sicherheitsbeitrag der deutschen Steinkohle zur Energieversorgung ist politisch nach wie vor nicht umstritten. Wir wollen an dem Mengengerüst des Jahrhundertvertrages festhalten. Allerdings wollen wir auch, nicht nur im Interesse des Steuerzahlers, auch im Interesse des Stromkunden, insbesondere in den revierfernen Ländern, die hohen Belastungen, die der deutsche Steinkohlenbergbau allen auferlegt, schrittweise vermindern.
Das Kampfgeschrei der SPD im Revier gegenüber dem Bundeswirtschaftsminister hat der Diskussion allerdings nicht genutzt.
Niemand will ein Aus für den deutschen Steinkohlenbergbau. Wir stehen aber doch alle unter dem Druck
der revierfernen Länder. Sie sind nicht bereit, eine immer teurere Kohlepolitik mitzufinanzieren. Es muß deswegen eine gesamtwirtschaftlich tragbare Linie zwischen Bund, Ländern und Kohlewirtschaft gefunden werden. Andernfalls steht nämlich die Zukunft des gesamten deutschen Steinkohlenbergbaus auf dem Spiel. Meine Damen und Herren, keiner kann annehmen, daß allein die Kohleländer die Lasten der Finanzierung der Kohle tragen könnten. Sie brauchen Hilfe von allen Ländern und vom Bund.
Damit aber komme ich auch zu einer entscheidenden Voraussetzung für die gemeinsame Energiepolitik. Ohne den vertraglich gesicherten Konsens hinsichtlich des Einsatzes von Kohle und Kernenergie in der Stromproduktion stößt das System an seine finanziellen Belastungsgrenzen und droht dann zu implodieren — mit allen schlimmen sozialen und wirtschaftlichen Folgen für die Reviere.
Die Kostenbelastung unserer Volkswirtschaft durch die Finanzierung der deutschen Steinkohle hat Größenordnungen erreicht, die unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr unberührt läßt. Dies stellt z. B. die IG Chemie in einer Analyse der Wettbewerbsbedingungen zweifelsfrei fest. Auch der BDI hat es in den letzten Tagen noch einmal betont.
Es muß uns deswegen also im Interesse aller mittelfristig an einer Begrenzung der Belastungen gelegen sein. Die Auswirkungen der in der Kohlerunde zu verabredenden unvermeidlichen Anpassung sind in der Tat schwerwiegend. Sie konzentrieren sich auf Bundesländer, die bereits seit Jahren hinter der Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung des übrigen Bundesgebietes zurückbleiben. Angelpunkt des Anpassungsprozesses ist nicht allein die soziale Flankierung durch staatliche Maßnahmen, sondern die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den Revieren. Sonst wird es keine Zukunftsperspektive für die betroffenen Menschen geben können.
Dabei liegt der Schlüssel allerdings zuallererst bei den Landesregierungen. Sie müssen endlich auf investitions- und ansiedlungsfreundliche Politik umschalten und ihre Arbeitsplatzverhinderungspolitik aufgeben.
In diesem Zusammenhang stelle ich erfreut fest, daß z. B. Herr Ministerpräsident Lafontaine die Steuerpolitik als eine Schlüsselgröße unternehmerischen Investitionsverhaltens ausgemacht hat. Eine gute Erkenntnis. Er hat damit den richtigen Weg betreten.
— Frau Kollegin Traupe, Sie lachen ein wenig ungläubig. Ich konnte es auch nicht fassen, als ich es gehört habe. Ich freue mich aber darüber.
Es bleibt aber noch ein weiter Weg, den er zurücklegen muß, bis er die investitions- und mittelstandsfreundliche Politik der Koalition eingeholt hat. Wir heißen Sie dann herzlich willkommen, Herr Ministerpräsident.
Für die Problemregionen der Kohle- und Stahlreviere — ich nenne insbesondere den Aachener Raum
3464 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Beckmann
und die Stahlstandorte — hat der Bund entsprechende Sonderprogramme zur regionalen Wirtschaftsförderung aufgelegt und inzwischen verlängert. Für das Aachener Revier ist ein neues Programm vorgesehen, mit dem das Auslaufen der Zeche „Emil Mayrisch" aus Gründen der Lagerstätte durch Schaffung neuer Arbeitsplätze aufgefangen werden soll. Für den verbleibenden Teil des EBV wird hoffentlich in der anstehenden Kohlerunde eine konstruktive Lösung im Sinne eines übergreifenden Konzeptes gefunden werden können.
Das vom Lande Nordrhein-Westfalen geforderte Zukunftsinvestitionenprogramm mit dem Volumen von 2 Milliarden DM ist allerdings eine weitere Fortsetzung der bekannten Beschäftigungsprogrammtherapie, deren wir reichlich genug und mit nur mäßigem Erfolg in den 70er Jahren gehabt haben. Wir haben nichts gegen öffentliche Investitionen, aber sie müssen in dieser Größenordnung mittelfristig aus dem konsumtiven Bereich erwirtschaftet anstatt bei der Bank finanziert werden.
Dabei stellt sich allerdings auch die Frage, wie das finanziell angeschlagene Land Nordrhein-Westfalen diese erforderlichen Mittel überhaupt bereitstellen will. Finanzielle Solidität wäre im Moment der beste wirtschaftspolitische Investitionsmultiplikator, jedenfalls besser als zusätzliche Staatsmittel, aufgenommen in Form von unrückzahlbaren Krediten.
Die Bundesregierung sollte sich jetzt dafür einsetzen, die Regionalmaßnahmen in Aachen und Jülich bereits 1988 anlaufen zu lassen. Ferner sollte die Bundesregierung auf der Basis eines konkreten, realistischen und Vertrauen in die wirtschaftliche Zukunft Nordrhein-Westfalens weckenden Gesamtkonzepts ihre Möglichkeiten zur finanziellen Unterstützung des Modernisierungsprozesses in Nordrhein-Westfalen prüfen. Ich sage dabei ausdrücklich, daß das ZIP nicht die Qualifikation für ein solches Gesamtkonzept besitzt.
Ohne die Mitwirkung der Tarifpartner, also der Unternehmer und Gewerkschaften, an einer vorwärtsgerichteten Anpassungspolitik und den Verzicht auf die Durchsetzung höchster Lohnforderungen werden politische Maßnahmen alleine nicht weiterhelfen. Wir müssen vielmehr alle Anstrengungen und die Produktivitätsreserven darauf lenken, frei werdende Arbeitskräfte umzuschulen, unqualifizierte Arbeitskräfte besser auszubilden, Industrieregionen zu sanieren, die Förderung der technologischen Möglichkeiten kleiner und mittlerer Unternehmen zu verbessern und die Investitionsbedingungen in den Revieren insgesamt maßgeblich zu verbessern.
Vielen Dank.
Bevor ich dem Bundeswirtschaftsminister das Wort gebe, darf ich mitteilen: Interfraktionell ist vereinbart worden, in die jetzt stattfindende Beratung den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Situation in den Kohle- und Stahlrevieren — Drucksache 11/1517 — und den Antrag der Fraktion der SPD zur Zukunft der Montanregionen — Drucksache 11/1518 — einzubeziehen. Das
Haus ist damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Herr Bundesminister für Wirtschaft, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte in dieser Debatte, die sich ja um den aktuellen Bedarf beim Verstromungsfonds dreht, zunächst noch einmal bestätigen, daß wir von unveränderten Grundlagen unserer Kohlepolitik ausgehen. Der Verstromungsvertrag wird bis 1995 gelten. Der laufende und ab 1989 der neue Hüttenvertrag sowie die Flankierung des Anpassungsprozesses sind für uns nach wie vor verbindlich. Wir werden diese Politik gerade auch aus der Überlegung heraus fortsetzen, daß — wie schon verschiedene Redner gesagt haben — die deutsche Steinkohle in der Tat der einzige nennenswerte heimische Energieträger ist und wir aus Gründen der Versorgungssicherheit auf diese Energie nicht verzichten wollen. Aber ich habe auch schon bei verschiedenen anderen Gelegenheiten gesagt, daß sich diese Politik in die Wirtschafts- und Finanzpolitik einpassen muß und daß man berücksichtigen muß, daß die unvermeidlichen Lasten, die mit dieser Energiesicherungspolitik verbunden sind, nicht so hoch und so untragbar werden dürfen, daß sie andere wirtschaftspolitische Ziele beeinträchtigen.
— Das gilt auch für die Landwirtschaft. Auch dabei handelt es sich um eine Art von Sicherung der Lebensgrundlagen. Auch das kostet Geld. Das ist hier bei den Beträgen auch immer genannt worden.
Wenn ich die Beträge genannt habe und hier noch einmal nenne, dann nicht deswegen, weil ich das nicht weiter verantworten will, sondern deswegen, weil wir in dem Abbau von Überkapazität auch eine vernünftige volkswirtschaftliche Begrenzung dieser Lasten sehen müssen. Bund und Länder geben im Jahr einschließlich des Kohlepfennigs 10 Milliarden DM für die Sicherung des Steinkohlebergbaus aus. Es kommen die Leistungen hinzu, die wir immer wieder
— auch in den jüngsten Tagen — für die Unternehmen selber erbracht haben.
— Herr Jens, ich möchte im Zusammenhang vortragen, weil ich das Gefühl habe, daß es Ihnen guttut, wenn Sie diese Fakten im Zusammenhang zur Kenntnis nehmen.
Es ist keine Zusatzfrage zugelassen.
Wir haben erst jüngst in den Haushaltsberatungen beispielsweise eine Verpflichtungsermächtigung in Höhe von 1 Milliarde DM zur Absicherung des Unternehmens Ruhrkohle vereinbart und beschlossen. Wir haben im vergangenen Haushaltsjahr — das werden
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3465
Bundesminister Dr. Bangemann
wir auch im nächsten Haushaltsjahr tun — den EBV bei Betriebsverlusten entlastet.
Wir unterstützen also nicht nur die Verstromung der Kohle und die Verhüttung der Kohle, sondern wir tragen auch dazu bei, daß Betriebsverluste abgedeckt werden.
Man kann nun wirklich nicht sagen, daß das keine Leistungen des Bundes sind. Deswegen ist es wichtig, daß wir auch gemeinsam den Anpassungsprozeß bewältigen; denn Überkapazitäten, die bestehen, gefährden im Kern diese Kohlepolitik, die wir ja weiter betreiben wollen.
Überkapazitäten kann man nicht rechtfertigen, am wenigstens unter dem Gesichtspunkt der Energiesicherung.
Das weiß auch jeder. Morgen wird man in der Kohlerunde von Erkenntnissen ausgehen, die sich vielleicht noch marginal voneinander unterscheiden. Man wird von einer Überkapazität von 13, 14 oder 15 Millionen t ausgehen. Diese Unterschiede beruhen im übrigen auf unterschiedlichen Einschätzungen und nicht auf einer anderen Einschätzung der Lage insgesamt. Von dieser Überkapazität gehen morgen alle aus.
Ich habe neulich bereits in einer Diskussion in Haltern gesagt: Ich finde es nicht angemessen und im übrigen auch gar nicht nützlich für die Lösung der Probleme, die Herr Meyer mit Recht beschrieben hat, daß so getan wird, als bemühten sich die Bundesregierung — insbesondere der Bundeswirtschaftsminister — und die Regierungskoalition darum, eine Veränderung der Kohlepolitik vorzunehmen, daß sie nun aber auf den entschlossenen Widerstand der SPD und der IGBE stießen.
Das ist ja nicht so, Herr Meyer; Sie wissen das auch. Ich nehme es Ihnen auch nicht übel, daß Sie es hier nicht so offen gesagt haben.
Sie haben hier als Mitglied einer Oppositionsfraktion gesprochen. Ich anerkenne das. Sie haben dort eine andere Rolle zu übernehmen. Das ist auch in Ordnung.
Aber wir werden morgen bei der Kohlerunde sehen, daß wir diesen Anpassungsprozeß gemeinsam bewältigen können und bewältigen müssen.
Strukturelle Absatzeinbußen kann man nicht bestreiten. Wir haben Absatzeinbußen bei der europäischen Stahlindustrie und damit natürlich auch bei der deutschen Stahlindustrie. Wir werden uns morgen mit diesem Problem zu befassen haben. Daß das einen nachlassenden Bedarf an Kokskohle bedeutet, ist jedermann klar. Allein die Nachfrage der deutschen Stahlindustrie hat seit 1985 um mehr als 4 Millionen t nachgelassen. Insgesamt beträgt der Absatzrückgang, wenn man den Wärmemarkt und die anderen Möglichkeiten des Absatzes einbezieht, rund 12 Millionen t.
Meine Damen und Herren, diese Entwicklung ist nicht konjunkturell verursacht — sonst könnte man das zwei, drei Jahre aufhalten —, sondern sie ist durch einen strukturellen Kapazitätsüberhang bedingt.
— Ich bin ja für vieles verantwortlich. Ich übernehme auch einiges, wofür ich nicht verantwortlich bin, damit Sie immer einen Menschen haben, auf den Sie einschlagen können.
Daß ich aber für diesen Anpassungsbedarf veranwortlich bin, das ist nun zuviel.
— Es ist ja das Problem, daß man in einer solchen schwierigen Diskussion, in der man eigentlich damit rechnen müßte, daß jeder sich entweder sachkundig macht oder, wenn er schon sachkundig ist, es nicht vergißt, sich immer wieder mit Argumenten auseinandersetzen muß, die eigentlich nur dem politischen Kampf entstammen, aber nicht der Bereitschaft, eine Lösung zu finden.
Auch die Unternehmen wissen seit Jahren, daß die Subventionen insbesondere für die Kokskohlenexporte in der Höhe angepaßt werden müssen. Daß das nicht mit Energiesicherung begründet werden kann, sollte doch wohl hoffentlich klar sein. Wir geben jährlich 800, 900 Millionen DM für die Subventionierung von Exporten von Kokskohle in andere Länder aus. Das kann ja wohl kein Beitrag zur Energiesicherung sein. Dieses Geld — da haben doch die Kollegen aus der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion recht — fehlt uns dann für den Umstrukturierungsprozeß. Es ist doch nicht sinnvoll, Geld für etwas auszugeben, was wirtschaftlich überhaupt keinen Sinn macht, Arbeitsplätze künstlich zu erhalten, die sowieso wegfallen, anstatt das Geld zu nehmen, dafür dann andere Arbeitsplätze zu schaffen oder mindestens dabei zu helfen, daß sie entstehen können.
Deswegen müssen wir diese Überkapazität zurückführen, und das werden wir morgen, wie ich hoffe, einverständlich machen. Wir werden den Prozeß zeitlich so strecken, daß dabei auch eine sozial verträgliche Lösung erreicht werden kann. Wir dürfen letztlich auch nicht übersehen, daß wir mit dieser Politik im Augenblick noch im Windschatten dessen leben, was ich in der Europäischen Gemeinschaft erreicht habe: Vor zweieinhalb Jahren war nämlich die Europäische Gemeinschaft dabei, eine ganz andere Kohlepolitik zu formulieren, die unsere Unterstützung völlig unmöglich gemacht hätte. Ich habe mich damals mit
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Bundesminister Dr. Bangemann
Erfolg dafür eingesetzt, daß das geändert worden ist, so daß wir das, was wir hier machen, bis 1992 überhaupt fortsetzen können. Aber auch das nehmen Sie ja nicht zur Kenntnis.
Deswegen sollten wir auch nicht übersehen, daß wir mit dieser Kohlepolitik einen Anpassungsprozeß betreiben müssen, um die internationale Kritik, die mit Sicherheit nach diesem Zeitraum wieder beginnen wird, auffangen zu können. Meine Damen und Herren, ich empfinde es als Pflicht eines Mitglieds der Bundesregierung, solche Wahrheiten auszusprechen und danach zu handeln. Am wenigsten ist den Bergleuten und den Regionen damit geholfen, daß man die Augen aus Angst vor der Entwicklung verschließt und Zukunftsperspektiven vorgaukelt, die überhaupt nicht bestehen.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat uns dazu gebracht, diesen Vorschlag zu machen, den wir heute hier diskutieren. Es ist völlig klar, und jedermann weiß das: Wenn wir, gemessen an den eigentlichen Kosten, den Kohlepfennig festlegen wollten und müßten, müßte er weitaus höher angesetzt sein. Das war übrigens auch im vergangenen Jahr schon so, Herr Meyer. Das wissen auch Sie sehr genau. Wir haben das im vergangenen Jahr nur noch dadurch überspielen können, daß wir das Kreditvolumen des Verstromungsfonds auf 2 Milliarden DM erhöht haben und daß wir — wie auch in diesem Jahr — eine Bugwelle vor uns herschieben, die aus einer vernünftigen, einvernehmlichen Regelung mit EVUs entstanden ist.
Ich senke den Kohlepfennig, und zwar aus zwei Gründen. Erstens — das hat Klaus Beckmann hier schon deutlich gesagt — : Wir hätten — ich habe vorher selbstverständlich versucht, herauszufinden, wofür Mehrheiten vorhanden sind — eine Mehrheit für einen anderen Kohlepfennig nicht gehabt.
Das folgende hören Sie nicht gern — ich weiß das, und ich verstehe auch, daß Sie das nicht gerne hören — : Wenn Sie eine Landesregierung — ich nehme nur einmal ein Land — politisch mit dem, was diese Landesregierung in der Kernenergie macht, vorführen und dann gleichzeitig erwarten, daß die Abgeordneten dieses Landes in diesem Hause dafür stimmen, daß der Kohlepfennig noch höher angesetzt wird, der übrigens die revierfernen Länder im nächsten Jahr stärker belasten wird als die Revierländer, dann können Sie sich doch ausmalen, daß Sie das Schicksal der Steinkohle mutwillig mit Ihrer Politik mehr gefährden, als jeder andere es tun könnte. Das ist das Problem.
— Da gibt es gar nichts zu lächeln, Herr Lafontaine. Ich kann auch Sie einmal als Beispiel für eine Kohlepolitik nehmen, die geradezu unverständlich geworden ist.
Die IGBE im Saarland fordert Sie auf, eine Grube zu schließen, die ganz offensichtlich betriebswirtschaftlich nicht mehr vernünftig betrieben werden kann. Die IGBE des Saarlandes hat eingesehen, daß die Schließung dieser Grube den Saarbergwerken insgesamt eine Zukunft, jedenfalls auf absehbare Zeit, sichern kann. Sie fordert Sie auf, sich daran zu beteiligen. Der Bund will sie schließen. Die Betriebsräte sind damit einverstanden.
Jedermann sieht die Notwendigkeit ein, diese Grube zu schließen — nur der Herr Lafontaine nicht. Da muß man sich doch einmal fragen,
aus welchen Gründen eine solche Politik betrieben wird. Das kann doch nicht mehr eine vernünftige, auf Sicherung der Arbeitsplätze bedachte Politik sein. Das ist eine Politik des Wählerfangs, der Wählertäuschung. Das ist besonders schlimm, wenn es um Arbeitsplätze und Menschen geht.
— Sie können das alles nachprüfen. Herr Lafontaine
— „Genosse Lafontaine" kann ich nach seinen neuesten geistespolitischen Ausflügen ja nicht mehr sagen —
wird ja hier gleich sprechen. Ich habe hier nur wiederholt, was in den Aufsichtsratssitzungen von Saarbergwerk traurige Wahrheit gewesen ist, und Herr Lafontaine kann sich ja dazu äußern. Wir werden auch über die Stahl-Behauptungen, die Sie in Ihrem eigenen Antrag aufstellen, morgen sehr lange und sehr gründlich diskutieren. Dann müssen Sie sich einmal anhören, was die Wahrheit ist und was Ihre Märchen sind, die Sie über die Wahrheit erzählen, obwohl Sie sehr genau wissen, daß es anders ist.
Wir werden die Kapazitätsanpassungen schrittweise durchführen. Wir werden sie auch mit einer aktiven Regionalpolitik begleiten. Wir werden uns nicht darauf beschränken, daß die sozialen Leistungen länger gewährt werden. Aber ich bitte auch, das nicht geringzuachten. Auch diese Debatte der vergangenen Tage war unerträglich. Wenn das, was eine große Leistung der IG Metall, der Wirtschaftsvereinigung, der Bundesregierung und der Landesregierungen beim Stahl war, als Almosen bezeichnet wird,
was soll man denn dann überhaupt noch machen, um den Menschen zu helfen? Merken Sie denn nicht, wohin Sie sich verstiegen haben
und was Sie da anrichten?
Das ist unglaublich.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3467
Bundesminister Dr. Bangemann
Wir bemühen uns, mit Einsatz von viel Geld den Prozeß sozial erträglich zu machen und zu flankieren. Wir werden viel Geld — und zwar gern — in der Regionalpolitik für die Schaffung neuer Arbeitsplätze ausgeben.
Aber das alles wird nur dann gehen, wenn man den Versuch macht, wirklich bei der Wahrheit zu bleiben.
Natürlich — das weiß auch ich, Herr Meyer — sind wir mit dieser Festsetzung, die wir beim Kohlepfennig treffen, nicht am Ende der Verhandlungen mit den Energieversorgungsunternehmen. Das ist richtig.
Sie wissen auch, daß diese Herren, die übrigens in ihren Entscheidungen nicht unbedingt frei sein müssen — sie können ja von Kommunen und Ländern auch einmal beeinflußt werden; da könnten Sie ja einmal versuchen, Ihren politischen Einfluß auszuüben — , einen Grundsatz des römischen Rechts sehr gut hersagen können: „pacta sunt servanda" , aber den anderen Grundsatz, daß man auf veränderte Umstände eingehen muß, nicht kennen.
Man muß doch der Bundesregierung zugestehen, daß sie darauf verweist, daß sich die Voraussetzungen für die Bezuschussung der Verstromung von Kohle fundamental verändert haben und daß sich für den Bezug auf den Ölpreis aus mehreren Gründen die Grundlage verändert hat: wegen der gesunkenen Ölpreise und wegen des gesunkenen Dollarkurses, aber auch aus dem Grund, weil dieser Bezug ja im Grunde genommen fiktiv geworden ist, soweit und solange Energieversorgungsunternehmen nur noch beschränkt Öl zur Erzeugung von Elektrizität einsetzen. Das trifft für einige zu. Für die große Zahl trifft es nicht zu. Wenn die Bundesregierung dann sagt, diese veränderten Umstände müsse man berücksichtigen, so ist das, glaube ich, nicht mehr als angemessen und gerecht. Das sollten auch die EVUs im Interesse einer gemeinsamen Kohlepolitik einsehen. Im übrigen würden sie es um so mehr einsehen, wenn wir wenigstens an einem Strang zögen und wenn Sie nicht hier diese Position der EVUs auch noch politisch unterstützen würden, sondern mit uns zusammen diesen Sachverhalt deutlich machen und auf die EVUs einwirken würden, und zwar gerade da, wo Sie das politisch können. Dann wäre die Ausgangslage wesentlich günstiger, als sie heute ist.
Aber ich werde mich bemühen — mit der Festsetzung auf 7,25 % haben wir das nächste Jahr gewonnen —, auch dieses Problem zu lösen. Ich bin ganz sicher, daß wir es lösen können. Wir werden auch den Solidaritätsbeitrag der Elektrizitätswirtschaft sowie den der revierfernen Länder brauchen. Zu diesem Solidaritätsbeitrag gehört aber auch, daß ein energiepolitisches Interesse der revierfernen Länder an der Nutzung sowohl der Kernenergie als auch der Kohle weiterhin vorhanden ist.
Das, meine Damen und Herren, sind die Voraussetzungen, von denen wir ausgehen. Diese Voraussetzungen kann niemand ändern. Das ist ja das Drama: Der Rückgang der Nachfrage im Bereich Stahl, im Wärmemarkt, die Unmöglichkeit, Kohleexporte weiter zu subventionieren, lassen sich von niemandem zurückdrehen. Deswegen müssen wir die Kapazitätsanpassung bewältigen. Wir können sie ohne Schaden für die Menschen bewältigen, wenn sich eine gewisse Einigkeit aller Beteiligten herstellen läßt:
nicht nur über die Notwendigkeit dieses Anpassungsprozesses, sondern auch über die Maßnahmen, die dabei eingesetzt werden müssen. Und ich wiederhole: Das sind nicht nur soziale Maßnahmen, sondern das werden auch gezielte Programme sein, die in den betroffenen Regionen Förderbedingungen schaffen, bei denen neue Arbeitsplätze entstehen können. Aber
— das sage ich hier auch mit ganz großem Nachdruck — weder die Bundesregierung noch die Landesregierungen können solche Ersatzarbeitsplätze schaffen. Das muß von Firmen, Unternehmen, insbesondere auch von kleinen und mittleren Unternehmern, getan werden, die die öffentliche Förderung zwar sicherlich als Unterstützung begreifen werden, die aber immer noch einen eigenen Entschluß zur Investition und zum Investitionsstandort fassen müssen. Sie haben die freie Wahl, sie müssen nicht in die Kohleregionen gehen, sie können woanders hingehen. Ich bitte doch nun darum, daß man gemeinsam
— auch die dort betroffenen Menschen, deren Erregung ich verstehen kann, aber vor allen Dingen die dort politisch Verantwortlichen, die diese Erregung nicht nur verstehen, sondern auch begreifen sollten, daß jemand dann, wenn er in der Erregung dazu beiträgt, daß die Attraktivität eines solchen Ortes für Investitionen nachläßt, dessen Zukunft damit verspielt
— Besonnenheit an den Tag legt.
Meine Damen und Herren, tragen Sie dazu bei, daß das Ruhrgebiet ein attraktiver Investitionsstandort bleibt.
Ein Investitionsstandort, der attraktiv sein will, darf nicht brennen, meine Damen und Herren.
Ich habe das hier jetzt schon oft gehört, ich habe das in manchen Debatten gehört: Wenn die Ruhr brennt, reicht das Wasser des Rheins nicht aus, um den Brand zu löschen. Das ist sicher richtig.
Aber tragen wir alle dazu bei, Herr Stratmann, daß die
Ruhr nicht brennt! Denn wenn das eintritt, dann können wir soviel Geld zur Verfügung stellen, wie wir
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Bundesminister Dr. Bangemann
wollen, dann wird kein einziger Arbeitsplatz dort geschaffen.
Die Verantwortung dafür ist nicht allein eine Verantwortung der Regierung oder der sie tragenden Parteien. Das ist auch Ihre Verantwortung. Und ob Sie sich ihr gerecht erweisen, da habe ich meine großen Zweifel.
Das Wort hat der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Lafontaine.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Morgen soll beim Bundeswirtschaftsminister die Kohlerunde 1987 stattfinden.
Darin sollen die Bergbauunternehmen zu einem Kapazitätsschnitt von 15 Millionen Tonnen bis zum Jahre 1995 veranlaßt werden.
Wir verlieren damit unwiederbringlich fast 20 % unserer bedeutendsten nationalen Energiequelle.
Was heute hier im Bundestag beschlossen werden soll, nämlich die Senkung des Kohlepfennigs, ist nach meiner Auffassung noch weitaus gefährlicher. Das ist der Anfang vom Ende des Jahrhundertvertrages.
Nach den Vorstellungen des Bundeswirtschaftsministers soll der Kohlepfennig zwischen 1988 und 1995 schrittweise auf 4 % reduziert werden.
Damit fallen für die kohleverstromenden Elektrizitätsversorgungsunternehmen die Geschäftsgrundlagen des Jahrhundertvertrages weg. Sie sind nach der geltenden Rechtslage dann frei von Ihren Kohleverpflichtungen und dürfen wieder Importkohle verstromen. Der Bundeswirtschaftsminister versucht also, mit einer scheinbar unbedeutenden Absenkung des Kohlepfennigs ein Modell durchzusetzen, das nach wiederholten Erklärungen aus dem Elektrizitätsbereich das Ende des Jahrhundertvertrags provoziert.
Die EVUs haben rechtsgültige Zuwendungsbescheide des Bundes, und sie sind auf Grund dieser rechtsgültigen Zuwendungsbescheide sehr wohl in der Lage, einen Ausgleich der Mehrkosten bei der Verstromung deutscher Steinkohle gegenüber der Verstromung von Importenergien bis 1995 zu verlangen. Wenn diese Zuwendungsbescheide — darum geht es hier — durch Gesetzesänderung oder Verwaltungspraxis vermindert würden, wäre für die EVUs die Geschäftsgrundlage des Jahrhundertvertrages entfallen.
Sie haben für diesen Fall, der heute eingeleitet werden soll, wenn wir nicht behutsam vorgehen, angekündigt, Ihre Abnahmeverpflichtungen gegenüber dem deutschen Steinkohlenbergbau in dem Maße zu verkürzen, wie ihre Ansprüche aus dem Kohlepfennig gekürzt werden sollen. Das entspricht dem Beschluß des Wirtschaftsministers und der Bundesländer auf der Wirtschaftsministerkonferenz vom 7. Oktober 1987, in dem es heißt, daß der Jahrhundertvertrag nur noch „so weit wie möglich" erfüllt werden soll.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lammert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr.
Würden Sie, Herr Ministerpräsident, freundlicherweise bestätigen — wenn Sie sich über den Sachverhalt präzise in Kenntnis gesetzt haben —,
daß mit dem Verordnungsentwurf, den wir heute hier im Bundestag behandeln, die Rechtsansprüche der Elektrizitätsversorgungsunternehmen nicht um einen Millimeter verändert werden
und daß sich zweitens mit der Festlegung eines Kohlepfennigs von 7,25 % für das ganze nächste Jahr die Einnahmen des Verstromungsfonds, aus dem diese Rechtsansprüche bedient werden müssen, gegenüber dem laufenden Jahr trotz der 7,5 %, die nur für ein halbes Jahr galten, erhöhen und nicht absinken werden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde gerne, Herr Abgeordneter, Ihrer Argumentation folgen. Nur wäre es gut, wenn Sie die EVUs von Ihrer Interpretation überzeugen könnten und wenn die EVUs Ihnen das glauben würden.
Ich habe Ihnen die ganzen Stellungnahmen der EVUs soeben vorgetragen. Gehen Sie davon aus, daß sich die EVUs sehr sorgfältig ansehen, was Sie hier treiben, und daß sie ihre Ankündigungen nicht von ungefähr gemacht haben.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3469
Ministerpräsident Lafontaine
Ich sage also voraus, meine Damen und Herren, daß die Jahrhundertvertragsmengen um etwa 20 % gekürzt werden, wenn Sie hier und heute dem Modell des Bundeswirtschaftsministers zustimmen und den ersten Schritt auf die schiefe Ebene tun.
— Ich komme nachher noch zu Unterstellungen, verehrter Herr Gerstein.
Herr Ministerpräsident, ich muß Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage von Herrn Stratmann zulassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte sehr, Herr Stratmann.
Herr Lafontaine, stimmen Sie mir zu, daß der Antrag der SPD auf Beibehaltung des Kohlepfennigs bei 7,5 % das Defizitproblem im Ausgleichsfonds gegenüber dem Förderungsentwurf des Bundeswirtschaftsministers nur unerheblich vermindert und Sie auch beim Antrag der SPD ein Defizit im Jahre 1988 von 1 Milliarde DM mit dem gleichen ökonomisch-politischen Druck gegenüber den EVUs haben werden und deswegen eine Anpassung auf 9,3 % notwendig wäre?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Kohlepfennig ist nicht statisch, das wissen wir. Selbstverständlich wird er bei der gegenwärtigen Preisentwicklung, wenn er dann nach dem Vertrag festgesetzt würde, nach oben gehen. Aber es geht im Moment doch darum, das Niveau zu halten, während die Bundesregierung dabei ist, es drastisch abzusenken. So verstehe ich den Antrag der SPD-Fraktion.
20 % der Kohlemengen des Jahrhundertvertrages stehen nämlich der Nutzung von drei Atomkraftwerken im Wege, die nächstes oder übernächstes Jahr ans Netz gehen sollen. Nun hören Sie einmal genau zu, meine Damen und Herren!. Es handelt sich um die Atomkraftwerke Isar II, Neckar II und Emsland mit insgesamt 4 000 Megawatt. Wenn der Schnelle Brüter hinzukommt, sind es über 4 300 Megawatt. Diese Kraftwerke können in der Grundlast 25 Millionen bis 30 Millionen Megawattstunden Strom erzeugen. Das entspricht 7 Millionen bis 10 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten, also mindestens 20 % der Jahrhundertvertragsmengen, die 1995 erreicht werden sollen. Warum sagt denn dazu niemand etwas?
Sie haben, Herr Kollege Bangemann, gesagt:
Wir können Überkapazitäten auf Dauer nicht vorhalten. — Sie haben recht. Aber warum bauen Sie einseitig bei der Kohle ab und bauen nicht die Überkapazitäten in der Kernenergie ab? Das ist doch die entscheidende Frage, um die es geht.
Ihre ganze wirtschaftliche Philosophie geht einseitig zu Lasten der Kohle.
Sie können nachsehen, daß die Energiebedarfsprognosen der 70er Jahre alle falsch waren; das wissen wir. Also waren auch die prognostizierten Strombedarfszuwachsraten falsch. Also haben wir Überkapazitäten auf der Kraftwerksseite. Sie tun aber folgendes: Sie bürden der Kohle einseitig und allein die Zeche für die Fehlprognosen der siebziger Jahre auf.
Der 1977 formulierte Konsens zwischen Kohle und Kernenergie wird damit gebrochen. Ich wiederhole: Der 77er Konsens, den ich nachher einmal zitieren werde — Sie haben ja daran mitgewirkt, aber manchmal hat man den Eindruck, daß das alles vergessen wurde —, wird gebrochen. Dazu haben die stets maßlosen Energiebedarfsprognosen der Energieprogramme des Bundes entscheidend beigetragen.
— Im Energieprogramm des Bundes von 1973 wurde für das Jahr 1985 eine Kraftwerksleistung, Herr Graf Lambsdorff, von 140 000 Megawatt vorausgesagt. Tatsächlich erreicht wurden 98 000 Megawatt.
— Ich habe Sie angesprochen, bitte.
Sie gestatten also eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff.
Verehrter Herr Ministerpräsident, haben Sie Verständnis dafür, daß ich die frühere Bundesregierung gegen diese unqualifizierten und unsachlichen Angriffe in Schutz nehme und Sie darauf aufmerksam mache, daß wir vom zweiten Energieprogramm an niemals eine regierungsamtliche Prognose veröffentlicht, sondern immer nur als Anhang statistisches Material aus energiewissenschaftlichen Instituten beigefügt haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Man kann sich natürlich mit dem Hinweis auf Anhangmaterial herausreden. Aber, Graf Lambsdorff, wenn Sie hier ernsthaft behaupten wollen, daß die Bundesregierung in den 70er Jahren keine Energiebedarfsprognosen veröffentlicht hat,
und wenn Sie ernsthaft behaupten wollen, daß diese Energiebedarfsprognosen nicht falsch gewesen seien, dann haben wir die Debatte der letzten zehn Jahre offensichtlich umsonst geführt.
Die Bewältigung dieser Aufgabe erfordere — so hieß es im Energieprogramm 1973; auf Lesen können wir uns noch verständigen; ich zitiere jetzt, Graf Lambsdorff — , daß „nahezu 100 neue Großkraftwerke ge-
3470 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Ministerpräsident Lafontaine
baut werden müßten". Vor allem auf der Grundlage dieser Prognose, die in den Fortschreibungen des Energieprogramms im wesentlichen wiederholt wurde, sind in den Folgejahren Investitionsentscheidungen für die meisten der heute in Betrieb oder im Bau befindlichen Kraftwerke gefallen.
In der ersten Fortschreibung des Energieprogramms von 1974, formuliert unmittelbar nach der ersten Ölkrise, sollten Lehren aus der Krise gezogen werden — jetzt zitiere ich wörtlich —, nämlich
eine Beschleunigung der Nutzung der Kernenergie und eine neue Position für die Steinkohle.
Die Bundesregierung sorgte sich damals, ob genügend Bergleute vorhanden seien und ob die Bergbauunternehmen die notwendigen Investitionen aufbrächten, um eine Steigerung der Förderkapazität der Kohle vorzunehmen. Das war die Situation von 1974. Neue Anschlußbergwerke wurden in Angriff genommen. Als Ziel für die Kernenergie wurden bis 1985 50 000 Megawatt vorgegeben. Tatsächlich erreicht waren 1985 16 900 Megawatt. Hintergrund dieser Expansionspolitik waren wieder völlig überzogene Energieverbrauchsprognosen. Der Primärenergieverbrauch wurde für 1985 auf 555 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten vorausgesagt.
Dabei betrug er letztes Jahr 419 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten, also weniger als 1973. Das ist doch die tatsächliche Entwicklung. Ich verstehe nicht, wieso man nicht einmal bereit ist, Zahlen zur Kenntnis zu nehmen.
In der zweiten Fortschreibung des Energieprogramms von 1977 wurde dann der Konsens — nun hören Sie einmal genau zu — von Kohle und Kernenergie erstmals definiert, und zwar wie folgt — ich zitiere — :
Die deutsche Stein- und Braunkohle ist vorrangig zu nutzen. Nur diese beiden Energieträger stehen aus eigener Förderung in ausreichender Menge zur Verfügung. Die Kernenergie ist in dem zur Sicherung der Stromversorgung unerläßlichen Ausmaß unter Beachtung des Vorrangs der Sicherheit der Bevölkerung auszubauen.
Das war der Konsens von 1977. Es hieß nicht „Vorrang für die Kernenergie", sondern es hieß „Vorrang für die Kohle".
Wenn Sie einmal in der Lage wären, Zahlen zur Kenntnis zu nehmen, dann wüßten Sie, daß mittlerweile bei der Stromherstellung die Kernenergie den Vorrang hat. Genau das ist die Kündigung des damaligen Energiekonsenses.
Die zweite Fortschreibung ist voll von ähnlichen Formulierungen. So heißt es z. B.:
Auch nach vorrangiger Nutzung anderer Möglichkeiten sowie der Nutzung anderer Energieträger, vor allem der deutschen Stein- und Braunkohle, hält die Bundesregierung zur Deckung des
Kapazitätsbedarfs den Ausbau weiterer Kraftwerke in einem so begrenzten Ausmaß für unerläßlich. Diesen begrenzten Ausbau der Kernenergie hält die Bundesregierung für vertretbar, wenn die Entsorgung hinreichend gesichert ist.
Beflügelt wiederum von falschen Prognosen über das Wachstum des Stromverbrauchs zwischen 5 und 6 % pro Jahr wurde mit dem Bau neuer Kernkraftwerke begonnen. 5 bis 6 % pro Jahr wurden vorausgeschätzt. Im Schnitt hatten wir 2,6 % in den letzten zehn Jahren. Der Aufschluß neuer Kohlefelder wird in der dritten Fortschreibung angemahnt.
Im Energiebericht der Bundesregierung vom 24. September — wenige Monate nach Tschernobyl — kommt das Wort Kohlevorrang nicht mehr vor. Das ist die entscheidende Veränderung der Weichenstellung in der Energiepolitik.
In diesem Bericht ist zwar vom Festhalten an der Kernenergie die Rede. Für die Steinkohle werden Kapazitätsabbau und Konzentration auf die kostengünstigen Zechen angesagt. Herr Kollege Bangemann, Sie haben vorhin von Wahrhaftigkeit gesprochen.
Ich habe in meiner Regierungserklärung vom 24. Oktober 1986 vor dem saarländischen Landtag gesagt, daß der Energiebericht des Bundes und die darin zum Ausdruck kommende Energiepolitik eine Ankündigung von Zechenschließungen und die Rücknahme der Kohleförderung in der Bundespublik sei. Der Bundeswirtschaftsminister hat öffentlich darauf geantwortet, ich hätte den Energiebericht entweder nicht gelesen oder bewußt falsch interpretiert.
Sie, Herr Bundesarbeitsminister, waren bei uns an der Saar zu Gast und haben mir eine Politik mit der Angst der Kumpel vorgeworfen.
Ich werfe Ihnen heute vor: Vor einem Jahr haben Sie die Kumpel belogen, indem Sie so getan haben, als würden Zechen aufrechterhalten, die heute geschlossen werden.
Meine Damen und Herren, heute ist die Lage eingetreten, die ich 1986 vor der Bundestagswahl vorausgesagt habe und die Sie landauf, landab bestritten haben. Ich bitte Sie, meine heutige Voraussage zu berücksichtigen, wenn der Bundeswirtschaftsminister von Ihnen verlangt, ihm bei der scheinbar harmlosen Entscheidung zu folgen, den Kohlepfennig zu reduzieren. Sie machen sich sonst mitschuldig am Niedergang unserer nationalen Energiebasis.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3471
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte, Herr Kollege Blüm.
Bitte schön.
Herr Kollege Lafontaine, wann und wo habe ich die Kumpels belogen?
— Wann und wo habe ich die Kumpels belogen? Ich bitte Sie, sich Ihre Antwort gut zu überlegen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Blüm, Sie waren vor der Bundestagswahl im Saarland zu Gast.
Sie wurden auf meine wiederholte Erklärung angesprochen, daß der Energiebericht des Bundes Kapazitätsschnitte im Bergbau und damit Zechenschließungen vorsieht. Sie haben mir vorgeworfen, ich betriebe Politik mit der Angst der Kumpel. Sie wollten damit sagen, meine Ankündigung sei falsch, und genau da haben Sie die Kumpel belogen.
Herr Ministerpräsident, es ist bei uns nicht üblich, in dieser Weise zu sprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich will Ihnen gern die Flut von Zitaten zustellen — sie ist veröffentlicht worden — , mit denen Sie vor der Bundestagswahl Zechenschließungen in Abrede gestellt haben. Ich wiederhole: Weil Sie vor der Bundestagswahl Zechenschließungen in Abrede gestellt haben, haben Sie die Bergleute belogen. Wie soll man das anders nennen, meine Damen und Herren?
Kohlepolitik ist nicht etwa eine regionale oder soziale Angelegenheit der beiden Revierländer, sondern eine gesamtstaatliche Aufgabe des Bundes. Trotzdem tragen die beiden Länder in viel größerem Umfang als die übrigen Bundesländer zur Finanzierung des Bergbaus bei.
