Herr Oostergetelo, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß die Weichen für diese verfehlte Agrarpolitik unter Ihrer Regierung gestellt wurden?
Heute muß jedem Partnerland klar sein, daß es für das Europa der EG kein Zurück gibt. Allen Schwierigkeiten zum Trotz gibt es keine Alternative zur Gemeinschaft. Jede Option einer splendid isolation gehört der Vergangenheit an. Jeder Alleingang muß zwangsläufig in der Sackgasse landen.
Der europäische Einigungsprozeß kann auch Modell für die Völker Mittel- und Osteuropas sein. Er kann ihnen zeigen, daß Ausgleich und Versöhnung auf der Grundlage von Menschenrechten und Gewaltverbot konkrete Wirklichkeit werden können, denn nur im Westen unseres Kontinents herrscht eine
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Frau Geiger
dauerhafte Friedensordnung. Im Osten sind immer wieder brutale Machtmittel oder unverhüllte Drohungen eingesetzt worden, um die sowjetische Vormacht über Mittel- und Osteuropa zu erhalten. Daran hat sich auch im Zeichen von Glasnost und Perestrojka nichts wesentliches geändert. Das Festhalten der Sowjetunion an einem allein auf militärischer Stärke begründeten Hegemonialmachtkonzept hat in Europa dazu geführt, daß auf unserem Kontinent so viel Waffen angehäuft wurden wie sonst nirgendwo auf der Welt.
Bei der sinnlosen Überrüstung haben die westlichen Verbündeten in diesem Ausmaß nicht mithalten können und auch nicht mithalten wollen. So entstand die sowjetische Überlegenheit bei allen konventionellen Offensivsystemen, bei den C-Waffen und auf dem nuklearen Gebiet. Dabei ist die Sowjetunion selbst ins Hintertreffen geraten. Denn nur auf dem militärischen Gebiet ist der Warschauer Pakt heute führend. Wirtschaftlich hat ihn die Überrüstung an den Rand des Abgrunds getragen.
Michail Gorbatschow, ein Mann der neuen Generation sowjetischer Führer, ist ein Politiker, der sich über den traurigen Zustand der sowjetischen Wirtschaft im klaren ist und der offensichtlich Veränderungen will. Über eines müssen wir uns allerdings im klaren sein: Gorbatschow will zwar abrüsten und Kosten sparen; er will aber gleichzeitig die sowjetische Überlegenheit nicht aufgeben.
Was bedeutet dies für uns nach der Unterzeichnung des INF-Vertrages am vergangenen Dienstag in Washington? Für uns muß auch nach dem 20. Jahrestag des Harmel-Berichts über die künftigen Aufgaben der Allianz noch das gelten, was die 15 Unterzeichnerstaaten als ihr höchstes Ziel herausstellten, nämlich eine gerechte und dauernde Friedensordnung in Europa mit geeigneten Sicherheitsgarantien zu erreichen.
Im Geist der beiden Teile des Harmel-Berichts begrüßen wir das INF-Abkommen als Einstieg zu einer viel weitergehenderen Abrüstung. Daß dieses Übereinkommen zustande kommen konnte, verdanken wir allein der Festigkeit des Westens in der Nachrüstungsfrage. Dazu darf ich Gerhard von Glinski zitieren, der im „Rheinischen Merkur" folgendes ausführte :
Diese Waffen, die Pershing II und Cruise Missiles, die so viele Diskussionen, Demonstrationen, Sitzblockaden und richterliche Entscheidungen hervorgerufen haben, werden wir also in absehbarer Zeit loswerden. Jene, die sich seinerzeit dagegen wandten, werden das als Lohn ihres Einsatzes interpretieren. Zu Unrecht, denn erst die Stationierung selbst hat die Sowjets an den Verhandlungstisch genötigt. Der Vertrag ist insofern ein Triumpf westlicher Einheit und Verhandlungsstrategie.
Ja, meine Damen und Herren von der SPD, auch wenn Sie das heute nicht mehr hören wollen: Helmut Schmidt hatte recht, als er die Nachrüstung forderte.
Es war der historische Fehler der SPD, ihm dafür die Gefolgschaft zu verweigern.
Auch Willy Brandt hat ähnliches bei letzten Gesprächen eingeräumt.
Das INF-Abkommen ist in unseren Augen als Einstieg in eine weitergehende Abrüstung nützlich. Es darf jedoch nicht isoliert stehenbleiben. Denn nur ein Bruchteil aller atomaren Sprengköpfe wird von diesem Abkommen erfaßt. Die überwältigende Mehrheit atomarer Sprengköpfe bleibt weiterhin erhalten.
Deshalb müssen baldmöglichst weitere Schritte folgen. Alle Westeuropäer bleiben nach wie vor von den sowjetischen interkontinentalen Nuklearraketen bedroht, denn diese Raketen sind auch auf kürzere Reichweiten einstellbar. Jeder Punkt Westeuropas kann getroffen werden. Deshalb liegt es in unserem unmittelbaren europäischen und deutschen Interesse, wenn die beiden Weltmächte diese Waffenkategorie, wie es in den START-Verhandlungen geplant ist, um 50 % absenken.