Meine Damen und Herren, wir hören häufig, die übrigen Bundesländer seien nicht bereit, diese Politik weiter zu finanzieren. Ich zitiere hier einmal aus dem Geschäftsbericht der Saarbergwerke von 1956.
— Ja, 1956. — Dort heißt es:
Der Mangel an verfügbaren Brennstoffen gestattet es uns nicht, die während des ganzen Jahres ununterbrochen starke Nachfrage voll zu befriedigen. Darunter hatte unmittelbar der süddeutsche Markt zu leiden. Wir waren jedoch in der Lage, diesen Ausfall an Primärenegie durch wesentlich erhöhte Stromlieferungen in den Verbund der süddeutschen Netze auszugleichen.
Das war die Zeit, als Bayern und Baden-Württemberg bei uns im Saarland Schlange standen, um Strom zu bekommen und um Kohle zu bekommen. Weil die Bergleute damals solidarisch mit diesen Ländern waren, haben sie heute ein Anrecht auf die Solidarität dieser Länder.
Meine Damen und Herren, es wird sehr oft das Kostenargument angeführt. Wenn Sie sich einmal sachkundig machen — das ist hier ja häufig gefordert worden — , dann werden Sie nicht in Abrede stellen können, daß der Kohlemix aus Importkohle und deutscher Steinkohle im Moment billiger wäre als der Mix aus Kernenergie und Steinkohle. Das bitte ich doch endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen!
Wenn es wirklich die Kosten wären, wäre dies der Weg der Energiepolitik. Die Wahrheit ist doch, daß wir heute zwei Bereiche subventionieren. Jawohl, wir subventionieren die deutsche Steinkohle, aber wir subventionieren mittlerweile auf Grund des Weltenergiepreisniveaus auch die Kernenergie. Auch das bitte ich endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Meine Damen und Herren, wir sind offen für alternative Modelle der Kohlefinanzierung, wie sie z. B. auch die Elektrizitätswirtschaft immer wieder vorgeschlagen hat, und ihr wird hier ja wohl niemand die Sachkenntnis absprechen. Wir kleben nicht an einzelnen kohlepolitischen Instrumenten, aber schneiden Sie bitte nicht am Kohlepfennig herum, bevor wir nicht eine alternative Finanzierung gefunden haben!
Nach meiner Auffassung müssen in einer wirklichen Kohlerunde alle kohlepolitischen Instrumente auf den Tisch. Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen aus der Union haben ja in den letzten Wochen erkannt, daß die bisherige Salamitaktik des Bundeswirtschaftsministeriums nicht nur unsere Energiebasis gefährdet, sondern auch jeden Versuch der Rückkehr zu einem neuen kohlepolitischen Konsens unmöglich macht. Wir sind nach wie vor zu einem solchen Konsens bereit,
3472 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Ministerpräsident Lafontaine
aber, meine Damen und Herren, ein solcher Konsens muß an den Energiebericht des Jahres 1977 anknüpfen. In diesem Bericht hieß der Konsens: Kohlevorrang und Kernenergie für den Restbedarf. Sie sind dabei, diese Formel umzukehren.
Heute haben wir einen größeren Anteil an Kernenergie, und genau das ist die Aufkündigung des Konsenses.
An die Adresse der revierfernen Länder hier noch einmal ein Appell des saarländischen Ministerpräsidenten: So, wie die Bergleute in den 50er und 60er Jahren den Aufbau der Wirtschaft mit ermöglicht haben, haben die Montanreviere heute einen Anspruch auf die Solidarität des Bundes und dieser Bundesländer.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schreiber.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Es ist sicher richtig — und, wie ich glaube, auch wichtig — , daß der Ministerpräsident des Saarlandes in einer Kohledebatte das Wort ergreift,
in einer Kohledebatte, die ja auch für das Saarland mit seinen strukturellen Problemen von großer Wichtigkeit ist. Ich sage Ihnen aber, Herr Ministerpräsident: Bei dem Stil, in dem Sie hier am heutigen Nachmittag geredet haben, müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, daß Sie den Interessen des Saarlandes eher schaden als nützen.
Ich füge eines hinzu: Als Abgeordneter aus diesem Lande bin ich geneigt, mich hier in diesem Hohen Hause für meinen Ministerpräsidenten zu entschuldigen
für die Art und Weise, in der hier diskutiert wird.
Meine Damen und Herren, ich denke auch — —
— Herr Kollege, wenn Sie nach der Qualität Ihrer Zwischenrufe bezahlt würden, lägen Sie weit unter dem Sozialhilfeniveau. Das darf ich Ihnen bei dieser Gelegenheit vielleicht einmal sagen.
Klarstellen wollte ich dies: Wenn man sich hier schon hinstellt und mit Zahlen jongliert, wenn man hier mit Vermutungen jongliert,
sollte man sich, so denke ich, in den einzelnen Fragen auch wirklich an die Tatsachen halten. Herr Ministerpräsident, wenn ich mir Ihre Passagen mit der rechtlichen Würdigung in bezug auf die EVUs einmal kritisch ansehe, muß ich sagen: Sie fordern ja die EVUs geradezu dazu heraus,
Ihre rechtliche Sicht in praktische Wirklichkeit umzusetzen.
Ich habe in Ihren Ausführungen auch nicht einen einzigen Satz dazu gehört, wie wir beispielsweise nach 1992 der Herausforderung begegnen, die darin bestehen wird, daß der gemeinsame Binnenmarkt uns in volle Konkurrenz mit dem billigen Atomstrom aus Frankreich treten läßt. Auch das sind doch Fakten, die wir ehrlicherweise miteinander diskutieren müssen.
Meine Damen und Herren, natürlich begrüße ich vor diesem Hintergrund und angesichts der Schwierigkeiten der Kohle nachdrücklich, daß die saarländische Landesregierung am vergangenen Montag einen Weg aus der Sackgasse gefunden hat, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatte; denn wie bekannt hat die saarländische Kohlerunde am Montag dieser Woche einen Konsens gefunden. Ich füge aber eines hinzu — und ich sage das genauso kritisch, meine sehr verehrten. Damen und Herren — : Es nützt den Kumpels nichts, aber auch überhaupt nichts, wenn parteitaktische Überlegungen auf ihrem Rücken ausgetragen werden.
Und es nützt ihnen auch nichts, wenn die Situation der Kohle nicht nüchtern und klar analysiert wird. Nur vor dem Hintergrund solcher Analysen, nüchterner Analysen, Herr Kollege, können energiepolitische Entscheidungen reifen und mit sozialen Überlegungen verknüpft werden.
Ich füge noch eines hinzu in bezug auf das, was der Ministerpräsident hier gesagt hat, und auch in bezug auf das, was er gegenüber dem Kollegen Blüm, wie ich meine in einer unmöglichen Art und Weise gesagt hat:
Wir haben im Saarland in der Zeit vor 1985 in Sachen Stahl erlebt, wie es ist, wenn unrealistische Lösungsvorschläge vorgegaukelt werden. Die Enttäuschung ist hinterher um so größer. Oder will irgend jemand hier behaupten, daß die Stahlkrise im Saarland durch die neue Regierung Lafontaine gelöst worden sei?
Meine Damen und Herren, es nützt den Kumpels auch nichts — wenn ich auch das noch an die Adresse des Ministerpräsidenten sagen darf — , wenn in einer Art Verschiebebahnhof die Schuld immer wieder nach Bonn geschoben wird. Dadurch wird nicht ein einziger Arbeitsplatz gesichert. Dadurch gibt es keine
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3473
Schreiber
Perspektive für den Kohlebergbau, auch nicht im Saarland.
Ich habe natürlich auch einiges gehört, was ich mittragen kann. — Lassen Sie mich die Frage des Föderalismus ansprechen. Föderalismus bedeutet natürlich auch Solidarität der Länder und der Regionen untereinander. Es ist für mich eine Tatsache, daß Energiepolitik, daß Kohlepolitik eine nationale Aufgabe ist und daß auch die revierfernen Länder — da sind wir uns einig — einen Beitrag zur Solidarität leisten müssen, wie auch — das darf ich vielleicht hier einmal mit einbringen — die airbusfernen Länder bei der Subvention des Airbus einbezogen werden müssen.
Ich denke, daß es aber auch darum geht, den Konsens wiederherzustellen. Das ist doch entscheidend. Die Festsetzung des Kohlepfennigs, über den wir heute nachmittag debattieren, ist eben im wesentlichen deshalb notwendig — der Kollege Gerstein hat darauf hingewiesen — , um die politische Akzeptanz zwischen den Ländern aufrechtzuerhalten. Das bedeutet aber — so schön die Durchsetzung der sogenannten reinen Lehre ist — , daß man aufeinander zugehen muß. Und um nichts anderes geht es am heutigen Nachmittag. Deshalb erwarte ich von allen Beteiligten, daß ernsthafte Bemühungen um die Wiederherstellung einer breiten Übereinstimmung bei der Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland angestellt werden, einer Übereinstimmung, die der deutschen Kohle eine langfristige und verläßliche Perspektive sichert. Und es geht eben nicht, daß im Saarland nach dem Motto gehandelt wird: Am saarländischen Wesen soll die Welt genesen.
Wir wissen, daß die Situation der heimischen Steinkohle durch die Veränderungen auf dem Stahlsektor, die Auswirkungen des Energiesparens, die Verbrauchsrückgänge im Wärmemarkt und die gegenwärtig extreme Preisdifferenz zu den übrigen Primärenergieträgern in außergewöhnlicher Weise belastet worden ist. Dies erfordert eben eine — schwierige — Anpassung der Förderkapazität an die veränderten nationalen und internationalen Verhältnisse.
Unser Ziel muß daher sein — ich bekenne mich dazu — , die notwendige Anpassung politisch und sozial beherrschbar zu machen. Das bedeutet für das Saarland, daß eine sozialpolitische und regionalpolitische Flankierung notwendig ist. Hinzu kommen sicher Grundsatzüberlegungen wie: Zugang zu den Lagerstätten, Verbundlösungen und Produktionsflexibilität, aber eben auch — und deshalb brauchen wir den Konsens — eine effektive Interessenvertretung gerade auch im Hinblick auf die einzige noch verbliebene verläßliche Säule, den Jahrhundertvertrag.
Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich, daß die IG Bergbau und Energie ein realistisches Konzept in die Diskussion eingebracht hat. Es ist den Kolleginnen und Kollegen sicher nicht leichtgefallen, die Situation realistisch einzuschätzen und entsprechende Vorschläge zu erarbeiten. Insofern stehen wir von der saarländischen CDU — das gilt auch für die Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion — diesen Überlegungen näher als die SPD-geführte Landesregierung des Saarlandes.
Lassen Sie mich auch im Namen der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zusammenfassend feststellen:
Erstens. Der Abbau der Überkapazitäten und der Rückgang der Belegschaften im Steinkohlenbergbau ist unter den betroffenen Belegschaften und Regionen zumutbaren Bedingungen nur in einem längeren Überbrückungszeitraum möglich.
Zweitens. Die Anpassung muß für die betroffenen Bergleute zumutbar sein und in Revieren und Arbeitsmarktregionen verkraftet werden können. Das ist nur in einem Gesamtkonzept möglich, das nicht durch Einzelfallentscheidungen an bestimmten Standorten den Anpassungsbedarf im deutschen Bergbau im ganzen präjudiziert.
Drittens. Die im Jahrhundertvertrag garantierten Absatzmengen der deutschen Steinkohle für die Verstromung stehen für den geltenden Vertragszeitraum nicht zur Debatte. Sie sind im Interesse der Sicherung unserer Energieversorgung auch für die angestrebte Verlängerung dieses Vertragswerkes den dafür erforderlichen Verhandlungen zugrundezulegen.
Ich sehe, das Lämpchen blinkt. Ich darf zum Abschluß vielleicht noch auf etwas hinweisen. Sie haben den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP vorliegen. Ich möchte hier eine redaktionelle Änderung bekanntgeben. Es muß im vierten Absatz statt „Die Meldungen über die Freisetzungen in der Stahlindustrie ... " heißen: „Die Meldungen über den Arbeitsplatzabbau in der Stahlindustrie ... "
Das weitere bleibt wie angeführt. Sie können davon ausgehen, daß wir diesen Antrag so eingebracht haben.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und hoffe, daß wir in der Tat zu einem Konsens kommen für die Kohle und vor allen Dingen für die Kumpels.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Jung .
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es eine durchaus bemerkenswerte Übereinstimmung in dieser kohlepolitischen Diskussion gibt, dann liegt sie in der Übereinstimmung der Fundamentalisten bei den GRÜNEN und der Fundamentalisten in der Bundesregierung. Beide wollen nämlich eine Aufgabe der Kohlevorrangpolitik.
Nur sagen es die einen sehr offen. Sie schreiben es in ihren Antrag. Dabei bringen die GRÜNEN das Kunststück fertig, auf der einen Seite die Aufgabe der Kohlevorrangpolitik zu betreiben und auf der anderen
3474 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Jung
Seite die Erhöhung des Kohlepfennigs auf 9,3 % vorzuschlagen.
Die anderen machen das verdeckt. Sie sprechen davon, daß das Mengengerüst des Jahrhundertvertrags erhalten bleiben soll. Aber im Prinzip werden alle kohlepolitischen Instrumente nacheinander zur Disposition gestellt und damit die eigentliche Verunsicherung des Steinkohlenbergbaus, auch die Verunsicherung der Elektrizitätswirtschaft und der industriellen Kraftwirtschaft bewirkt.
Ein Teil ist die krisenhafte Entwicklung, die durch die Entwicklung der Weltenergiemarktpreise hervorgerufen worden ist, die nicht ohne Wirkung auf die Situation der deutschen Steinkohle sein konnte. Der andere Teil ist aber die Krise der Kohlepolitik selbst, die dadurch verursacht worden ist, daß in der Tat die einzelnen Instrumente nacheinander zur Disposition gestellt worden sind.
Herr Bangemann spricht hier von Absatzverlusten wegen der krisenhaften Entwicklung in der Stahlindustrie. Er meint, daß wir einen strukturellen Kapazitätsüberhang haben.
Dieser Gesichtspunkt muß ernst genommen werden, wenn aber auch hier die Frage zu stellen ist: Was hat die Bundesregierung in Brüssel getan, um diese Situation wenigstens nicht in dieser Schärfe heute hervortreten zu lassen? Man muß weiterhin die Frage stellen, warum zum gleichen Zeitpunkt der Steinkohlenbergbau gedrängt wird, den Verzicht auf die Kokskohlenbeihilfe nicht erst ab 1991, so wie es bei der Verlängerung der Hüttenverträge vereinbart worden ist, sozial verträglich und beschäftigungspolitisch möglich anzupassen, sondern bereits ab 1988 einzuleiten. Da gehen der Steinkohle weitere 6 Millionen Tonnen an Absatz verloren.
Man muß auch die Frage stellen, welche Wirkung das Auslaufen des Fernwärmeprogramms für die Kohle im Wärmemarkt hat, man muß fragen, welche Wirkung es haben wird, wenn auch noch der Verdrängungsnachweis abgeschafft wird, so wie das von der Bundesregierung zur Diskussion gestellt worden ist. Dann haben wir hier politisch bedingte Absatzeinbrüche von ganz erheblichem Umfang. Dann ist es richtig, wenn die IG Bergbau darauf hinweist, daß das eigentliche Standbein in der Kohlepolitik die Verstromungsfrage ist und daß hier der Absatz erheblich ausgeweitet werden muß.
Wenn Sie in dieser Situation die Senkung des Kohlepfennigs vorschlagen und hier im Bundestag durchsetzen werden, dann gefährden Sie damit in der Tat den Jahrhundertvertrag. Herr Bangemann hat selbst davon gesprochen, daß die Bugwelle nicht gedeckter Ausgleichsansprüche bei den Kraftwerksbetreibern, die Kohle verstromen, in diesem Jahr erheblich anwachsen wird. Wenn der Kohlepfennig weiter abgesenkt wird, wird diese Bugwelle noch erheblich zunehmen und zu einer erheblichen Hypothek für die Zukunft werden.
Man muß auch darauf hinweisen, daß die Haldenproblematik von Jahr zu Jahr zunimmt. Der Vorsitzende des Gesamtverbandes des Steinkohlenbergbaus hat auf dem Steinkohlentag darauf hingewiesen, daß die Halden beim Steinkohlenbergbau heute auf 18 Millionen Tonnen angewachsen sind. Man muß die nationale Kohlereserve von 10 Millionen Tonnen und jetzt auch noch die Halden von 15 Millionen Tonnen hinzurechnen, die sich bei den Energieversorgungsunternehmen angesammelt haben, die zwar die kontrahierten Mengen an Steinkohle abnehmen, aber sie offensichtlich nur zum Teil verstromen, weil betriebswirtschaftlich die Stromerzeugung auf Kernenergiebasis kostengünstiger ist. Das macht zusammen 43 Millionen Tonnen aus. Das ist genau die Menge, die in einem Jahr gemäß dem Jahrhundertvertrag verstromt werden soll.
Wenn diese Hypothek in der Zukunft auch noch dazukommt, dann kann ich nicht sehen, wie dort noch eine vernünftige Anschlußregelung für den Jahrhundertvertrag gefunden werden kann. Dann ist dies eine ganz erhebliche Hypothek für die Zukunft, und diesen Scherbenhaufen, den wir dann zu beklagen haben, haben Sie angerichtet, Herr Bundeswirtschaftsminister.
Insofern ist die Absenkung des Kohlepfennigs von 7,5 auf 7,25 % im nächsten Jahr ein falsches Signal; es stellt die Weichen in eine falsche Richtung. Ich meine, daß sich bei allen Beteiligten inzwischen der Eindruck eingestellt hat, daß der Bundeswirtschaftsminister eine drastische Einschränkung der Kohleförderung haben will. Wenn aber heute die CDU-Abgeordneten aus Nordrhein-Westfalen und aus dem Saarland dieses Signal mit beschließen wollen, dann geraten sie in einen erheblichen Widerspruch zu dem, was sie bislang öffentlich zum Ausdruck gebracht haben,
und insbesondere zu dem, was in den beiden Landtagen beschlossen worden ist.
Dieses Signal in die falsche Richtung werden wir nicht mittragen, sondern wir werden dieser Verordnung nicht zustimmen.
Sie ist nach unserer Auffassung das Signal für den Einstieg in den Ausstieg. Wir wollen es bei der derzeitigen Regelung von 7,5 % Kohlepfennig belassen, und zwar mindestens so lange, bis in einer gemeinsamen, in einer nationalen Kohlerunde ein Konzept für die Zukunft der Steinkohle gefunden wird, das dann von allen einvernehmlich getragen werden kann.
Dabei stehen natürlich ein paar sehr schwierige branchenspezifische, regionalpolitische und finanzpolitische Fragen zur Diskussion, und ich sage hier — Oskar Lafontaine hat das vor mir gesagt — : Bei uns
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3475
Jung
gibt es in diesen Fragen kein Tabu. Aber das ist nicht eigentliches Problem. Das eigentliche Problem ist die Sicherung des Mengengerüstes des Jahrhundertvertrages, damit :vir eine langfristige Planungsgrundlage für den Steinkohlenbergbau, für die Elektrizitätswirtschaft bekommen und damit wir vor allem wieder die Zukunft der Menschen in den Revieren sichern.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Dr. Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will in all diesem Diskussionsgetümmel einmal vier Punkte festhalten:
Erstens. Die Verstromungsmenge muß gehalten werden.
Zweitens. Die Kokskohlenexportförderung muß gestreckt werden. Wir brauchen eine sachte Landung.
Drittens. Wir wollen der Importkohle nicht die Schleusen öffnen.
Viertens. Die notwendige, unumgängliche Anpassung, die ich nie, Herr Lafontaine, sowenig wie die IG Bergbau, bestritten habe, muß sozial gebändigt vollzogen werden.
Vier Punkte, die die vier Punkte der Bundesregierung sind. Wie kommen Sie eigentlich dazu zu sagen, die Bundesregierung würde die Kumpels im Stich lassen? Das sind die vier Eckpunkte unserer Kohlepolitik.
Wir haben nicht nur Worte gemacht, wir haben diesen Anpassungsprozeß mit Taten flankiert. Der Vorsitzende der IG Bergbau wird bestätigen, daß die Anpassungsschichten von uns mitfinanziert wurden und damit den Prozeß sozial gestaltet haben. In allem parteipolitischen Hickhack: Diese Wahrheit darf und wird auch von der IG Bergbau zu keinem Zeitpunkt bestritten werden. Lieber Herr Lafontaine, auch wenn Sie Unwahrheiten wiederholen, sie werden durch Wiederholung nicht zur Wahrheit.
Sie haben sich heute hier aufgeführt wie der Agent der Energieversorgungsunternehmen, nie wie der Vertreter der Kumpels.
Sind Sie der Rechtsanwalt der EVU's? Die verdienen gut, und auch die werden Ihren Beitrag leisten müssen, die Kohle zu retten.
Lieber Herr Lafontaine, 1973 hatte die Steinkohle einen Anteil an der Energieversorgung von 22 %. Heute hat sie einen Anteil von 20%. Wenn 22 % Kohlevorrangpolitik waren, dann sind auch 20 % Kohlevorrangpolitik.
Machen Sie hier doch keinen Weltanschauungsgraben auf zwischen 7,5 und 7,25 % Kohlepfennig. Das ist doch keine Weltanschauungsfrage. Sie sind mit Ihren 7,5 % ebenso unter dem Bedarf. Wir müssen eine langfristige Lösung suchen. Wer jetzt aus 0,25 % Unterschied den Konsens in Frage stellt, der hilft nicht den Bergleuten, der will kleinkarierte Parteipolitik auf dem Rücken der Bergleute machen.
Wer auf Kernenergie verzichtet, der läßt die Bergleute im Stich; eine Einsicht, die ich mit der IG Bergbau teile. Wer auf Kernenergie verzichtet, der fördert Energiepreise, die wir nicht zahlen können, es sei denn, wir würden die Importkohle hereinlassen — das würde die Bergleute arbeitslos machen — oder wir würden Arbeitsplätze ins Ausland verlagern; das würde beide, Bergleute und den Rest der Arbeitnehmer, arbeitslos machen.
Fragen Sie doch einmal den Kollegen Rappe! Der hat doch vor kurzem mit Steinkühler niedrigere Energiepreise für die Aluminiumhütten gefordert. Mit Kohle allein wird er sie nicht bekommen.
Ein Restbestand von Logik gehört auch zur Kohlepolitik.
Ausgerechnet Sie, Herr Lafontaine,
ausgerechnet Sie erheben sich zum Zeugen des Jahrhundertvertrages. Ich dachte, das peinliche Thema hätten Sie heute ausgeklammert. Sie sind doch der Aussteiger aus dem Jahrhundertvertrag. Sie haben gesagt: Lesen kann man. Dann will ich Ihnen einmal § 8 des Jahrhundertsvertrages vorlesen:
EVU und Bergbauunternehmen sind sich darüber einig, daß der wachsende Energiebedarf in Zukunft nur gedeckt werden kann, wenn sowohl Kohle als auch Kernenergie in zunehmendem Maße zum Einsatz kommen. Sie werden daher insbesondere in ihrer Öffentlichkeitsarbeit alles unterlassen, was die Erreichung dieses Zieles beeinträchtigt.
Wer gefährdet den Jahrhundertvertrag? Wer verstößt gegen den § 8 dieses Vertrages? Wir oder Sie? Sie, die sozialdemokratischen Aussteiger, gefährden den Jahrhundertvertrag und die Bergleute.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
3476 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Nein, jetzt mache ich das im Zusammenhang.
Das erinnert mich an das orientalische Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Einer, der etwas mitnimmt, rennt durch die Menge und sagt: „Haltet den Dieb", um davon abzulenken, daß er der Dieb ist. Nein, meine Damen und Herren, mit dieser Verwirrungstaktik werden Sie die Kumpel nicht hinters Licht führen.
In der Tat, Sie sind diejenigen, die die Kumpel im Stich lassen.
Ich wollte eine solche Rede heute nicht halten.
— Nein. — Am Vorabend der Kohlerunde muß man alle Investitionen auf Zusammenarbeit ausrichten. Aber die Zusammenarbeit kann nicht auf Kosten der Wahrheit geschehen. Deshalb muß die Wahrheit hier auf den Tisch.
In der Tat, wir brauchen eine langfristige Energiepolitik. Wir bemühen uns morgen, mit viel Anstrengung aller Beteiligten die Fäden zusammenzubringen. Wir brauchen auch eine Anschlußregelung für die Zeit nach 1995, eine langfristige Sicherung.
— Nein, das ist unsere gemeinsame Überzeugung. Energiepolitik kann man nicht von der Hand in den Mund machen. Jeder wird einsehen, daß der Ölpreis nicht das verläßliche Kriterium zur Berechung des Kohlepfennigs ist. Das wird jeder auch angesichts der Irrationalismen des Ölmarktes einsehen.
Dennoch bleibe ich dabei: Selbst die Flegeleien des Herrn Lafontaine
und selbst das Geschrei des Herrn Vogel werden mich auch nach diesem Tag nicht davon abbringen, morgen im Dienste der Bergleute alle Kräfte für den Konsens zu mobilisieren.
Ja, ja, die Herren verstehen das untereinander.
Herr Abgeordneter Hinsken, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit zwei Stunden warte ich als revierferner Abgeordneter, daß an dieser Debatte auch der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen oder wenigstens sein Wirtschaftsminister teilnimmt, um hier seine Meinung mit einzubringen, statt draußen bei den verschiedenen Veranstaltungen der Kumpels zu polemisieren. Mir fehlt hierfür das notwendige Verständnis. Ich meine, daß das auch unser Augenmerk verdient.
Zu Ihnen, Herr Lafontaine, möchte ich eingangs meiner Rede sagen: Sie wären gut beraten, wenn Sie sich, anstatt einen Koch für über 6 000 DM einzustellen, einen vernünftigen Redenschreiber besorgen würden,
der Ihnen etwas Vernünftiges aufschreibt, damit Sie nicht unter die Gürtellinie gehen und so polemisieren müssen, wie Sie das vorhin getan haben.
Der tüchtige Arbeitsminister Blüm hat es wirklich nicht verdient, daß er mit Lügen Ihrerseits gestraft wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, nachdem heute so vieles eingebracht worden ist, zunächst noch auf das eingehen, was Sie, Herr Meyer, gesagt haben. Herr Meyer, im Ausschuß werden Sie mit Ihren Aussagen ja oft anerkannt. Dort sind Sie beileibe nicht so polemisch, wie das heute der Fall gewesen ist. Im Ausschuß wird auch auf Ihr Wort gehört. Aber ich meine, in dem Zusammenhang auch sagen zu müssen, daß mit starken Worten und mit Demonstrationen den Problemen von Kohle und Stahl nicht beigekommen werden kann, sondern daß man sich hier eben zusammenraufen muß, um eine vernünftige Lösung, auf die Zukunft bezogen, zu finden.
Die Koalitionsfraktionen und natürlich auch die CSU sind immer für die deutsche Steinkohle eingetreten. Wir stehen zur Kohle, aber auch zur Kernenergie. Der Platz der deutschen Steinkohle in der Energieversorgung der Bundesrepublik Deutschland ist durch enorm gestiegene Subventionen abgesichert. Bund und Länder müssen in diesem Jahr über 10 Milliarden DM an Zuschüssen für den Kohlenabbau beibringen. Das entspricht etwa 63 000 DM pro Arbeitsplatz im Bergbau.
Diese Kohlesubventionen haben sich seit 1985 mehr als verdoppelt. Die Zuschüsse für die knappschaftliche Rentenversicherung in Höhe von 8 Milliarden DM jährlich sind hierbei nicht berücksichtigt. Diese Finanzmittel dienen aber nicht der Energie-, sondern der regionalen Arbeitsplatzsicherung.
Die Subventionierung eines jeden Arbeitsplatzes im Bergbau in vorher genannter Höhe ist volkswirtschaftlich — da pflichte ich dem Bundeswirtschaftsminister bei — nicht mehr vertretbar. Kapazitätsanpassungen sind deshalb unumgänglich. Allerdings muß, wie in den Koalitionsvereinbarungen festgestellt wurde, der Strukturwandel sozial flankiert werden.
Es besteht Einvernehmen, daß die Strukturelemente des Kohlepfennigs neu entschieden werden müssen; denn allein beim Kohlepfennig besteht 1987 ein Mittelbedarf von ca. 5,5 Milliarden DM, während man 1974 bzw. 1980 von einem jährlichen Subventionsvolumen von 1 bis 2 Milliarden DM ausgegangen war. Dies traf auch bis 1985 tatsächlich zu.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3477
Hinsken
Aus dem höheren Aufkommen aus dem Kohlepfennig erhält aber der Bergbau keine Mark mehr. Nutznießer der wegen des Ölpreisverfalls gestiegenen Zuschüsse sind vielmehr die kohleverstromenden Unternehmen, deren Verstromungskosten sich nicht im mindesten geändert haben, aber auch die Stromverbraucher, vor allem in den Revierländern.
Die Zeche für die Zechen zahlen vornehmlich die Verbraucher revierferner Länder und die stromintensiven Wirtschaftsunternehmen. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen darf aber keinesfalls durch zu hohe Stromkosten, die im internationalen Vergleich ohnehin sehr hoch sind, gefährdet werden.
Die Sicherheit der Arbeitsplätze im Kohlebergbau kann nicht mit der Unsicherheit Hunderttausender von Arbeitsplätzen in der übrigen Wirtschaft erkauft werden.
Im übrigen ist der regionale Vermögenstransfer auf Grund der derzeitigen Verstromungsregelung zu Lasten der revierfernen Länder weder energiepolitisch noch sonstwie sachlich begründet. Die bayerischen Verbraucher z. B. haben aus ihrer Geldbörse seit der Einführung der Kohlepfennigs bisher per saldo ca. 2 Milliarden DM zugezahlt, und die Belastungen würden sich bei anhaltender Ölpreisschwäche bis 1995 noch um ein Vielfaches erhöhen.
Es klingt unglaublich, aber es ist wahr: Die Belastungen der Stromverbraucher der meisten revierfernen Länder kommen weitgehend den Stromverbrauchern in den Kohleerzeugerländern zugute, die in der Vergangenheit ohnehin immer günstigere Strompreise hatten.
Meine Damen und Herren, ich meine deshalb, daß die Herstellung der regionalen Ausgewogenheit bei der Aufbringung des Kohlepfennigs ein Ziel sein muß, und zwar unter Berücksichtigung der Tatsache, daß Kohlepolitik weitgehend Struktur- und Sozialpolitik ist, die insoweit nicht dem Stromverbraucher aufgeladen werden kann. Dem revierfernen Verbraucher darf nicht die Rolle des Lastesels aufgebürdet werden, indem die Kosten erneut und noch stärker auf ihn abgewälzt werden.
Ich werte es persönlich als positiv, daß die revierfernen Länder — natürlich auch Bayern — weiterhin bereit sind, über den Kohlepfennig Leistungen für den Kohlebergbau zu erbringen,
wenn die Belastungen aus den Kohleverstromungshilfen auf ein wirtschaftlich und politisch erträgliches Maß zurückgeführt und regionale Benachteiligungen der revierfernen Länder abgebaut werden.
— Frau Präsidentin, darf ich Sie bitten, um ein bißchen mehr Ruhe besorgt zu sein.
Herr Kollege, Sie haben zwar vollkommen recht, aber es ist beinahe sinnlos, daß der Präsident das immer herzustellen versucht.
Ich stelle soeben fest: Auf Ihr Wort wird doch gehört.
Voraussetzung aber ist die Rückkehr zur Geschäftsgrundlage, meine Damen und Herren. Die Verhandlungen werden für uns ein Prüfstein sein, inwieweit man sich auch in der Zukunft auf langfristige Verstromungsregelungen einlassen kann. Darüber sollten sich alle, insbesondere aber die Opposition und die SPD-Länderchefs im klaren sein: Die Grundlage des Jahrhundertvertrags war und ist der Konsens über die Arbeitsteilung und damit die Mischkalkulation zwischen billiger Kernkraft und teurer Kohle. Bis weit in die Mittellastbereiche der Stromerzeugung hinein ist Kernkraft heute wirtschaftlicher. Wenn dennoch Kohle verstromt wird, so ist dies die Frucht der betriebenen Kohlevorrangpolitik und des politischen Konsenses über die Rolle von Kohle und Kernkraft.
Angesichts dieser Tatsache sollten Ministerpräsident Rau und vor allem auch Herr Lafontaine ihre sture Haltung unverzüglich aufgeben. Es ist nämlich grotesk, wenn gerade die Nutznießer des Kostenausgleichs den Ausstieg aus der Kernenergie propagieren.
Sind Sie, meine Damen und Herren von der SPD, Herr Fraktionsvorsitzender Vogel, sich denn überhaupt bewußt, was ein Ausstieg allein bis zum Jahre 2000 kosten würde?
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, festzustellen, daß es natürlich einen großen Unterschied macht, ob z. B. ein Land wie Nordrhein-Westfalen, das nur ca. 4 % seines Stromes aus der Kernenergie erzeugt, den Kernenergieeinsatz um 10 % zurückfährt oder z. B. ein Land wie Bayern, das rund drei Fünftel seines Stroms aus Kernenergie gewinnt. Die Forderung aus Nordrhein-Westfalen ist daher keine Forderung nach Solidarität, sondern ein Abwälzen der Probleme auf andere und zeugt umgekehrt von mangelnder eigener Bereitschaft zur Solidarität.
Ihre Redezeit ist zu Ende. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen, Herr Kollege.
Frau Präsidentin, Sie haben mehrmals selbst das Wort ergriffen und mir zwei Minuten von meiner Zeit genommen.
Ich werde nie wieder den Versuch machen, Ihnen Ruhe zu verschaffen, Herr Kollege.
Da ich Sie zwischenzeitlich als nachsichtige Frau schätzengelernt habe, gehe ich davon aus, daß ich meine drei Minuten noch sprechen kann.
Meine Damen und Herren, versetzen Sie sich doch einmal konkret in die Lage eines Stromzahlers aus der Umgebung von Wackersdorf. Er soll nicht nur die Auswüchse von Politchaoten erdulden, nein, er soll weiterhin höhere Strompreise bezahlen, um Demonstranten z. B. auch aus Nordrhein-Westfalen — —
Herr Kollege, jetzt sind auch die zwei Minuten um. Ich bitte Sie, den letzten Satz zu sagen.
Lassen Sie mich deshalb zum Schluß darauf hinweisen, daß z. B. ein Dreipersonenhaushalt jährlich mit 70 bis 100 DM . . .
Aber nicht doch!
... zusätzlich über den Kohlepfennig hier zur Kasse gebeten wird. Darf ich zum Schluß feststellen — —
Ihre Redezeit ist endgültig zu Ende, Herr Kollege Hinsken. Ich darf Sie beim dritten Mal beinahe schon verwarnen. Jetzt ist wirklich Schluß.
Noch eine Minute. Vizepräsident Frau Renger: Nein, jetzt ist Schluß.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit
und bin der festen Überzeugung, . . .
Herr Hinsken, bitte verlassen Sie das Podium.
... daß diese Bundesregierung die richtige Politik auch für unsere Kumpel machen wird.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Lafontaine.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die liebenswerten Ausführungen des Herrn Bundesarbeitsministers nötigen mich noch einmal, hier folgendes klarzustellen: Laut einem Bericht des „Pfälzischen Merkurs" vom 18. Dezember 1986 hat der Bundesarbeitsminister in der Hoescher Berghalle in Bexbach folgendes ausgeführt:
Er hat festgestellt, Oskar Lafontaine handle unredlich,
wenn er den Teufel der Grubenschließung an die Wand male.
Er solle doch endlich aufhören, Politik mit der Angst der Kumpel zu betreiben.
Herr Bundesarbeitsminister, Sie mögen es als Flegelei empfinden, wenn man Sie an Ihre Sprüche vom letzten Jahr erinnert. Ich empfinde es als Flegelei, wenn man den Leuten vor der Wahl die Unwahrheit sagt, um nach der Wahl ihre Arbeitsplätze wegzurationalisieren.
Meine Damen und Herren, ich nehme an, Sie möchten den Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hören
und werden deswegen etwas ruhiger sein. — Herr Bundesminister, Sie haben das Wort.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich empfinde es als eine Flegelei, den Jahrhundertvertrag
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3479
Bundesminister Dr. Blüm
zu verteidigen und den Ausstieg aus der Kernenergie zu proklamieren.
Ich glaube, meine Damen und Herren, diese letzten paar Bemerkungen waren keine Sternstunde.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Lammert, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte hat heute nachmittag ganz unpolemisch begonnen. Ich fände es schön, wenn sie ohne Polemik zu Ende gehen könnte.
Gleich zu Beginn dieser Debatte hat sich heute nachmittag der Kollege Meyer mit den Kriterien, die ich bei einer früheren Gelegenheit für die Kohlepolitik der Bundesrepublik formuliert habe, kritisch auseinandergesetzt. Aber er hat es in einer völlig unpolemischen, kollegialen Weise getan, die es deswegen verdient, beantwortet zu werden. Ich habe mich auch deshalb zu Wort gemeldet, weil der Kollege Jung besonderes danach gefragt hat, wie eigentlich die Kollegen aus den Kohlerevieren ihre Zustimmung zu der Verordnung begründen wollen, die heute nachmittag hier zur Abstimmung steht.
Diese Antwort will ich Ihnen geben.
Erstens. Wir haben über die vergangenen Wochen und Monate immer wieder und mit Erfolg gesagt: Es darf keine Einzelfallentscheidung geben. Die Lösung der Probleme im deutschen Bergbau kann nicht durch Einzelfallentscheidungen erst im Aachener Revier und dann an der Saar erfolgen, sondern sie muß im Gesamtzusammenhang erfolgen. Dieses Ziel haben wir durchgesetzt.
Zweitens. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, daß der Anpassungsbedarf im deutschen Bergbau im ganzen, quer über alle Kohlereviere, im Einvernehmen mit den Bergbauunternehmen und mit der IG Bergbau und Energie zwischen Bund und Ländern ermittelt und festgelegt werden muß. Dies findet morgen statt. Wir haben dieses Ziel durchgesetzt.
Drittens. Wir haben immer dafür gekämpft, daß die Zeitachse dieses Anpassungsprozesses so angelegt sein muß, daß er unter Bedingungen abgewickelt werden kann, die den betroffenen Bergleuten zumutbar sind und von den Revieren verkraftet werden können; im Klartext: ohne Entlassungen. Dieses Ziel haben wir durchgesetzt.
Viertens. Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen: Wenn dieses gerade noch einmal genannte Ziel mit der ursprünglichen Absicht der Koalition unvereinbar sein sollte, die subventionierten Exporte bis 1990 auslaufen zu lassen, muß diese Zeitachse verlängert werden. Morgen wird in der Kohlerunde genau dies vereinbart werden. Wir haben auch dies durchgesetzt.
Fünftens. Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß bei allen unvermeidlichen Diskussionen über die Kohlepolitk der nächsten Jahre die vertraglich vereinbarten Mengen bis 1995 nach dem Jahrhundertvertrag unantastbar bleiben müssen. Auch dies ist inzwischen völlig unstreitig. Wir waren in einer ganz freundschaftlichen Debatte in der vorigen Woche im Wirtschaftsausschuß darüber eigentlich alle einer Meinung.
Letzte Bemerkung. Wir haben den Zielkonflikt zwischen den Ausgleichsansprüchen der Elektrizitätsversorgungsunternehmen und der Notwendigkeit eines wettbewerbsfähigen Energiepreisniveaus bislang nicht gelöst.
Aber — ich denke, Herr Kollege Meyer und Herr Kollege Jung, Sie werden mir zustimmen — es wäre kein Beitrag im Interesse der Bergleute gewesen, wenn man die Einigung in den fünf Punkten, die ich gerade noch einmal aufgelistet habe, morgen nur deswegen nicht festmachen und zu Protokoll bringen würde, weil die Einigung in dieser schwierigen Frage im Augenblick noch nicht möglich ist. Mit der Entscheidung zugunsten der Verordnung der Bundesregierung, den Kohlepfennig fürs nächste Jahr auf 7,25 % festzusetzen, werden die Einnahmen des Verstromungsfonds höher sein als im laufenden Jahr. Und wir haben die Zeit gewonnen, die wir gemeinsam brauchen, um auch dieses schwierige Problem — wie ich hoffe, im Konsens — im nächsten Jahr lösen zu können.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge der Fraktion der SPD, der Fraktion DIE GRÜNEN sowie der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf den Drucksachen 11/958, 11/1476 und 11/1485 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 17 b, und zwar zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1478. Hierzu ist namentliche Abstimmung verlangt worden. Meine Damen und Herren, ich eröffne die namentliche Abstimmung.
Meine Damen und Herren, es folgen eine weitere namentliche Abstimmung sowie im Anschluß daran noch weitere Abstimmungen. Ich bitte also, im Raum zu bleiben.
3480 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Vizepräsident Frau Renger
Ich schließe die Abstimmung *).
Ich möchte folgendes bemerken. Draußen ist Glatteis, und es hat sich ergeben, daß eine Reihe von Kollegen einfach nicht schnell genug hier sein können. Wir können aber nicht auf sie warten, weil es ungewiß ist, wann sie hier eintreffen. Deswegen müssen diejenigen, die noch eintreffen werden, als entschuldigt gelten. Ich bitte, das nachher bei den Abstimmungslisten zu berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, wir kommen zur nächsten namentlichen Abstimmung. Es handelt sich um den Antrag der SPD auf der Drucksache 11/1486. Ich eröffne die Abstimmung.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß es nach Abschluß dieser namentlichen Abstimmung noch weitere, allerdings nicht namentliche Abstimmungen gibt. Ich bitte deshalb, sich dafür bereitzuhalten.
Gibt es unter den Kollegen im Saal noch jemanden, der an der Abstimmung teilnehmen will und es bis jetzt noch nicht getan hat? — Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Resultate geben wir nachher zusammenfassend bekannt **).
Ich bitte, Platz zu nehmen, weil wir in der Zwischenzeit, wenn ich nicht irre, fortfahren können. — Ich bitte noch einmal darum, Platz zu nehmen, weil ich zu Abstimmungen aufrufen möchte.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/1446. Der Ausschuß empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 11/1350 zuzustimmen.
Wer dieser Beschlußempfehlung seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung des Ausschusses bei einer großen Anzahl von Enthaltungen mit Mehrheit angenommen worden ist.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1511. Die Antragsteller wünschen, daß hierüber sofort abgestimmt wird.
Da darüber sofort abgestimmt wird, gibt es keinen Antrag zur Ausschußüberweisung.
Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/1517 ab, und zwar mit der Änderung, die der Herr Abgeordnete Schreiber zu Abs. 4 hier vorhin bekanntgemacht
*) Ergebnis Seite 3484 B **) Ergebnis Seite 3485 D
hat. Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 11/1517 mit der Änderung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Antrag mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1518. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Meine Damen und Herren, jetzt kann ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen und muß dann die Ergebnisse unserer namentlichen Abstimmungen irgendwann zwischendurch bekanntgeben. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen
— Drucksache 11/597 —Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau BeckOberdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir unseren Gesetzentwurf zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen in diesem Jahr im Bundestag einbrachten, haben wir damit einer jahrelangen Erfahrung der Gesellschaft für Sexualberatung und Familienplanung Pro familia Rechnung getragen, welche sagt: Verhütungsmittel sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Gesundheitsvorsorge und gehören daher in den Leistungskatalog der Krankenversicherung. Diese Forderung nach kostenloser Abgabe von Verhütungsmitteln wird u. a. auch vom DGB, von verschiedenen sozialen Verbänden, von Kolleginnen aus der SPD und in der CDU-Fraktion selbst auch von einer Kollegin aus der CSU geteilt. Damit hat sich über parteiliche und religiöse Orientierungen hinweg die Kenntnis durchgesetzt, daß eine befriedigende Sexualität für den Menschen einen sehr hohen Stellenwert für sein körperliches und seelisches Wohlbefinden hat.
— Herr Präsident, es ist mir zu unruhig. Ich möchte unter diesen Bedingungen nicht reden.
Ich wäre doch sehr dankbar, wenn die Kollegen, die nicht an der Debatte teilzunehmen wünschen, ihre Unterhaltung außerhalb des Saales führen würden. Das gilt für alle, auch für diejenigen, die unterhalb des Balkons stehen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3481
Außerdem ist heute weitgehend unbestritten, daß Sexualität nicht unbedingt mit dem Zeugungswunsch verbunden ist. Ich denke, auch das weiß jeder erwachsene Mensch aus Erfahrung. Deshalb gehört die regelmäßige Anwendung von Verhütungsmitteln — und zwar von Frauen und von Männern; das ist mir in der Debatte besonders wichtig —
so selbstverständlich zur gesellschaftlichen Normalität wie die Hygiene.
Weniger selbstverständlich dagegen ist es heute, daß alle Haushalte oder auch Menschen genug Geld zur Verfügung haben, um für die Verhütung aufzukommen. So sind es einmal die Jugendlichen, für die die monatlichen Kosten für die Pille durchaus ein Problem sein können, oder auch Frauen, für die die Kosten einer Spirale — sie belaufen sich auf etwa 150 DM — durchaus so hoch sind, daß dann der Punkt kommt, wo Verhütungsmittel unter Umständen eingespart werden, weil das Geld nicht da ist. Dann kommt es zu ungewollten Schwangerschaften, die Sie ja mit aller Vehemenz zu Recht verhindern wollen.
Damit komme ich zu unserem zweiten Anliegen, daß wir mit dieser Gesetzesinitiative verbinden. Wir bringen den Gesetzentwurf in einer Zeit ein, in der — auch in Ihrer Regierung, von Ihrer Seite her — sehr intensiv über die Möglichkeit der Verhinderung von ungewollten Schwangerschaften diskutiert wird. Wir meinen, daß diese Diskussion heuchlerisch ist, soweit nicht auch politische Taten, die in diese Richtung gehen, folgen.
Der einzige vorbeugende Ansatz zur Schwangerschaftsverhütung, den es in der Bundesrepublik gegeben hat, war eine Aufklärungsbroschüre der sozialliberalen Bundesregierung. Dieses Material fiel unmittelbar nach der Wende dem Reißwolf zum Opfer, und zwar ersatzlos; etwas anderes haben Sie nicht nachgeschoben.
Inzwischen ist das Kondom gesellschaftsfähig geworden, bezeichnenderweise allerdings nicht wegen seiner empfängnisverhütenden Wirkung, nicht etwa weil Männer zunehmend erkannt hätten, daß für sie die Aufgabe der Verhütung genauso wichtig ist wie für Frauen, sondern nur deshalb, weil das Präservativ zu einem Synonym für eine uns alle sehr ängstigende Krankheit geworden ist. Der Satz: „Wer sich liebt, der schützt sich" fällt jetzt nur in Verbindung mit AIDS und hat mit Schwangerschaftsverhütung nichts mehr zu tun.
Von der Ignorantenhaltung der christlichen Parteien gegenüber der Notwendigkeit von Aufklärung und Verhütung möchte ich ausdrücklich die Frau Kollegin Geiger ausnehmen. Sie hat hier bereits im August 1984 angeregt, über die Pille auf Krankenschein nachzudenken und in diesem Zusammenhang einige Fragen an die Bundesregierung gestellt.
— Ich habe doch die Unterlagen da.
Jetzt muß ich einmal gucken. — Abgeordnete Frau Geiger; ich habe die Unterlagen hier.
Jedenfalls ist das von Frau Geiger gekommen. Ich habe die Unterlagen hier. Das läßt sich ja alles in den Protokollen nachsehen.
Die eindeutig im Protokoll nachzulesende Haltung der Bundesregierung zu diesen Fragen läßt sich so zusammenfassen: Ein Zusammenhang zwischen der Erstattung der Kosten von Verhütungsmitteln und der Verhinderung ungewollter Schwangerschaften wird bestritten. Schon das ist unglaublich. Die Kosten einer Erstattung werden für nicht wünschenswert gehalten. Schließlich hält die Bundesregierung — und das ist das Entscheidende — finanzielle Mittel für die Stiftung „Mutter und Kind" für besser.
Damit sind die Prioritäten der konservativen Regierung sehr eindeutig benannt. Es geht eben nicht darum, durch vernünftige Sexualaufklärung und durch Versorgung mit Verhütungsmitteln die mit unerwünschten Schwangerschaften verbundenen Ängste, Sorgen und Konflikte zu verhindern; es ist auch ziemlich klar, daß das von Ihrer Seite nicht kommt, denn solange Männer in so überwiegender Zahl Politik machen, Männer, die die Angst vor Schwangerschaft eben nicht kennen, ist das für Sie auch kein Problem und keine Frage.
Es ist Ihnen eben gleichgültig — und Sie kennen die Probleme nicht — , ob die Zukunftspläne einer 18jährigen wegen einer ungewollten Schwangerschaft platzen oder aber eine Frau, die wieder in den Beruf einsteigen möchte, das auf einmal nicht mehr möglich machen kann, weil sich noch einmal ein Kind angemeldet hat.
— Gut, das gehört dann in den Ausschuß.
Der Schwerpunkt bei Ihnen sieht anders aus: Sie wollen eben den Schwerpunkt der Politik gar nicht auf Verhütung legen, sondern haben nachträglich ein Trostpflästerchen zur Hand, die Stiftung „Mutter und Kind", wobei Sie davon ausgehen, ungewollte Schwangerschaften seien in gewollte zu verwandeln, indem ein bißchen Geld herübergeschoben wird; auch dies noch einmal zu Ihrem Verständnis. Wir gehen davon aus, daß der Wunsch nach Kindern eben nicht nur von der finanziellen Situation abhängig ist.
Das Ködern mit Stiftungsmitteln ist dabei eine Variante der Einstellung, es gehe bei Schwangerschaftskonflikten nur um Geld.
3482 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Frau Beck-Oberdorf
Das zweite, was Sie für die Frauen im Augenblick bereithalten, ist die anstehende Verschärfung des § 218 durch das, was Sie so schön „Beratungsgesetz" nennen. Da bieten Sie an, daß Frauen durch die Mithilfe von Arbeitgebern und Angehörigen — über Schweigepflicht wird hier nicht mehr geredet — ganz sanft dahin gedrückt werden sollen, Kinder zu bekommen, die sie zunächst einmal nicht wollten. Und aufziehen können sie sie letztlich allein; denn das Kinderaufziehen dauert, wie Sie alle wissen, einige Jahre.
Wohlgemerkt, auch die beste Versorgung mit Verhütungsmitteln wird Schwangerschaftsabbrüche niemals gänzlich überflüssig machen. Jede Verhütungsmethode versagt, und insofern wird es auch immer Schwangerschaftsabbrüche geben. Deshalb ist unsere Forderung nach Bereitstellung von Verhütungsmitteln auch nicht mit irgendwelchem Herummachen am § 218 verknüpft. Unsere Forderung nach dessen ersatzloser Streichung steht nach wie vor. Nur, wer wirklich einen ernst zu nehmenden Beitrag zur Senkung der Abtreibungszahlen leisten will, der muß — das ist die erste Voraussetzung — bei einer Verbesserung der allgemeinen Verhütungspraxis anfangen.
Das heißt eben auch: kostenlose Versorgung der Bevölkerung mit Verhütungsmitteln, damit jedes Kind ein Wunschkind wird und nicht in diese Welt hineingezwungen wird.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Stratmann.
Marieluise, kannst du dir vielleicht erklären, was es zu bedeuten hat, daß bei dieser Debatte die Ministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit fehlt, dafür aber der Verteidigungsminister anwesend ist?
Daß Herr Wörner Probleme mit dem Nachschub für seine Truppen hat, wissen wir ja alle. Deswegen wird ja auf einmal dieses komische Emanzipationsverständnis hervorgekramt, nach dem Emanzipation von Frauen jetzt bedeuten soll, daß sie in der Bundeswehr niedere Dienste tun dürfen.
Frau Abgeordnete, es gibt beim Abgeordneten Vogt noch den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen.
: Bitte.
Frau Kollegin, würden Sie mir darin zustimmen, daß mit der Pille auf Krankenschein — um es populär auszudrücken — die gesetzliche Krankenversicherung belastet werden soll, daß aber die gesetzliche Krankenversicherung und ihre Regelungen im Kompetenzbereich des Bundesarbeitsministers liegen?
Gut, das gestehe ich Ihnen zu. Nur gibt es trotzdem eine inhaltliche Berührung mit der Politik von Frau Süssmuth, und ich denke, deswegen sollte sie, wenn sie für sich reklamiert, Frauenpolitik zu machen, sehr wohl hier sein; denn das, was hier angesprochen wird, ist eines der zentralen Frauenprobleme.
Es sollte auch ein zentrales Männerproblem sein, aber es ist im Augenblick ein zentrales Frauenproblem.
Nun gleich noch zu dem Einwand, der ja auch schon gekommen ist, dieses Gesetz sei nicht finanzierbar: Das läßt mich ziemlich ungerührt; denn ich bin nun lange genug hier, um gesehen zu haben, daß Finanzierbarkeit immer etwas mit dem politischen Willen zu tun hat.
Wenn der politische Wille da wäre, vor allem ärmeren Frauen oder jungen Menschen die allmonatliche Angst vor Schwangerschaft zu nehmen, dann würden Sie in diesem Hause auch eine Mehrheit für diesen Gesetzentwurf bereitstellen. Bisher ist es so — da immer das Geld gefehlt hat —, daß Frauen nach wie vor Verhütungsmittel einnehmen, die sich auf dem Niveau der chemischen Keule bewegen — ich nenne da nur die Pille; denn wir haben unsere Vorbehalte gegenüber der Pille und zu Recht — , während sich bereits in jeder Armbanduhr ein Computer verstecken läßt. Darüber nachzudenken wäre in der Tat gerade auch für die Wissenschaft sehr, sehr wichtig.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich Ihnen die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen dieses Nachmittags bekanntgeben.
Es handelt sich zunächst um das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1498. Das war im Zusammenhang mit der Regierungserklärung. Es wurden 406 Stimmen abgegeben. Keine davon war ungültig. Mit Ja haben 37 Kollegen gestimmt, mit Nein 227, und es hat 142 Enthaltungen gegeben.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 406; davon
ja: 37
nein: 227
enthalten: 142
Ja
SPD Conradi
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf Frau Beer
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3483
Vizepräsident Westphal
Frau Brahmst-Rock Brauer
Dr. Daniels Ebermann
Frau Eid
Frau Flinner Frau Garbe Häfner
Frau Hensel Frau Hillerich Hoss
Hüser
Kleinert
Dr. Knabe
Frau Krieger
Dr. Lippelt Dr. Mechtersheimer
Frau Nickels Frau Rust
Frau Saibold Frau Schilling Schily
Frau Schmidt-Bott
Frau Schoppe Sellin
Stratmann
Frau Teubner Frau Unruh
Frau Dr. Vollmer
Volmer
Wetzel
Frau Wilms-Kegel
Frau Wollny Wüppesahl
Nein
CDU/CSU
Bauer
Bayha
Dr. Becker Frau Berger (Berlin)
Dr. Biedenkopf Biehle
Dr. Blank
Dr. Blens
Dr. Blüm
Börnsen
Dr. Bötsch
Bohl
Bohlsen
Borchert
Breuer
Buschbom
Carstens Carstensen (Nordstrand) Clemens
Dr. Czaja
Dr. Daniels
Frau Dempwolf
Deres
Dörflinger
Dr. Dollinger Doss
Dr. Dregger Ehrbar
Engelsberger Eylmann
Dr. Faltlhauser Feilcke
Dr. Fell
Fellner
Frau Fischer Fischer
Dr. Friedmann Fuchtel
Ganz
Frau Geiger Geis
Gerstein Gerster
Dr. Göhner
Dr. Götz
Dr. Grünewald
Günther Harries Frau Hasselfeldt
Haungs
Hauser Hedrich
Freiherr Heereman von
Zuydtwyck
Helmrich Dr. Hennig
Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Hörster Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Dr. Hüsch
Dr. Jahn
Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung
Jung
Kalb
Kalisch Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Frau Karwatzki Kittelmann
Klein
Dr. Köhler Kossendey
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Dr. Kunz Lamers
Dr. Lammert
Dr. Langner
Lattmann Dr. Laufs Lenzer
Frau Limbach
Link
Link Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold Louven
Lowack Lummer Maaß
Frau Männle
Magin
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Miltner
Müller
Nelle
Niegel
Dr. Olderog
Frau Pack Pesch
Pfeffermann
Pfeifer
Dr. Pfennig
Dr. Pohlmeier
Dr. Probst Rawe
Reddemann
Regenspurger
Repnik
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. Rose
Rossmanith
Roth
Rühe
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer
Sauer
Sauter
Sauter Scharrenbroich
Schartz
Schemken Scheu
Schmidbauer
Schmitz
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder Schulhoff
Dr. Schulte
Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer
Seehofer Seesing
Seiters
Spilker
Dr. Sprung
Dr. Stark
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken Straßmeir Strube
Stücklen
Frau Dr. Süssmuth Susset
Dr. Todenhöfer
Dr. Uelhoff Dr. Unland Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt Dr. Vondran Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg
Weiß Werner (Ulm)
Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wilz
Wimmer Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Dr. Wörner Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer
Zink
SPD
Nagel
FDP
Dr. Bangemann
Baum
Beckmann Bredehorn
Cronenberg Engelhard
Frau Folz-Steinacker
Gallus
Gattermann Genscher
Gries
Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher
Dr. Haussmann
Dr. Hirsch Dr. Hitschler Hoppe
Dr. Hoyer Irmer
Kleinert
Dr. -Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff
Lüder
Mischnick Möllemann Neuhausen Nolting
Paintner
Richter
Rind
Ronneburger Schäfer
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Thomae Timm
Wolfgramm
Frau Würfel Zywietz
Enthalten
SPD
Frau Adler
Amling
Dr. Apel
Bachmaier
Bamberg
Becker
Bindig
Dr. Böhme Börnsen (Ritterhude)
Brück
Büchler Dr. von Bülow Buschfort
Catenhusen
Frau Conrad
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Diller
Frau Dr. Dobberthien
Dreßler
Duve
Dr. Ehrenberg Dr. Emmerlich Erler
Esters
Ewen
Frau Faße
Fischer
Frau Fuchs Frau Fuchs (Verl) Gansel
Dr. Gautier
Gilges
Frau Dr. Götte Graf
Großmann
Grunenberg Dr. Haack
Frau Hämmerle Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Heimann
3484 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Vizepräsident Westphal
Heistermann
Heyenn Dr. Holtz Horn
Ibrügger
Jahn
Jansen
Dr. Jens
Jung Jungmann Kastning
Kiehm
Kirschner Kißlinger Klein
Kolbow Koltzsch Kretkowski
Kühbacher Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart Lutz
Frau Luuk
Frau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier Menzel
Meyer
Dr. Mitzscherling Müller Müller (Pleisweiler) Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nehm
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese Niggemeier
Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo
Paterna Pauli
Dr. Penner Peter
Pfuhl
Dr. Pick Porzner Purps
Reimann
Frau Renger Reuter
Rixe
Roth
Schäfer
Dr. Scheer Scherrer
Schmidt
Schmidt
Dr. Schöfberger Schreiner
Schütz
Seidenthal Sielaff
Sieler
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Dr. Spöri
Stahl
Stobbe
Dr. Struck Frau Terborg Toetemeyer Frau Traupe Urbaniak
Vahlberg
Dr. Vogel
Voigt
Vosen
Waltemathe Walther
Wartenberg Weiermann
Frau Weiler Weisskirchen Dr. Wernitz
Westphal
Frau Weyel Dr. Wieczorek
Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
von der Wiesche Wimmer Wischnewski
Dr. de With Wittich
Zander
Zeitler
Zumkley
Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Dann komme ich zu dem Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1478. Das war in der Kohle-Debatte. Abgegebene Stimmen: 400, keine ungültigen. Mit Ja haben 34 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 366. Es hat keine Enthaltungen gegeben.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 399; davon
ja: 34
nein: 365
Ja
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf Frau Beer
Frau Brahmst-Rock
Brauer
Dr. Daniels Frau Eid
Frau Flinner
Frau Garbe
Häfner
Frau Hensel
Frau Hillerich Hoss
Hüser
Kleinert
Dr. Knabe
Frau Krieger
Dr. Lippelt Frau Nickels
Frau Rust
Frau Saibold Frau Schilling Schily
Frau Schmidt-Bott
Frau Schoppe Sellin
Stratmann Frau Teubner Frau Unruh
Frau Dr. Vollmer
Weiss Wetzel
Frau Wilms-Kegel
Frau Wollny Wüppesahl
Nein
CDU/CSU
Austermann Bauer
Bayha
Dr. Becker Frau Berger (Berlin)
Dr. Biedenkopf Biehle
Dr. Blank
Dr. Blens
Dr. Blüm
Börnsen
Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen
Borchert
Breuer
Buschbom Carstens
Carstensen Clemens
Dr. Czaja
Dr. Daniels
Frau Dempwolf
Deres
Dörflinger
Dr. Dollinger Doss
Dr. Dregger Ehrbar
Engelsberger Eylmann
Dr. Faltlhauser Feilcke
Dr. Fell
Fellner
Frau Fischer Fischer Francke (Hamburg)
Dr. Friedmann Fuchtel
Ganz
Frau Geiger Geis
Gerstein
Gerster
Dr. Göhner Dr. Götz
Dr. Grünewald Günther
Dr. Häfele Harries
Frau Hasselfeldt
Haungs
Hauser Hedrich
Freiherr Heereman von Zuydtwyck
Helmrich
Dr. Hennig Hinrichs
Hinsken
Höffkes
Höpfinger
Hörster
Dr. Hoffacker Dr. Hornhues Dr. Hüsch
Dr. Jahn
Dr. Jenninger Dr. Jobst
Jung
Jung Kalb
Kalisch
Dr.-Ing. Kansy Dr. Kappes Frau Karwatzki Kittelmann
Klein
Dr. Köhler Kossendey
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg
Dr. Kunz Lamers
Dr. Lammert Dr. Langner Lattmann
Dr. Laufs
Lenzer
Link
Link Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold Louven
Lummer
Maaß
Frau Männle Magin
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Miltner Müller
Müller
Nelle
Neumann Niegel
Dr. Olderog Frau Pack
Pesch
Pfeffermann Pfeifer
Dr. Pfennig Dr. Pohlmeier Dr. Probst
Rawe
Reddemann Regenspurger Repnik
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. Rose
Rossmanith Roth Rühe
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer
Sauer
Sauter
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3485
Vizepräsident Westphal
Sauter Scharrenbroich Schartz (Trier) Schemken
Scheu
Schmidbauer Schmitz
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder Schulhoff
Dr. Schulte Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Dr. Stark
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken Dr. Stoltenberg Straßmeir
Strube
Stücklen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Dr. Uelhoff Dr. Unland Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt Dr. Vondran Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg
Weiß Werner (Ulm)
Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms Wilz
Wimmer Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann Dr. Wörner Würzbach
Dr. Wulff
Zeitlmann
Zierer
Zink
SPD
Frau Adler
Amling
Dr. Apel
Bachmaier
Bamberg
Bindig
Dr. Böhme Börnsen (Ritterbude) Brück
Büchler Dr. von Bülow Buschfort
Catenhusen Frau Conrad Conradi
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Diller
Frau Dr. Dobberthien Dreßler
Duve
Dr. Ehrenberg
Dr. Emmerlich
Esters
Ewen
Frau Faße
Fischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs Gansel
Dr. Gautier Gilges
Frau Dr. Götte
Graf
Großmann Grunenberg
Dr. Haack
Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Dr. Hauff Heimann Heistermann
Heyenn
Hiller
Dr. Holtz Horn
Ibrügger
Jahn
Jansen
Dr. Jens
Jung Jungmann
Kiehm
Kirschner Kißlinger Klein
Kolbow
Koltzsch Kühbacher Kuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart Lutz
Frau Luuk
Frau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier Menzel
Meyer
Dr. Mitzscherling Müller Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nagel
Nehm
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese Niggemeier
Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo
Paterna
Pauli
Dr. Penner Peter
Pfuhl
Dr. Pick Porzner Purps
Rappe Reimann
Frau Renger
Reuter
Rixe
Roth
Schäfer
Dr. Scheer Scherrer
Schmidt Schmidt (Salzgitter)
Dr. Schöfberger Schreiner Schütz
Seidenthal Sieler
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Dr. Sperling Stahl
Frau Steinhauer
Stobbe
Dr. Struck Frau Terborg Frau Dr. Timm Toetemeyer Urbaniak
Vahlberg
Dr. Vogel
Voigt
Vosen
Waltemathe Walther
Wartenberg Weiermann
Frau Weiler Weisskirchen Dr. Wernitz
Westphal
Frau Weyel
Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
von der Wiesche Wimmer Wischnewski
Dr. de With Wittich
Zander
Zeitler
Zumkley
FDP
Dr. Bangemann
Baum
Beckmann Bredehorn
Cronenberg Engelhard
Frau Folz-Steinacker Funke
Gattermann Gries
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Hirsch
Dr. Hitschler Hoppe
Dr. Hoyer Irmer
Kleinert Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff Lüder
Mischnick Neuhausen Nolting
Paintner
Richter
Rind
Ronneburger
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Thomae Timm
Wolfgramm Frau Würfel
Zywietz
Der Antrag ist damit abgelehnt.
Schließlich das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1486. Dies hängt auch mit der Kohle-Debatte zusammen. Es wurden 399 Stimmen abgegeben. Davon war keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 142 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 223, und es hat 34 Enthaltungen gegeben.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 398; davon
ja: 141
nein: 223
enthalten: 34
Ja
SPD
Frau Adler Amling
Dr. Apel
Bachmaier Bamberg
Bindig
Dr. Böhme Börnsen (Ritterhude) Brück
Büchler
Dr. von Bülow Buschfort
Catenhusen
Frau Conrad Conradi
Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser
Diller
Frau Dr. Dobberthien Dreßler
Duve
Dr. Ehrenberg Dr. Emmerlich Esters
3486 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Vizepräsident Westphal
Ewen
Frau Faße
Fischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs Gansel
Dr. Gautier
Gilges
Frau Dr. Götte
Graf
Großmann
Grunenberg
Dr. Haack
Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Dr. Hauff
Heimann
Heistermann
Heyenn
Hiller
Dr. Holtz
Horn
Ibrügger
Jahn
Jansen Dr. Jens
Jung Jungmann
Kiehm Kirschner
Kißlinger
Klein
Kolbow Koltzsch
Kühbacher
Kuhlwein
Lambinus
Leidinger
Lennartz
Leonhart
Lutz
Frau Luuk
Frau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier Menzel
Meyer
Dr. Mitzscherling Müller Müller (Schweinfurt) Müntefering
Nagel Nehm Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese
Niggemeier
Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo
Pauli
Dr. Penner
Peter
Pfuhl
Dr. Pick Porzner Purps
Rappe Reimann
Frau Renger
Reuter Rixe
Roth
Schäfer
Dr. Scheer
Scherrer
Schmidt
Schmidt
Dr. Schöfberger Schreiner
Schütz Seidenthal
Sieler
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Dr. Sperling Stahl
Frau Steinhauer
Stobbe
Dr. Struck
Frau Terborg Frau Dr. Timm Toetemeyer Urbaniak
Vahlberg
Dr. Vogel
Voigt
Vosen
Waltemathe Walther
Wartenberg Weiermann
Frau Weiler Weisskirchen Dr. Wernitz
Westphal
Frau Weyel
Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
von der Wiesche Wimmer Wischnewski
Dr. de With Wittich
Zander
Zeitler
Zumkley
Nein
CDU/CSU
Austermann Bauer
Bayha
Dr. Becker Frau Berger (Berlin)
Dr. Biedenkopf Biehle
Dr. Blank
Dr. Blens
Dr. Blüm
Börnsen
Dr. Bötsch
Bohl
Bohlsen
Borchert
Breuer
Buschbom
Carstens Carstensen (Nordstrand) Clemens
Dr. Czaja
Dr. Daniels
Frau Dempwolf
Deres
Dörflinger
Dr. Dollinger Doss
Dr. Dregger Ehrbar
Engelsberger Eylmann
Dr. Faltlhauser Feilcke
Dr. Fell
Fellner
Frau Fischer Fischer Francke (Hamburg)
Dr. Friedmann
Fuchtel
Ganz
Frau Geiger
Geis
Gerstein Gerster
Dr. Göhner
Dr. Götz
Dr. Grünewald
Günther Dr. Häfele
Harries
Frau Hasselfeldt Haungs
Hauser Hedrich
Freiherr Heereman von Zuydtwyck
Helmrich Dr. Hennig
Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger
Hörster
Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Dr. Hüsch
Dr. Jahn
Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung
Jung
Kalb
Kalisch Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes
Frau Karwatzki Kittelmann
Klein
Dr. Köhler Kossendey
Kraus
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Dr. Kunz Lamers
Dr. Lammert
Dr. Langner
Lattmann
Dr. Laufs
Lenzer
Link
Link Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold Louven
Lummer Maaß
Frau Männle
Magin
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Miltner
Müller Müller (Wesseling) Nelle
Neumann Niegel
Dr. Olderog
Frau Pack
Pesch
Pfeffermann
Pfeifer
Dr. Pfennig
Dr. Pohlmeier
Dr. Probst
Rawe
Reddemann Regenspurger
Repnik
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. Rose
Rossmanith Roth
Rühe
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer
Sauer
Sauter
Sauter Scharrenbroich
Schartz
Schemken Scheu
Schmidbauer Schmitz
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer Schreiber
Dr. Schroeder Schulhoff
Dr. Schulte
Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Dr. Stark
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken Dr. Stoltenberg
Straßmeir Strube
Stücklen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Dr. Uelhoff Dr. Unland Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt
Dr. Vondran Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg
Weiß Werner (Ulm)
Frau Will-Feld
Frau Dr. Wilms
Wilz
Wimmer Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Dr. Wörner Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer
Zink
FDP
Dr. Bangemann
Baum
Beckmann Bredehorn
Cronenberg Engelhard
Frau Folz-Steinacker Funke
Gattermann
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3487
Vizepräsident Westphal
Gries
Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Hirsch
Dr. Hitschler
Hoppe
Dr. Hoyer Irmer
Kleinert Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff Lüder
Mischnick Neuhausen Nolting
Paintner Richter
Rind
Ronneburger
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Thomae Timm
Wolfgramm Frau Würfel
Zywietz
Enthalten
DIE GRÜNEN
Frau Beck-Oberdorf Frau Beer
Frau Brahmst-Rock Brauer
Dr. Daniels Frau Eid
Frau Flinner Frau Garbe
Häfner
Frau Hensel Frau Hillerich Hoss
Hüser
Kleinert
Dr. Knabe
Frau Krieger
Dr. Lippelt Frau Nickels
Frau Rust
Frau Saibold Frau Schilling Schily
Frau Schmidt-Bott
Frau Schoppe Sellin
Stratmann
Frau Teubner Frau Unruh
Frau Dr. Vollmer
Weiss Wetzel
Frau Wilms-Kegel
Frau Wollny Wüppesahl
Auch dieser Antrag ist damit nicht angenommen, sondern abgelehnt.
Jetzt fahren wir in der Debatte zu unserem gegenwärtigen Tagesordnungspunkt fort. Das Wort hat die Frau Abgeordnete Verhülsdonk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der GRÜNEN zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen gewährt, wie ich meine, in doppelter Hinsicht höchst interessante Einblicke in das Denken der GRÜNEN. Sehr aufschlußreich ist zum einen das Verständnis vom Staat und der von ihm zu erfüllenden Aufgaben, das sich in diesem Antrag offenbart. Nicht minder aufschlußreich ist der Gesetzentwurf aber auch im Hinblick auf ihr Verständnis von menschlicher Sexualität. In meinen Ausführungen will ich mich, meine Damen und Herren, mit diesen beiden Punkten einmal etwas näher beschäftigen.
Hinter Ihrem Antrag verbirgt sich ein Staatsverständnis, das den Staat als einen großen Selbstbedienungsladen sieht, dessen Kassen unbegrenzt zuständig sind, bis in den Bereich privater Lebensgestaltung hinein.
Nach Ihrer Meinung hat offensichtlich der Staat für alle Folgen, die sich aus den Risiken und Unwägbarkeiten der persönlichen Lebensplanung seiner Bürger ergeben, aufzukommen. Daß der Staat auch eine Ordnungsfunktion hat, daß er z. B. die Eigenverantwortung des einzelnen in der staatlichen Gemeinschaft fördern muß, das wollen Sie nicht anerkennen.
Mit Ihrer Politik des unbegrenzten Angebots staatlicher Fürsorge erwecken Sie bei den Menschen eine
Erwartungshaltung, die eine Gesetzgebung nie und nimmer einlösen kann und meiner Meinung nach auch nicht sollte. Ich halte diese Politik für geradezu sozialschädlich.
Meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche haben die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP die Eckdaten für eine Strukturreform im Gesundheitswesen festgelegt. Sie orientiert sich an den Grundsätzen Solidarität und Eigenverantwortung, Solidarität mit denen, die als Kranke der Hilfe der Gemeinschaft bedürfen, aber gleichzeitig mehr Förderung der Eigenverantwortung in der Gesundheitsvorsorge.
— Man mag die einzelnen Maßnahmen durchaus unterschiedlich beurteilen, Herr Kollege, Einigkeit besteht aber doch wohl in diesem Hause darüber, daß Durchgreifendes geschehen muß, um den Fortbestand unseres freiheitlichen Gesundheitswesens zu sichern.
— Ich habe ja eingeräumt, daß über die Wege unterschiedliche Meinungen bestehen, aber nicht über dieses Ziel. Darüber ist man sich, glaube ich, allgemein einig.
Veränderte Rahmenbedingungen, aber ebenso auch überzogene Anspruchsmentalität haben die Ausgaben der Krankenkassen dramatisch anwachsen lassen und unser staatliches Gesundheitswesen an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Wenn wir auch in Zukunft eine optimale medizinische Versorgung der Kranken sicherstellen wollen, müssen wir die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf das medizinisch Notwendige konzentrieren. Wir brauchen dringend finanzielle Spielräume, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus der wachsenden Zahl Hochbetagter und Pflegebedürftiger oder z. B. auch aus dem Problemfeld AIDS ergeben.
— Frau Unruh, Sie sollten jetzt vielleicht einmal zuhören.
Wer unter diesen Vorzeichen den Krankenkassen neue Leistungen und finanzielle Mehrbelastungen von 600 Millionen DM aufbürden will, der muß sich wohl zuerst einmal fragen lassen, ob diese Leistungen der Gesundheitsvorsorge oder der Gesunderhaltung dienen. Beides muß für die geforderte kostenfreie Abgabe von empfängnisverhütenden Mitteln verneint werden.
Diese dienen wohl kaum der Gesunderhaltung der Bevölkerung es sei denn, man betrachtet eine unerwünschte Schwangerschaft, wie das offensichtlich Pro familia tut, als Krankheit.
3488 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf?
Bitte schön.
Bitte schön, Frau BeckOberdorf.
Ich möchte Sie gerne fragen, ob Sie mir zustimmen können, daß eine Geburt auch keine Krankheit ist, und ob Sie nicht in der Konsequenz z. B. auch die Kosten des Geburtsvorgangs nicht mehr von der Krankenkasse erstatten lassen könnten?
Das wäre systematisch richtig. Das räume ich ein.
— Wenn man das aus dem Bundeshaushalt finanzieren könnte, wären wir sofort dafür.
Die Einstellung eines jeden einzelnen zur Sexualität und zur Verwendung von Verhütungsmitteln hat auch mit Gesundheitsvorsorge nichts zu tun. Der Umgang mit der menschlichen Sexualität gehört in den Bereich der höchst privaten Lebensführung. Hier hat der Staat nichts zu suchen.
Zudem sprechen gesundheitspolitische Gesichtspunkte eher gegen die Übernahme der Kosten von Verhütungsmitteln durch die Krankenkassen. Bekanntlich ist eine Langzeitmedikation mit chemischen Verhütungsmitteln, also mit der Pille,
besonders bei jungen Menschen gesundheitlich nicht ohne Probleme und Folgen. Daraus erwachsen dann bei falscher Anwendung der Solidargemeinschaft wieder neue Kosten.
Meine Damen und Herren, ich komme zum zweiten Punkt, dem Sexualverständnis, das hinter diesem Antrag steht. Man muß kein Verfechter eines christlichen Menschenbildes sein, um festzustellen, daß menschliche Sexualität nicht auf den Vollzug des Sexualaktes reduziert werden kann. Auch die Wissenschaften vom Menschen, Anthropologie und Psychologie, orientieren sich heute an einem Verständnis von Sexualität, das den gesamten Menschen umfaßt. Gerade die Enttabuisierung geschlechtlicher Beziehungen hat die Erkenntnis gefördert, daß Sexualität nicht ohne ihren partnerschaftlichen und sozialen Bezug dargestellt werden darf.
Das heißt für mich, daß wir Erwachsenen den jungen
Menschen wieder deutlicher vermitteln müssen, was
richtiger Umgang mit der Sexualität für sie persönlich bedeutet. Blinder Sexualkonsum
führt zu Bindungslosigkeit mit oft schwerwiegenden psychischen Langzeitfolgen für die Betroffenen.
Sollen nun die Krankenkassen durch kostenfreie Abgabe von Verhütungsmitteln, wie Sie es wollen, den ungebremsten Sexualkonsum auch noch fördern und damit diesen Fehlentwicklungen Vorschub leisten?
Auch wenn das hoffentlich nur eine Minderheit betrifft, dürfen wir diese nicht auf dem falschen Weg bestärken. Erfreulich ist, daß nach den jüngsten empirischen Untersuchungen eine große Mehrheit der jungen Generation Liebe, Treue und langfristige Bindung für wesentliche Bestandteile von Partnerschaft hält.
Diese jungen Menschen haben Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, die Sie offensichtlich in der Ideologie der 70er Jahre steckengeblieben sind, längst überholt.
Meine Damen und Herren, schließlich kann auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf das Sie sich in Ihrem Antrag beziehen, den Staat nicht verpflichten, den Menschen alles zu ermöglichen, was ihnen gerade paßt. Vielmehr heißt nach unserem Verständnis Freiheit auch, Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für persönliche Entscheidungen und Verhaltensweisen.
Verantwortlicher Umgang mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen sind für Männer und Frauen in unserer freizügigen Gesellschaft mehr denn je von zentraler Bedeutung.
Es kommt für mich nicht von ungefähr, daß Fragen der natürlichen Familienplanung besonders intensiv von einer Frauengeneration diskutiert werden, die am eigenen Leib die Folgen einer jahrelangen Einnahme von Verhütungsmitteln erfahren hat. Ich will deshalb gern anerkennen, daß Sie in Ihrem Antrag auch die Männer bei den Methoden der Empfängnisverhütung mit einbeziehen. Mir stellt sich jedoch die Frage, ob die Bereitschaft der Männer zur Mitverantwortung nicht eher wieder rückläufig würde, wenn die Krankenkassen z. B. die Kosten für die Pille übernähmen. Das aber nur als Bemerkung am Rande.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren ja heute als Parlamentarier nicht zum erstenmal die Frage der Kostenerstattung für empfängnisverhütende Mittel.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3489
Frau Verhülsdonk
Im Zusammenhang mit der Reform des § 218 haben wir uns intensiv mit den Konsequenzen einer derartigen Regelung auseinandergesetzt. Damals — präzise gesagt, 1974 — waren manche von uns der Auffassung, daß die gesetzliche Förderung von Schwangerschaftsverhütung helfen könne, Abtreibungen zu verhindern. Die Diskussion fand also damals unter ganz anderen politischen Vorzeichen statt, als sie zunächst in Ihrem Antrag angesprochen sind. Sie war vor diesem Hintergrund verständlich. Dennoch haben wir aus gesundheitspolitischen Gründen und aus unserem Grundverständnis von der Solidargemeinschaft der Krankenversicherung heraus diesen Gedanken nicht weiter verfolgt. Die Erfahrungen anderer Länder mit der kostenfreien Abgabe von empfängnisverhütenden Mitteln weisen übrigens aus, daß dadurch die Zahl der Abtreibungen eben nicht vermindert wird, Frau Kollegin. Entscheidend in der Frage der Empfängnisverhütung sind Aufklärung, medizinische Beratung und Bewußtseinsbildung. Um ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden, finanziert ja die gesetzliche Krankenkasse bereits seit 1975 diese Leistungen, obwohl auch sie streng genommen nicht in den Leistungskatalog der RVO gehören. In diesem Fall halte ich aber die politische Entscheidung des Gesetzgebers für vertretbar.
Meine Damen und Herren, das Wesenselement der gesetzlichen Krankenversicherung ist, daß einem Anspruch auf Leistung ein objektiv begründetes Bedürfnis zugrunde liegen muß. Subjektiv empfundene Bedürfnisse und private Wünsche können nicht Gegenstand eines sozialen Leistungssystems sein. Sexualität ist — um auch diesen Gedanken nochmals aufzugreifen — kein Konsumgut, das der Staat oder die von ihm geschaffene Solidargemeinschaft Krankenkasse dem Bürger jederzeit zugänglich machen muß.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten jetzt einen Gesetzentwurf in erster Lesung just zu einem Zeitpunkt, wo wir gleichzeitig sehr intensiv den gesamten Fragenkomplex, welche Aufgaben ein soziales Krankenversicherungssystem erfüllen muß, sehr kontrovers diskutieren. Ich darf daran erinnern, daß der Deutsche Bundestag zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung eine Enquete-Kommission berufen hat. Ich möchte daran erinnern, daß wir hier im Plenum am letzten Freitag über die von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen vorgeschlagenen Grundsätze heftig debattiert haben.
Sie, die Fraktion der GRÜNEN, legen nun einen Gesetzentwurf zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen vor, der sicherlich nicht direkt mit der anstehenden Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung im engeren Sinne etwas zu tun hat.
— Dies ist sicherlich richtig. Es ist auch in Zukunft
richtig, was wir sagen. Dies wissen Sie ja, Herr Kollege
Bötsch. Sie müssen uns nur öfter recht geben; das ist Ihr Fehler.
Würden wir dem jedoch so, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen, folgen, hätte das nach Ihren eigenen Berechnungen — dies steht im Vorblatt dieses Gesetzentwurfes — immerhin ein Ausgabevolumen von 600 Millionen DM jährlich, also rund 0,5 der Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Ich glaube, wir würden bei den Versicherten wenig Verständnis finden und denen, denen zu helfen ist, ebenfalls keinen Gefallen tun — denn es muß ja auch eine Akzeptanz hergestellt werden — , wenn einerseits der Bundestag über Kostendämpfung, mehr Wirtschaftlichkeit und Beitragsstabilität der gesetzlichen Krankenversicherung berät, aber gleichzeitig, und zwar ohne zwingende Notwendigkeit, ein solches Gesetz in dem von den Antragstellern vorgelegten Volumen beschließen würde.
Damit es klar ist: Eine Notwendigkeit, dies den Krankenkassen generell als Pflicht aufzubürden, sehen wir nicht. Notwendig ist die Beratungsverbesserung zur Verhinderung der ungewollten Schwangerschaft.
— Hören Sie doch einmal zu!
— Liebe Frau Kollegin Unruh, auch Zuhören muß man natürlich lernen. Vielleicht fällt Ihnen das schwer.
Lassen Sie mich deutlich sagen: Es gibt aus unserer Sicht mehrere Gründe, die dagegen sprechen, daß ohne Rücksicht auf die Einkommenssituation und finanzielle Bedürftigkeit des einzelnen bzw. der einzelnen und auch ohne daß das persönliche Umfeld beachtet wird, empfängnisverhütende Mittel in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden und damit von der Versichertengemeinschaft zu finanzieren wären. Dies, so meinen wir, wäre eine Überforderung der Solidargemeinschaft.
Es gibt jedoch in der Tat Fälle, wo es uns notwendig erscheint, daß gezielt geholfen wird. Zum einen geht es um solche Personen, die finanziell schlecht gestellt sind, und um solche junge Menschen, die für ihre Probleme und Bedürfnisse zu Hause nicht die Offenheit vorfinden, um sich die empfängnisverhütenden Mittel holen zu können. Hier, meinen wir, gilt es anzusetzen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf?
Bitte.
Bitte schön, Frau BeckOberdorf.
3490 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Herr Kollege, können Sie mir einmal erklären, warum Sie z. B. bei der Verabreichung von Schlafmitteln nicht davon ausgehen, es müßte erst einmal jeder in die eigene Tasche greifen oder finanziell eingeschätzt werden?
Ich glaube, wir sollten hier nicht eine Stellvertreterdiskussion führen. Es geht ja darum, daß Sie sagen: Jetzt sollen die Kosten für empfängnisverhütende Mittel generell der Kasse aufgebürdet werden. Wir meinen, daß dies nicht eine Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist, sondern das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir versuchen, einen Weg zu finden, daß im Einzelfall geholfen wird, daß man nämlich dabei zum einen beachtet, wie der einzelne oder die einzelne finanziell steht, und daß zum zweiten besonders jungen Menschen, die zu Hause nicht die Offenheit vorfinden — was Sie vorhin z. B. sagten — , in Einzelfällen durch eine Ausweitung der Beratungsstellen geholfen wird — und nichts anderes. Es kann nicht Aufgabe der Kassen sein, empfängnisverhütende Mittel generell zu bezahlen. Dies ist unsere Position. Im Einzelfall wollen wir helfen, und zwar in dem eng umgrenzten Bereich, den ich genannt habe.
Würden Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Steinhauer gestatten?
Ja, bitte.
Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, daß unter Umständen die Verabreichung von Schlafmitteln empfängnisverhütende Mittel überflüssig machen könnte?
Lassen Sie mich auch noch eines deutlich machen. Wir sind der Auffassung, daß dies nicht ein isoliertes Problem der Frauen ist, sondern die Männer genauso angeht. Dies möchte ich an dieser Stelle ganz bewußt unterstreichen. Deshalb sind wir dafür — lassen Sie mich dies noch einmal deutlich machen — , die vorhandenen Familienberatungsstellen, insbesondere Pro familia, finanziell und personell in den Stand zu versetzen, daß dort, wo die von mir skizzierte Hilfe im Einzelfall notwendig ist, auch geholfen wird. Ich sage noch einmal: Dies ist ein gesellschaftliches Problem und nicht ein Problem der gesetzlichen Krankenversicherung.
Dies hier ist eine erste Lesung. Aufzuzeigen, wie die Regelung im Einzelfall aussehen könnte, dazu dienen die Ausschußberatungen. Deshalb stimmen wir der Überweisung zu. Wir werden diesen Bereich im Auschuß intensiv beraten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Herren! Sehr geehrte Damen! In der Tat ist es so — wie der Gesetzentwurf der GRÜNEN aufzeigt — , daß Sozialhilfeempfänger empfängnisverhütende Mittel über die Krankenkasse finanziert bekommen. Damit soll sichergestellt werden, daß dieser Personenkreis aus finanziellen Gründen nicht auf die Verwendung empfängnisverhütender Mittel zum Zwecke der Familienplanung, wie es im Gesetz heißt, verzichten soll. Es ist keine Rede davon, daß ein individueller Anspruch auf kostenfreien Erhalt dieser Mittel als Voraussetzung für die freie Entfaltung der Persönlichkeit — wie Sie es in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs formuliert haben — gegeben sein soll.
In der Begründung Ihres Gesetzentwurfs sagen Sie, daß Sexualität „lustvoll und ohne Angst vor ungewollter Schwangerschaft" genossen werden soll. Diese Ansicht werden wohl die meisten von uns teilen. Die Frage ist nur, ob diese lustvoll und ohne Angst genossene Sexualität nun unbedingt in Sachen Verhütung zu Lasten der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten gehen soll.
Die Betonung liegt auf K r a n k en versicherung. Da nun eine Schwangerschaft ganz und gar keine Krankheit ist, kann es sich dabei auch nicht um Prävention handeln, wenn wir diese Schwangerschaft verhüten wollen. Das kann ja wohl nicht so sein.
Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben mit der Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung und den darin vorgesehenen Maßnahmen im Hinblick auf eine Dämpfung der Ausgaben. Wie Sie wissen, hat die Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung zum Ziel, daß sich die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten in Zukunft auf die Finanzierung des medizinisch Notwendigen konzentrieren kann. Sie wissen selbst, daß wir in den nächsten Jahren erhebliche Probleme in der Krankenversicherung durch die demographische Entwicklung auf uns zukommen sehen. Immer mehr alte Menschen — Gott sei Dank werden wir immer älter — werden immer mehr Kosten in der gesetzlichen Krankenversicherung verursachen, bedingt dadurch, daß man im Alter mehr Krankheiten hat. Das sind Kosten, die von uns allen gemeinsam getragen werden müssen.
Ich kann mir vorstellen, daß sehr viele Menschen kein Verständnis dafür haben, daß wir an anderer Stelle Leistung reduzieren müssen, um lustvolles und angstfreies Sexualverhalten durch die Finanzierung von Verhütungsmitteln für die Krankenversicherten sicherzustellen.
Gerade bei der Familienplanung — wenn ich jetzt einmal diesen Ausdruck benutzen darf — muß doch die eigene Verantwortung im Vordergrund stehen. Wenn jemand in der Lage ist, sich seine tägliche Zigarettenpackung und sein Bier zu leisten, dann ist er oder sie doch erst recht in der Lage, sich seine Kondome aus dem Automaten zu ziehen oder sich eine andere Form von Verhütungsmittel zu beschaffen und auch zu finanzieren.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3491
Frau Würfel
Wer dazu nicht in der Lage ist, erhält — wie ich bereits vorhin gesagt habe — im Rahmen der Sozialhilfe Schwangerschaftsverhütungsmittel kostenlos von der gesetzlichen Krankenkasse.
Der Einwand, daß die Pille ja bereits finanziert werde, stimmt insofern nicht, als die Verschreibung der Pille durch den Arzt nur deshalb erfolgt und finanziert wird, um gesundheitliche Schäden zu vermeiden. Das eigentliche Produkt, das vom Arzt verschrieben wurde, nämlich die Pille, wird seit jeher von den gesetzlich Krankenversicherten selbst bezahlt. Auch die Applikation von Verhütungsmitteln, z. B. das Einsetzen einer Spirale, ist keine von der gesetzlichen Krankenversicherung zu erstattende Leistung. Wie ich meine, auch aus gutem Grunde.
Jetzt einmal eine nicht ganz so ernst gemeinte Frage an Sie von den GRÜNEN: Wie hätten Sie sich das im übrigen vorgestellt und geregelt? Wie legen Sie eigentlich — ich gehe jetzt auf Ihre Begründung des Gesetzentwurfs ein — die Potenz pro Monat eines Sexualität ausübenden Menschen fest: dreißigmal, fünfzehnmal im Monat oder frei nach Luthers Rat zweimal pro Woche? Soll es dann 30 Kondome auf Krankenschein geben oder 15? Ich meine, insofern ist Ihr Gesetzentwurf auch schon angreifbar.
Ich halte einen anderen Weg für wesentlich sinnvoller. Durch den im Beratungsgesetz — so nach der Koalitionsvereinbarung geplant — festzulegenden Ausbau der Schwangerschaftsberatungsstellen und Familienplanungszentren und der damit vorgesehenen vermehrten Ausstattung mit qualifizierten Kräften muß es möglich sein, Jugendliche ebenso wie Schulklassen und Erwachsene aufzuklären, zu beraten und sie auf ihre persönliche Verantwortung bei der Ausübung von Sexualität hinzuweisen.
Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist es dagegen, Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die wirklich Kranken mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Krankheit diagnostiziert und dann therapiert bekommen. Es kann nicht angehen, Kosten für Verhütungsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung anzulasten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Unruh?
Aber gern.
Bitte schön, Frau Unruh. Frau Unruh : Ich nehme an — —
— Warum sind Sie eigentlich so hektisch?
Ich nehme an, daß Sie sich genau wie ich schon etwas Gedanken gemacht haben, bevor Sie in den Deutschen Bundestag kamen. Wissen Sie, daß die Krankenkassen darüber stöhnen, daß der Anteil gerade der Unterleibskrankheiten bei uns Frauen überproportional hoch ist?
— Ach Gott, ich glaube, die anwesenden Frauen — — Ich will mich beherrschen.
Meinen Sie nicht, daß, wenn es gerade für uns Frauen die Pille auf Krankenschein gäbe — man muß sie ja nicht nehmen — , beispielsweise die Kosten für die Behandlung der Unterleibskrankheiten enorm sinken würden?
Nein, Frau Unruh, ich meine nicht, daß dieser unmittelbare Zusammenhang besteht, den Sie soeben hergestellt haben.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Herr Vogt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sprecherinnen und Sprecher von CDU/CSU, FDP und SPD haben überzeugend dargelegt,
daß der Gesetzentwurf der GRÜNEN grundfalsch ist, Frau Kollegin. Da ich in Anbetracht der Zeit die guten Argumente nicht wiederholen möchte, die hier schon ausgesprochen worden sind, weil ich kein Holz in den Wald tragen möchte, darf ich nur bestätigen, daß auch die Bundesregierung den Gesetzentwurf der GRÜNEN ablehnen wird.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 1986
— Drucksache 11/42, 11/1131 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Breuer Dr. Klejdzinski
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gehe davon aus, daß das von den Geschäftsführern Mitgeteilte ein Antrag der Fraktionen ist, denn § 115 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung verlangt einen Geschäftsordnungsantrag, wenn wir dem Wehrbeauftragen das Wort erteilen wollen. — Der Antrag liegt vor.
3492 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Vizepräsident Westphal
Dann darf ich unseren Wehrbeauftragten, Herrn Weiskirch, herzlich begrüßen und ihm das Wort geben.
Weiskirch, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Ich bedanke mich für die Möglichkeit, hier einige Anmerkungen zu meinem Jahresbericht 1986 machen zu können. Der Bericht ist, wie mir die zahlreichen und intensiven Reaktionen gezeigt haben, auf große Aufmerksamkeit sowohl bei der militärischen Führung als auch bei den einzelnen Soldaten gestoßen. Aus Gesprächen und schriftlichen Äußerungen von Soldaten aller Laufbahngruppen weiß ich, daß er viele Diskussionen, wenn auch mit durchaus kontroversem Charakter, ausgelöst hat. Ich begrüße das, weil dadurch die Wachsamkeit gegenüber den von mir angesprochenen Problemen geschärft und die Beseitigung von Schwachstellen möglich gemacht wird.
Allerdings ist, wie seine Vorläufer, auch dieser Jahresbericht von Mißverständnissen nicht verschont geblieben. So wurden meine zusammenfassenden Feststellungen über das Führungsverhalten von Vorgesetzten zum Teil in stark sinnentstellender Weise verkürzt und zum Gegenstand mancher Kritik mir gegenüber gemacht. Wer den Bericht jedoch aufmerksam liest — das sollte eigentlich jeder tun, der sich kritisch mit ihm beschäftigt — , dürfte meine Feststellung, daß unsere jungen Wehrpflichtigen alles in allem Soldaten als Führer erleben, die ihren Dienst gut, ja, lobenswert versehen, nicht unterschlagen.
Ich habe in meinem Bericht mit besonderem Nachdruck betont, daß die jungen Wehrpflichtigen durch die Praxis des Dienstes auch den Sinn des Dienstes erkennen müssen. Dabei habe ich eine Reihe von Verhaltensweisen angesprochen, die zwar nicht als gravierende Verstöße gegen die Grundrechte der Soldaten und gegen die Grundsätze der Inneren Führung anzusehen sind, aber gleichwohl die Einstellung der Wehrpflichtigen zum Dienst in den Streitkräften überaus negativ beeinflussen können. Das gilt beispielsweise von der Art, wie Sauberkeit und Ordnung befohlen und kontrolliert werden, von der Heranziehung zu Ordonanz- und sonstigen Diensten gegen den Willen der Soldaten sowie von ganz persönlichen Dienstleistungen für Vorgesetzte.
Meine Anmerkungen dazu im Jahresbericht haben zahlreiche Eingaben von Soldaten unmittelbar zur Folge gehabt. Daraus kann ich schließen, daß scheinbar belanglose Vorkommnisse in der Truppe von grundwehrdienstleistenden Soldaten als schwerwiegend, als schikanös, ja, als demütigend empfunden werden.
Das gilt auch für den Umgangston in den Streitkräften. Es gibt tatsächlich wohl kaum einen Bereich, in dem meine Mahnungen so wenig gefruchtet haben wie hier. Auch nach der Veröffentlichung des Jahresberichts 1986 haben mich erneut zahlreiche Eingaben erreicht, in denen Äußerungen von Vorgesetzten mit herabsetzendem und beleidigendem Charakter angeprangert werden. Ich bedaure, daß ich hier offenbar immer wieder gegen Mauern anrennen muß. Wenn junge Wehrpflichtige ihren Wehrdienst positiv erleben sollen, dann hängt das nicht zuletzt auch von den
Formen ab, in denen die zwischenmenschlichen Beziehungen ablaufen. Ich habe erst jüngst die demoralisierenden Wirkungen eines fehlerhaften Führungsverhaltens im Umgang und im Umgangston zwischen Vorgesetzten und Untergebenen untersuchen müssen, und zwar in einer Einheit, die damit bereits Schlagzeilen in der Presse gemacht hatte.
Zugegeben, ein etwas rauherer Ton mag zuweilen durchaus angehen; stets gültiger Maßstab müssen aber dabei die Würde und die Ehre des einzelnen Soldaten bleiben.
Ich will gerne hinzufügen, daß eine Einheit auch mit vernünftigem Ton geführt werden kann. Dafür erhalte ich bei meinen Truppenbesuchen ebenfalls überzeugende Beispiele. Bei dem Besuch eines Panzerbataillons vor einigen Monaten antwortete mir ein Soldat in einer Gesprächsrunde auf die Frage, wie hier der Umgangston sei, spontan: „Bei uns wird jedenfalls nicht gebrüllt. " Aus der zustimmenden Reaktion seiner Kameraden konnte ich entnehmen, daß alle so dachten.
In meinem Bericht habe ich auch die zusätzliche Belastung angesprochen, die den Wehrpflichtigen und ihren Eltern durch die Ableistung des Grundwehrdienstes entstehen, und dabei auch auf die kindergeldrechtlichen Folgen hingewiesen. Es kann sich dabei um Beträge von mehreren hundert DM monatlich handeln. Diese Nachteile stehen in keinem Verhältnis zu den Entlastungen, die die Eltern durch die Leistungen des Bundes, also Wehrsold, Unterbringung und Verpflegung für ihren Sohn erhalten.
Mein Vorschlag im Jahresbericht, grundwehrdienstleistende Söhne im Rahmen des Bundeskindergeldgesetzes als „Zählkinder" zu berücksichtigen, hat auch der Verteidigungsausschuß in seiner Stellungnahme zu meinem Jahresbericht als erwägenswert angesehen. Ein entsprechender Vorstoß des Bundesministers der Verteidigung hat indessen nicht zum Erfolg geführt. Die Frage, wie die Belastungen der betroffenen Familien aufgefangen werden können, darf aber nicht so ohne weiteres ad acta gelegt werden. Sie muß auf der Tagesordnung bleiben.
Dienstzeitentlastung, Planbarkeit der Freizeit sowie ein gerechter und praktikabler Ausgleich für besondere zeitliche Inanspruchnahme sind ein Themenkomplex, mit dem ich mich wie der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages seit Jahren zu befassen habe. Ich habe es in diesem Zusammenhang als meine besondere Aufgabe angesehen, darauf hinzuwirken, daß möglichst schnell eine allseits befriedigende Lösung gefunden wird. Viel, allzuviel Zeit ist hierüber verstrichen.
Nachdem mir nun vor einiger Zeit aus dem Verteidigungsministerium mitgeteilt worden ist, daß mit der seit langem vorbereiteten Neuregelung zum 1. März 1988 zu rechnen sei, ist dieser Termin nun aber offenbar wieder weiter nach hinten geschoben worden.
Das ist ein Sachverhalt, den ich nur zutiefst bedauern kann.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3493
Wehrbeauftragter Weiskirch
Lassen Sie mich noch ein Problem erwähnen, das sich bei der Heranziehung von Wehrübenden zu Mobilmachungsübungen ergibt. Die Zeit zwischen dem Ende des Grundwehrdienstes und einer solchen Übung darf nach der derzeitigen Regelung neun Monate nicht unterschreiten. In meinem Jahresbericht habe ich eine Prüfung angeregt, ob diese Karenzzeit nicht wie bei Einzelwehrübungen auf ein Jahr verlängert werden kann. Leider hat sich der Bundesminister der Verteidigung in seiner Stellungnahme zu meinem Jahresbericht dazu nicht geäußert. Ich möchte diese Anregung noch einmal mit Nachdruck vortragen.
In jüngster Zeit habe ich verstärkt meine Aufmerksamkeit den laufenden Modellversuchen des Territorialheeres zur Neugestaltung der Reservistenausbildung gewidmet. Bei meinen Truppenbesuchen hat sich eine ganze Reihe von Reservisten darüber beklagt, daß sie noch vor Ablauf eines Jahres nach Beendigung des Grundwehrdienstes oder eines Dienstverhältnisses als Zeitsoldaten wieder einberufen worden seien. Hierdurch werde die Einarbeitung bzw. Eingewöhnung am neuen Arbeitsplatz ganz erheblich beeinträchtigt.
Auch die Arbeitgeber stünden einer solchen Praxis sehr reserviert und ablehnend gegenüber.
In diesem Zusammenhang eine Bemerkung zur sozialen Sicherung unserer Grundwehrdienstleistenden und Wehrübenden sowie ihrer Familienangehörigen. Sie bestimmt sich nicht zuletzt durch die Art und Höhe der Leistungen nach dem Unterhaltssicherungsgesetz. Soweit sie sich nicht automatisch den steigenden Lebenshaltungskosten anpassen, wurden sie endlich nach acht Jahren mit Wirkung vom 1. Juli 1987 fortgeschrieben. Für diese Verbesserung standen die erforderlichen Haushaltsmittel aber bereits am 1. Januar 1987 zur Verfügung. Damit ist zu meinem Bedauern diese Verbesserung den Soldaten erst mit einer erheblichen Verzögerung zugute gekommen.
Nun gilt es immer noch, die Ungerechtigkeiten zu beseitigen, die sich durch die unterschiedliche Abfindung der Wehrübenden des öffentlichen Dienstes einerseits und des privaten Bereichs andererseits ergeben. Eine einkommensmäßige und rentenversicherungsrechtliche Gleichstellung dieser Personengruppe ist in diesem Haus bei der Beratung des Gesetzes zur Verbesserung der Wehrgerechtigkeit und Verlängerung der Dauer des Grundwehrdienstes am 17. April 1986 gefordert worden. Dieser Forderung soll nunmehr durch die 8. Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz Rechnung getragen werden. Ich hoffe, daß hierdurch ein seit vielen Jahren beklagter Mangel im Wehrrecht beseitigt wird. Nach meinen Erfahrungen glauben viele Wehrübende, in der schleppenden Behandlunug dieser Angelegenheit ein Fehlen der Bereitschaft zu erkennen, mit dem Gedanken der Wehrgerechtigkeit für Wehrübende in vollem Umfang ernst zu machen.
Ein Wort zu den Betreuungseinrichtungen für die Soldaten. Die Mannschafts-, Unteroffizier- und Offizierheime sowie die Soldatenheime bzw. Soldatenfreizeitheime nehmen eine wichtige Stellung für die Förderung einer sinnvollen und interessanten Freizeitgestaltung aller Soldaten an ihrem Standort ein,
wobei ja die Unteroffizier- und Offizierheime auch dienstlichen Verwendungen dienen. Ich verfolge die Entwicklung dieser Einrichtungen mit besonderem Interesse. Hierbei macht mich allerdings besorgt, daß eine rückläufige Nutzung der Mannschaftsheime festzustellen ist.
Die Verantwortlichen sollten deshalb alles daransetzen, die Attraktivität der Mannschaftsheime auch durch eine bessere Ausstattung zu erhöhen.
Hierzu gehört insbesondere, daß von den Soldaten nur solche Preise verlangt werden, die ihrem Wehrsold entsprechen. Ich freue mich, feststellen zu können, daß der Verteidigungsausschuß in seiner gestrigen Sitzung ähnliches vertreten und gefordert hat.
Sorgen bereitet mir der Fortbestand der Soldatenheime bzw. der Soldatenfreizeitheime, die wegen des veränderten Freizeitverhaltens, insbesondere der Jugend, nicht mehr den Zulauf haben, wie es eigentlich wünschenswert wäre. Es sollte deshalb das Bemühen aller Vorgesetzten in den Streitkräften sein, sich für eine stärkere — auch dienstliche — Nutzung dieser in den Händen gemeinnütziger Trägerverbände befindlichen Einrichtungen einzusetzen, erfüllen diese Heime doch eine wichtige Aufgabe: die Kontakte der Soldaten — unabhängig vom Dienstgrad und unabhängig von der Konfession — untereinander und mit der Zivilbevölkerung ohne Gewinnstreben zu pflegen.
Zum Schluß noch eine Bemerkung zur Behandlung von Eingaben an den Wehrbeauftragten: In meinem Bericht bin ich auf die Beschwerden eingegangen, mit denen sich Wehrpflichtige wegen der verzögerlichen Bearbeitung ihrer Versetzungsanträge an mich gewandt haben. Zu Recht hat der Bundesminister der Verteidigung in seiner Stellungnahme zu meinem Jahresbericht hierzu ausgeführt, daß auf eine sorgfältige Bearbeitung allein um einer zeitlichen Beschleunigung willen nicht verzichtet werden könne; dem stimme ich zu. Widersprechen muß ich ihm allerdings, wenn er in diesem Zusammenhang im Normalfall von einer Bearbeitungsdauer von etwa vier Wochen ausgeht. Erkenntnisse aus einer Vielzahl von mir überprüfter Fälle sprechen ganz klar gegen diese Annahme. Es dauert ganz erheblich länger. Verzögerung, Interessenlosigkeit und Gleichgültigkeit bei der Bearbeitung müssen nicht nur Verbitterung hervorrufen, sondern wirken sich zwangsläufig auch auf die Einstellung des Betroffenen zur Diensterfüllung selbst aus, zumal dann, wenn die Dringlichkeit oder Wichtigkeit von Anträgen nicht erkannt oder schlichtweg verkannt wird.
Ich will nicht schließen, ohne ein Wort zum Urteil eines Frankfurter Gerichtes zu sagen, nach dem es
3494 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Wehrbeauftragter Weiskirch
nicht strafbar sein soll, Soldaten als potentielle Mörder zu bezeichnen.
Dazu haben mich die ersten Eingaben von Soldaten erreicht. Bei allem Respekt vor der richterlichen Gewalt und Unabhängigkeit
habe ich doch erhebliche Zweifel, ob eine solche Entscheidung dem Auftrag der Soldaten, treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, gerecht wird.
Was an mir liegt, werde ich jedenfalls tun, um unsere Soldaten im Rahmen meines gesetzlichen Auftrages in Schutz zu nehmen.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, ohne der Debatte vorzugreifen, ist es, glaube ich, ein guter Zeitpunkt, daß wir unserem Wehrbeauftragten — einschließlich seiner Mitarbeiter — für seine von ihm geleistete Arbeit unseren herzlichen Dank sagen.
Dann hat der Abgeordnete Heistermann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mit dem beginnen, was der Wehrbeauftragte zum Schluß gesagt hat: Ohne Kenntnis des Urteils und der Urteilsbegründung möchte ich keine Schuldzuweisungen an die Richter vornehmen. Ich möchte mir das Urteil vorher genau angucken. Aber eines kann ich hier sagen: Wir nehmen die Soldaten vor solchen Unterstellungen in Schutz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich einen Satz von Karl-Wilhelm Berkhan, dem ehemaligen Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, zitieren:
Der angepaßte, jederzeit disponible Soldat, der „Untertan in Uniform", darf in der Armee eines freiheitlichen, sozialen Rechtsstaats keinen Platz finden.
Ich ergänze diesen Satz: Wir brauchen eine politische
Führung, die darüber wacht, daß Recht und Gesetz in
der Bundeswehr streng beachtet und eingehalten werden.
Anlaß für diese Vorbemerkungen ist der Jahresbericht 1986 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Herrn Willi Weiskirch, der wie seine Vorgänger auf gravierende Beispiele von Verstößen gegen die Grundlagen der Inneren Führung hinweist.
Wir müssen fragen: Welcher Geist weht durch die Bundeswehr? Was geschieht eigentlich, wenn dem Bundesminister Aussagen von Soldaten vorliegen, wie: „Ich wollte weiterkommen und habe nichts gesagt"; oder: „Wenn ich gefragt werde, warum niemand in dieser Lage aufgemuckt hat, so meine ich, wem hätte ich das sagen sollen"; oder : „ Ich sagte auch nichts, weil ich befördert werden wollte." Die schlechten Beispiele ließen sich beliebig erweitern.
Auch Abgeordnete, die Gespräche mit Soldaten führen, wissen um die Hinweise auf Mißstände in der Truppe, die ihnen oft nur unter dem Vorbehalt der Verschwiegenheit und der ausdrücklichen Zusage mitgeteilt werden, nur nichts weiterzugeben, damit die Quelle dieser Information nicht bekannt wird. Dieser Beschwerdeweg wird inzwischen von vielen Soldaten in Anspruch genommen. Dies läßt auch die Schlußfolgerung zu: Da ist etwas faul im Staate Dänemark.
Der Wehrbeauftragte erhält schon eine bessere Übersicht über die Stimmung der Soldaten durch die an ihn gegebenen Eingaben als z. B. die Vorgesetzten durch die Beschwerden. Aber auch sein Eindruck beruht in erster Linie auf den Eingaben. Er erfährt nichts über all diejenigen, die sich aus Furcht vor Nachstellungen überhaupt nicht zu Wort melden. Dies ist aber insbesondere unter den Wehrpflichtigen weit verbreitet. Mit der Einberufung zur Bundeswehr werden Wehrpflichtige systematisch eingeschüchtert.
— Ich komme gleich dazu. — Das Druckmittel sind nicht wie früher etwa Schikanen im Stil von 08/15 durch übertriebenen Dienst auf dem Kasernenhof oder im Gelände, sondern das heutige Druckmittel besteht in dem Entzug von freien Wochenenden.
Wehrpflichtigen ist die Heimfahrt am Wochenende das Wichtigste. So erfolgt ein fast total willfähriges Verhalten, ohne sich über Ungerechtigkeiten zu beschweren, aus Angst davor, daß sich die einzelnen Vorgesetzten durch zusätzlichen Dienst am Wochenende rächen könnten.
Wirklich ehrliche Aussagen bekommt man nur von Verwandten oder Söhnen von Bekannten, die als Wehrpflichtige Dienst tun. Auch diese Wahrheit müssen Sie zur Kenntnis nehmen und nicht nur das, was in den Köpfen bei Ihnen zu Hause ist.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3495
Heistermann
— Wir können darüber gleich debattieren, Kollege Wittmann. — Zu fragen ist, warum diese Soldaten das Vertrauen in ihre jeweiligen Vorgesetzten verloren haben. Warum reagieren Betroffene nicht? Schlimmer: Warum funktioniert die Dienstaufsicht nicht? Das gilt für die politische wie für die militärische Seite.
— Ich würde sagen, Sie ziehen sich auch erst einmal anders an, bevor Sie hier den Mund aufmachen. — Ich sage noch einmal: Wie wird sichergestellt, daß die Befehlsbefugnis nicht auf Felder ausgedehnt wird, auf denen sie nichts zu suchen hat?
Wer trägt hierfür Verantwortung? Der Hinweis auf zentrale Dienstvorschriften wird dem Problem nicht gerecht. Vorschriften sind noch keine Realität. KarlWilhelm Berkhan hat recht, wenn er in seiner Rede zum 30jährigen Bestehen der Bundeswehr ausführt:
Daher ist hier Dienstaufsicht im Sinne rechtzeitiger Hilfe immer angebracht. Sie ist Pflicht. So verletzt es die Kameradschaft, wenn Vorgesetzte ihre Untergebenen walten lassen und erst bei Fehlverhalten mit disziplinaren Maßnahmen drohen oder gar eingreifen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Biehle?
Ich gestatte, ja.
Herr Kollege Heistermann, wären Sie bereit, mit mir im nächsten Jahr zwei Truppenbesuche bei Einheiten Ihrer Wahl zu machen, um einmal festzustellen, wo diese systematische Einschüchterung — diese Bezeichnung betrachte ich als eine Beleidigung aller Unteroffiziere und Offiziere — stattfindet?
Also, Herr Kollege Biehle, Ihre Hinweise auf Beleidigung und Unterstellung weise ich mit aller Entschiedenheit zurück. Ich belege Ihnen das. Wir werden uns einmal unterhalten, und dann werden wir uns diese Fälle ansehen. Ich bin gern bereit, auch Sie dazu einzuladen, damit wir gemeinsam diesen Besuch durchführen können.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ich gestatte auch eine weitere Zwischenfrage.
Herr Kollege Heistermann, darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie von einer systematischen Einschüchterung gesprochen haben und daß dies ein Pauschalurteil ist, wobei nichts dagegen zu sagen wäre, wenn Sie sich auf Einzelfälle bezögen, die es in der gesamten Gesellschaft
dieses Landes — inklusive vorbestrafter Abgeordneter — gibt, deren Geist Sie hier auch spüren könnten?
Herr Kollege Biehle, ich würde jetzt nicht auf die Ebene gehen wollen, die Sie hier ansprechen. Ich biete Ihnen an, daß wir zu den Fällen gehen, die mir bekannt sind. Dann werden wir sehen, ob Sie die Konsequenzen ziehen, die Sie hier angedeutet haben.
Ich sage Ihnen noch einmal: Herr Wehrbeauftragter, es darf Sie nicht nur mit Sorge erfüllen, wenn Ihnen der Wehrdienstrichterbund mitteilt, daß sich Vorgesetzte, auch höhere, über rechtliche Bestimmungen im vermeintlich übergeordneten Interesse des Dienstes hinwegsetzen. Das sind alles Fälle, die man im Jahresbericht 1986 nachlesen kann. Nein, hauen Sie auf den Tisch, um dem Recht Geltung zu verschaffen!
Das Parlament selbst muß sich in die Pflicht nehmen, die Entwicklungen genauer zu beobachten und notfalls gesetzmäßig einzugreifen. Es genügt nicht, den Jahresbericht des Wehrbeauftragten hier zur Kenntnis zu nehmen; es ist notwendig, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Hierzu werde ich an späterer Stelle noch einige Anmerkungen machen.
Herr Kollege Würzbach, ich bin auf Ihre Antwort gespannt.
Wir wissen, daß Menschen irren können. Wir dürfen aber nicht durchgehen lassen, daß Recht gebeugt wird, und dies oft genug zu Lasten von Untergebenen, die des besonderen Schutzes bedürfen. Warum schrecken Vorgesetzte nicht davor zurück, die Würde des Menschen anzutasten? Was ist wichtiger für sie? Ist es die eigene Karriere? Sind sie überfordert? Darüber müssen wir mehr wissen. Wissen sie noch von dem Ziel der Inneren Führung, das Miteinander der Menschen in der Bundeswehr nach den Vorgaben des Grundgesetzes und des Soldatengesetzes sowie nach den Regeln, den Werten und den Normen unserer Gesellschaft lebensfähig und lebenswert zu gestalten und zu erhalten?
Warum wissen sie nicht mehr, daß die Grundrechte und der Freiheitsraum eines einzelnen Soldaten nicht durch die Exekutive, sondern nur durch das Parlament eingeschränkt werden dürfen? Solche einschränkenden Gesetze unterliegen darüber hinaus der richterlichen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Nehmen diese Vorgesetzten also billigend ein bestimmtes Fehlverhalten in Kauf, weil die Kontrollinstanzen innerhalb der Bundeswehr nicht mehr funktionieren? Dies muß uns alle gemeinsam beunruhigen.
Und was für eine Fürsorge erleben Soldaten durch ihre Vorgesetzten, wenn sie sich mit Begriffen wie — hier zitiere ich wieder den Wehrbeauftragten —„Penner", „Idioten", „Arschloch" und „Bettnässer"
3496 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Heistermann
belegen lassen müssen? Welche Motivation hinterlassen sie bei den betroffenen Soldaten?
Um es klar zu sagen: Über solche Fälle darf nicht der Mantel des Schweigens, des Unterdrückens und des Bagatellisierens gelegt werden. Nein, hier sind die Bundesregierung und der Bundesminister der Verteidigung gefordert, klare Entscheidungen folgen zu lassen. Der Bundesminister der Verteidigung muß sich auch fragen lassen, ob seine abwiegelnden Hinweise auf Einzelfälle nicht schon der Anfang davon sind, diese Vorgänge bewußt herunterzuspielen. Bei manchen Äußerungen von Verantwortlichen kann man schon heraushören, daß der Bürger in Uniform nicht zu ihrem Leitbild gehört. Da klingen manchmal Töne durch, die eher der Melodie vom uniformierten Staat nahekommen. Bei diesen Äußerungen kommt das Wort „Bürger" kaum vor.
Wir erwarten, daß die politische Leitung des Bundesministeriums der Verteidigung jenen Tendenzen eindeutig widerspricht und den Worten ausreichende Taten folgen läßt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ronneburger?
Auch diese gestatte ich.
Herr Kollege Heistermann, teilen Sie meine Auffassung, daß sich der Bericht des Wehrbeauftragten von Ihren Ausführungen dadurch unterscheidet, daß der Wehrbeauftragte gewiß bedauerliche Einzelfälle nennt, während Sie diese Einzelfälle verallgemeinern
und sie darstellen, als entsprächen sie der Situation der Bundeswehr insgesamt?
Kollege Ronneburger, wir registrieren diese Einzelfälle als Tendenzen. Ich werde Ihnen gleich noch zwei Beispiele vortragen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch dazu Stellung nehmen würden, wie Sie diese Vorgänge beurteilen. Hören Sie sich die Beispiele einmal an.
Natürlich wissen wir, daß viele Vorgesetzte auf der Grundlage der Inneren Führung ihren militärischen Auftrag erfüllen. Dafür Lob und persönliche Anerkennung. Von dieser Stelle möchten wir sie nachdrücklich darin bestärken, mit ihrem Führungsverhalten Vorbild für andere zu sein. Wir möchten sie aber ebenso eindringlich auffordern, Mißstände nicht zu tolerieren, sondern mitzuhelfen, sie abzubauen. Niemand ist im übrigen daran gehindert, dies durch eigene Veranlassung in seinem Verantwortungsbereich zu tun.
In der Stellungnahme des Beirates für Innere Führung zum Jahresbericht 1986 heißt es: „Innere Führung hat zu gewährleisten, daß in der Armee menschliche Leistung nicht auf das bloße Funktionieren hin verengt wird. " Wir leiten daraus Forderungen ab. Die SPD-Bundestagsfraktion erwartet von der Bundesregierung hierzu keine vollmundigen Erklärungen, sondern wir fordern sie eindringlich auf, in einem eingehenden Bericht vor diesem Parlament darzustellen, wie sie die Grundlagen der Inneren Führung zu sichern und weiterzuentwickeln gedenkt. Für uns Sozialdemokraten sind das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform und das Konzept der Inneren Führung unabänderliche Grundlage.
Bei seinem Besuch des Zentrums Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz hat der SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel unter anderem folgendes erklärt:
Die Menschen in der Bundeswehr betrifft auch die richtige Pflege der Tradition. Keine Gemeinschaft kann ohne Erinnerung an Vorbilder und ohne Erinnerung an ihre eigene Geschichte existieren.
Das gilt auch für die Bundeswehr. Ihre Traditionspflege muß sich aber ausschließlich an demokratischen Vorbildern und an der Wertordnung des Grundgesetzes orientieren.
— Hören Sie zu!
Wir mißbilligen deshalb Veranstaltungen, die Mißverständnissen des Inhalts Vorschub leisten, als gebe es eine Kontinuität zwischen Einrichtungen oder Aktivitäten aus der Zeit der NS-Gewaltherrschaft und der heutigen Bundeswehr und ihren Einrichtungen. Wir können beispielsweise auch in Heerführern keine Vorbilder sehen, die von der NS-Gewaltherrschaft hohe Dotationen entgegengenommen haben. Schließlich muß unsere Bundeswehr weiterhin auf die Kultivierung eines Feindbildes und erst recht auf Haßgefühle verzichten,
— hören Sie zu, Kollege Wimmer; beruhigen Sie sich; das ist für Ihren Blutdruck viel besser —
die solche Feindvorstellungen regelmäßig zur
Folge haben. Ebenso widersetzen wir uns der
Verabsolutierung soldatischer Tugenden, etwa
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3497
Heistermann
der Tugend des Mutes und des Gehorsams. Soldatische Tugenden dürfen nicht von den Inhalten und Zielen losgelöst werden, zu deren Erreichung sie eingesetzt werden. Das Ziel der Bundeswehr und ihre einzige Rechtfertigung ist und bleibt die Kriegsverhütung, ist die Sicherung des Friedens.
Soweit Hans-Jochen Vogel.
Nun komme ich zu dem Beispiel. Sie werden sich fragen, warum ich das zitiere.
— Sie werden das gleich verstehen, Kollege Wimmer. Wahrheit ist immer konkret, und Wahrheit tut weh. Sie werden die Wahrheit hier von dieser Stelle aus zur Kenntnis nehmen müssen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Biehle?
Bitte, Kollege Biehle.
Herr Kollege Heistermann, ist Ihnen eine Fernsehsendung bekannt, in der der Generalinspekteur der Bundeswehr aufgetreten ist und in der er von einem Journalisten nach dem Feindbild der Bundeswehr gefragt worden ist? Er hat geantwortet: Diese Bundeswehr hatte nie ein Feindbild, sie hat kein Feindbild, sie wird auch nie eines haben. Die Bundeswehr bemüht sich aber darum, den jungen Menschen klarzumachen, was in diesem Lande, in diesem demokratischen freiheitlichen Rechtsstaat verteidigungswert ist. Er hat dann eine Liste von Begriffen wie Volk, Heimat, Eltern, Gemeinde aufgeführt. Glauben Sie nicht, daß dies der richtige Standort dieser Bundeswehr ist?
Herr Kollege Biehle, wenn Sie zugehört haben, wissen Sie: Das war die Meinung des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion. Er hat unsere Position dort deutlich gemacht. Nun will ich dem die Wirklichkeit gegenüberstellen, Kollege Biehle, und vielleicht erlauben Sie Ihren Rednern, dazu nachher noch Stellung zu nehmen.
Sie werden sich fragen, warum ich das zitiert habe. Ich beziehe mich dabei auf zwei Meldungen aus diesem Jahr. Da steht in der „Schwälmer Allgemeinen Zeitung" vom 5. Oktober 1987 unter der Überschrift Hakenkreuz-Dolch im Dienstzimmer folgendes:
Zu 3 000 DM Geldstrafe hat das Schöffengericht Marburg einen 44 Jahre alten Hauptmann der Bundeswehr aus Stadtallendorf wegen fortgesetzter Verwendung von Emblemen einer verbotenen Organisation verurteilt.
Das Gericht sah aufgrund der mehrtätigen Beweisaufnahme, in deren Verlauf knapp 30 Zeugen gehört wurden, als erwiesen an,
daß der Angeklagte einen Miniaturstahlhelm und einen Dolch mit Hakenkreuzen über einen längeren Zeitraum hinweg in seinem Dienstzimmer für jeden sichtbar aufbewahrt habe. In zwei weiteren Anklagepunkten wurde er freigesprochen.
Und nun eine ganz aktuelle Information: In der Bundeswehr-Publikation „BW-Aktuell" vom 23. November 1987 wird der 100. Geburtstag des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein gewürdigt. Ein Soldat schreibt mir hierzu:
Hat es die Bundeswehr tatsächlich notwendig, daß treue Spießgesellen des NS-Staates vorbildhaft vorgestellt werden? Ist nicht mehr bekannt, daß von Manstein die menschenverachtenden Vorstellungen vom jüdischen Untermenschentum uneingeschränkt teilte? Sind wir denn wieder so vergeßlich und so wenig sensibel, daß der berüchtigte Befehl Mansteins an seine 11. Armee vom 20. November 1941, in der der Jude als der ,Mittelsmann zwischen dem Feind im Rücken und den noch kämpfenden Resten der Roten Armee' verleumdet wird, nicht mehr Beachtung findet?
Das bezieht sich auf etwas, was in einer Zeitung steht, die bundeswehrweit an die Soldaten verteilt wird.
Das sind zwei Beispiele, die klare Verstöße belegen. Wir sind auf die Antwort des Bundesministers der Verteidigung gespannt.
Ich habe diese beiden Fälle als Beleg dafür genommen, daß die Dienstaufsicht in diesen Bereichen nicht mehr klappt. Es kann in diesen Dienstbereichen Zimmer geben, in denen nationalsozialistische Embleme über mehrere Wochen hingenommen werden, nicht gerügt durch Dienstvorgesetzte. Wenn es da nicht klingelt, muß das Parlament hier deutlich machen, daß wir wollen, daß es klingelt. Wer da seiner Dienstaufsicht nicht nachkommt,
muß dann auch disziplinarisch Rechenschaft ablegen.
Wir danken dem Wehrbeauftragten für seine Berichterstattung, und wir wünschen seinen Mitarbeitern, daß sie unbeeindruckt dem Recht Geltung verschaffen.
3498 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Heistermann
Wir bitten Sie auch, daß gegen jede falsche und reaktionäre Entwicklung in der Bundeswehr weiter konsequent vorgegangen wird.
Mein Kollege Robert Leidinger wird noch zu weiteren Fragen des Jahresberichtes Stellung nehmen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Jahresbericht 1986 des Wehrbeauftragten bietet, Herr Kollege Heistermann, keinerlei Grundlage dafür, auf eine derartige für die Bundeswehr, für diejenigen, die Verantwortung tragen, verletzende Art und Weise hier etwas vorzutragen.
Der Jahresbericht 1986 — im übrigen der 30., nachdem der Deutsche Bundestag das Wehrbeauftragtengesetz beschlossen hat und nach 30jähriger Geschichte der Bundeswehr — stellt der Bundeswehr — das ist in der deutschen Öffentlichkeit, in der veröffentlichten Meinung, einmütig so festgestellt worden — der Bundeswehr ein insgesamt gutes Zeugnis aus.
Ich meine, daß die Probleme, die Sie hier angeschnitten haben, selbst bei allerkritischster Betrachtung nur auf eine ganz kleine Minorität derer, die in der Bundeswehr Verantwortung tragen, zu beziehen sind.
Wenn der Wehrbeauftragte — ich meine, es sei die Zahl 3 % gewesen — von 3 % der Eingaben spricht, die sich mit der Problematik der Verletzung der Menschenwürde beschäftigten, wird doch sehr deutlich, wie Ihre Äußerungen im Gesamtzusammenhang des Klimas in der Bundeswehr zu werten sind. Dies ist ein Ausrutscher, Herr Heistermann, der Ihnen noch leid tun wird.
Ich habe kein Verständnis dafür, daß Offiziere der Bundeswehr in der Verantwortung als Mandatsträger, als Abgeordnete dieses Hohen Hauses auf der Bank der SPD-Fraktion hier ruhig und gelassen Ihrem verletzenden Vortrag zuhören können.
Meine Damen und Herren, der Bericht des Wehrbeauftragten bietet — ich habe das eben gesagt — keinen Anlaß dafür, in dieser Art und Weise über die Bundeswehr herzufallen.
Der Bericht des Wehrbeauftragten ist um so glaubwürdiger, als er ja nicht etwa das hohe Lied auf das Klima in der Bundeswehr singt, sondern sich in kritischer Art und Weise auch mit den Problemen beschäftigt und angemessene Kritik übt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heistermann?
Bitte sehr.
Herr Kollege Breuer, würden Sie mir darin folgen, daß die Vielzahl von Einzelfällen zumindest symptomatisch darstellt, daß sich in der Bundeswehr Entwicklungen zeigen, die uns gemeinsam veranlassen sollten, hier in aller Deutlichkeit eine andere Position gegenüber solchen Entwicklungen zu dokumentieren, indem wir diese Fälle hier kritisch und auch deutlich und ehrlich ansprechen?
— Ich frage den Kollegen Breuer ja.
Kollege Breuer, ich möchte Ihnen hier eine Aussage eines Wehrpflichtigen zitieren.
Herr Abgeordneter, wenn Sie es in der Frageform tun könnten?
Gut, ja. — Wie würden Sie folgendes Verhalten definieren, das mir ein Wehrpflichtiger in einem Brief schilderte: Er sei von einem General gebeten worden, frei und offen seine Meinung zu äußern, und wenig später habe sich dann der Dienstvorgesetzte, der an diesem Gespräch nicht teilgenommen habe, alle Soldaten rangeholt und letztendlich artikuliert: Wie kann man auch so blöd sein, solchen Worten eines Generals zu glauben, daß nichts von diesem Gespräch bekannt würde?
Herr Kollege Heistermann, zunächst einmal bleibe ich bei dem, was ich eben gesagt habe. Ich halte das, was Sie hier darstellen, insofern für unangemessen, als es um absolute Minoritäten geht. Hier geht es um Fehlverhalten, das bei ganz wenigen festzustellen ist.
Punkt zwei: Natürlich kann man nicht ausschließen, daß es sich bei dem, was Sie hier darstellen, möglicherweise auch zu Recht darstellen, wiederum um eine Form von Verhalten handelt, das ich als das Verhalten einer Minderheit darstellen würde.
Wenn ich mich mit Ihrer Rede von eben beschäftige, dann war sie doch im Gesamtumfang einzig und allein dieser Fragestellung von Fehlverhaltensweisen in der Bundeswehr gewidmet. Ich verstehe eines nicht, Herr Kollege Heistermann. — Wir haben schon zusammen Diskussionen mit Offizieren, mit Unteroffizieren der Bundeswehr bestritten — : Wie können Sie, wenn Sie den Verdacht haben, daß dies eine allgemeine Tendenz bei Unteroffizieren, bei Offizieren der Bundeswehr sei, diesen Leuten überhaupt noch ehrlichen Gewissens, ohne Kritik zu äußern, entgegentreten? Das ist eine Sache, die ich nicht verstehen kann, nachdem ich Ihre Rede hier gehört habe.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3499
Breuer
Ich bin davon überzeugt, daß es notwendig ist, wenn Sie in Zukunft im Bereich der Bundeswehr — und Sie sind zugegebenermaßen insbesondere im Bereich der sozialen Versorgung der Soldaten engagiert — dialogfähig und glaubwürdig bleiben wollen, daß Sie sich bei denjenigen entschuldigen, die in der Bundeswehr Verantwortung tragen.
Herr Präsident, ich gehe davon aus, daß dieser Dialog auf die Redezeit nicht angerechnet wird.
Ich bin sehr großzügig gewesen, aber nicht absolut.
Meine Damen und Herren,
die Frage des Zeugnisses für die Bundeswehr — das insgesamt als gutes Zeugnis gewertet werden kann — ist eine Frage, die sich nicht nur der nationalen Bewertung unterwirft, sondern die sich durchaus auch der internationalen Bewertung unterwerfen kann. Ich hatte Ende Oktober dieses Jahres die Gelegenheit, zumindest teilweise Teilnehmer einer Veranstaltung der John Hopkins University zu sein, die in Washington stattfand. Das war eine Veranstaltung eines Instituts, das sich mit zeitgenössischer Forschung, bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland, beschäftigt. Die Bundeswehr in ihrer 30jährigen Geschichte wurde bei dieser Veranstaltung als eine Story of Success gewertet, als eine Erfolgsgeschichte. Insbesondere wurde der Erfolg der Befolgung der Grundsätze der Inneren Führung, aber auch die Institution des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, die Institution dieses Parlaments, als Kontrollinstanz sehr, sehr positiv bemerkt. Auf dem Hintergrund dessen, was der Kollege Heistermann hier festgestellt hat, weist das sehr deutlich nach, wie weit außenstehend er in seiner Bewertung hier liegt.
Meine Damen und Herren, der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages ist eine Institution, die große internationale Anerkennung erfährt. Dies ist in den letzten Wochen bei dem Südamerikabesuch des Wehrbeauftragten deutlich geworden. Man konnte in der deutschen Presse, aber sicher auch in der Presse der besuchten Länder diese respektvolle Anerkennung spüren. Da der Wehrbeauftragte unsere Einrichtung ist, die Einrichtung dieses demokratischen Parlaments, als Kontroll- und Mittlerinstanz zu demokratisch geführten Streitkräften, bin ich der Meinung, daß wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir ihn gerade im Hinblick auf solche internationalen Verpflichtungen im Dienste der Bundesrepublik und in der Werbung für die neue deutsche Demokratie finanziell besser unterstützen können.
Meine Damen und Herren, die Mittler- und Überwachungsfunktion des Wehrbeauftragten spielt natürlich in der Frage eine Rolle, wie wir hier miteinander diskutieren. Wir sollten auf dem Hintergrund der
allgemeinen Einschätzung in unserer öffentlichen Meinung, auf dem Hintergrund der Einschätzung, die international bezogen auf Bundeswehr existiert, zunächst einmal selbstbewußt über Bundeswehr reden, völlig anders, als dies vom Kollegen Heistermann vorhin hier getan worden ist. Selbstbewußt, Herr Kollege Heistermann, heißt nicht selbstzufrieden. Selbstbewußt heißt: kritisch. Selbstbewußt heißt aber auch: in dem Bewußtsein, daß die Bundeswehr insgesamt eine gute öffentliche Anerkennung erfährt.
Wir haben 30 Jahre lang diese Herausforderung bestanden. Ich bin davon überzeugt, wir werden sie auch für die Zukunft bestehen.
Der Bericht des Wehrbeauftragten zum Jahr 1986 zeichnet sich meines Erachtens dadurch aus, daß er auch in die tieferen Zusammenhänge des Zusammenlebens in der Bundeswehr, gerade auch auf die Zukunft bezogen, einsteigt. Ich will versuchen, einige Beispiele zu finden, wo ich meine, daß dafür Ansatzpunkte geschaffen sind.
Ich nehme als ersten Punkt die Frage der sinnvollen Dienstzeitgestaltung und beziehe die sowohl auf grundwehrdiensttuende Soldaten als auch auf Reservisten. Ich kenne das Bemühen der meisten Vorgesetzten — gerade auch als Reservist, wodurch ich die Möglichkeit hatte, die Bundeswehr fast 20 Jahre lang von innen und von außen zu verfolgen — um eine sinnvolle Dienstgestaltung. Aber ich kenne auch das Jobdenken und kenne die Fehler, die dabei entstehen, und die Empfindungen von Wehrpflichtigen, die Empfindungen von Reservisten, die daraus resultieren. Wenn der Wehrbeauftragte in seinem Bericht schreibt, die Bundeswehr habe Grund, sich damit zu beschäftigen, weil es für die meisten Wehrpflichtigen nicht genüge, während der 15 Monate — ich sage in Klammern dazu: zukünftig 18 Monate — nur irgend etwas zu tun, dann wird der Auftrag hier klar sichtbar.
Ich weiß, daß der Bundesminister der Verteidigung, daß Dr. Manfred Wörner keine Schwierigkeiten damit hat, dem, was ich hier sage, und dem, was der Wehrbeauftragte sagt — das ergibt sich aus der Stellungnahme — , zuzustimmen. Wir erwarten — ich meine, wir alle zusammen erwarten das — , daß für die Bundeswehr jeder nur mögliche Weg gesucht wird, damit sie den Wehrpflichtigen in Zukunft 18 Monate lang und gerade auch den vielen Reservisten, die wir in Zukunft zur Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit brauchen, einen sinnvollen Dienst anbieten kann. Niemand darf das Gefühl haben, daß er eigentlich überflüssig ist.
— Ich meine damit, Frau Kollegin, einen sinnvollen militärischen Dienst und weiß, welche Probleme Sie damit haben. Es geht um den sinnvollen militärischen Dienst.
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Breuer
Meine Damen und Herren, ich will einen zweiten Punkt aufzeigen, der der Lösung bedarf, wo wir aber auf gutem Wege sind. Das ist die Frage der Gleichbehandlung der Reservisten aus dem öffentlichen Dienst bzw. aus der Wirtschaft im Zusammenhang mit dem Unterhaltssicherungsgesetz. Wir haben das Unterhaltssicherungsgesetz in modifizierter, in reformierter Form neulich verabschieden können, und wir alle sind guter Hoffnung, daß wir das, was als Nachtrag noch notwendig ist, nämlich die Frage der Lösung der Gleichbehandlung, sehr schnell erledigen können.
Der soziale Bereich der Soldaten — das möchte ich im Zusammenhang mit den Debatten über den Bericht des Wehrbeauftragten aus den letzten Jahren einmal ansprechen — ist im übrigen in der Betrachtung, was die Frage einer Leistungsbilanz angeht, ungeheuer interessant. Da ich glaubte, daß die heutige Debatte in der Kontinuität der Debatten aus den letzten Jahren stehen würde — ich bin da leider enttäuscht worden, Herr Kollege Heistermann —,
habe ich mir einmal die Protokolle der letzten Debatten vorgenommen. Ich habe festgestellt, daß aus den Problempunkten im sozialen Bereich, die gerade Sie aufgezeigt haben, nur noch ganz, ganz wenige einer Erledigung bedürfen,
und ich kenne keinen einzigen Punkt in den angemahnten Punkten, der nicht auf dem Wege ist und innerhalb dieser Legislaturperiode durch dieses Haus und durch die Konzeption des Ministeriums erledigt werden kann. Der soziale Bereich der Soldaten stellt eine sehr positive Leistungsbilanz dieser Bundesregierung und der sie tragenden Koalition in diesem Hause dar.
Ein anstehendes Problem, Herr Kollege Kolbow, ist die vom Herrn Wehrbeauftragten auch in dieser Debatte eingebrachte Frage des Kindergeldes. Ich meine, wir sollten insbesondere deshalb über diese Frage reden, weil der Verteidigungsminister unserer besonderen Unterstützung bedarf. Er hat da schon einen Vorstoß unternommen und braucht Unterstützung. Wenn eine Drei-Kinder-Familie in die Situation kommt, daß der erste Sohn, das erste Kind zur Bundeswehr einberufen wird, dann verliert sie monatlich Kindergeld in der Größenordnung von 220 DM. Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen: Für das erste Kind gibt es 50 DM Kindergeld, für das zweite 100 DM, für das dritte 220 DM, was insgesamt einen Betrag von 370 DM ergibt. Wenn der erste Sohn zur Bundeswehr kommt, wird das zweite Kind in der Zählweise zum ersten, das dritte zum zweiten, und dafür gibt es 150 DM Kindergeld, so daß sich eine Differenz von 220 DM ergibt.
Meine Damen und Herren, ich meine, wir müssen dieses Problem lösen. Es ist eine Problematik, die man sicher nicht dieser Mehrheit oder diesem Minister anlasten kann, sondern eine Problematik, die immer schon bestand. Wir müssen erreichen, daß Familien, deren Söhne bei der Bundeswehr dienen, dadurch keinen finanziellen Schaden nehmen. Das ist ein familienpolitischer Auftrag; das ist meines Erachtens auch ein verteidigungspolitischer Auftrag, den wir hier zu erfüllen haben.
— Sehr verehrte Frau Kollegin, mir geht es um etwas ganz anderes. Mir geht es darum, daß die notwendige und — so meine ich — heute auch verbreitete gesellschaftliche Anerkennung des Dienstes in der Bundeswehr, wenn er von einem jungen Mann erbracht wird, auch die notwendige finanzielle Folge hat. Darum geht es mir.
Ich weiß natürlich aus Ihren Beiträgen im Verteidigungsausschuß, daß es Ihnen darum gar nicht geht, sondern um das Gegenteil. Sie setzen sich dafür ein, sich dem anzuschließen, was in Frankfurt passiert ist.
Darauf möchte ich am Ende meiner Ausführungen eingehen, weil es ein ganz schlimmer Vorgang ist, der sich dort in der 14. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt vollzogen hat.
Meine Damen und Herren, wenn es gestattet ist, die Soldaten der Bundeswehr als „potentielle Mörder" zu bezeichnen, ohne dabei bestraft zu werden, dann ist das ein schlimmer Zustand in diesem Lande.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich gestattet sie gleich, aber ich möchte kurz noch etwas vortragen.
Bitte schön.
Interessanter wird diese Frage dann noch, wenn man sich mit demjenigen beschäftigt, von dem der Vorwurf und der Ausspruch stammen.
Es ist ein Arzt, der auf Kosten der Bundeswehr studiert hat und der kurz vor Abschluß seines Studiums einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung einreichte,
sein Studium praktisch auf Kosten der Bundeswehr hatte und heute die Soldaten der Bundeswehr als „potentielle Mörder" beschimpft. Ein schlimmer Vorgang, meine Damen und Herren!
Herr Abgeordneter, Sie gestatten jetzt eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Schilling?
Bitte sehr.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3501
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte von Ihnen gerne einmal wissen, wann Sie von mir eine solche Äußerung gehört haben und mit was Sie die belegen können. Als Sie vorhin sagten, ich würde den Frankfurter Zuständen oder den Vorgängen dort zustimmen, war durchaus nicht klar, welche Frankfurter Zustände Sie eigentlich meinen. Deswegen möchte ich von Ihnen genau wissen: Wann haben Sie von mir so etwas gehört, um mich einfach in einen Topf werfen zu können? Weil Sie einfach nur denken, Sie müssen mal wieder so kurz nebenbei diffamieren? Das hätte ich gerne genau gewußt.
Frau Kollegin, das Protokoll wird ausweisen, daß ich Sie nicht beschuldigt habe, die Soldaten als „potentielle Mörder" bezeichnet zu haben. Allerdings weiß ich eines von Ihnen, das wissen die Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß gleichwohl: Sie werfen der Bundeswehr vor, den Angriffskrieg zu planen.
Sie werfen der Bundeswehr vor, ihren Verfassungsauftrag nicht zu erfüllen,
sondern im Gegenteil gegen die Verfassung vorzugehen.
Das ist ebenfalls ein ganz schlimmer Vorwurf.
— Das hat sich jetzt gerade erwiesen. Insofern, glaube ich, ist das alles geklärt.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Der Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 1986 stellt der Bundeswehr insgesamt ein gutes Zeugnis aus. Die Bundeswehr hat die Herausforderung der vergangenen 30 Jahre gut bestanden. Das belegen auch die internationalen Zeugen, die ihre Entwicklung verfolgen. Wir sind, bezogen auf die Probleme der Bundeswehr — auch dies meinte ich dargestellt zu haben —, auf einem guten Wege.
Ich möchte mich bedanken bei dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern für den Bericht, für die geleistete Arbeit des letzten Jahres. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir die geschilderten Probleme mit der Bundeswehr und mit der politischen Führung auch in Zukunft lösen können.
Danke sehr.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schilling.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Guten Abend, liebe Leute hier im Plenum! Lieber Herr Weiskirch! Liebe Leute
dort oben als Zuhörerinnen und Zuhörer! Und auch: Hallo, Bundeswehr!
Der Bericht des Wehrbeauftragten enthält für meine Begriffe zwei Dilemmas. Ein politisches Dilemma: Der Wehrbeauftragte soll nämlich auf Grund seiner verfassungsrechtlichen Stellung seine Aufgaben als „Hilfsorgan der Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle" wahrnehmen: „Der Wehrbeauftragte wird auf Weisung des Bundestages oder des Verteidigungsausschusses zur Prüfung bestimmter Vorgänge tätig." Man kann aus dem Gesetz über den Wehrbeauftragten schließen: Er hat eine ganze Reihe von Möglichkeiten.
Wenn ich mir diese Möglichkeiten weiter angucke, wie sie im Gesetz niedergelegt sind: „Der Wehrbeauftragte kann bei dem Verteidigungsausschuß um eine Weisung zur Prüfung bestimmter Vorgänge nachsuchen ... Der Wehrbeauftragte wird nach pflichtgemäßem Ermessen auf Grund eigener Entscheidung tätig, wenn ihm ... durch Mitteilung von Mitgliedern des Bundestages oder auf andere Weise Umstände bekannt werden, die auf eine Verletzung der Grundrechte der Soldaten oder der Grundsätze der Inneren Führung schließen lassen."
Bei den Berichtspflichten sieht es so aus, daß der Wehrbeauftragte jederzeit dem Bundestag oder dem Verteidigungsausschuß Einzelberichte vorlegen kann. Er kann Auskunft und Akteneinsicht verlangen. Er ist berechtigt, den Einsender von irgendwelchen Beschwerden, Zeugen und Sachverständige anzuhören. Er kann zuständigen Stellen Gelegenheit zur Regelung einer Angelegenheit geben. Er kann jederzeit ohne Anmeldung alle Truppenteile besuchen und sich ihre Einrichtungen zeigen lassen. Dieses Recht steht dem Wehrbeauftragten ausschließlich persönlich zu.
Er kann vom Bundesminister der Verteidigung Berichte anfordern. Er kann sich praktisch in alle Bereiche einmischen. Er hat sogar in Strafverfahren und in disziplinargerichtlichen Verfahren wie etwa der Vertreter der Einleitungsbehörde das Recht, die Akten einzusehen.
Er kann von Bund und Ländern, von Behörden Amtshilfe verlangen. Zwar können Bundestag oder Verteidigungsausschuß allgemeine Richtlinien für seine Arbeit erlassen, er ist aber von Weisungen frei. Er kann also wirklich agieren, wie er will.
Wenn Soldaten eine Eingabe machen, kann er diese erst einmal ohne Nennung von Namen bearbeiten usw.
Ich will mit dem Zitieren aus dem Gesetzestext erreichen, daß Sie sich wieder oder überhaupt erst einmal klarmachen, welche Möglichkeiten Herr Weiskirch hat.
3502 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Frau Schilling
Diese Rechte des Wehrbeauftragten führen aber leider nur dazu,
daß er im Bericht die Widersprüche, die sich zwischen der militärischen Einsatzbereitschaft und den menschenwürdigen Lebensformen der Soldaten auftun, zwar mehr oder weniger zur Kenntnis nimmt, daß sich seine Lösungsversuche aber — das ist jedenfalls mein Eindruck — mehr auf ein Herumkurieren an den Symptomen beschränkt und nicht auf das Anpacken der Ursachen zielt.
Das menschliche Dilemma — das ist der zweite Punkt — besteht darin, daß Herr Weiskirch eigentlich ein sehr netter Mensch ist.
— Ja. — Aber die Rolle, die er spielt, gefällt mir nicht. Ich wünsche mir Herrn Weiskirch mutiger und selbstbewußter. Denn was soll Ihnen eigentlich passieren, Herr Weiskirch, wenn Sie das Ganze einmal so richtig anpacken würden?
Dazu gehört für mich, daß die Stellungnahme des Verteidigungsministers zu Ihrem Bericht von Ihnen nicht artig — ich zitiere das jetzt — als erfreuliche Übereinstimmung zwischen dem Wehrbeauftragten und dem Verteidigungsminister bezeichnet wird, sondern daß Sie Ihre vielfältigen Möglichkeiten dagegensetzen. Das tun Sie leider nur in ein paar marginalen Punkten. Ich denke, Sie sind für die parlamentarische Kontrolle zuständig, also für uns als Abgeordnete, für den Bundestag und nicht für das Ministerium. Sie sind für die Soldaten zuständig. Das, denke ich, muß bewußter gemacht werden.
Ich möchte einige Beispiele schwerpunktmäßig herausgreifen. Grundrechtsverletzungen: Der Wehrbeauftragte hat gravierende Menschenrechtsverletzungen und Grundrechtsverletzungen registriert. Er sagt, 3 % aller Eingaben beträfen Beschwerden über Grundrechtsverletzungen. Die Zahl sei ein Hinweis darauf — so meint er — , daß so etwas nicht zur Tagesordnung in der Bundeswehr zählt.
Aber gegen diese Logik sind Vorbehalte angebracht; denn der Wehrbeauftragte stellt an einer anderen Stelle seines Berichtes unmißverständlich fest — ich zitiere — :
Es muß mich mit Sorge erfüllen, wenn ich vom Wehrdienstrichterbund erfahre, daß er seit längerem eine Entwicklung in Teilbereichen der Bundeswehr beobachtet, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sich Vorgesetzte — auch höhere — über rechtliche Bestimmungen im vermeintlich übergeordneten Interesse des Dienstes hinwegsetzen. Diese Besorgnis wird um so größer, wenn weiter berichtet wird, daß hierbei Rechte von Untergebenen, die sich dann scheuen, von ihrem gesetzlich verbrieften Beschwerderecht Gebrauch zu machen, beeinträchtigt werden.
So geht es weiter.
Das widerspricht sich und läßt darauf schließen, daß die Dunkelziffer sehr viel höher ist und daß solche Probleme doch mehr zum Alltag der Bundeswehr gehören, als das hier zugegeben wird.
Das ist auch ganz klar; denn ein System, das auf Befehl und Gehorsam aufbaut, kann auch gar nicht anders reagieren.
Ich denke, hier ist auch ein Appell an die Soldaten wichtig: Sie können ebenfalls mutiger sein. Sie können gemeinsam handeln, sie können, wie das Darmstädter Signal belegt, wenigstens den mutigen Schritt tun, sich in ihrem Schwur gegen den Gebrauch und den Einsatz von Massenvernichtungswaffen auszusprechen. Wenigstens das kann man doch tun.
Der jetzige Schwur der Bundeswehr umfaßt den Einsatz von A-, B- und C-Waffen, getreu der Heeresdienstvorschrift der Bundeswehr, in der vom Einsatz von A-, B- und C-Waffen — konventionell, elektronisch usw. — ausgegangen wird. Das kann man in der gültigen Heeresvorschrift nachlesen.
Ich möchte, daß von beiden Seiten die Möglichkeiten mehr genutzt werden.
Ein weiterer Punkt sind die Selbstmorde in der Bundeswehr. Dazu vermisse ich überhaupt eine Aussage in dem Bericht. Unter den Soldaten herrscht eine große Verzweiflung. Die Zahlen werden unter den Tisch gekehrt. Es ist logisch, daß sich die Angehörigen von Soldaten, die sich das Leben genommen haben, nicht mehr an die Bundeswehr wenden. Das ist doch so logisch wie nur irgend etwas.
Sie müssen doch einmal den Konflikt verstehen, daß die Soldaten einerseits gedrillt werden, daß sie, wie es in der Broschüre von Herrn Wörner so schön heißt, kriegsnah ausgebildet werden, am Zweiten Weltkrieg orientiert, an Hitlers Blitzkriegsstrategie orientiert, und daß sie andererseits dauernd eingetrichtert bekommen, sie seien die größte Friedensinitiative, die hier rumläuft.
Andererseits bestehen unverändert in der Bundeswehr die Verbindungen zur HIAG, der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Waffen-SS. Das ist ungebrochen vorhanden.
Es werden gemeinsame Feste gefeiert, es werden gemeinsame Schallplatten gemacht, es werden gemeinsame Lieder gesungen — und welche Lieder, nämlich die alten Kampflieder!
Darauf muß man doch einmal eingehen. Das kann die Leute wirklich zur Verzweiflung bringen, die in der Bundeswehr sind, die dort vielleicht wirklich mit
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3503
Frau Schilling
dem Willen sind, tatsächlich zu verteidigen. Nur: Die Verteidigung wird nicht geübt. Das ist das Problem.
Das wissen Sie alle sehr genau. Nur verleugnen und verdrängen Sie es immer wieder.
Die gültigen Strategien passen gar nicht zu dem, was über die Bundeswehr gesagt wird. Theorie und Praxis passen überhaupt nicht zusammen. Das ist eben das Dilemma. Viele Leute können damit nicht klarkommen.
Ich möchte, daß die Bundeswehr lernt und sich damit befaßt, gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien zu erproben. Wenn die Bundesrepublik militärisch nicht zu verteidigen ist — und das geben mittlerweile neben Herrn Dregger, Herrn Weizsäcker und Herrn Schmidt auch andere Leute zu —, dann kann man sie nur sozial verteidigen. Die Bundeswehr muß irgendeine Lehre daraus ziehen und etwas anderes machen. Statt dessen erleben wir immer mehr Manöver, immer mehr Kriegsübung, immer mehr in dieser Richtung.
Hierzu würde ich gern ein kritisches Wort des Wehrbeauftragten hören.
Das alles kann nur dazu führen, daß Leute, die in diesem Dilemma stecken, zu dem Ergebnis kommen: Hier hilft nur noch Kriegsdienstverweigerung, hier hilft sogar nur noch Totalverweigerung, wenn man sich nicht mitschuldig machen will.
— Allerdings, zur Totalverweigerung für Frauen und für Männer. Die Kriegsdienstverweigerer haben ein grundgesetzlich verbrieftes Recht. Aber wie geht es denn Kriegsdienstverweigerern, und wie werden Totalverweigerer kriminalisiert, wenn sie das Recht in Anspruch nehmen? Das sieht nicht sehr gut aus für dieses demokratische Gemeinwesen. Es könnte sich weiß Gott ein bißchen besser damit befassen und ein bißchen souveräner damit umgehen.
Gerade jetzt ist es ganz wichtig, Kriegsdienstverweigerung im weitesten Sinne zu betreiben, für Frauen und für Männer. Dazu gehören leider Mut und Zivilcourage. Ich wünsche mir, daß viele Leute ihren Mut und ihre Zivilcourage zusammennehmen, auch Sie, Herr Weiskirch, und damit dokumentieren, daß es andere Möglichkeiten, kritische Möglichkeiten gibt, daß wir nicht noch ständig unsere eigene Vernichtung finanzieren. Es muß ein Klima in der Bundeswehr geschaffen werden, in dem Sie eines Tages ehrliche Antworten mit vollem Namen bekommen, weil die Leute keine Repressalien befürchten müssen.
Es geht darum, daß in einem demokratischen Gemeinwesen nicht das Alte Testament mit „Auge um Auge, Zahn um Zahn" gilt, sondern daß man wenigstens in der Perspektive zum Neuen Testament hinkommt, gewaltfreie Möglichkeiten auszuprobieren und Konflikte gewaltfrei lösen zu wollen.
Deswegen lehnen wir Ihre Beschlußempfehlung ab. Wir sind aber nicht der Meinung, daß das immer so bleiben muß. Vielleicht können wir ja mit einer gemeinsamen Anstrengung nächstes Jahr um diese Zeit Ihrem Bericht auch zustimmen. Ich hoffe das, und wir werden daran mitarbeiten.
Das Wort hat der Abgeordnete Nolting.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der FDP-Bundestagsfraktion möchte auch ich Ihnen, Herr Wehrbeauftragter für Ihre objektive und ausgewogene Stellungnahme im Jahresbericht 1986 danken.
Durch Ihren Jahresbericht 1986 haben Sie, Herr Wehrbeauftragter, uns wiederum in unserer Kontrollfunktion unterstützt. Die Kollegin Schilling hat auf diese Kontrollfunktion hingewiesen. Das ist auch das einzige, dem ich in ihren Ausführungen zustimmen kann.
Aus Ihrem Bericht, Herr Wehrbeauftragter, sprechen Ihre Erfahrungen aus der langen Zugehörigkeit zum Verteidigungsausschuß. Diese Tätigkeit im Verteidigungsausschuß kommt Ihnen und damit uns zweifelsohne zugute. Ich möchte zwei Beispiele anführen.
In Ihrem Bericht gehen Sie auf die Dienstzeitgestaltung und die Dienstzeitbelastung ein. Diese beiden Punkte nehmen einen großen Raum im Bericht ein. Sie erwähnen z. B. die Klage aus der Truppe, daß es häufig Arbeiten zu verrichten gibt — auch der Kollege Breuer hat darauf hingewiesen — , die offensichtlich nur dem Zwecke dienen, Leerlauf zu überbrücken. Ich möchte hier für uns feststellen, daß dies in Zukunft unbedingt vermieden werden soll.
Meine Damen und Herren, überflüssige Kompaniewachen oder auch persönliche Dienstleistungen — um nur zwei Beispiele zu nennen — sind und bleiben Eingriffe in die Freiheit des Soldaten. Natürlich hat dies auch eng damit zu tun, mit welcher Motivation der Soldat seinen Dienst versieht.
Ich möchte hier zwei Beispiele anführen, die die Motivation nicht gerade stärken. Erstes Beispiel: Vom 14. Februar 1988 bis zum 19. Februar 1988 wird sich ein Bataillon zum Schießen auf einem Übungsplatz aufhalten, also beginnend am Karnevalssonntag. Ich frage Sie, meine Damen und Herren, wie Sie reagierten, wenn über die Karnevalstage Sitzungstage ein-
3504 Deutscher Bundestag — l 1. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Nolting
schließlich Abendsitzungen mit Präsenzpflicht hier in Bonn stattfänden.
Ich frage hier vor allen Dingen die Rheinländer, die Münsterländer, die Münchener oder auch die Mainzer.
Zweites Beispiel: Im nächsten Jahr findet in einem Kommando eine sogenannte Pfingstübung statt, an der 3 000 Soldaten teilnehmen werden. Das Gerät für diese Übung muß am Pfingstmontag, wahrscheinlich sogar am Freitag vor Pfingsten verladen werden. Das heißt, daß sieben Eisenbahnzüge bewacht werden müssen. Die Pfingstbefreiung der betroffenen Soldaten entfällt bzw. wird drastisch verkürzt. Auch hier frage ich Sie als Abgeordnete, ob Sie mit einer unnötigen Beschneidung Ihrer knappen Freizeit einverstanden wären. — Ich denke, daß auch unsere Dienstzeitbelastung zu hoch ist. — Aber im Ernst, meine Damen und Herren, ich meine wirklich, daß dies vermieden werden könnte. Diese zusätzliche Dienstzeitbelastung trägt eben nicht zur vielbeschworenen Motivation von Mannschaften und Dienstgraden bei. Sie alle werden ähnliche Beispiele kennen.
— Herr Würzbach, da stimmen wir überein.
Im Bereich der Dienstzeitbelastung sei hier noch einmal erwähnt, daß wir während der Haushaltsplanberatungen einen Antrag gestellt haben, bei dem es darum geht, die Dienstzeitbelastung der Soldaten wesentlich zu reduzieren. Wir haben deshalb die Bundesregierung aufgefordert, unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine praktizierbare gerechte Regelung des Dienstzeitausgleichs vornimmt. Wir waren einer Meinung, daß dies individuell durch angemessenen zeitlichen und/oder finanziellen Ausgleich unbürokratisch geschehen muß. Wir alle wissen, daß einerseits der regelmäßige Achtstundentag mit dem soldatischen Auftrag unvereinbar ist, daß für unsere Soldaten andererseits im Hinblick auf die zeitliche Durchschnittsbelastung nach Freizeitausgleich der gleiche Standard wie für die zivilen Arbeitnehmer gelten muß. Auch dadurch wird die Attraktivität des Arbeitsplatzes Bundeswehr für die Soldaten weiter verbessert.
Herr Wehrbeauftragter, in Ihrem Bericht ist die Zahl von 8 600 Eingaben erwähnt. Bei 3 % handelt es sich um gravierende Grundrechtsverletzungen, Herr Heistermann.
Hierzu ist anzumerken, daß der Anteil von 3 % erfreulicherweise als gering zu bezeichnen ist. Ich halte hier im Gegensatz zum Kollegen Heistermann fest, daß offenbar das Fehlverhalten nur einiger weniger Vorgesetzter zu den Beanstandungen geführt hat. Ich meine, das muß an dieser Stelle auch im Hinblick auf die Vorgesetzten ausdrücklich festgehalten werden. Herr Heistermann, das Bild, das Zerrbild, das Sie hier
von den Vorgesetzten gemalt haben, ist schlicht und einfach falsch.
— Ja, es ist vielleicht — Herr Kollege, ich gebe Ihnen da recht — noch sehr gelinde ausgedrückt. Herr Heistermann, ich weise darauf hin: Wir haben über den Bericht des Wehrbeauftragten im Ausschuß diskutiert. Sie haben offensichtlich seit dieser Zeit einen anderen Bericht in der Hand, oder aber Sie mußten sich hier in Ihrem Debattenbeitrag vor Ihrer Restfraktion profilieren. Anders kann ich Ihren Beitrag hier nicht verstehen.
Ich frage mich — und ich frage dies vor allem Ihren Obmann —,
ob das die Meinung der Verteidigungsgruppe der SPD-Fraktion ist.
Herr Abgeordneter, jetzt sollten erst Sie wieder einmal gefragt werden. Sind Sie damit einverstanden?
Ja, bitte, wenn es mir nicht angerechnet wird.
Ja. — Bitte!
Herr Kollege Nolting, darf ich aus Ihrer Aussage schließen, daß Sie die Feststellung des Wehrbeauftragten über das, was ihm bekanntgeworden ist, seitens der FDP-Fraktion im Sinne einer absoluten Höchstzahl bewerten und daß Sie ausschließen, daß über das Festgestellte hinaus Verstöße und unwürdiges Behandeln von Menschen in der Bundeswehr stattgefunden haben?
Herr Heistermann, was Sie hier vorgetragen haben, war eine pauschale Verunglimpfung sämtlicher Vorgesetzten in der Bundeswehr. Anders kann ich das nicht bezeichnen.
— Ja, das sollte man wirklich fragen. Ich frage auch jene SPD-Abgeordneten, die selber Vorgesetzte in der Bundeswehr waren, wie sie zu den Ausführungen ihres Kollegen Heistermann stehen.
In diesem Zusammenhang erachte ich es auch noch als wichtig, daß unsere Soldaten, vor allem die Wehrpflichtigen, über ihre Beschwerderechte von den Vorgesetzten umfassend informiert werden. Es macht
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3505
Nolting
mich fürwahr nachdenklich, daß wir eine abnehmende Zahl der Antragsverfahren nach der Wehrbeschwerdeordnung haben. Ich frage mich allerdings auch, was da zu tun ist. Ich meine, daß das Vertrauensverhältnis insgesamt zwischen Vorgesetzten und Soldaten und umgekehrt zwischen Soldaten und Vorgesetzten verbessert werden muß. Denn im Gegensatz zu dem Rückgang der Zahl der Beschwerden nach der Wehrbeschwerdeordnung haben wir ja die relativ hohe Zahl von 8 600 Eingaben an den Wehrbeauftragten. Wir alle, auch Sie als Abgeordnete, bekommen ja direkte Anfragen von den Soldaten. Hier muß wirklich gefragt werden: Womit hat diese Konkurrenz der Beschwerdewege zu tun? Ich frage mich allerdings auch: Ist es nicht vielleicht spektakulärer, sich direkt an den Wehrbeauftragten oder an einen Abgeordneten zu wenden? Oder entsteht bei den Soldaten die Frage, ob dieser Weg nicht mehr verspricht?
Ich denke, daß wir uns einmal überlegen sollten — auch im Ausschuß — , ob die Wehrbeschwerdeordnung reformiert werden muß. Ich denke an mehrere einzelne Punkte, bis hin zur Neugliederung des Gesetzes. Als novellierungsbedürftig sehe ich z. B. die Beschwerdefrist an; sie beträgt zur Zeit 14 Tage. Hier ist die Frage, ob sie nicht auf drei oder vier Wochen verlängert werden könnte, und das ab Bekanntwerden des Beschwerdegrundes für den Beschwerdeführer. Wir sollten auch über die aufschiebende Wirkung der Beschwerde nachdenken, außer natürlich bei Befehlen. Ich glaube, daß wir uns da auch einig sind.
Ich möchte auch die Zulassung des Vertrauensmannes als Vermittler bei Beschwerden gegen persönliche Kränkungen nennen. Ich bin während meiner Bundeswehrzeit selbst Vertrauensmann gewesen, kenne die Arbeit des Vertrauensmannes und würde dies ausdrücklich begrüßen.
Zu überlegen wäre auch, ob das Truppendienstgericht statt — wie bisher — mit einem mit mehreren Berufsrichtern und Soldaten als ehrenamtliche Richter besetzt werden könnte. Nicht einzusehen ist auch, warum die meisten Verfahren auf schriftlichem Wege abgewickelt werden.
Ich möchte als weiteren Punkt die Einführung einer Berufungsmöglichkeit gegen die Entscheidung des Truppendienstgerichtes nennen. Auch dies hat es bisher nicht gegeben. Nachzudenken wäre auch über eine Kostenerstattung der außergerichtlichen Kosten des Soldaten.
Meine Damen und Herren, ich habe hier nur einige Punkte genannt. Ich bin sicher, daß die Novellierung der Beschwerdeordnung dazu führen wird, daß der Beschwerdegang wieder mehr beschritten, der Wehrbeauftragte so in seiner Arbeit entlastet wird und sich auf die wesentlichen Punkte konzentrieren kann.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf einen weiteren Punkt im Bericht des Wehrbeauftragten eingehen, auf den politischen Unterricht bei der Truppe. Es ist nicht einsehbar, daß im Bereich der politischen Bildung neue Vorschriften erst 1988/89 in Kraft treten sollen. Das erscheint uns als zu spät. Auch Bildungsinhalte, so erfahre ich aus der Truppe, sollten hin und wieder überprüft werden.
Lassen Sie mich zum Abschluß zu einem weiteren Punkt kommen: Wir begrüßen es ausdrücklich, daß eine Verbesserung der Beteiligungsrechte der Vertrauensmänner vorgenommen werden soll. Beim Thema Reservistenkonzeption geht meine Fraktion davon aus, daß der vorgegebene Zeitplan auch wirklich eingehalten wird. Wir hoffen, daß auch die im Bericht aufgezeigten Mängel in anderen Bereichen schnell beseitigt werden.
Frau Schilling, ich muß zwar auf meine Zeit achten, aber ich habe noch ein bißchen. Darum möchte ich jetzt noch kurz auf Ihren Beitrag eingehen.
Wer den Verteidigungsminister und den Verteidigungsausschuß als kriegssüchtig bezeichnet, wer behauptet — so wie Sie es hier heute wieder getan haben — , die Bundeswehr bereite einen Krieg vor, der disqualifiziert sich, so glaube ich, selbst.
Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Die Bundeswehr muß üben, um nicht kämpfen zu müssen.
Ich kann für meine Fraktion, Frau Schilling, hier feststellen: Diese Bundeswehr — Sie sollten zuhören — leistet Friedensdienst, diese Bundeswehr verteidigt unsere und auch Ihre Freiheit, Frau Schilling.
Wenn es die Bundeswehr nicht gäbe, könnten Sie diese Aussagen, die Sie hier heute gemacht haben, hier in diesem Parlament nicht vortragen.
Ich komme zum Abschluß, Herr Präsident: Für meine Fraktion möchte ich Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihren Mitarbeitern für Ihren Bericht noch einmal danken. Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für die Aufmerksamkeit zu dieser späten Stunde.
Das Wort hat der Abgeordnete Leidinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe den Kollegen Heistermann nicht in Schutz zu nehmen.
Ich möchte mich aber dagegen verwahren, daß Sie das hier so pauschal darstellen. Man muß — diese Kritikfähigkeit muß auch unsere Bundeswehr ertragen können; da ist sie zu empfindlich — Mißstände
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Leidinger
dort, wo sie auftreten, nicht nur ansprechen, sondern auch unnachsichtig ausmerzen.
Das ist, glaube ich, selbstverständlich. Nicht mehr und nicht weniger hat der Kollege Heistermann gesagt.
Herr Abgeordneter, die Wünsche nach Zwischenfragen summieren sich. Ich werde sie Ihnen nicht auf die Zeit anrechnen; damit das klar ist. Nun können sie entscheiden.
Ich würde dem Herrn Staatssekretär natürlich gern die Möglichkeit geben.
Nein, in dieser Position ist es der Abgeordnete Würzbach.
Auch als Abgeordnetem, natürlich.
Herr Kollege Leidinger, ich bedanke mich und frage Sie: Wie beurteilen Sie es als ein Mitglied des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages, als ein Mann, der die Bundeswehr kennt, wenn hier von dem Sprecher einer Partei im Deutschen Bundestag an Hand von einigen wenigen zu verurteilenden und nicht zu leugnenden Beispielen pauschal alle Soldaten in der Bundeswehr, besonders alle Vorgesetzten, in einer unfairen, unrichtigen und undemokratischen Form verurteilt werden? Uns interessiert, wie Sie das beurteilen.
Herr Kollege Würzbach, genau das hat der Kollege Heistermann nicht getan.
Er hat ausdrücklich zwischen dem, was in der Bundeswehr zu würdigen ist, und dem, was auch konkret anzusprechen ist, getrennt, nicht mehr und nicht weniger.
Jetzt möchte ich gerne fortfahren oder, wenn es geht, überhaupt einmal anfangen.
— Herr Biehle, Sie werden noch zu Wort kommen. Es gibt auch noch andere Gelegenheiten.
Frau Schilling, eines muß ich schon sagen: Ihre Bemerkungen sind manchmal herzerfrischend, aber in der Sache gehen sie wirklich an den Themen vorbei. Da haben Sie leider Gottes keine Ahnung. Aber damit möchte ich mich nicht weiter aufhalten.
Ich möchte eine Vorbemerkung machen. Der Bundestag sollte über einen Bericht, der im März des Jahres vorgelegt wird, nicht erst zu Weihnachten debattieren.
Aus dieser Praxis könnte in der Öffentlichkeit ein Stellenwert herausgelesen werden, den wir so nicht wollen.
Mein Vorschlag: In dieser Hinsicht sind gute Vorsätze für das neue Jahr am Platze.
Meine Damen und Herren, wer wie ich die Bundeswehr von außen und von innen kennt, weiß, daß ihr Ruf teils besser, teilweise aber auch schlechter als ihr tatsächlicher Zustand ist. Übertriebene Sorgen brauchen wir uns um die Streitkräfte heute nicht zu machen. Aber neben den hausgemachten Schwierigkeiten und den offenkundigen Versäumnissen der derzeitigen politischen Führung gibt es zunehmend Probleme, die dringend einer Lösung bedürfen. Dies gilt für offene Fragen zur demokratischen Entwicklung der Armee genauso wie für neue Aufgabenstellungen und zukünftige Strukturen. Hier läßt die Bundesregierung die Soldaten warten, ja ich möchte sagen: eigentlich im Stich. Das ständige Verschieben überfälliger Entscheidungen — von der Dienstzeitregelung über die zukünftige Streitkräftestruktur bis hin zur Reservistenkonzeption — demotiviert und verunsichert aktive Soldaten und die Reservisten.
Herr Bundesminister, ich bin eigentlich empört darüber, daß Sie heute nachmittag einem kranken Admiral und dem Heer pauschal die Verantwortung dafür zuschieben, daß Sie die Planungskonferenz, die für den 17. Dezember dieses Jahres in Ihrem Hause vorgesehen war, heute wieder einmal haben platzen lassen. Das bestätigt genau diese Hinhalte- und Schiebetaktik, von der ich gerade gesprochen habe.
Hinzu kommen als weiterer Ballast eine ständige Überfrachtung mit zusätzlichen Aufgaben aus über 30jährigem Routinedienstbetrieb und viele bürokratisch angehäufte Hemmnisse, die zu Mühlsteinen der Effizienz geworden sind. Zunehmend kommen persönliche Ängste und Sorgen hinzu. Dies alles hinterläßt Spuren im inneren Gefüge der Armee.
Ich möchte allerdings ausdrücklich anerkennen, daß in unserer Bundeswehr viele qualifizierte Offiziere und Unteroffiziere Dienst tun. Sie sorgen immer noch mit Engagement für einen hohen Leistungsstand, die entsprechende Motivation und eine zeitgemäße Menschenführung in der Truppe.
— Das sage ich ja. Das will ich auch so dargestellt wissen. Das sage ich auch mit aller Betonung, Herr Kollege Würzbach. Aber die Medaille hat auch eine Kehrseite, und diese darf weder zerredet noch verharmlost werden. Diese Kehrseite zeigt im Bereich der Inneren Führung leider immer noch deutliche Defizite auf. Nach 32 Jahren Bundeswehr sind das keine Geburtsfehler mehr. Heute sind dies entweder Systemfehler, oder es ist schlicht anhaltend falsches Führungsverhalten. Dies darf weder bagatellisiert noch sollte es dramatisiert werden.
Vielmehr ist eine konsequente Korrektur der auftretenden Mißstände notwendig.
Es reicht uns Sozialdemokraten — Herr Wehrbeauftragter, ich muß Sie hier persönlich ansprechen —
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3507
Leidinger
nicht, wenn Sie in der Stellungnahme des Beirats für Fragen der Inneren Führung beim Ansprechen von Grundrechtsverletzungen damit zitiert werden, daß Sie — so wörtlich — mehr Licht als Schatten sehen.
Das sprichwörtliche Bild von Licht und Schatten ist so nicht hinnehmbar. Wenn die Bundeswehr eine wohlgeführte Armee ist — und das will ich ihr insgesamt ausdrücklich bescheinigen — , darf es diese Schatten heute nicht mehr geben. Schatten, die Jahr für Jahr exemplarisch nachweisen, daß es bei der Umsetzung der Grundsätze der Inneren Führung doch immer noch deutliche Defizite gibt: Bei der Menschenführung, bei der Fürsorge, in der praktischen Ausbildung und beim Umgang miteinander und untereinander, also bei dem, was man allgemein „Betriebsklima" nennt.
Meine Damen und Herren, es gibt deutliche Anzeichen dafür, daß der Ton insgesamt rüder, der Umgang hemdsärmeliger und auch das Führungsverhalten von Vorgesetzten teilweise rücksichtsloser werden. Bilden sich hier, nicht nur bei den Wehrpflichtigen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Subkulturen in den Streitkräften, die wir so nicht hinnehmen können?
Wir Sozialdemokraten erwarten hier von der politischen und militärischen Führung der Bundeswehr konsequentes Handeln.
Auch wenn der Herr Wehrbeauftragte im Bereich der Grundrechtsverletzungen, also bei den sogenannten Schindereien und Schikanen, bei über 8 000 Fällen von nur 3 % spricht, stellt sich für uns trotzdem die Frage: Ist dies tatsächlich alles oder nur die berühmte Spitze des Eisberges? Wie hoch ist dann die Dunkelziffer? Es wird sie geben. Ich möchte das, wie ich schon angesprochen habe, nicht dramatisieren, aber deutlich feststellen.
Lassen Sie mich dazu bitte ein Beispiel nennen, auch wenn Sie, Herr Wehrbeauftragter, darauf verzichtet haben. Ich muß es nennen, weil es mich betroffen gemacht hat. Was würden Sie sagen, meine Damen und Herren, wenn Ihr Sohn in die Kaserne zur Grundausbildung käme und dort durch seinen Zugführer mit der schwachsinnigen Bemerkung begrüßt würde: Meine Freunde nennen mich Stinky, aber ich habe keine Freunde. — Das ist so geschehen in einer Einheit in Niederbayern, wo die Welt doch angeblich noch in Ordnung ist. Das ist so geschehen in einer Kompanie, in der offensichtlich, Herr Biehle, durch ein völlig überzogenes Elitedenken seit Jahren eine Wehrpflichtigengeneration nach der anderen schikaniert wurde.
Der Herr Wehrbeauftragte hat diesen Fall vor wenigen Tagen persönlich überprüft, und ich danke ihm dafür.
Ich möchte in kurzen Auszügen den Leserbrief eines ehemaligen Soldaten zitieren, der in diesen Tagen in der „Passauer Neuen Presse" veröffentlicht wurde. Er macht mich betroffen.
Mit großer Genugtuung lese ich diesen Bericht, denn ich dachte immer, die Gemeinheiten der Luftlander werden immer verborgen bleiben. Denn es kann sich nur der vorstellen, der wie ich
dort seinen Wehrdienst abgeleistet hat, wie menschenunwürdig man dort behandelt wird.
An anderer Stelle heißt es, ich zitiere wiederum
— Herr Biehle, es wäre ja Gelegenheit gegeben, mit Herrn Heistermann den Besuch zu machen, den Sie ja für nächstes Jahr angekündigt haben;
— bitte schön, fragen Sie den Herrn Wehrbeauftragten —:
Es bleibt zu hoffen, daß jetzt ernsthafte Konsequenzen gezogen werden, daß diejenigen, die jetzt drinnen sind, und die, die später reinkommen, eine schönere Wehrzeit haben als wir.
Meine Damen und Herren, ich will dies ganz bewußt nicht verallgemeinern, aber ich will das aus einer persönlichen Betroffenheit heraus ansprechen. Wir erwarten deshalb von Ihnen, Herr Bundesminister, daß Sie die vorhandenen und starken Selbstreinigungskräfte der Bundeswehr auffordern, die Kräfte der Restauration endlich zurückzudrängen.
Es sind schließlich unsere Kinder, die in die Kasernen gehen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen Bereich ansprechen, der mir als Sozialdemokrat besonders wichtig ist. Ich meine das, was man als Tradition und Traditionspflege versteht. Die Absicht des Bundesministers der Verteidigung, einen neuen Traditionserlaß durchzusetzen, ist ja, Gott sei Dank, vor Jahren schon gründlich schiefgegangen. Der Beirat zu Fragen der Inneren Führung hat sich dazu ja sehr deutlich geäußert.
Bis heute wurden die erlassenen Richtlinien offziell nie geändert. Unterschwellig aber wird in der Praxis ein neues Denken spürbar — das kann ich auf Grund von vielen Beispielen berichten — , ein Denken, das konservativ, ja restaurativ ist und das sich zunehmend auf rein militärische Tugenden beschränkt. Ein verengtes Denken, das Verhaltensweisen von Soldaten im Zweiten Weltkrieg militärisch verherrlicht, ohne es politisch zu werten. Beispiele dafür gibt es auch in jüngster Zeit genug; der Kollege Heistermann hat zwei angesprochen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich sind auch Offiziersheime wirklich nicht dazu da, neue Bücher über Ritterkreuzträger des Zweiten Weltkriegs vor 200 Ehrengästen zu präsentieren.
Das kann doch nicht die Tradition unserer Bundeswehr sein!
Soldatische Tugenden haben zweifellos ihren Stellenwert, sie sind den Grundwerten unserer Gesellschaft aber absolut unterzuordnen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zwei Themen ansprechen.
Erstens: die Dienstzeitbelastung und ihre Regelung.
Die Bundeswehr bewirtschaftet ihre Ressourcen nach Richtlinien. Das gilt für das Material, das Geld und für Verbrauchsgüter wie Betriebsstoffe, Ersatz-
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Leidinger
teile und Munition. Nur eines bewirtschaftet sie nicht: die Zeit ihrer Soldaten. Im Gegenteil, es ist üblich, Schwierigkeiten, Engpässe oder Sonderaufgaben durch Personal und den Faktor Zeit zu regeln.
— Ja, das ist alles richtig, Herr Kollege Würzbach. Es ist besser, aber da ist noch viel zu tun.
Der Soldat wird zur disponiblen Verfügungsmasse. Dies macht die Armee auf Dauer kaputt, und es schadet, wie wir wissen, ihre Attraktivität für die kommenden schwierigen Jahre. Wir Sozialdemokraten forden deshalb die gesetzliche 40-Stunden-Woche für die Bundeswehr. Notwendiger Zusatzdienst muß voll durch Freizeit und notfalls durch Bezahlung ausgeglichen werden.
Wir werden dazu übrigens einen Gesetzentwurf einbringen.
Herr Abgeordneter Leidinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Nolting?
Bitte schön, aber ich will noch einen Satz dazu sagen; dann kommen Sie, Herr Nolting. — Das ist unser Kernsatz dazu: Wir wollen den Ermessensspielraum der Vorgesetzten durch den Rechtsanspruch der Soldaten ersetzen.
— Nein, kein Schematismus.
Herr Abgeordneter Nolting, jetzt haben Sie die Möglichkeit, Ihre Zwischenfrage zu stellen.
Danke schön, Herr Präsident. — Herr Kollege Leidinger, entsprechen die Bilder, die Sie hier gerade gezeichnet haben, wirklich Ihren Erfahrungen, die Sie als Offizier mit der Bundeswehr gemacht haben?
Ich weiß nicht, welche Bilder Sie meinen. Aber, Herr Nolting, ich sage Ihnen eines: Ich habe 25 Jahre in dieser Armee gedient. Ich habe das gerne getan. Ich habe sehr viele positive Erfahrungen, auch manche negative. Ich habe hier sicher kein überzeichnetes Bild entworfen. Ich sage noch einmal: Die Bundeswehr darf nicht so empfindlich sein. Sie muß sich auch eine gewisse Kritikfähigkeit bewahren. Das würde ihr nur guttun.
— Nein, Herr Ronneburger, das ist keine Pauschalierung.
— Frau Schilling, ich möchte jetzt fortfahren und zu Ende kommen; ein bißchen Zeit habe ich noch.
Ein zweiter Punkt ist mir wichtig: Reservisten in den Streitkräften.
Meine Damen und Herren, Probleme aus dem Bereich der Reservisten beschäftigen den Herrn Wehrbeauftrageten zunehmend. Häufig falsch eingesetzt, den aktiven Soldaten gegenüber meist unterlegen, überfordert und mit persönlichen Problemen durch Arbeitgeber und Familie belastet, dienen sie teilweise in jährlichem Rhythmus. Die Mehrheit kommt immer noch gerne. Ihre Erfahrungen sind aber häufig schlecht. Gestandene Familienväter mit hohen beruflichen Qualifikationen werden immer wieder als Lükkenbüßer eingesetzt.
Das nun geplante neue Reservistenkonzept mit einer mehrfachen Belastung wird die Probleme dramatisch verschärfen. Dies gilt für die aktive Truppe und für die Reservisten. Wir Sozialdemokraten fordern den Bundesminister der Verteidigung, Herrn Kollegen Wörner, auf, endlich eine Reservistenkonzeption vorzulegen, die auf einer defensiven Strategie aufbaut, zukünftige Streitkräftestrukturen beinhaltet und auf realistischen Umfangszahlen basiert.
Meine Damen und Herren, ich habe zum Schluß zwei Bitten.
Unterstützen wir die Soldaten — das ist mir jetzt sehr wichtig — , die ein politisches Mandat haben oder anstreben! Lassen wir nicht zu, daß sie dienstlichen Repressalien unterliegen! Sorgen wir dafür, daß sie sich auch in dieser Weise als Staatsbürger verwirklichen können! Vielen — vor allem denjenigen, die ein kommunalpolitisches Mandat haben — hängt das Mandat — das weiß ich aus eigenem Erleben — dienstlich wie ein Mühlstein um den Hals.
Zweite Bitte: Nehmen wir das Weisungsrecht des Bundestages ernst. Es wurde bisher vom Parlament nie ausgeübt, auch vom Verteidigungsausschuß nur äußerst selten. Schließlich war dies ursprünglich der Kernbereich der Aufgabenstellung für den Wehrbeauftragten. Wir alle sollten unserer Aufgabe auch in diesem Punkt gerecht werden.
— Bitte sehr.
Herr Abgeordneter, ich meine, ich bin damit einverstanden. Nur der guten Ordnung halber: Erstens steht es dem Präsidenten zu, zweitens ist Ihre Redezeit abgelaufen.
— Da ich annehme, daß es eine Ihrer ersten Reden ist, will ich dieser Bitte entsprechen.
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Vizepräsident Cronenberg
Herr Kollege Biehle, Sie haben die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Ich will es auch sehr kurz machen, Herr Präsident. — Herr Kollege, Sie haben den Bereich der Reservisten angesprochen und gefordert, daß möglichst bald etwas geschieht. Darf ich Sie darüber informieren, daß dieses neue Reservistenkonzept laut heutiger Absprache zwischen dem Ministerium und dem Ausschuß am 20. Januar im Verteidigungsausschuß beraten werden kann?
Herr Kollege Biehle, auch Sie sollten die Antwort — der Form des Hauses entsprechend — stehend entgegennehmen.
Herr Kollege Biehle, über diese Ankündigung freue ich mich. Ich warte darauf auch sehnsüchtig. Ich hoffe, daß wir ein Konzept bekommen, das das erfüllt, was ich vorher angesprochen habe.
Über den ausgesprochenen Dank hinaus wollen wir Sie, Herr Wehrbeauftragter, in Ihrer Aufgabe bestätigen und bestärken. Wir unterstützen Ihre bisherige Auftragserfüllung nachdrücklich. Die Bundesregierung aber fordern wir auf, den Bemerkungen des Herrn Wehrbeauftragten mit Konsequenz nachzugehen, die Mängel endlich zu beseitigen und berechtigte Anliegen der Soldaten zu erfüllen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und bitte für die eine Minute um Entschuldigung.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Der abgewogene und eindringliche Bericht des Wehrbeauftragten ist eine Hilfe, eine Hilfe auch und gerade für den Bundesminister der Verteidigung, für die politische wie für die militärische Führung der Bundeswehr. Dieser Bericht mag manche enttäuscht haben, die es lieben, spektakuläre Einzelfälle zu verallgemeinern und die Streitkräfte an einen Platz zu stellen, an den sie nicht gehören.
Lieber Herr Heistermann, ich habe mich einen Moment verblüfft gefragt, ob das der Heistermann ist, den ich aus langjähriger Zusammenarbeit kenne,
und ob das, was Sie hier ausgeführt haben, wirklich die Meinung auch Ihrer Fraktion und Partei ist. Ich schließe mich dem Herrn Nolting an: Sie müssen den Bericht des Wehrbeauftragten nicht gelesen oder jedenfalls nicht verstanden haben, denn genau das Gegenteil dessen, was Sie hier an Horrorgemälden und Verallgemeinerungen zum besten gegeben haben,
steht als Bewertung im Bericht des Wehrbeauftragten.
Ich habe mir auch die Gesichter Ihrer Fraktionsfreunde während Ihres Vortrages angesehen, und am Schluß habe ich mich dann doch darüber gewundert, daß dafür auch noch Beifall kam. Es ist ja sehr schön, wenn man mit einem Kollegen solidarisch ist; nur geht eines natürlich nicht, und das sage ich jetzt mit vollem Ernst:
Wenn Sie das wirklich repräsentativ für Ihre Partei und Fraktion gesagt haben, dürfen bei den zahllosen Konferenzen, die Sie mit Recht — legitimerweise — mit Soldaten in der Bundeswehr veranstalten, Ihr Fraktions- und Parteivorsitzender und andere Kollegen nicht mehr so wie bisher zur Bundeswehr reden. Zwischen dem, was sie dort sagen, und dem, was Sie uns hier heute über die Bundeswehr erzählt haben, klafft ein unüberbrückbarer Widerspruch. Entweder das eine gilt oder das andere. Wenn das, was Sie, Herr Heistermann, gesagt haben, wahr ist, dann sagen Sie den Vorgesetzten in der Bundeswehr bei Ihren Festtagungen auch einmal das, was Sie hier ausgeführt haben; Sie werden dann das Echo darauf bekommen, und zwar mit Recht.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Horn?
Bitte, selbstverständlich.
Ich wollte mich eigentlich nicht melden, Herr Minister, aber würden Sie die Tugend, die Sie vorhin Herrn Heistermann abgefordert haben, sich selbst zu eigen machen, nämlich hier nicht zu pauschalieren, sondern ganz konkret auf zwei oder drei Fälle einzugehen, die von Herrn Heistermann angesprochen worden sind, um dann vorzuführen, daß das nicht korrekt sei?
Lieber Herr Kollege Horn, ich habe gerade zu differenzieren versucht,
und ich hätte das nicht als repräsentativ genommen, wenn ich nicht den Beifall gesehen hätte, den Sie — Sie persönlich und Ihre Kollegen — diesen Ausführungen gespendet haben.
Ich darf es jetzt noch einmal sagen und mich dann allerdings anderen Dingen zuwenden: Die Einzelfälle hat der Wehrbeauftragte genannt. Jeder dieser Einzelfälle ist einer zuviel. Da gibt es zwischen uns überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten. Was wir an Ihnen und Ihren Ausführungen hier beanstanden, ist etwas ganz anderes: daß Sie entgegen dem Bericht des Wehrbeauftragten aus diesen Einzelfällen ein verallgemeinerndes abwertendes Urteil über die Bundes-
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Bundesminister Dr. Wörner
wehr und ihre Vorgesetzen schlechthin abgeleitet haben. Das läßt sich im Protokoll nachlesen.
Herr Leidinger, wenn ich dann höre, Kräfte der Restauration wollen Sie entdeckt haben, kann ich nur sagen: Herr Leidinger, Sie sind offensichtlich das Opfer von Halluzinationen geworden.
Ich kann Ihnen nur raten, Ihre Halluzinationen nicht für die Wirklichkeit der Bundeswehr zu nehmen. Die ist Gott sei Dank eine ganz andere. Das muß gesagt werden.
Es gibt für uns überhaupt keinen Anlaß, ein Bild der Bundeswehr zu zeichnen, das vorrangig die Mängel herausstellt und damit die Leistungen und Erfolge verfälscht, die unsere Soldaten Tag für Tag vor Ort erzielen.
Ich habe mit Freude gelesen, daß der Wehrbeauftragte das hohe Engagement von Offizieren und Unteroffizieren herausstellt, ihren Einsatz und Leistungswillen auch weit über die normale Dienstzeit hinaus, ihre Bereitschaft, sich den schwierigen Herausforderungen immer wieder aufs neue zu stellen. Gleiches Lob und gleiche Würdigung verdient die Pflichterfüllung unserer Grundwehrdienstleistenden und der Reservisten.
Bei aller notwendigen Auseinandersetzung über Einzelfragen bitte ich Sie alle sehr herzlich,
diese Leistungen, diese Einsatzbereitschaft und auch diese Erfolge unserer Bundeswehr, unserer Vorgesetzten, unserer Soldaten nicht zu vergessen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder, und Sie auch, Herr .. .
Auf die Aufforderung, diese Äußerung zurückzunehmen, sagte er:
Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe, weil jeder Soldat ein potentieller Mörder ist und weil Sie Soldat sind.
Und dieser Mann fügte dann hinzu:
Bei der Bundeswehr gibt es den Drill zum Morden über 15 Monate lang, besonders in den ersten drei Monaten.
Und er sagte dann noch einmal:
Für Sie zum Mitschreiben, Herr ...: — gemeint war der Jugendoffizier —
Die Bundeswehr bildet zum Morden aus, insbesondere in den ersten drei Monaten. So, und jetzt gehen Sie doch vor Gericht! Ich freue mich schon darauf.
Daß dies straflos bleiben soll, heiße ich unerträglich.
Das ist ein grober Verstoß gegen jedes Gerechtigkeitsempfinden.
— Frau Schilling, verschonen Sie uns doch mit diesen deplacierten Bemerkungen, die Sie im Verteidigungsausschuß in Fülle abgeben!
Ich sage: Die Soldaten der Bundeswehr erfüllen einen Verfassungsauftrag.
Sie entsprechen einer gesetzlichen Pflicht,
die dieser Bundestag erlassen hat. Dafür steht dieser Bundestag. Und jeder muß wissen, daß dies auch eine Beleidigung des Deutschen Bundestages und das heißt des Souveräns des deutschen Volkes ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?
Nein, nicht von dieser Seite.
Bevor Sie fortfahren, möchte ich der Abgeordneten Schilling einen Ordnungsruf erteilen wegen ihres Zwischenrufes, der alles andere, nur nicht parlamentarisch ist.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3511
Unsere Soldaten dienen dem Frieden. Sie schützen die Freiheit, auch die Freiheit einer unabhängigen Rechtsprechung. Ich sage nur: Wo kämen wir hin, wenn jedermann straflos diese Soldaten als Schwerstverbrecher beschimpfen dürfte? Wir werden jedenfalls nicht zulassen, daß die Soldaten der Bundeswehr ins Abseits gestellt werden.
Und ich frage mich: Wo bleibt der Aufschrei der Medien? Wo bleibt der Aufschrei der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung? Stellen Sie sich einmal vor, das wäre in Frankreich, in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten von Amerika oder auch in der Schweiz passiert! Ich kann nur sagen: Wir dürfen nicht zulassen, daß das etwa Schule macht.
— Wir hoffen sehr darauf, ja ich sage: ich vertraue darauf, daß die Revisionsinstanz dies korrigieren wird.
Meine Damen und Herren, gerade deshalb, weil spektakuläre Einzelfälle nicht im Mittelpunkt des Berichts stehen, fällt es leichter, sich auf drei wichtige Felder zu konzentrieren,
in denen gehandelt wurde, und in denen weiterer Handlungsbedarf besteht. Das Wichtigste ist für mich ein Klima der Kameradschaft und der Menschlichkeit in den Streitkräften. Der Wehrbeauftragte hat festgestellt, daß Grundrechtsverletzungen nicht zur Tagesordnung der Bundeswehr gehören. Nur drei Prozent — das wurde schon gesagt — der Eingaben befassen sich damit. Ich lege größten Wert darauf, daß unsere jungen Soldaten die Rechte, die sie verteidigen, in den Streitkräften selbst erleben. Deshalb habe ich die Ausbildung in der Menschenführung verstärken lassen. Deshalb habe ich den Ausbildungsgang der Offiziere ändern lassen. Deshalb habe ich Ausbildungshilfen erarbeiten lassen. Deshalb wurde das Beurteilungssystem geändert. Deshalb habe ich alle Verantwortlichen angewiesen, bei der Auswahl von Führern und Unterführern den Fähigkeiten zur Menschenführung besonderes Gewicht zu geben.
Wir brauchen Vorgesetzte, die sich ihren Soldaten persönlich stellen, auch wenn dies manchmal unbequem ist. Wir brauchen Vorgesetzte, die gesprächsbereit und für Anliegen und Fragen ihrer Untergebenen offen sind. Es geht darum, unseren jungen Soldaten den Sinn ihres Dienstes nicht nur mit Worten zu erklären, sondern Tag für Tag im Alltag erleben zu lassen.
Ich habe im übrigen durchaus den Eindruck, daß unsere Soldaten ihre Rechte kennen und selbstbewußt wahrnehmen. Die Eingaben an den Wehrbeauftragten, zum Teil natürlich auch als Folge unserer intensiven Aufklärungsarbeit, sprechen nicht zuletzt für dieses Selbstbewußtsein.
Das zweite wichtige Handlungsfeld ist eine fordernde Ausbildung für unsere jungen Soldaten.
Besondes wichtig ist für mich das dritte, die Fürsorge und die soziale Verantwortung für unsere Soldaten und ihre Familien. Hier hat die Regierungskoalition auch in Zeiten knapper Kassen Zeichen gesetzt. Hier nur einige Beispiele: Wir haben den Wehrsold, das Weihnachts- und das Entlassungsgeld dreimal erhöht. Wir haben die Unterhaltssicherheitsleistungen ganz deutlich angehoben.
Wir haben die Berufsförderung verbessert und unterstützen auch Wehrpflichtige bei der Arbeitssuche. Wir haben die Zeitsoldaten gegen Arbeitslosigkeit versichert. Wir haben die finanziellen Leistungen im Reisekosten- und Umzugskostenrecht deutlich angehoben und damit die Folgelasten von Versetzungen gemildert. Wir haben Jahr für Jahr zusätzliche Planstellen für Soldaten zur Milderung des Verwendungsstaus und zur Wahrnehmung neuer Aufgaben entgegen dem sonstigen Trend im öffentlichen Dienst bereitgestellt. Wir haben Stellenbörsen zur Vermittlung ausscheidender Zeitsoldaten bei den Wehrbereichsverwaltungen eingerichtet. Nicht zuletzt haben wir die Zahl der Zeitsoldaten Jahr für Jahr erhöht, 14 000 zusätzliche Unteroffiziere gewonnen.
Insgesamt ist der Anteil der Personalausgaben in den Haushalten von Jahr zu Jahr angewachsen. Das macht den Schwerpunkt unseres Handelns besonders deutlich.
Nun haben Sie, Herr Kollege Leidinger, die Bundeswehrplanung angesprochen. Ich hatte gestern im Verteidigungsausschuß begründet, warum diese Planungskonferenz nicht etwa abgesagt, sondern auf einen anderen Termin verschoben wurde. Sie werden es dem Bundesminister der Verteidigung nicht verübeln können, daß er wartet, bis sein Planungsbeauftragter, der Generalinspekteur der Bundeswehr, zugegen ist, wenn er Entscheidungen trifft, die für das ganze nächste Jahr und das nächste Jahrzehnt von entscheidender Bedeutung sind. Ich jedenfalls lasse mich hier nicht unter Zeitdruck setzen.
Noch ein Wort zur Dienstzeitbelastung. Sie entsteht nicht durch normalen Garnisonsdienst, sondern durch Wach- und Bereitschaftsdienste, Übungen, Übungsplatzaufenthalte, durch Seefahrt und Ausbildung im Ausland. Mit der 40-Stunden-Woche, wenn Sie sie gesetzlich festlegen, haben Sie gar nichts erreicht. Das wissen Sie so gut wie ich. Im übrigen frage ich Sie, wenn das so ist, warum sich meine Vorgänger, die Herren Schmidt, Leber, Apel, warum sich alle geweigert haben,
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Bundesminister Dr. Wörner
mit guten Gründen, die 40-Stunden-Woche per Gesetz als Dienstzeitregelung zu verankern. Wir haben mit der Verringerung von Übungen und Übungsplatzaufenthalten, Änderungen im Übungsrhythmus, Verringerung der Tage auf See, Änderungen beim Schichtdienst und ähnlichem mehr die Dienstzeitbelastung bereits abgesenkt. Wir werden weitermachen, wir streben planbare Freizeit an, und der Grundsatz gilt: Erst muß der Versuch gemacht werden, Dienstzeit zu senken — das ist das Wichtigste — , planbare Freizeit einzuführen und den Rest dann individuell und gerechter finanziell zu vergüten. Diese geplante Neuregelung, Herr Wehrbeauftragter, ist nicht nur vorbereitet, sie wird in Kraft gesetzt werden, und ich hoffe sehr, daß sie dann auch gerecht beurteilt wird. Der Beirat für innere Führung hat dies anerkannt, unserer beabsichtigten Neuregelung ausdrücklich zugestimmt, und ich kann nur sagen: Die Polemik, die von einem bestimmten Verband gegen diese Regelung entfacht wird, hat mit der Wirklichkeit dieser Regelung nichts zu tun.
Herr Wehrbeauftragter, zum Schluß möchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern ausdrücklich danken. Innere Führung und die Beachtung der Menschenrechte ist unser gemeinsamer Auftrag. Wir versuchen, ihm gerecht zu werden, und ich bin sicher, daß Sie und wir alle bei diesem Versuch die Unterstützung des Parlaments finden werden.
Schönen Dank.
Bevor ich über die vorliegende Beschlußempfehlung abstimmen lasse, erteile ich dem Abgeordneten Leidinger zu einer persönlichen Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe zwar, wie ich auch in meiner Rede gesagt habe, 25 Jahre unter sechs Verteidigungsministern gedient und bin jetzt Abgeordneter dieses Hauses, aber ich lasse es nicht zu — auch nicht durch den derzeitigen Bundesverteidigungsminister — , hier als ein Mensch bezeichnet zu werden, der einen psychiatrischen Krankheitstatbestand sein eigen nennt, wenn ich das mit den „Halluzinationen" mal so umschreiben darf.
Herr Bundesminister — „Herr Kollege" sage ich so lange nicht mehr zu Ihnen, bis Sie sich bei mir entschuldigt haben — , ich glaube, das ist keine Art, auch als Minister mit einem Abgeordneten, der das Wort genommen hat, umzugehen.
Ich möchte erklären, daß ich persönlich betroffen bin und daß ich diesen Vorwurf auf das Äußerste mit aller Deutlichkeit zurückweise.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 11/1131 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Meine Damen und Herren, bevor ich zum nächsten Tagesordnungspunkt komme, möchte ich dem Abgeordneten Wimmer wegen seines Zwischenrufes einen Ordnungsruf erteilen.
— Entschuldigung.
— Nein. Machen Sie es mir nicht schwerer; sonst müßte ich zwei Ordnungsrufe erteilen. Der Ordnungsruf ist also dem Abgeordneten Dr. Wittmann erteilt.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1988
— Drucksache 11/1000 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 11/1431 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Niegel Müller
Nach einer Vereinbarung des Ältestenrates ist eine Beratung von einer Stunde vorgesehen. — Widerspruch erhebt sich nicht. Wir können mit der Aussprache beginnen. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Niegel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rechtzeitig vor Jahresende liegt uns der neue ERP-Wirtschaftsplan 1988 zur endgültigen Beschlußfassung vor. Erstmals umfaßt dieser Plan über 5 Milliarden DM, und zwar erstmals in der 40jährigen Geschichte dieses Planes, dessen Jubiläum wir in diesem Jahr feiern konnten.
Ich möchte betonen, daß die ERP-Programme ein langfristig angelegtes Förderinstrument zugunsten begrenzter Schwerpunktbereiche unserer Wirtschaft und der Kommunen sind. Es kommt daher darauf an, kontinuierlich und dabei möglichst in angemessenem wachsenden Umfang ERP-Investitionsdarlehen an-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3513
Niegel
zubieten. Das Zinsaufkommen aus diesen Darlehen ermöglicht dieses Wachstum und in diesem Rahmen auch die Aufnahme von Kreditmarktmitteln, die dann zur Programmfinanzierung auf die günstigen ERP-Zinsen verbilligt werden müssen.
In den Himmel aber können die Bäume nicht wachsen. Insbesondere darf es nicht dahin kommen, daß der Programmzuwachs nur noch aus zusätzlichen Kreditaufnahmen finanziert wird oder daß gar der Zinsaufwand für aufgenommene Fremdmittel die Zinseinnahmen übersteigt. Daß dies nicht geschieht, darüber wacht in gutem Einvernehmen mit dem Bundeswirtschaftsminister der ERP-Unterausschuß unseres Wirtschaftsausschusses.
Ich wollte in diesem Zusammenhang an die Bundesregierung die Frage stellen — wahrscheinlich können Sie sie heute nicht beantworten — : Wie wird es künftig sein, wenn die Quellensteuer möglicherweise eingeführt wird? Wie wird sich das dann auf die weitere Entwicklung des ERP-Plans auswirken, wenn Erträge aus dem ERP-Vermögen oder auch Erträge aus den Hauptleihinstituten dann zumindest der 10 %igen pauschalierten Quellensteuer unterliegen? Ich bitte in diesem Zusammenhang, die Sache dahin gehend zu prüfen, daß auf das ERP-Sondervermögen keine negativen Auswirkungen zukommen.
Pläne, die ERP-Förderung zur Ankurbelung um jährlich 10 Milliarden DM aufzustocken, wie man die jetzt wieder zu hören bekommt, sind unter seriösen Finanzierungsgesichtspunkten schlankweg utopisch. Bei einem Auszahlungsbedarf von gut 5 Milliarden DM sind jetzt schon rund 20 % durch neue Kreditaufnahmen zu finanzieren.
Der ERP-Unterausschuß aber betätigt sich keineswegs nur als haushaltsmäßiger Bremser. Er will auch, daß die Finanzierungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. So begrüße ich es als sein Vorsitzender besonders, daß im Entwurf des neuen Wirtschaftsplans das Zusagevolumen nicht einfach um die ausdrücklich auf die Jahre 1986 und 1987 begrenzte Sonderaufstokkung reduziert wurde, sondern daß Kürzungen, wenn sie nicht vermeidbar waren — wovon ich ausgegangen bin — , möglichst klein gehalten wurden. Wenn man bei den Beratungen gewußt hätte, daß es auf drei Jahre ein Sonderprogramm mit der KfW von 15 Milliarden DM geben soll, dann hätte man natürlich die vorgenommene Kürzung nicht hinnehmen müssen; man hätte einen anderen Weg finden können.
Außerdem dränge ich darauf, die ERP-Mittel weitestgehend für kleine und mittlere Unternehmen einzusetzen. Ich meine, die Bundesregierung sollte immer wieder an diese Vorgabe erinnert werden;
denn nur mit seiner Breitenwirkung für den Mittelstand kann der ERP-Fonds effizient eingesetzt werden. Gelangen die Mittel an Großunternehmen oder werden sie für große kommunale Müllverbrennungsanlagen, für umfangreiche Kanalisationsprojekte oder für Schiffsverklappungen eingesetzt, sind sie für einige wenige Fälle schnell verbraucht.
Deshalb ist es richtig, daß von den 4,5 Milliarden DM, die der Planentwurf einschließlich der neuen
Verpflichtungsermächtigungen für 1988 als Zusagevolumen vorsieht, 2,3 Milliarden DM für den Mittelstand bestimmt sind, und zwar können hieraus Investitionsdarlehen bis zu 300 000 DM zu einem Zinssatz von 5,5 % im Bundesgebiet,
im Zonenrandgebiet von 4,5 % und in Berlin von 3,5 % gegeben werden, dazu eine Laufzeit bis zu 15 Jahren, und zwar: erstens Existenzgründer oder Unternehmer, die in einer Gründungsphase von drei Jahren weiter investieren wollen; zweitens Unternehmer, die Betriebe in den Gewerbe- oder Industriegebieten der Gemeinden errichten oder erweitern wollen, und solche, die auf Grund behördlicher Maßnahmen, z. B. öffentlicher Baumaßnahmen oder Umweltschutzauflagen, ihren bisherigen Standort verlagern müssen; drittens Unternehmer, die in den Fördergebieten der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" investieren wollen, wozu auch die Stahl- und die Werftstandorte sowie das Zonenrandgebiet gehören. In allen drei Fällen wird im übrigen für Vorhaben im Zonenrandgebiet ein Zinsvorsprung von 1 % eingeräumt, das heißt, dort kosten — wie ich schon sagte — die Darlehen 4,5 %. Wie die anhaltend starke Nachfrage in diesen drei Förderbereichen zeigt, sind die ERP-Mittel mit großem Multiplikatoreffekt hier richtig eingesetzt.
Sehr zu begrüßen ist, daß auch an der Umweltschutzförderung des ERP-Vermögens der Mittelstand zunehmend partizipiert. Die Nachfrage steigt hier weiter, so daß im kommenden Jahr der auf 420 Millionen DM stark erhöhte Ansatz für Luftreinhalteinvestitionen mittlerer Unternehmen in Betracht kommt. Dabei werden selbstverständlich nicht nur Filter gefördert, sondern auch Einrichtungen oder Anlagen, die den Schadstoffausstoß von vornherein vermeiden.
Der Darlehensbetrag ist in diesem Programm nicht generell begrenzt. Er sollte aber nicht mehr als fünf Millionen DM betragen. Ich halte es auch für richtig, daß zugunsten der Luftreinhaltung die Programme Abwasser und Abfall geringer dotiert wurden. Hier sollte man die Mittel ebenfalls auf den mittleren Unternehmensbereich konzentrieren, was insbesondere für die Abfallwiederverwendung gilt.
Auch ein ernstes Wort dazu: Kein Verständnis hätte ich dafür, wenn z. B. an potente Konzernunternehmen zwecks betrieblicher Abfallbeseitigung 40 bis 50 Millionen DM ERP-Mittel kämen.
Für ERP-Umweltschutzdarlehen gilt ein entsprechender Vorzugszins im ganzen Bundesgebiet von 5 %. Zonenrand und Berlin werden durch Dotationen in entsprechender Weise präferenziert.
Das jetzt in der Diskussion stehende 5-MilliardenProgramm, Kreditangebot für Gemeinden, wird sich an dem ERP-Zins orientieren. Kommunale Umweltschutzinvestitionen gehören zu den Schwerpunkten dieser Finanzierungshilfe. Nachfragen, die mit den ERP-Darlehen nicht gedeckt werden können, finden hier also zusätzliche Mittel. Dieser Aspekt der neuen Maßnahmen — unter dem Tagesordnungspunkt ERP
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Niegel
sollten wir uns darauf beschränken — ist besonders erfreulich.
Noch ein Punkt zum ERP: Die mit rund 700 Millionen DM ausgestattete Förderung von Investitionen in Berlin reicht vom Umfang her aus. Kleine und mittlere Unternehmen fragen etwa ein Drittel dieses Volumens nach.
Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend den Mitarbeitern des ERP-Referats im Wirtschaftsministerium und vor allem auch den drei Hauptleihinstituten — der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der Deutschen Ausgleichsbank und der Berliner Industriebank — recht herzlich dafür danken, daß sie sozusagen als Gerüst für den ERP-Wirtschaftsplan zur Verfügung stehen. Ich hoffe und wünsche, daß die Wirtschaft und die Kommunen von dem Programm 1988 regen Gebrauch machen.
Wir haben den ERP-Wirtschaftsplanentwurf 1988 unter allen diesen Gesichtspunkten im ERP-Unterausschuß und im Wirtschaftsausschuß eingehend beraten. Dieser schlägt mit überwiegender Mehrheit seine Annahme in zweiter und dritter Lesung vor. In diesem Sinne sollten wir den Plan heute verabschieden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus dem ERP-Sondervermögen werden 1988 eine Reihe von vernünftigen Aufgaben finanziert. Herr Niegel hat sie genannt; ich brauche sie nicht noch einmal aufzuzählen. Wir befürworten die Existenz und die Aufgaben des ERP-Sondervermögens, aber wir bedauern, daß die Koalition nicht mehr aus diesem Instrument macht; denn in einem anderen Sinn als unmittelbar nach dem Krieg haben wir auch heute wieder viel aufzubauen.
Uns bedrückt Massenarbeitslosigkeit. Wir müssen die wirtschaftliche Lebensfähigkeit von Regionen, die vom Strukturwandel hart betroffen sind, in einem anderen Sinne wieder aufbauen. Wir müssen die in 30, 40 Jahren stark strapazierte Umwelt sanieren. Deshalb stört uns an dem vorgelegten Haushalt, daß die möglichen Investitionszulagen für den Umweltschutz um 300 Millionen zusammengestrichen worden sind. Das Gegenteil wäre nötig und richtig gewesen.
Alleine über die Deutsche Ausgleichsbank könnten in den nächsten drei Jahren zusätzlich fast 4 Milliarden DM finanziert werden für nützliche Investitionen in den Umweltschutz und damit auch zur Verringerung der Arbeitslosigkeit.
Wir bedauern sehr, daß Sie nicht einmal den Versuch gemacht haben, das ERP-Programm dem gestiegenen Bedarf anzupassen. Wir hätten erwartet, daß Sie den ERP-Wirtschaftsplan — nicht nur nachträglich, wie Herr Niegel das jetzt erwähnt hat — in ein Gesamtkonzept für 1988 und die Jahre danach eingebaut hätten, in ein Gesamtkonzept für mehr Beschäftigung und für qualitatives Wachstum.
Angesichts der kritischen wirtschaftlichen Lage können wir diesen ERP-Haushalt nämlich nicht isoliert betrachten. Er steht im Zusammenhang mit dem, was die Bundesregierung an Maßnahmen am 2. Dezember vorgelegt hat, an halbherzigen Maßnahmen. Er muß sich messen lassen an unserem Sofortprogramm für Arbeit, Umwelt und Investitionen vom 1. Dezember dieses Jahres. Wir Sozialdemokraten wollen in den nächsten Jahren ein öffentliches und privates Investitionsvolumen von zusätzlich 40 bis 50 Milliarden DM mobilisieren und schlagen zu diesem Zweck ein weitgefächertes Paket von Anreizen und Maßnahmen vor.
Das Umweltprogramm der mit dem ERP-Sondervermögen verbundenen Kreditanstalten soll um 10 Milliarden DM jährlich aufgestockt werden. Damit diese Mittel auch von jenen Städten und Gemeinden wahrgenommen werden, in deren Bereich Investitionen besonders notwendig sind, müssen wir diese Gemeinden aber von den Kosten der Massenarbeitslosigkeit entlasten.
Der Widersinn des Programms der Bundesregierung vom 2. Dezember liegt in folgendem: Die Bundesregierung streut Zinssubventionen aus, die von den starken Gemeinden mitgenommen werden könnten, und die anderen gehen leer aus, werden sogar noch mehr gebeutelt dadurch, daß ihnen die Steuerreform zusätzliche Mindereinnahmen auflastet.
Diese Widersprüchlichkeit ist gestern im Wirtschaftsausschuß sogar von Kollegen der Koalition eingestanden worden, allerdings ohne das heilsame Versprechen der Besserung.
Wir fordern in unserem Sofortprogramm weiter, die Bundesmittel für Städtebauförderung und Dorferneuerung aufzustocken, und wir verlangen, endlich eine steuerfreie Investitionsrücklage für kleinere und mittlere Unternehmen einzuführen.
Das sind einige Teile aus unserer Antwort auf die kritische wirtschaftliche Lage. Wir haben damit bei Fachleuten und anderen — bei Verbänden und Gewerkschaften — Zustimmung gefunden.
Die Bundesregierung hingegen hat auf ihre Vorschläge hin herbe Kritik einstecken müssen. Ihnen schallt konzertiertes Hohngelächter entgegen, schreibt die „Wirtschaftswoche", die ja der Koalition nicht allzu fern steht. Das ist mit Recht so.
Die Vorschläge vom 2. Dezember sind zusammengeschustert und offensichtlich keine fachlich qualifzierte Antwort auf die Schwierigkeiten, in denen unser Land und die Weltwirtschaft stecken. Niemand kann ganu sagen, was aus der Krise auf den Finanzmärkten folgen wird. Aber wir wissen genau: Die Risiken sind hoch. Wir wissen: Aus diesen finanziellen Turbulenzen können auch reale Folgen für viele Menschen abgeleitet werden.
Wir wissen vor allem, daß seit Jahren zwei gesamtwirtschaftliche Ziele gröblichst verletzt sind. Das muß man im Kontext mit dem sehen, was heute getan wird, also auch im Kontext mit diesem ERP-Programm. Über 2,2 Millionen Menschen sind arbeitslos, und das außenwirtschaftliche Gleichgewicht in unserem Land
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Müller
und in der Welt ist gröblichst verletzt. Dieses außenwirtschaftliche Ungleichgewicht hat seinen Ausdruck in der Krise der Devisen- und Finanzmärkte gefunden.
Spätestens ab dem 19. Oktober hätte eine Bundesregierung die Pflicht gehabt, wenigstens ein effizientes Krisenmanagement zu betreiben. Nichts geschieht. Im Gegenteil, der zuständige Staatssekretär — nicht der Parlamentarische Staatssekretär, sondern der beamtete Staatssekretär — erklärte gestern im Wirtschaftsausschuß, die Welt sei vor dem 19. Oktober, dem ersten Schwarzen Montag, realwirtschaftlich in Ordnung gewesen. Man merke: Bei 2,2 Millionen Arbeitslosen und einem massiven außenwirtschaftlichen Ungleichgewicht ist die Welt der Zuständigen realwirtschaftlich in Ordnung! Das muß man sich wirklich merken.
Da nimmt es nicht wunder, daß der Herr Bundeskanzler fünf Wochen nach dem ersten Schwarzen Montag im ZDF erklärt, jetzt sei rasches Handeln notwendig. Das war fünf Wochen später. Und dann geschieht auch nichts Gescheites.
Viele von uns treibt die Sorge um die Folgen dieser Untätigkeit für die Betriebe und die Menschen um. Wir fragen uns: Woher kommt dieser Mangel an Verantwortungsbereitschaft? Ist es böser Wille, oder ist es Mangel an Sachkompetenz?
Mir scheint, es fehlt den heute handelnden Personen am Durchblick, und was ihnen fehlt, ersetzen sie dann durch Ideologie. Die von den heute Regierenden bestimmte wirtschaftspolitische Diskussion ist voller Vorurteile. Ich will an einigen Beispielen aufzeigen, wie tief das Niveau der öffentlichen Argumentation gesunken ist.
Beispiel eins: Die Koalition erzählt uns seit langem: Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen. Das klingt gut, ist aber dennoch eine Halbwahrheit. Denn jeder Handwerker, jeder Unternehmer weiß aus eigener Erfahrung: Er investiert dann in neue Maschinen, wenn er erwarten kann, daß die damit zusätzlich produzierten Güter auch verkauft werden können. Technisch gesprochen: Die Investitionsbereitschaft hängt von der Absatz- und Gewinnerwartung mindestens so sehr ab wie von den angehäuften Gewinnen.
Beispiel zwei: Die Koalition hat die Leistungsbilanzüberschüsse unserer Volkswirtschaft als große Erfolge gefeiert. „D-Mark — super!" hieß es in einer CDU-Wahlkampfzeitung vom Januar 1987. Schon als diese geschrieben wurde, konnte man wissen: Die im schwachen Dollarkurs zum Ausdruck kommenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte werden irgendwann auf uns zurückschlagen. Der Zusammenbruch der Devisen- und Aktienmärkte ist demnach auch die direkte Folge dieser massiven Ungleichgewichte. Nebenbei: Weil das so ist, fehlt mir auch jedes Verständnis für die heute in einem Interview des Vorsitzenden des Sachverständigenrates geäußerte Meinung, man könne ruhig warten, bis der Dollar auf 1,50 DM gesunken ist, und habe dann noch Zeit genug, in der Binnenkonjunktur dagegenzuhalten.
Beispiel drei für das niedrige Niveau Ihrer Argumentation: Die Koalition erwartet von einer Verlängerung der Ladenschlußzeiten Wachstumsimpulse. An dieser Parole ist eigentlich nur der Mut bewundernswert, sie geäußert zu haben. Denn den meisten Menschen in unserem Land fehlt es nicht an Zeit einzukaufen, es fehlt ihnen an Geld.
Beispiel vier: Die wohl bedeutendste Schwäche der Diskussion wird da sichtbar, wo es um die Breite der Instrumente der Wirtschaftspolitik geht. Seit Jahren wiederholen die Koalitionspartner nahezu gebetsmühlenhaft den Glaubenssatz, Beschäftigungsprogramme brächten nichts. Dieser Glaube hat blind gemacht für die praktischen Erfahrungen. Wir wissen das vom Zukunftsinvestitionsprogramm, und mehrere Ihnen mehr als uns nahestehende Institute haben auch vorgerechnet, wieviel Arbeitsplätze in jener Zeit geschaffen worden sind.
Weil nun nicht sein kann, was nicht sein darf, haben die meisten Wirtschaftssprecher der Koalition in der Haushaltsdebatte der vorletzten Woche weiterhin gegen beschäftigungspolitische Maßnahmen polemisiert. Wenige Tage später hat dann die Bundesregierung ihr wenn auch halbherziges Progrämmchen beschlossen. Herr Stoltenberg und Herr Bangemann mußten allerlei sprachliche Verrenkungen anstellen, um diesen Bruch zwischen Propaganda und praktischer Politik nicht offen sichtbar werden zu lassen.
Für unser Land ist wichtig, daß sich die Koalition aus der Gefangenschaft ihrer eigenen Ideologien und falscher Wirtschaftstheorien befreit. Wir Sozialdemokraten wünschen uns zum Neuen Jahr eine Art von Perestrojka in der amtlichen Wirtschaftspolitik.
: Was
ist das denn, Herr Müller?)
— Das ist z. B. eine Offenheit für die Breite der wirtschaftspolitischen Instrumente.
— Ja, das ist klar. Das ist auch der Umbau hin zu einer breiteren Nutzung der Instrumente, und das ist der Umbau hin zu einem bewußten, geplanten und sinnvollen Einsatz der möglichen Instrumente in der Wirtschaftspolitik.
Ich appelliere an Sie deshalb, das endlich zu begreifen und endlich Schluß zu machen mit dieser Ideologisierung. Es muß Schluß sein mit einem theoretischen Schulstreit, weil wir uns das in der jetzigen Situation wirklich nicht mehr leisten können.
Unser Land hat es nötig, aus diesem Jammertal wirtschaftspolitischer Inkompetenz herauszukommen, in dem wir heute sind. Sie werden das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik auch nicht wiedergewinnen, wenn Sie nicht endlich bald ein deutliches Zeichen einer solchen Offenheit und einer Neuorientierung der Wirtschaftspolitik setzen. Die Bundesregierung muß klar erkennen, daß sie einen solchen Neuanfang machen muß.
Wenn es darum geht, Arbeitsplätze zu sichern, sind wir Sozialdemokraten zur Zusammenarbeit bereit. Trotz unseres Bedauerns darüber, daß Sie diesen ERP-Wirtschaftsplan der kritischen wirtschaftlichen Lage,
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Müller
in der wir sind — ich habe vorhin gesagt, er gehört in ein solches Gesamtpaket — , nicht voll nutzen, stellen wir unsere Bedenken zurück und stimmen diesem ERP-Wirtschaftsplan zu, weil wir ihn in seinen Instrumenten und Zielsetzungen für richtig halten. Aber wir tun das, Herr von Wartenberg, unter dem Vorbehalt und in der Erwartung, daß Sie in den wenigen Wochen, die Ihnen bis zur Verabschiedung des Jahreswirtschaftsberichts noch bleiben, begreifen: Es muß mehr getan werden für die Beschäftigung in den Betrieben und der Menschen in unserem Lande. Zu tun gibt es genug.
Herr Abgeordneter, wir bedanken uns, daß Sie Ihre Redezeit nicht voll ausgenutzt haben. Die nachfolgenden Redner dürfen dies ruhig als eine Aufforderung des Präsidiums auffassen.
— Eine Aufforderung, sich ebenso zu verhalten.
Herr Abgeordneter Funke, Sie habe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Damen Kolleginnen und Herren Kollegen! Vor wenigen Monaten haben wir des 40jährigen Jubiläums des Marshallplans auch in diesem Hause gedacht. Vor 40 Jahren entschlossen sich die Vereinigten Staaten von Amerika, dem europäischen Kontinent durch eine umfassende Wirtschaftshilfe beim Wiederaufbau zu helfen. Der Umfang der Hilfe war damals 14 Milliarden US-Dollar, davon 1,6 Milliarden für die Bundesrepublik Deutschland. Dies mag aus heutiger Sicht ein relativ kleiner Betrag sein. Aber wenn man die Größenordnung nimmt, wird man feststellen, daß dies ein recht erheblicher Betrag gewesen ist. In heutigen Zahlen ausgedrückt, wäre es ein unvorstellbares Hilfsprogramm von rund 300 Milliarden Dollar oder, anders ausgedrückt, 500 Milliarden DM. Ich will damit nur noch einmal deutlich machen, was die USA damals für Europa und die Bundesrepublik geleistet haben.
Herr Abgeordneter Funke, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Holtz?
Ja, gern.
Danke schön. — Wäre es angesichts dieses 40jährigen Jubiläums nicht angebracht, daß die Bundesrepublik mehr Gelder als bisher aus dem ERP-Wirtschaftsprogramm anderen Ländern zur Verfügung stellt, die das Geld sehr nötig brauchen? Ich meine die Dritte Welt.
Herr Kollege Holtz, ich teile Ihre Auffassung, daß wir für die Entwicklungshilfe sehr viel mehr tun müssen.
Ich glaube aber, daß dieses ERP-Hilfsprogramm — ich werde darauf in meinem kurzen Beitrag noch eingehen — in erster Linie dafür gedacht ist, Strukturbeihilfen für die deutsche Wirtschaft zu geben, unabhängig davon, daß ich Ihre Meinung teile, daß wir für die Entwicklungsländer viel mehr tun müssen.
Die Hilfe der USA konnte nur deshalb so erfolgreich sein, weil in der Bundesrepublik eine Weichenstellung vorgenommen wurde, die mit Zwangswirtschaft und Staatskontrolle Schluß machte, und zwar in sehr radikaler Weise und endgültig. Die Währungsreform und die Rückkehr zu unternehmerischer Freiheit ermöglichten den Wiederaufbau.
In Anbetracht der großen Hilfe der USA erscheint einem manchmal die besserwisserische Kritik an der amerikanischen Wirtschaftspolitik kleinkariert und arrogant. Wir müssen diese Kritik in der letzten Zeit sehr häufig sowohl in den Medien als auch von einigen unserer Kollegen hören.
Lassen Sie mich nun zu dem ERP-Programm, wie wir es heute verabschieden sollen, noch einige Worte sagen. Das Wesentliche an diesen staatlichen Kredithilfen ist, daß sie sich in die marktwirtschaftliche Ordnung einfügen. Das unterscheidet sie von den meisten staatlichen Hilfsprogrammen und Förderprogrammen, die langfristig wenig erfolgreich waren und die finanzielle Solidität der öffentlichen Haushalte nicht unerheblich beeinträchtigt haben. Da bin ich völlig anderer Auffassung als der Kollege Müller in dem Beitrag, den er vorhin geliefert hat.
Daß die ERP-Programme ständig ausgeweitet wurden, ist ein Umstand, mit dem wir sehr zufrieden sein können. 1970 erreichte das Programmvolumen bereits 1,4 Milliarden DM; 1988 wird dieser Betrag 4,35 Milliarden DM sein. Der ERP-Haushalt ist mit mehr als 5 Milliarden DM der höchste in der Geschichte des Sondervermögens.
Diese Zahlen zeigen aber auch gewisse Wandlungen des ERP-Sondervermögens. In den vergangenen beiden Jahren ist das Darlehensvolumen durch eine Sonderaufstockung um 800 Millionen DM ausgeweitet worden. Durch die Mobilisierung von Finanzierungsreserven und einen weiteren Vorgriff auf die Zukunft durch Verpflichtungsermächtigung wird dies im nächsten Jahr nur teilweise ausgeglichen. Außerdem finanziert sich das ERP-Sondervermögen zu etwa 2 Milliarden DM aus Kreditaufnahmen. Die Nettoneuverschuldung beträgt 1988 1 Milliarde DM. Verglichen mit dem Bundeshaushalt mag dies nicht viel sein, aber für das ERP-Sondervermögen ist es doch sehr viel und sollte allmählich abgebaut werden. Solidität muß gerade für das ERP-Sondervermögen in der Prioritätenliste ganz obenan stehen.
Den Schwerpunkt der ERP-Sonderprogramme bilden die Förderung der mittelständischen gewerblichen Wirtschaft, dies vor allem in Form von Existenz-
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Funke
gründung, Betriebserrichtung und -erweiterung in Gewerbegebieten, die Förderung von Umweltschutzmaßnahmen und die Berlinförderung. Das Äquivalenzprinzip, das den Marshallplan geleitet hatte, liegt der ERP-Politik auch heute zugrunde. ERP-Programme dienen dem Interessenausgleich zwischen großen und kleinen Unternehmen, zwischen Wachstums- und Problemregionen. Sie helfen, teure Umweltschutzinvestitionen zu erträglichen Konditionen zu finanzieren. Dies ist auch aus heutiger Sicht ein zeitgemäßes und auch sinnvolles Konzept.
Unter den staatlichen Förderhilfen für die mittelständische Wirtschaft nehmen die ERP-Darlehen einen besonders wichtigen Platz ein. Sie sind das klassische Instrument der Investitionsförderung für kleine und mittlere Unternehmen. Später ist dann die Förderung der Umweltschutzinvestitionen hinzugekommen, die heute mit mehr als 1 Milliarde DM fast die Hälfte der Mittelstandsprogramme ausmachen. Dies bedeutet gegenüber 1985 immerhin eine Verdoppelung bei den Umweltschutzmaßnahmen. Dabei ist unser besonderes Anliegen, daß auch diese Programme ganz überwiegend der mittelständischen Wirtschaft zugute kommen. So fügen sie sich nahtlos in die allgemeine Zielsetzung des ERP- Sondervermögens ein.
Besonders erwähnen möchte ich das Regionalprogramm. Der Bundestag hat heute — das wird er auch morgen tun — über die Probleme der Kohle- und Stahlstandorte intensiv diskutiert. Die Bundesregierung hilft diesen bedrängten Gebieten mit einer Vielzahl von Instrumenten, zu denen auch das ERP-Regionalprogramm gehört.
Um Investitionen in diesen regionalen Problemgebieten besser fördern zu können, ist der Ansatz des Regionalprogramms im ERP-Wirtschaftsplan um 127 Millionen DM auf 1,14 Milliarden DM ausgeweitet worden. Dies ist eine wirksame Hilfe, mit der in den vom Strukturwandel betroffenen Gebieten Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden können. Das ERP-
Wirtschaftsplangesetz wird den gesetzlichen Anforderungen gerecht.
Meine Partei stimmt dem Gesetz deshalb zu. Wir erwarten, daß die ERP-Programme ihren Rang als Instrument strukturpolitischer Wirtschaftsförderung auch in Zukunft wahren werden.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Sellin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß in der Beschlußempfehlung ein kleiner sachlicher Fehler ist. Darin steht: bei zwei Gegenstimmen von Mitgliedern der Fraktion DIE GRÜNEN. Von der Opposition waren aber nur zwei Abgeordnete da, nämlich Herr Müller und ich. Wir haben beide dagegengestimmt. Deswegen ist für mich jetzt auch verwunderlich, daß die SPD diesem Plan zustimmen will. Vielleicht sollte von der SPD erst noch einmal klargestellt werden, warum sie ihre Meinung ändert. Sie möchten aber bitte die Beschlußempfehlung ändern, weil das — das ergibt
sich auch aus der Anwesenheitsliste — ein sachlicher Fehler ist.
Der zur Beschlußfassung vorgelegte ERP-Wirtschaftsplan 1988 mit einem Darlehensvolumen von 4,35 Milliarden DM ist durch die konjunkturell bedingten Beschlüsse der Bundesregierung vom 2. Dezember 1987 zur Stärkung des quantitativen Wirtschaftswachstums bereits überholt. Über den ERP-Wirtschaftsplan hinaus soll die Kreditanstalt für Wiederaufbau in den Jahren 1988, 1989 und 1990 zinsgünstige Investitionsdarlehen in Höhe von 21 Milliarden DM bereitstellen. Davon werden 15 Milliarden DM für kommunale Investitionen vorgesehen. Pro Jahr stehen also 7 Milliarden DM zusätzliche Darlehensangebote über diesen ERP-Plan 1988 hinaus zur Verfügung.
Diesem ganzen Instrumentarium von ERP-Plan und Kreditanstalt für Wiederaufbau ist gemeinsam, daß mit der Methode zinsgünstiger Darlehen Rahmenbedingungen für Finanzierungsvorhaben feilgeboten werden. Diese Methode mag bei privaten Unternehmen greifen, die sowieso Investitionen planen und durchführen müssen. Die Unternehmen werden 2 Zinsvergünstigung gegenüber dem üblichen Marktzins immer gerne mitnehmen, und es ist schon verwunderlich, wenn behauptet wird, es gebe dort keine Mitnahmeeffekte. Zusätzliche Absatzmärkte sind jedoch tendenziell nicht in Sicht, so daß Rationalisierungsinvestitionen vorrangig gefördert werden, die keine Beschäftigungseffekte, allenfalls negative, mit sich bringen werden.
Methodisch anders wirken die Auflagen z. B. der Technischen Anleitung Luft, die kleinere und mittlere Unternehmen zwingen werden, fristgerecht Investitionen zur Emissionsverringerung vorzunehmen. Diese zielgerichtete Investitionsförderung wird von uns politisch tendenziell gestützt, obwohl die Technische Anleitung Luft unzulängliche Grenzwerte und Fristen enthält. Trotzdem ist das erst einmal ein Fortschritt. Dabei sollten die Förderungskriterien auf Energiesparinvestionen bei integrierter Emissionsminderung von industriellen Maschinen und Anlagen zugespitzt werden. Reine Filtertechnologien ohne Energiespareffekte sollten weniger stark präferenziert werden.
Es ist politisch schon fatal, daß der hier vorgelegte ERP-Wirtschaftsplan eine Kürzung um 300 Millionen DM im Rahmen der drei ERP-Umweltschutzprogramme — das sind das Luftprogramm, das Abwasserprogramm und das Abfallprogramm — auf 1,05 Milliarden DM vorsieht. Dieses politische Signal in Kombination mit der Streichung des § 7 d des Einkommensteuergesetzes im Rahmen der Finanzierung der Steuerreform ist skandalös. Der § 7 d des Einkommensteuergesetzes hat Umweltschutzinvestitionen in Höhe von 3,82 Milliarden DM 1985 durch erhöhte Absetzungen steuerlich begünstigt. Steuereinnahmeausfälle nach Schätzung der Bundesregierung in Höhe von 700 Millionen DM bewirkte der § 7 d des Einkommensteuergesetzes zur Förderung von Umweltschutzinvestitionen. Und dies wollen Sie streichen? Das ist eine Konterkarierung von Umweltschutzinvestitionen, die gefördert werden sollen.
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Sellin
Die Finanzierung der Steuerreform entzieht also kleinen und mittleren Unternehmen Steuervergünstigungen, die eben gerade an relativ sinnvolle Maßnahmen gebunden waren. Die Wirkung der Steuerreform gegenüber den Städten und Gemeinden ist noch schärfer zu kritisieren, da sie den Kommunen Steuereinnahmen überproportional entziehen. Die Investitionsfähigkeit der Städte und Gemeinden wird stark eingeschränkt. Es ist deshalb ein finanzpolitischer Widerspruch, daß jetzt über den ERP-Plan und die Kreditanstalt für Wiederaufbau zusätzliche Darlehen von Kommunen aufgenommen werden können. Kommunen mit bereits hoher Verschuldung können es sich gar nicht leisten, zusätzliche Darlehen für ökologisch sinnvolle und beschäftigungswirksame Investitionen aufzunehmen, da sie die Darlehen und die laufenden Kosten nicht aus dem Kommunaletat tragen können. Man denke nur an die Vergangenheit, als die Kommunen Schwimmbäder, Sporthallen usw. gebaut haben. Die Zinslastquoten in den Etats der Kommunen sind gerade in den Krisenregionen, wie z. B. im Ruhrgebiet, in Bremen, in Hamburg, im Saarland, bereits so hoch, daß das angebotene Darlehensprogramm nicht abgefragt werden kann, wo es doch besonders dringlich wäre, um den industriellen Umbau strukturpolitisch auch finanzieren zu können. Demgegenüber können bereits wohlhabende Kommunen, die sich häufig z. B. in Baden-Württemberg und Bayern finden, diese zusätzlichen Gemeindeinvestitionsmittel abrufen.
Der Nord-Süd-Gegensatz in der industriepolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik ist kein Gegenstand des ERP-Plans bzw. des Programms der Kreditanstalt für Wiederaufbau.
Das ERP-Gemeindeprogramm fördert angeblich den sogenannten Wohn- und Freizeitwert, z. B. Fußgängerzonen inklusive Parkhausbau. Der Schwerpunkt des Gemeindeprogramms liegt nicht auf ökologisch orientierten Investitionsvorhaben. Ich zähle einmal einige auf: Altlastenbeseitigung, Energiesparinvestitionen, Grüntangentenbau und Förderung von Energiesparinvestitionen in öffentlichen Gebäuden. Das ERP-Programm für die Gemeinden enthält keine ausgewiesenen ökologischen Kriterien.
Ich will einmal ein weiteres Programm herausgreifen, bei dem Sie noch Aufstockungen fordern, und zwar die Förderung des Exports in Entwicklungsländer. Es ist festzustellen, daß dort auch Großanlagen gefördert werden und daß Sie insbesondere die Subventionierung des Exports in Schwellenländer präferieren und nicht etwa angepaßte Technologien zugunsten von Entwicklungsländern, die tatsächlich angepaßte Technologien gebrauchen könnten. Über dieses Programm wird eine Exportförderung für Großunternehmen abgewickelt, die es generell gar nicht nötig haben, diese Exportförderung zu bekommen.
Das ERP-Programm kann zur Förderung des industriellen Umbaus der Industriegesellschaft ökologisch und sozial sinnvoll ausgestaltet werden. So wie es aber hier vorliegt, erzielt es genau diese Wirkung nicht. Die GRÜNEN lehnen deswegen diesen vorgelegten ERP-Wirtschaftsplan ab.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Wartenberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Vorredner, insbesondere die Kollegen Niegel und Funke, haben den ERP-Wirtschaftsplan dargestellt, gewürdigt und auch einige interessante Anregungen gegeben.
Lassen Sie mich das noch einmal kurz zusammenfassen. Insgesamt, d. h. unter Berücksichtigung der Verpflichtungsermächtigungen, sieht der Plan Mittel für neue Darlehenszusagen von 4,35 Milliarden DM vor. Das ist gut eine Milliarde DM mehr als im Jahre 1983. Auf dieser erhöhten Basis werden auch künftige ERP-Pläne weiterentwickelt werden können. Die ERP-Programme sind also solide finanziert. Sie sind langfristig angelegt und damit ein geeignetes Instrument für eine strukturpolitische Wirtschaftsförderung.
Erlauben Sie mir, kurz die Schwerpunkte noch einmal in Erinnerung zu bringen.
Erstens. Für den Mittelstand stehen rund 2,3 Milliarden DM bereit, und zwar für Existenzgründungen, für Betriebserrichtungen und Betriebserweiterungen in den Industrie- bzw. in den Gewerbegebieten der Kommunen sowie in den strukturschwachen Regionen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur". Wegen der besonderen Schwierigkeiten in den Stahlstandorten und den Werftregionen wurde dieses Programm um 127 Millionen auf rund 1,1 Milliarde DM erhöht.
Zweitens zum Umweltschutz: Das ERP-Umweltschutzdarlehen von rund 1 Milliarde DM — das sind rund 300 Millionen DM weniger als 1987, aber doppelt so viel wie bis zum Jahre 1985 — soll 1988 schwerpunktmäßig für die Luftreinhaltung eingesetzt werden. Herr Selling, gerade in diesem Bereich sind das 170 Millionen DM mehr als im vergangenen Jahr. Hier decken sich die Zielsetzungen Wirtschaftsförderung und gewerblicher Umweltschutz in idealer Weise.
Drittens noch ein Wort zu Berlin. Die auf 700 Millionen DM erhöhten Mittel kommen auch größeren Unternehmen zugute. Vorab wird jedoch sichergestellt, daß mittelständische Betriebe die notwendigen ERP-Investitionsdarlehen erhalten können.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß die ERP-Programme durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau ergänzt werden. Für den Mittelstand waren dafür für 1988 4 Milliarden DM und für betriebliche Umweltschutzvorhaben 2 Milliarden DM vorgesehen. Das ist insgesamt also eine Milliarde DM mehr als 1987.
Zur Stärkung und Verstetigung des Wachstums immerhin im sechsten Jahr wird die Kreditanstalt für Wiederaufbau in die Lage versetzt, ihre Programme ab 1. Januar 1988 für die nächsten drei Jahre kräftig zu erweitern. Aus eigenen Mitteln wird sie für mittel-
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Parl. Staatssekretär Dr. von Wartenberg
ständische Unternehmen zusätzlich jährlich 2 Milliarden DM bereitstellen, pro Jahr also 6 Milliarden DM. Der Zinssatz für diese Mittel wird von der Kreditanstalt je nach Marktlage festgesetzt.
Neu wird die Kreditanstalt im Interesse einer weiteren Verstetigung der Gemeindeinvestitionen jährlich 5 Milliarden DM bereitstellen. Durch einen Zinszuschuß aus Mitteln des Bundeshaushalts werden diese Darlehensmittel den Gemeinden zu Konditionen angeboten, die sich an den ERP-Zinssätzen orientieren, Vorrangig sollen diese neuen KfW-Mittel für die Erschließung von Gewerbeflächen — ohne reinen Grunderwerb —, für die Stadt- und Dorferneuerung und den Umweltschutz einschließlich Wasserbau eingesetzt werden.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß, allen Beteiligten, vor allen Dingen den Mitgliedern des Unterausschusses, sehr herzlich für die zügige Beratung zu danken, aber auch für die kritischen Anregungen und Fragen, die Sie gestellt haben, denen wir gerne nachgehen werden.
Ich darf Sie im Namen der Bundesregierung bitten, die Gesetzesvorlage — so wie vom Wirtschaftsausschuß vorgeschlagen — zu verabschieden.
Das Wort hat der Abgeordnete Pfuhl.
Meine Damen und Herren, ich habe alle Redner ertragen; haben Sie Verständnis und ertragen Sie mich noch fünf Minuten.
Ich glaube, es ist notwendig, hier etwas zur Problematik des Mittelstandes zu sagen, denn die leichte Erhöhung des Mittelansatzes für kleine und mittlere Unternehmen im ERP-Wirtschaftsplan 1988, die wir ausdrücklich begrüßen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Bundesregierung, die sich ja gerne als Gralshüter mittelständischer Interessen ausgibt, einen beispiellosen Kahlschlag in der Mittelstandsförderung durchgesetzt hat.
Nach ihrer eigenen Finanzplanung wird die Bundesregierung die Finanzmittel zur Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen von 1987 bis 1991 um über 55 % reduzieren. In diesem Zeitraum sollen die Finanzmittel von knapp 1,1 Milliarde DM auf 485 Millionen DM schrumpfen. Betroffen ist hier vor allem das Personalkostenzuschußprogramm, mit dem bisher rund 400 Millionen DM jährlich für Personalausgaben im Forschungs- und Entwicklungsbereich von kleinen und mittleren Unternehmen bereitgestellt wurden. Dieses Programm soll zum Ende dieses Jahres auslaufen. Ferner soll das Eigenkapitalhilfeprogramm zur Förderung von Existenzgründungen, welches etwa 110 Millionen DM jährlich beinhaltete, 1988 eingestellt werden.
Meine Damen und Herren, diese Förderprogramme, die von sozialdemokratisch geführten Regierungen eingeführt worden sind und die diese Bundesregierung jetzt abschaffen will, haben in der Vergangenheit nicht nur ganz erheblich zur Steigerung der Leistungsfähigkeit kleinerer und mittlerer Unternehmen beigetragen, sondern zugleich die Möglichkeit
eröffnet, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Allein durch die vom Eigenkapitalhilfeprogramm initiierten Existenzgründungen sind rund 175 000 Dauerarbeitsplätze entstanden bzw. erhalten worden. Über 2 Milliarden DM jährliche Investitionen wurden durch diese Programme ausgelöst.
Meine Damen und Herren, es scheint mir absurd zu sein, daß diese zukunftsweisenden innovationsfördernden Programme von der Bundesregierung unter dem Vorwand des Subventionsabbaus zusammengestrichen werden, wenn geichzeitig in anderen Bereichen erhebliche Aufstockungen bei Subventionen erfolgen. Jeder weiß, wovon ich rede.
In der Steuerpolitik erleben wir das gleiche Spiel. Die von uns in Übereinstimmung mit allen Verbänden des mittelständischen Gewerbes nachdrücklich geforderte Einführung einer steuerfreien Investitionsrücklage — ich weiß, es gibt auch genügend Kollegen auf Regierungsseite, die mit mir der Meinung sind, daß man sie einführen sollte —, die die Kapitalgrundlage und die Investitionsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen nachhaltig stärken würde, wird von dieser Bundesregierung rigoros abgelehnt. Statt dessen senkt sie den Körperschaftssteuersatz und den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer.
Ich glaube, meine Damen und Herren, dies bringt für kleine und mittlere Selbständige überhaupt nichts. Die meisten von ihnen sind weder eine Körperschaft, noch gehören sie zu den Spitzenverdienern, die mehr als 260 000 DM zu versteuerndes Einkommen im Jahr erreichen. Nur 2 % aller Unternehmen, die Einkommensteuer zahlen, gehören zu dieser Gruppe.
Ein anderer Aspekt, der für kleine und mittlere Unternehmen von Bedeutung ist, ist die Tatsache der Steuerpolitik — mein Kollege Müller hat hier schon darauf hingewiesen — , daß sich die Einnahmeverluste bei den Gemeinden direkt auch in deren Investitionsmöglichkeiten und sich damit auch wieder negativ auf die kleinen Handwerks- und Handelsbetriebe innerhalb der Gemeinde auswirken.
Ich möchte es mir ersparen, dies weiter auszuführen, möchte aber noch auf eines hinweisen. Wir alle rechnen damit, daß die Mehrwertsteuer erhöht wird.
— Ja, ja. — Und da wird argumentiert: nicht für den Bundeshaushalt, sondern um in Europa die Kosten zu decken. Liebe Freunde, was soll das? Letztendlich muß der Steuerzahler es bezahlen, und dies wirkt sich auch auf die kleinen und die mittleren Unternehmen negativ aus. Eine Verstärkung und Stabilisierung der Binnennachfrage, die gerade für die kleinen Unternehmen im Handwerk, im Handel, im örtlichen Gewerbe ausschlaggebend ist, wird damit nicht erreicht.
Das gleiche gilt im übrigen auch für die hochtrabend als Maßnahmen zur Stärkung des Wachstums angekündigten Programme dieser Bundesregierung, die im Grunde nur Miniaturen sind. Diese halbherzigen Initiativen reichen bei weitem nicht aus. Wir müs-
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Pfuhl
sen mehr tun, um gerade dem Mittelstand, dem selbständigen Mittelstand, in unserer Republik zu helfen.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich dem Berichterstatter das Wort.
Als Berichterstatter möchte ich darauf hinweisen, daß die Feststellungen in der ausgedruckten Drucksache 11/1431 — Beschlußempfehlung und Bericht — voll zutreffend sind. Die von dem Herrn Kollegen vorhin gemachten Ausführungen sind nicht zutreffend.
Er verwechselt die Sitzung des Unterausschusses mit der Sitzung des Wirtschaftsausschusses.
Nachdem diese Klarstellung erfolgt ist, können wir zur Einzelberatung und Abstimmung kommen. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe die §§ 1 bis 11, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen gedenkt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Damit sind die Vorschriften angenommen.
Meine Damen und Herren, wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Punkt 20 a der Tagesordnung wurde abgesetzt, da der Antrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/1155 zurückgezogen wurde.
Ich rufe nun Punkt 20b und Zusatzpunkt 9 der Tagesordnung auf:
20. b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Ernährungssicherung in Hungerregionen — Drucksachen 11/946, 11/1501 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Höffkes Frau Luuk
ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Ernährungssituation in Äthiopien — Drucksache 11/1482 —
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte vorgesehen, und zwar mit zehn Minuten für jede Fraktion. Das Haus ist damit einverstanden.
Die Aussprache kann eröffnet werden. Das Wort hat der Abgeordnete Höffkes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Vorlagen sind in verbundener Debatte zu behandeln: erstens „Ernährungssicherung in Hungerregionen", zweitens „Ernährungssituation in Äthiopien", drittens „Nahrungsmittelhilfe an Äthiopien" . Der letztgenannte Antrag hat sich durch die Rücknahme durch die Fraktion DIE GRÜNEN erledigt, weil er in dem Antrag „Ernährungssituation in Äthiopien", von allen Fraktionen dieses Hauses eingebracht, aufgeht.
Zur Sache: Bevorstehende Hungerkatastrophen in verschiedenen Teilen der Welt waren für die Fraktionen von CDU/CSU und FDP Anlaß, die Ernährungssituation hier rechtzeitig in Erinnerung zu rufen und darüber zu diskutieren.
In Indien, dem Sahel-Raum, in Äthiopien haben mangelnde Regenfälle die Ernteerwartungen erheblich reduziert, in Ostindien und Bangladesch haben riesige Überschwemmungen die Nahrungsmittelproduktion vermindert. In Angola und noch mehr in Mosambik gefährden die Bürgerkriegssituationen die Versorgung der Bevölkerung mit Ernährungsgütern. Trotz unterschiedlicher Ursachen ist den Situationen in Afrika und Asien eines gemeinsam: Die Katastrophe ist unvermeidbar.
Die noch verbleibende Zeit muß intensiv genutzt werden, um alles Menschemögliche zu tun, um das Ausmaß der Katastrophen so gering wie möglich zu halten. Die Bevölkerung und alle in Politik und Gesellschaft Verantwortlichen sind vorgewarnt.
Die westliche Gebergemeinschaft — und damit auch die Bundesrepublik Deutschland — leistet humanitäre Hilfe für die bedrohten Menschen ohne Ansehen ihrer Religion, Volkszugehörigkeit und politischen Überzeugung.
An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich all den Bürgern und Organisationen danken, die in den vergangenen Jahren bei Katastrophen geholfen haben, durch Geldspenden und persönlichen Einsatz, z. B. beim Technischen Hilfswerk, der Bundeswehr, kirchlichen und privaten Hilfswerken.
In diesen Tagen höre ich, daß mehrere Hilfsorganisationen und die beiden Kirchen um erneute Spenden
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3521
Höffkes
bitten. Ich hoffe, besser: ich bin mir dessen bewußt, daß unsere Mitbürger den Ruf hören und wieder zu spenden bereit sind, wie vor drei Jahren, als der Aufruf zum sogenannten „Tag für Afrika" über 120 Millionen DM an Spenden erbrachte.
Wenn den bedrohten Menschen geholfen werden soll, muß rechtzeitig Vorsorge getroffen werden. Deshalb bitten wir den Bundestag, die Bundesregierung aufzufordern, ein Notprogramm humanitärer Hilfe zu erarbeiten und dieses mit den westlichen Geberländern der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinten Nationen zu koordinieren.
Es sind aber auch Forderungen an die Regierungen der bedrohten Staaten zu stellen. Humanitäre Hilfe bedarf gewisser Grundsätze und der aktiven Unterstützung der Regierungen der Katastrophengebiete. Insbesondere muß der freie und ungefährdete Zugang zu den bedürftigen Bevölkerungsgruppen gewährt werden, und zwar ohne Ansehen ihrer ethnischen und religiösen Bindungen oder ihrer politischen Einstellung. Auch sollte in den von Hungersnot bedrohten Ländern die Bevölkerung aktiv an Planung, Durchführung und Kontrolle der Hilfsmaßnahmen mitwirken. Fluchtbewegungen sollten, wenn eben möglich, verhindert werden. Es ist besser, die von Hunger bedrohten Menschen durch Food-for-Work-, also Brotfür-Arbeit- Programme in ihrer angestammten Umgebung zu halten und in Projekten zu beschäftigen, die geeignet sind, zukünftige Katastrophen zu verhindern oder doch zumindest zu mildern.
Zu den weiteren Forderungen, auf die ich wegen der Kürze der Zeit nicht eingehen kann, darf ich auf den Inhalt des Koalitionsantrags und die Beschlußempfehlung des Ausschusses verweisen.
Ich muß aber noch wenige Worte über Äthiopien verlieren: Schon aus Länge und Umfang dieses von allen Parteien getragenen Antrags ist ersichtlich, daß es sich hier um eine besondere Situation handelt. Ich bedanke mich bei allen Damen und Herren Kollegen, die am Zustandekommen des Antrags mitgewirkt haben, für die konstruktiven Beiträge.
In Äthiopien haben wir bei der letzten Hungerkatastrophe 1984/85 besonders negative Erfahrungen bei vielen Hilfsmaßnahmen machen müssen. Zuerst hat die Regierung die beginnende Katastrophe quasi verheimlicht, so daß Hilfe nicht rechtzeitig einsetzen konnte. Im Verlauf der Hilfsmaßnahmen traten immer wieder politische Behinderungen auf, die es in Teilbereichen unmöglich machten, der Bevölkerung zu helfen. Bürgerkrieg und Umsiedlungsaktionen der äthiopischen Regierung haben humanitäre Hilfe behindert. Nach vorsichtigen Schätzungen sind fast 2 Millionen Menschen Opfer der Katastrophe geworden. Auf Grund der geographischen Umstände und der schlechten Infrastruktur des Landes ergaben sich bei der Durchführung des Programms große Transportprobleme, die den Einsatz schwerster Lkw verlangten und in entlegenen Gebieten den aufwendigen Lufttransport von Nahrungsmitteln erforderlich machten.
Die humanitäre Hilfe der Bundesregierung wurde über verschiedenste Träger abgewickelt. Multilateral wurden die Hilfsprogramme von UNHCR, UNICEF und IKRK mitfinanziert. Bilateral wurden die deutschen Hilfsorganisationen DRK, Diakonisches Werk, Caritasverband, Care, Deutsche Welthungerhilfe, Menschen für Menschen und Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt in ihren Äthiopienprogrammen unterstützt. Aber auch ganz mittelbar wurde die Bundesregierung über ihre Botschaft, die Bundeswehr — hier: die Luftwaffe — und das Technische Hilfswerk — des BMI — tätig. So flog die Luftwaffe allein 1984 266 Einsätze mit 808 Flugstunden für die Nahrungsmittelverteilung, und das THW leistete bei der Instandsetzung von Kraftfahrzeugen 1984/85 3 186 Helfertage.
Der materielle Einsatz lag schwerpunktmäßig bei der Lieferung von Lkw mit Ersatzteilen, Nahrungsmitteln in Form spezieller Proteinnahrung, Bekleidung, Decken, Zelten, Medikamenten und Säcken für den Abwurf von Lebensmitteln. Die Frachtkosten für die Lieferung dieser Hilfsgüter machten einen erheblichen Wert aus.
Jetzt sind in Äthiopien erneut fünf bis sieben Millionen Menschen dem Hunger ausgesetzt. Tausende sind bereits zu den ehemaligen Nahrungsmittelverteilungszentren gewandert. Allein im Koram, 430 Kilometer nördlich von Addis Abeba, sind 12 000 Hungernde aus der Region im Hungerlager. Die ersten Überfälle eritreischer Aufständischer auf Nahrungsmitteltransporte haben schon stattgefunden, bedauerlicherweise. Nahrungsmittelflüge beginnen. Bedroht ist insbesondere die Bevölkerung in der Nordregion Eritrea: Wollo und Tigre. Nahrungsmittelhilfe für das ganze Jahr wird erforderlich sein.
Es gäbe noch vieles aus eigenem Erleben zu berichten. Ich muß aber mit der herzlichen Bitte an die Bundesregierung schließen, sie möge zusammen mit allen Geberländern darauf hinwirken, daß die Regierung Äthiopiens und die Bürgerkriegsgruppen ihre politischen Auseinandersetzungen nicht auf dem Rücken der Menschen austragen und damit zusätzlich zur Naturkatastrophe und einer falschen Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik Millionen ihrer Bürger verhungern.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich bitte dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP „Ernährungssicherung in Hungerregionen" zuzustimmen, und zwar in der Ausschußfassung. Desgleichen bitte ich um Zustimmung zu dem interfraktionellen Antrag „Ernährungssituation in Äthiopien" .
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Eid.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Vor wenigen Monaten wurden Informationen bekannt, daß in Äthiopien erneut eine Hungerkatastrophe zu befürchten ist. Die Fraktion der GRÜNEN beschloß sofort, dem Parlament einen Antrag vorzulegen, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, Nahrungsmittelsoforthilfe für die betroffene Bevölkerung zu leisten. Dadurch sollte eine ähnliche Katastrophe wie 1984/85 verhindert werden.
3522 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Frau Eid
Dieser Antrag, der als Drucksache 11/1155 vom 11. November 1987 vorliegt, führte schließlich zu einer interfraktionellen Initiative, die es in kürzester Zeit geschafft hat, einen von allen im Bundestag vertretenen Parteien getragenen Antrag vorzulegen. Ich freue mich, daß wir uns auf diesen Antrag einigen. Allerdings ist meine Fraktion bis an den äußersten Rand der Zustimmungsmöglichkeit gegangen.
Zum Beispiel ist für uns der nötigenfalls erneut vorgesehene Einsatz der Bundeswehr nicht akzeptabel. Auch wenn sie sich so darstellen möchte: Die Bundeswehr ist keine humanitäre Hilfsorganisation,
sondern eine Militärmaschinerie.
Sie nimmt eine Ausnahmesituation in Afrika zum Anlaß, um für den Ernstfall zu üben. Dies wurde z. B. auf Informationsveranstaltungen durch Offiziere der Luftwaffe unverblümt gesagt. Ich frage mich, warum für den Transport von Nahrungsmitteln keine zivilen Flugzeuge gechartert werden können.
Frau Abgeordnete Eid, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Holtz?
Ja, bitte.
Sie wissen doch auch, so hoffe ich, daß in dem Antrag steht, daß die Bundeswehrflüge nicht zu militärischen Zwecken mißbraucht werden sollen, und deshalb verstehe ich Ihre Äußerung nicht.
Es ist in der Vergangenheit so gewesen, daß Tiefflugübungen in Äthiopien gemacht worden sind, und zwar bei dem Anfliegen der Gegenden, wo man nicht hat landen können, wo die Nahrungsmittelhilfe heruntergeworfen wurde.
Wenn in Veranstaltungen Offiziere der Luftwaffe dies propagieren, dann möchte ich hier klargestellt haben, daß dies nicht passiert.
Trotz dieser erheblichen Bedenken wollten die GRÜNEN den gemeinsamen Antrag nicht scheitern lassen, da er für uns ganz wesentliche Forderungen enthält.
Erstens. Erstmals werden an die äthiopische Regierung konkrete Bedingungen bezüglich des Umgangs mit der Nahrungsmittelhilfe gestellt, nämlich:
a) Sie darf nicht für politische und militärische Ziele mißbraucht werden. Das bedeutet, daß nicht wieder ganze Regionen ausgehungert werden sollen, um die Bevölkerung aus diesen Gebieten herauszulocken. Das bedeutet auch, daß Nahrungsmittel nicht wieder zu Rekrutierungszwecken für die äthiopische Armee
benutzt werden. Zum Beispiel wurde vor zwei Jahren eine sogenannte „Weizenmiliz" aufgebaut; nur solche Familien erhielten Nahrungsmittel, die Angehörige für diese Miliz abstellten.
Wir alle wissen, daß Äthiopien die größte Armee in Schwarzafrika unterhält und mehrere Kriege auf dem eigenen Territorium und gegen Eritrea führt.
Die ca. 300 000 Männer in der Armee stehen einmal nicht für die landwirtschaftliche Produktion zur Verfügung und müssen obendrein auch noch ernährt werden. Es muß gewährleistet sein, daß nicht ein Gramm bundesdeutscher Nahrungsmittelhilfe beim äthiopischen Militär landet, und das will ich kontrolliert haben.
b) Die Nahrungsmittelhilfe darf auch nicht zur Durchführung der gewaltsamen Umsiedlungs- und Verdorfungsprogramme verwendet werden.
660 000 Menschen wurden seit 1984 vom Norden in den Süden umgesiedelt. Bei diesen Zwangsmaßnahmen fanden Zehntausende den Tod. Das Umsiedlungsprogramm soll jetzt wieder aufgenommen werden, und es ist zu befürchten, daß abermals die Nahrungsmittelspenden zumindest zum Teil zur Durchführung der Umsiedlung verwendet werden.
Im Rahmen des sogenannten Verdorfungsprogramms sollen bis 1995 30 Millionen Menschen ihre traditionellen Dörfer oder Einzelgehöfte verlassen und in neuen Zentraldörfern zusammengefaßt werden. Diese Zwangskollektivierung mit ihren landwirtschaftspolitischen und sozialen Folgen ist eine der wesentlichen Ursachen für die erneute Hungerkatastrophe.
Ich begrüße es außerordentlich, daß sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages gegen diese Zwangsmaßnahmen ausgesprochen haben.
Zweitens. Wichtig ist mir die Einsicht, daß die Nahrungsmittelhilfe für die am stärksten von der Hungersnot betroffenen Gebiete, nämlich Tigray und Eritrea, nicht nur über die äthiopische Regierung, sondern auch über die Hilfsorganisationen REST, Relief Society of Tigray, und ERA, die Eritrean Relief Association, organisiert werden.
Wieso ist diese Forderung so außerordentlich wichtig? Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, von der CDU/CSU und von der FDP: Fahren Sie einmal nach Eritrea, und Sie werden feststellen, daß 80 To des Landes van der eritreischen Volksbefreiungsfront EPLF verwaltet werden. In dieses Gebiet hat die ähthiopische Regierung keinen Zugang. Ich konnte bei meinen verschiedenen Reisen entlang der 450 km langen Front sehen, wie sich eritreische Freiheitskämpfer und äthiopische Soldaten in den Schützengräben gegenüberstehen. Da gibt es kein Durchkommen!
Auch wenn uns die äthiopische Regierung das Gegenteil glauben machen möchte: Nur in Zusammenarbeit mit den in diesen Regionen tätigen Hilfsorganisationen, nämlich REST in Trigray und ERA in Eritrea, kann der notleidenden Bevölkerung geholfen wer-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3523
Frau Eid
den. Die Bundesregierung muß hier endlich Farbe bekennen und die humanitäre Hilfe auch über REST und ERA organisieren. Dies gilt u. a. auch für die Zusammenarbeit mit der Hilfsorganisation der größten Bevölkerungsgruppe in Äthiopien, nämlich der Oromo Relief Association. Daran führt kein Weg vorbei.
Sie gestatten eine Zwischenfrage?
: Bitte schön.
Bitte schön, Frau Abgeordnete Luuk.
Frau Eid, wissen Sie nicht, daß auch das Internationale Rote Kreuz in der letzten schwierigen Situation dort ungehindert hat arbeiten können und auch vor Ort die Lebensmittel an die Menschen hat verteilen können?
Ich habe ja gesagt, daß internationale Organisationen in Zusammenarbeit mit diesen Organisationen dort Nahrungsmittelhilfe verteilen können. Ich habe also im Prinzip das vorweggenommen, was Sie jetzt noch einmal bestätigt haben wollten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines ist uns hoffentlich allen klar: Nahrungsmittelhilfe kann nur im äußersten Notfall eingesetzt werden, um die Not zu lindern und Menschen vor dem Hungertod zu bewahren. Noch wichtiger, um eine der wesentlichen Ursachen des Hungers zu beseitigen, ist eine gerechte, friedliche Lösung der militärischen Konflikte in Äthiopien und insbesondere des Eritrea/ÄthiopienKonfliktes, dem eine gewisse Schlüsselrolle für einen Frieden am gesamten Horn von Afrika zukommt.
Ich bin zutiefst enttäuscht, daß es die Bundesregierung versäumt hat, anläßlich des Besuches des äthiopischen Vizepräsidenten vor vier Wochen in Bonn auf eine gerechte, friedliche Lösung der militärischen Konflikte zu drängen.
Will die Bundesregierung die äthiopischen Militärs vor Kritik schützen, um sie über Nahrungsmittelhilfe, finanzielle und technische Hilfe wieder in das westliche Lager zurückzugewinnen? Glaubt die Bundesregierung im Ernst, daß sich durch die Verfassungsgebung und die manipulierten und gefälschten Wahlen zu einer Volksversammlung irgend etwas am Charakter der Militärregierung verändert habe? Wie war es denn in dem eritreischen Dorf namens Keru? Hier wurde der Kommandeur der äthiopischen Streitkräfte in Eritrea, Generalmajor Regasa Jimma, gewählt. Tatsache ist, dieses Dorf existiert seit Jahren nicht mehr, es wurde von der äthiopischen Armee im Krieg gegen die eritreische Befreiungsbewegung dem Erdboden gleichgemacht.
Keine Anzeichen sprechen dafür, daß durch das Autonomieangebot an Eritrea dort Frieden einkehrt. Für mich sind diese Schritte nichts anders als Imagepflege eines in Mißkredit geratenen Regimes. Nach meinen neuesten Informationen planen die Äthiopier eine neue Militäroffensive in Eritrea.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn die westliche Welt Äthiopien in ihr Lager zurückgewinnen will, ohne daß eine gerechte, friedliche Lösung für die militärischen Konflikte gefunden wird, dann müßte sie auch die militärische Unterstützung übernehmen, die bisher von der Sowjetunion geleistet worden ist; denn nur unter dieser Bedingung kann sich die Regierung an der Macht halten. Dies kann weder im Interesse der äthiopischen und eritreischen Völker noch im Interesse der Bundesrepublik liegen.
Herr Staatssekretär Köhler — das gleiche würde ich auch an Herrn Staatsminister Schäfer richten — , sollte Äthiopien auf Ihrer Reiseliste stehen, so appelliere ich an Sie, Ihren Einfluß in Addis Abeba für eine friedliche Lösung der kriegerischen Konflikte in Äthiopien zum Wohle der betroffenen unterdrückten Völker geltend zu machen.
Sie wissen, der Kreig zwischen Äthiopien und Eritrea wird aus außenpolitischen Gründen verschwiegen. Helfen Sie mit, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen!
Lassen Sie mich zum Schluß noch ganz kurz etwas zu dem von der CDU/CSU und der FDP vorgelegten Antrag „Ernährungssicherung in Hungerregionen" sagen. Er beschäftigt sich nicht mit den Ursachen und Strategien zur Bekämpfung des Hungers. Tatsächliche Ernähungsstrategien müßten sich mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftsordnung, der Schuldenlast der Entwicklungsländer, der ungerechten Handelsbeziehungen, der ungerechten Agrarordnung und ökologischen Fragen beschäftigen. Insofern wäre ein bescheidenerer Titel wie etwa „Nahrungsmittelnothilfe in Hungerregionen" treffender gewesen.
Da jetzt aber tatsächlich geholfen werden muß, stimmt meine Fraktion auch diesem Antrag zu. Zugunsten des interfraktionellen Antrags „Nahrungsmittelhilfe an Äthiopien" ziehe ich den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN zurück.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Folz-Steinacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer erinnert sich nicht an die schockierenden Bilder und Berichte von Hunger und Elend, die uns während der Dürrekatastrophe in Äthiopien und den übrigen afrikanischen Ländern der Sahelzone 1984, 1985 über die Medien erreichten? Diese Berichterstattung löste weltweit einen Schock aus, ermöglichte aber auch eine gewaltige internationale Hilfsaktion. Dadurch konnten Millionen von Menschen vor dem Hungertod gerettet werden.
3524 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Frau Folz-Steinacker
Dennoch kam für viele Hungernde jede Hilfe zu spät. Das konnte geschehen, weil insbesondere die äthiopische Regierung zunächst die sich anbahnende Katastrophe nicht eingestehen wollte. Aber auch die internationale Gebergemeinschaft hatte die Situation unterschätzt, obwohl es frühzeitig Hinweise auf die Auswirkungen der Dürreperiode gab. Als dann die massive Hilfsaktion einsetzte, waren erhebliche Transportprobleme und Koordinierungsschwierigkeiten zu überwinden.
Angesichts dieser Erfahrungen sind sich heute alle Verantwortlichen darin einig, daß künftig durch rechtzeitiges Handeln und eine umfassende Vorbereitung und Koordinierung der Hilfsprogramme derartige Gefahren vermieden werden müssen.
Die Welternährungslage hatte sich 1986 insgesamt verbessert, wobei die Entwicklungsländer ihre Agrarproduktion deutlich steigern konnten. Besonders erfreulich war dabei das positive Abschneiden Afrikas, das neben dem Nahen Osten erhebliche Zuwächse erzielen konnte. Statistisch gesehen müßten alle Menschen auf der Erde satt werden können, da weltweit heute mehr Nahrung produziert wird, als die Menschheit zur Mindestversorgung benötigt.
Dieser positiven Entwicklung stehen jedoch auch weiterhin strukturelle Nahrungsmitteldefizite vieler Entwicklungsländer und eine wachsende Zahl unterernährter Menschen in diesen Ländern gegenüber. Die Zahl der Hungernden und Unterernährten auf der Welt beträgt laut FAO gegenwärtig zirka 512 Millionen. Meine Damen und Herren, das sind 512 Millionen Menschen zuviel.
Nach den vorliegenden Berichten aus Äthiopien hatte sich Ende 1987 die Ernährungslage in diesem Land, besonders in den nördlichen und den östlichen Provinzen, infolge des fast vollständigen Ernteausfalls ganz dramatisch verschlechtert. Es muß befürchtet werden, daß hier erneut eine Hungerkatastrophe droht, die noch größere Ausmaße als in den Jahren 1984, 1985 erreichen könnte. Und Hunger tut weh. Das haben wir hoffentlich bis heute noch nicht vergessen.
Nach inoffiziellen Angaben beträgt die Zahl der vom Hungertod bedrohten Menschen sogar 7 bis 8 Millionen. Bei diesen Meldungen stellt sich ganz zwangsläufig die Frage nach den Gründen dieser erneuten Katastrophe. Fehlende Niederschläge, aber auch die von der äthiopischen Regierung vorgenommene Kollektivierung des bäuerlichen Besitzes sowie gewaltsame Umsiedlungs- und Verdorfungsprogramme spielen hierbei eine ganz, ganz große Rolle.
Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP haben mit ihrem Antrag Ernährungssicherung in Hungerregionen vom 14. Oktober 1987 auf Grund sich abzeichnender Ernährungskrisen in Äthiopien und in den anderen Regionen dieser Welt, wie ich hoffe, frühzeitig die Initiative ergriffen. Auf Grund der besonders dringlichen und sich fast dramatisch zuspitzenden Situation in Äthiopien haben sich alle vier — ich betone: alle vier — im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen darüber hinaus auf einen
interfraktionellen Antrag Ernährungssituation in Äthiopien geeinigt, in dem die Bundesregierung zur Durchführung eines umfangreichen Sofortprogramms sowie längerfristiger Maßnahmen zur Ernährungssicherung in Äthiopien aufgefordert wird.
Die damit deutlich gewordene Gemeinsamkeit aller Fraktionen in dieser entscheidenden humanitären Frage, in der es um das Überleben von Millionen Menschen geht, möchte ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich begrüßen.
Bemerkenswert sind an diesem Antrag auch die darin festgelegten politischen und organisatorischen Grundsätze für das Hilfsprogramm. Ich habe versprochen zu kürzen. Deswegen lese ich das nicht vor; Sie finden es in dem Antrag.
Meine Damen und Herren, immer dann, wenn in den Ländern der Dritten Welt Notsituationen in der Ernährung auftreten, spielen dabei Naturereignisse eine ganz große Rolle. Es wäre jedoch falsch, wenn wir nur darin die Hauptursachen für Hunger und Armut in den Entwicklungsländern sehen würden.
Lassen Sie mich daher einmal die aus meiner Sicht häufigsten Ursachen aufführen.
Erstens. Zu den klimatischen Ursachen gehören und gehörten natürlich die wiederholt auftretenden Dürreperioden, z. B. in der Sahel-Zone. Eine Ausdehnung der Wüsten und damit die Verringerung landwirtschaftlich nutzbarer Fläche beruht jedoch nicht nur auf einer anhaltenden Dürre, sondern vor allem auf der extremen Ausbeutung des Bodens, seiner Überlastung mit Vieh, schlechter Bewässerung und der, wie man sagen kann, unkontrollierten Abholzung.
Zweitens. Hohes Bevölkerungswachstum frißt das wirtschaftliche Wachstum auf, verhindert Entwicklung und macht Armut und Hunger zum Dauerzustand.
Drittens. Eine verfehlte Landwirtschaftspolitik ist außerdem in vielen Entwicklungsländern für die anhaltende Produktionskrise in der Landwirtschaft verantwortlich. Die Ausschöpfung des natürlichen Produktionspotentials wird häufig durch unzureichende preisliche Produktionsanreize, leistungshemmende Agrarverfassungen, schwache Markt-, Finanzierungs- und Infrastrukturen, die Vernachlässigung und vielfach Benachteiligung der Landwirtschaft — insbesondere der Kleinbauern — sowie durch eine einseitige Begünstigung des industriellen Sektors und durch überbewertete Wechselkurse verhindert.
Viertens. Ungünstige Betriebsstrukturen — ich kann Ihnen das leider nicht ersparen; es ist sehr wichtig, daß ich das hier vortrage —
durch eine sozial und wirtschaftlich ungerechte Verteilung der Produktionsfaktoren und Produktionsergebnisse.
Fünftens. Politische Krisen, die sich in bewaffneten Auseinandersetzungen äußern, riesige Flüchtlingsströme verursachen und zu Hungersituationen führen. Das hat meine Kollegin schon richtig ausgeführt.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3525
Frau Folz-Steinacker
Sie sehen: Wir haben wirklich einen Antrag zusammengestellt, der von allen vier Fraktionen getragen wird.
Sechstens. In vielen Entwicklungsländern geht ein großer Teil der erzeugten Nahrungsmittel durch falsche Behandlung, unsachgemäße Lagerung sowie Schädlinge verloren. Es ist daher auch eine Notwendigkeit, Maßnahmen zur Verringerung dieser vermeidbaren Verluste zu unterstützen. Diese Verluste sind wirklich vermeidbar; nur müßten wir da etwas tun.
Die FDP-Fraktion, meine Damen und Herren, begrüßt die Hilfe der Bevölkerung, das Engagement der nichtstaatlichen Trägerorganisationen sowie die Anstrengungen von Bundesregierung und multilateralen Institutionen bei der Bekämpfung des Hungers in Afrika und natürlich auch in anderen Regionen dieser Welt.
Nahrungsmittelhilfe ist jedoch nur zur kurzfristigen Bekämpfung extremer Notsituationen geeignet.
Wir müssen darauf achten, daß Nahrungsmittelhilfe nicht zur Dauereinrichtung wird. Vor allem darf Nahrungsmittelhilfe nicht die einheimischen landwirtschaftlichen Anstrengungen unterlaufen, und sie sollte auch nicht an Überschüssen der Geberländer orientiert sein.
— Ich freue mich, daß Sie alle mit mir zufrieden sind.
Wir wissen, daß die Mehrzahl der armen und an chronischer Unterernährung leidenden Menschen in den Entwicklungsländern auf dem Land lebt. Daher kommt der Förderung der Landwirtschaft und der Entwicklung des ländlichen Raumes in den Ländern der Dritten Welt eine ganz besondere Bedeutung zu.
Für uns Liberale steht fest: Nur wenn wir die Selbsthilfekräfte aller am Entwicklungsprozeß Beteiligten mobilisieren, günstige Rahmenbedingungen für eine kleinbäuerliche Landwirtschaft schaffen, den Abbau staatlicher Eingriffe in die Preisbildung und Funktionsweise der Märkte und einen Abbau ineffizienter wirtschaftlicher Aktivitäten des Staates erreichen, werden wir Fortschritte bei der Beseitigung von Hunger und Armut in den Ländern der Dritten Welt erzielen.
Wir müssen unsere Partner in der Dritten Welt in einem ganz sachlichen Dialog von den Notwendigkeiten dieser unserer Politik überzeugen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat bei der Verfolgung dieser Ziele unsere ganze Unterstützung.
— Um den Kollegen Holtz noch einmal zu verstärken: und unseren Druck. Wir passen da sehr genau auf.
Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfraktion bittet die Mitglieder dieses Hohen Hauses,
den vorliegenden Anträgen der Koalitionsfraktion „Ernährungssicherung in Hungerregionen" sowie dem interfraktionellen Antrag „Ernährungssituation in Äthiopien" zuzustimmen.
Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Großmann.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir haben — dies ist schon mehrfach erwähnt worden — zwei Anträge heute abend auf der Tagesordnung. Da man in zehn Minuten nicht einen Parforceritt durch die ganze Welt machen kann, möchte ich mich in meinem Redebeitrag auf die Situation in Äthiopien beschränken und diesem Land die ganze Aufmerksamkeit widmen.
Als ich im September dieses Jahres in Äthiopien war, war die drohende Hungerkatastrophe bereits vorherzusehen. In einem Gespräch mit Berhanu Jembere, dem Vorsitzenden der Relief & Rehabilitation Commission Äthiopiens konnte man bereits die Dimensionen der Katastrophe erahnen. Es wurden Zahlen genannt, die sich jetzt nicht nur bestätigen, sondern die wahrscheinlich sogar schlimmer werden. Damals wurde bereits gesagt, daß man eine Million Tonnen Nahrungsmittelhilfe brauchen würde, um die Ernteausfälle zu kompensieren. Damals bestand noch einiges an Hoffnung: Die Bauern hatten teilweise zum zweitenmal eingesät, und im September hoffte man auf weitere Regenfälle, die dann aber ausblieben.
Seit mehreren hundert Jahren lassen sich in Äthiopien im Durchschnitt alle elf Jahre Dürreperioden nachweisen. Das Land ist geradezu verdammt, mit diesem Phänomen zu leben. Trotzdem müssen wir uns fragen, warum die Abstände der Dürreperioden immer kürzer werden und warum das Ausmaß der Katastrophen immer größer wird.
In Äthiopien leben derzeit etwa 46 Millionen Menschen. Bei einem Bevölkerungswachstum von etwa 2,8 % pro Jahr kann man leicht errechnen, daß es im Jahr 2000 etwa 68 Millionen Menschen sein werden. Das sind 50% mehr als heute.
Bereits heute wird es jedoch immer schwieriger, diese Menschen zu ernähren. Das hat auch schwerwiegende ökologische Folgen: Nur noch 2,5 % des Landes sind bewaldet. Eine systematische Überweidung läßt vielerorts nichts mehr wachsen. Die Erosion des Mutterbodens nimmt dramatische Formen an: 50% des Hochlandes sind bereits stark erodiert, 10 % sind so stark erodiert,. daß dort überhaupt nichts mehr wächst. An vielen Stellen verwandelt sich ehemals fruchtbares Land in Wüste.
Ein Beispiel aus diesem Szenario: Weil Holz fehlt und Brennholz zunehmend durch andere Materialien, z. B. getrockneten Mist und Ernterückstände, ersetzt wird, die auf der anderen Seite als potentieller Dünger dem Boden dann nicht mehr zugute kommen können, kommt es nach Schätzungen der Weltbank zu Ernteausfällen in Höhe von einer Million Tonnen Getreide und Nahrungsmitteln. Das heißt, es kommt zu Ernte-
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Großmann
ausfällen in genau der gleichen Höhe, wie wir jetzt Hilfe leisten müssen.
Der zweite Grund sind sicherlich die seit Jahrzehnten in einigen Landesteilen wütenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Sie führen dazu, daß Heuschreckenplagen nicht mehr systematisch bekämpft werden, daß vielerorts Felder nicht mehr richtig bestellt werden können und daß oft an sehr unzugänglichen Stellen, die man dann auch nicht erreichen kann, Felder angelegt werden, etwa an steilen Hängen, was die Bodenerosion natürlich noch beschleunigt.
Fatal ist auch, daß alle an diesem Bürgerkrieg Beteiligten in der Gefahr sind, die Hungerkatastrophe für sich auszunutzen, wie es schon einmal passiert ist, sie für sich quasi zu instrumentalisieren. Da werden Lebensmitteltransporte überfallen, da findet ein Vertragspoker statt, um vielleicht auf diesem Wege eine Art von offizieller Anerkennung zu bekommen. Da öffnet sich natürlich auch plötzlich eine Weltöffentlichkeit, die geradezu herausfordert, eigene Ziele, Programme und Appelle öffentlich zu machen. Auf all das reagiert die äthiopische Regierung, und so folgt der Subversion die Repression, ein Teufelskreis gewaltsamer Auseinandersetzungen.
Man muß dies wissen, um unseren gemeinsamen Antrag zu verstehen. Schon einmal haben die Europäische Gemeinschaft, westeuropäische Länder, die Bundesrepublik, viele Bürger unseres Landes dazu mitgeholfen und dazu beigetragen, daß Hunger in Äthiopien beseitigt wird. Damals kam die Hilfe für viele zu spät, auch deshalb, weil die äthiopische Regierung zu spät die Weltöffentlichkeit alarmierte. Etwa eine Million Menschen starben.
Heute wissen wir früher Bescheid, schon seit einigen Monaten. Die Hilfe wird wieder dringend gebraucht, denn schon gibt es die ersten erschreckenden Nachrichten, daß die Menschen in den betroffenen Gebieten Äthiopiens nicht warten, bis die Hilfe kommt, sondern daß sich viele Tausende schon auf den Weg gemacht haben, aus ihren Dörfern und Gebieten weggezogen sind und vor den Städten lagern, wo sie bereits 1984/85 Hilfe bekamen. Rechnete man zunächst damit, etwa im Januar/Februar 1988 werde es den Höhepunkt der Not geben, so erkennen wir jetzt, daß sich der Hunger nicht an Fristen hält. Deshalb ist schnelle und gezielte Hilfe unaufschiebbar.
Unser gemeinsamer Antrag fordert daher die Bundesregierung auf, sofort alles Nötige zu veranlassen, um eine solche Hilfe sicherzustellen.
Dazu zählt die Nahrungshilfe selbst, aber vor allem die Möglichkeit, die Lebensmittel in die betroffenen Landesteile zu bringen, das heißt, dafür zu sorgen, daß die Nahrungsmittelhilfe die Betroffenen erreicht.
Mit großer Dankbarkeit stellen wir fest, daß auch viele Nichtregierungsorganisationen sich wieder an der Hilfe beteiligen, wie es schon vor drei, vier Jahren der Fall war.
Die Hilfe muß jedoch noch stärker werden. Wir müssen sicherstellen, daß uns nicht erneut erst die Bilder verhungerter Kinder aufrütteln.
Wenn wir diesen ersten Schritt, ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, geschafft haben, kommt das zweite große Problem, nämlich, wie gesagt, sicherzustellen, daß die Betroffenen erreicht werden. Diesem humanitären Ziel müssen alle anderen Ziele untergeordnet werden.
Das heißt konkret: Die äthiopische Regierung muß Nahrungsmitteltransporte in umkämpfte Gebiete durchlassen, also auch nach Eritrea und Tigre. Die dort tätigen humanitären Organisationen müssen ihre Arbeit ungehindert leisten können. Befreiungsbewegungen aus Tigre und Eritrea dürfen ebenso wie die äthiopische Regierung die drohende Hungersnot nicht für politische und militärische Ziele mißbrauchen. Keine am Bürgerkrieg beteiligte Seite darf Hilfslieferungen beschlagnahmen oder zerstören. Die Transportmittel, die Äthiopien erneut zur Verfügung gestellt werden, dürfen weder jetzt noch später zu militärischen Zwecken eingesetzt werden. Das sind drei zentrale Forderungen an die Nahrungsmittelhilfe.
Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Forderungen durchzusetzen.
Diese kurze Debatte sollte aber auch den Anstoß geben, uns mit Äthiopien intensiver zu beschäftigen, vielleicht nicht heute, aber in naher Zukunft. Es wäre nicht gut, wenn wir uns nur von Katastrophe zu Katastrophe mit diesem Land beschäftigten.
Deshalb enthält der Antrag die weitere Forderung, durch eine mittel- und langfristige Politik sicherzustellen, daß die Ursachen des Hungers bekämpft werden; das heißt — das ist hier schon mehrmals gesagt worden — erstens bei der friedlichen Lösung der Konflikte in diesem Land verstärkt mitzuhelfen und zweitens Äthiopien bei der ökologischen Offensive zu helfen, die das Ziel hat, den Boden zu rehabilitieren und aufzuforsten, seine Erosion zu stoppen, seine Fruchtbarkeit zu vermehren und seine Überbelastung zu vermeiden. Es gibt eine Menge Anstrengungen der äthiopischen Regierung in dieser Richtung, die man unterstützen kann.
Die Lösung der Probleme kann jedoch nicht nur von außen erfolgen. Hier ist die äthiopische' Regierung selber gefordert. Die neue Verfassung, seit September 1987 in Kraft, gibt Anzeichen dafür, daß die Politik der äthiopischen Regierung berechenbarer wird. Es ist Zeit, die Urteile und Vorurteile über die äthiopische Regierung und die äthiopische Politik zu überprüfen. Wir werden das aber kritisch und mit großer Aufmerksamkeit tun.
Wir appellieren an die äthiopische Regierung gerade heute am Tag der Menschenrechte, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Aus dem Verfassungstext muß die Regierung eine nachprüfbare Verfassungswirklichkeit werden lassen.
Wir hoffen, daß die Tatsache, daß erneut eine große Welle der Hilfsbereitschaft, des menschlichen Mitfühlens und der Solidarität mit den Hungernden in Äthiopien erkennbar ist, auch die äthiopische Regierung nachdenklich macht und dazu bringt, diese Hilfsbereitschaft, dieses Mitgefühl und diese Solidarität auch in die eigene Politik einfließen zu lassen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3527
Großmann
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Köhler das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Namens der Bundesregierung kann ich den Antrag, der hier beraten wird, ausdrücklich begrüßen. Ja, ich kann darüber hinaus sagen, daß wir seit geraumer Zeit im Sinne dieses Antrags handeln.
— Liebe Frau Eid, warten Sie das Ende ab. Ich werde nicht in einem Satz all das beantworten können, was Sie wissen wollen. — Es sind seit der letzten großen Hungerkatastrophe in Äthiopien erst zwei Jahre vergangen, und wieder bedroht der Hunger Millionen von Menschen. Wir haben alle nicht vergessen, daß die Menschen in unserem Land in den Jahren 1984 und 1985 großzügige humanitäre Hilfe geleistet haben. Auch die Bundesregierung hat damals getan, was sie irgend konnte. Allein der „Tag für Afrika" hat ein Spendenaufkommen von mehr als 120 Millionen DM erbracht, und das verpflichtet uns bis heute. Die Bundesregierung hat in jener Zeit rund 200 Millionen DM für den Kampf gegen den Hunger in Äthiopien eingesetzt.
Aber wir haben auch Hilfe geleistet, nachdem die Bilder hungernder Kinder von den Fernsehschirmen verschwunden waren. Im Jahre 1986 haben wir Nahrungsmittelhilfe im Wert von rund 32 Millionen DM bereitgestellt. Im jetzt ablaufenden Jahr 1987 werden wir Nahrungsmittelhilfe in derselben Größenordnung leisten.
Wir haben bei dieser Hilfe nicht nach Schuldigen gefragt. Das humanitäre Ziel der Überlebenshilfe hatte Vorrang vor jeder anderen Überlegung.
So werden wir auch im Jahre 1988 wieder umfangreiche humanitäre Soforthilfe leisten. Die bilaterale Nahrungsmittelhilfe an Äthiopien wird sich ungefähr in der gleichen Größenordnung wie auch 1987 bewegen. Sie soll wiederum vor allem über internationale und private nationale Hilfsorganisationen abgewikkelt werden. Wieder werden wir Nahrungsmittel liefern und ihren Transport durch Lastwagen und — wenn nötig — auch durch Flugzeuge unterstützen. Bereits gegenwärtig besteht eine u. a. von der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesregierung finanzierte Luftbrücke nach Tigre. Koordinierung ist auch hier ein selbstverständlicher Bestandteil der internationalen Hilfe. Vor diesem Hintergrund können wir davon ausgehen, daß Äthiopiens Bedarf an Nahrungsmittelhilfe im Jahre 1988 insgesamt gedeckt werden wird.
Meine Damen und Herren, wir leisten humanitäre Soforthilfe, wo die Menschen sie benötigen. Aber das entbindet uns natürlich nicht von der entwicklungspolitischen Pflicht, zu fragen: Was sind die Ursachen des Hungers? Es ist hier zur Genüge gesagt worden — ich
kann das nur noch wiederholen — , daß Dürre und Bürgerkrieg ihre Rolle spielen. Das sind Erscheinungen, die in das reine Fach des Entwicklungspolitikers vielleicht nur zu einem Teil hineingehören.
Ich möchte hier noch einen wesentlich konkreteren Punkt herausgreifen. Nur, lassen Sie mich an der Stelle sagen, Frau Eid: Die hier von Ihnen verbreitete Annahme, daß diese Bundesregierung nicht jedes Mittel nutzt, um die äthiopische Regierung darauf hinzuweisen, daß dieses Elend ohne eine friedliche Verständigung im Lande nie aufhören wird, ist völlig abwegig. Das tun wir auf jede Weise. Für mich persönlich beginnt das z. B. mit der Erinnerung daran, wie Herr Minister Klein und ich vor etwas mehr als sechs Jahren Fidel Castro in Havanna einmal die Frage gestellt haben, wie er denn eigentlich begründen wolle, daß er die Eritreer bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in jeder Weise unterstützt hat und dann der äthiopischen Regierung Rat und Mittel zur Verfügung stellte, um den Krieg gegen die Eritreer zu führen.
— Jawohl, Herr Holtz, Sie wissen genau, wovon ich spreche. —
Ich möchte hier jetzt aber noch sehr deutlich auf die Landwirtschaftspolitik der äthiopischen Regierung eingehen. Denn es gilt hier auch die Frage zu beantworten, die jeder Spender in unserem Land auf den Lippen hat, warum es denn in der Zwischenzeit nicht möglich war, die Wiederholung des Elends zu vermeiden. Und darauf haben wir zu antworten.
Die Landwirtschaftspolitik der äthiopischen Regierung ist nach allem, was wir wissen, was die internationale Gebergemeinschaft und viele Partner in der Dritten Welt an Erkenntnissen haben, leider verfehlt. Sie hat falsche Rahmenbedingungen für die Entwicklung des ländlichen Raumes gesetzt.
Den größten Teil der Budgetmittel, die für den Landwirtschaftssektor bestimmt sind, läßt die äthiopische Regierung den unwirtschaftlichen Staatsfarmen zukommen. Der Kleinbauernsektor, der zu mehr als 90 To zur landwirtschaftlichen Produktion Äthiopiens beiträgt und die Lebensgrundlage für die Masse der ländlichen Bevölkerung des Landes darstellt, wird so in einer nicht zu vertretenden Weise vernachlässigt.
Die Kleinbauern leiden insbesondere darunter, daß die staatlich garantierten Produzentenpreise so niedrig festgesetzt werden, daß sie keinen Anreiz zur Mehrproduktion für den Markt darstellen, daß eine Pflicht zur Abgabe an staatliche Vermarktungsorganisationen besteht und keine gesicherten Landnutzungsrechte gewährt werden. Leider hat die äthiopische Regierung bisher eben noch nicht erkannt, daß gerade die Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Bekämpfung des Hungers unabdingbar ist.
3528 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Parl. Staatssekretär Dr. Köhler
Die Bundesregierung hat sich im EG-Ministerrat seit Jahren dafür eingesetzt, von der äthiopischen Regierung eine Unterstützung der Kleinbauern zu fordern. Die EG-Kommission — ich danke Vizepräsident Natali hier ganz besonders — hat in ihrem Politikdialog mit der äthiopischen Regierung bisher alles versucht, um diesen Standpunkt zu verbreiten, aber keinen durchgreifenden Erfolg erzielt. Auch die Weltbank bemüht sich, der äthiopischen Regierung in der Frage der Politik im Landwirtschaftsbereich den richtigen Rat zu geben. Sie hat bisher keine Erfolge verzeichnen können.
Erschwert wird die Lage der Landwirtschaft ja noch durch die Verdorfungs- und Umsiedlungspolitik der äthiopischen Regierung. Diese Verdorfungspolitik hat in der Vergangenheit wesentlich weniger Schlagzeilen als die Umsiedlung gemacht, aber es wäre wert, daß auch darüber mehr gesprochen wird, denn sie hat möglicherweise noch viel weiter reichendere Folgen, da sie bereits gegenwärtig Millionen von Menschen erfaßt. Die Erfahrungen mit der Verdorfung in einigen äthiopischen Provinzen können wir wie folgt zusammenfassen: Die Wirkung auf die landwirtschaftlich Produktion ist überwiegend negativ, da die Wege n den neuen Dörfern zu den Feldern zu lang sind und damit weniger Zeit für die Arbeit auf den Feldern bleibt. Die von der Regierung versprochenen Dienstleistungen in den Dörfern, insbesondere auf dem Gebiet des Gesundheitswesens und der Erziehung, konnten wegen Mangels an finanziellen Mitteln nicht eingerichtet werden. Die neuen Dörfer schaffen die siedlungsmäßigen Voraussetzungen für die politische Kontrolle der ländlichen Bevölkerung durch die Regierung und für die Kollektivierung der Landwirtschaft.
Die bisherigen Erfahrungen mit der Umsiedlung von Menschen aus Nordäthiopien in den Westen und Südwesten Äthiopiens sind ebenfalls negativ. Meine Damen und Herren, ich stütze mich hier nicht nur auf eigenes Urteil. Wir haben uns noch gestern die jüngsten Eindrücke und Erfahrungen z. B. eines so engagierten Mannes wie Bob Geldof, der gerade in Äthiopien gewesen ist, aus London durchsagen lassen.
Die Zwangsdeportation hat dominiert. Beim Transport herrschte Brutalität. Die Umsiedlungslager werden durch Armee und Miliz bewacht. Der Aufwand an finanziellen Mitteln und Fachpersonal ist beträchtlich, das ökonomisch-ökologische Potential vieler Neusiedlungsgebiete dagegen noch unerforscht. Die Neusiedler haben beträchtliche Krankheits- und Anpassungsrisiken. Gleichzeitig werden in den Aufnahmegebieten ethnische Minderheiten an den Rand gedrückt. Insgesamt besteht der Eindruck, daß die Umsiedlung den Aufstandsbewegungen die Bevölkerung entziehen soll.
Auf Grund dieser Erfahrungen und absehbaren Risiken ist die Bundesregierung nach wie vor eindeutig gegen die Umsiedlung wie auch gegen die Verdorfung.
Die Rehabilitierung dürregeschädigter Gebiete als Alternative zur Umsiedlung ist von der äthiopischen Regierung bisher noch nicht ernsthaft ins Auge gefaßt worden.
Die Bundesregierung wird gemeinsam mit wichtigen anderen Gebern, insbesondere der Europäischen Gemeinschaft und der Weltbank, der äthiopischen Regierung immer wieder darzulegen und zu erklären versuchen, daß sie im Rahmen ihrer Landwirtschaftspolitik der Kleinbauernförderung Priorität einräumen und die Umsiedlungs- und Verdorfungskampagnen beenden muß, wenn sie einen Beitrag zur Beseitigung der strukturellen Ursachen des Hungers leisten will.
Meine Damen und Herren, ich habe damit klargelegt, weshalb die Zeit der letzten beiden Jahre trotz aller unserer Anstrengungen, die wir unternommen haben, nicht genutzt wurde. Deswegen sage ich zum Schluß: Unter den Bedingungen, die ich hier genannt habe — aber auch nur unter diesen Bedingungen — sind wir jederzeit zur Zusammenarbeit mit der äthiopischen Regierung im Landwirtschaftssektor bereit. Unabhängig von dieser Frage wird die Bundesregierung auch weiterhin humanitäre Soforthilfe in dem Umfang und, in der Form leisten, wie sie die Menschen in Äthiopien benötigen. Die vom Bundesminister Klein in der letzten Woche angekündigte Soforthilfe für Flüchtlinge in Äthiopien war nur ein erster Schritt in diese Richtung. Es wird nicht an unseren Bemühungen fehlen.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren. ich schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Drucksache 11/1501. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei einer Enthaltung angenommen worden.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zur Ernährungssituation in Äthiopien auf Drucksache 11/1482. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen worden.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich möchte es nicht versäumen, mich bei den 26 Kollegen, die die Geduld gehabt haben, bis zum Schluß auszuharren, bei den Beamten und Saaldienern herzlich zu bedanken.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Freitag, den 11. Dezember, um 8.30 Uhr ein und hoffe, morgen früh recht viele von Ihnen hier wiederzusehen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.