Wir verlangen auch eine zuverlässige und überprüfbare Null-Lösung bei den chemischen Waffen. Das enorme C-Waffen-Potential der Sowjetunion kann nicht hingenommen werden. Seit langem fordert meine Fraktion die weltweite Null-Lösung für diese besonders heimtückischen Waffen, deren Einsatz bereits im Genfer Protokoll von 1925 völkerrechtlich verboten wurde. Die Sicherheit aller Staaten kann auch ohne diese barbarischen chemischen Waffen gewährleistet werden.
Durch jeden nuklearen Abrüstungsschritt gewinnt das Übergewicht des Warschauer Paktes bei den konventionellen Streitkräften an Bedeutung. Deshalb muß das Hauptaugenmerk der Rüstungskontrolle in den nächsten Jahren gerade auf den konventionellen Waffengattungen liegen. Die Sowjetunion hat die Fähigkeit zu raumgreifender Offensive, zur Invasion und zum Überraschungsangriff. Wenn es in Zukunft mehr Stabilität in Europa geben soll, muß die Sowjetunion auf diese Offensivfähigkeit verzichten.
Solange die sowjetische Übermacht bei den chemischen und konventionellen Waffen besteht, sind wir auf die kriegsverhütende Abschreckungswirkung der nuklearen Waffen und auf ein glaubwürdiges Minimum an Kernwaffen angewiesen. Kernwaffen haben in Europa in den letzten 40 Jahren als Waffen zur Kriegsverhinderung gedient.
Mit konventionellen Waffen dagegen wurden in vielen Gebieten der Erde Kriege geführt. Die heutigen konventionellen Waffen sind außerdem alles andere als harmlose Waffen. Dresden wurde im letzten Krieg durch konventionelle Waffen in einem unsäglichen Inferno zerstört. Bis heute ist auch die Entwicklung konventioneller Waffen weitergegangen, und auch diese Waffen können heute unvorstellbare Verwüstungen anrichten.
Das krasse Ungleichgewicht bei den bodengestützten nuklearen Flugkörpern bis 500 km Reichweite stellt für die Deutschen in beiden Teilen Deutschlands eine große und eine besondere Bedrohung dar und
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kann auf Dauer nicht hingenommen werden. Diese Systeme müssen in die Verhandlungen über ein neues Gesamtabrüstungskonzept, das auch die chemischen und die konventionellen Waffen umfaßt, mit einbezogen werden. Im NATO-Bereich darf es auch künftig keine Zonen mit geringerer Sicherheit geben, denn dies würde die gesamte NATO-Strategie gefährden.
An einer weiteren Maxime wollen wir mit allem Nachdruck festhalten: Die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa sind auch künftig auf die enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika angewiesen. Die Vereinigten Staaten bleiben unser wichtigster Partner und Verbündeter. Sie garantieren unsere Sicherheit. Daran hat sich bis heute nichts geändert, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.
Europa muß aber auch verstärkt eigene Verteidigungsanstrengungen machen. Europas Stärke hängt von seiner Einheit ab. Vorreiter dieser Einheit sind Deutschland und Frankreich. Die deutschfranzösische Zusammenarbeit ist die Lokomotive der politischen Einigung der EG. Sie bestimmt deshalb auch das Tempo des Einigungsprozesses. Deshalb hat die gemeinsame Brigade für uns durchaus mehr als einen symbolischen Charakter.
Für uns ist die westliche Allianz von Anfang an nicht allein ein Verteidigungsbündnis gewesen; sondern vor allem auch ein Wertebündnis. Uns im Westen verbindet die Staatsform der freiheitlichen Demokratie, die auf der Erhaltung der Menschenrechte und auf christlichen Werten gründet. Das unterscheidet uns vom Warschauer Pakt. Dies schließt für uns von vornherein jegliches Äquidistanzdenken aus, das derzeit bei der SPD mehr und mehr um sich greift.
Herr Bahr hat am letzten Montag einige beachtliche Äußerungen dazu gemacht.
Eine echte Lösung der Spannungen zwischen Ost und West kann im Kernwaffenzeitalter nur durch eine politische Lösung erreicht werden. Wir fürchten uns z. B. nicht vor französischen Raketen und Panzern, weil uns mit Frankreich heute Freundschaft und Demokratie verbinden. Nachdem sich unsere Väter und Großväter in vielen mörderischen Kriegen bekämpft haben, ist dies eine kaum glaubliche großartige politische Leistung.
Auch in diesem Zusammenhang ist das Urteil des Landgerichts Frankfurt, wonach Soldaten als „potentielle Mörder" bezeichnet werden dürfen, ein Skandal. Unsere Soldaten der Bundeswehr sind Garanten des Friedens und verdienen solche Beschimpfungen nicht.
Eine politische Lösung, so wie sie mit Frankreich möglich war, sollte auch mit dem Osten möglich sein. Voraussetzung dafür ist, daß die Sowjetunion Abschied nimmt von ihrer totalitären Ideologie und von der planmäßigen Verletzung der Menschenrechte. Der Maßstab für die Friedfertigkeit eines Landes ist und bleibt die Einhaltung der Menschenrechte. Wenn die Menschenrechtsfrage gelöst sein wird, wird es
auch für uns keine Bedrohung mehr aus dem Warschauer Pakt geben. Davon sind wir heute leider noch weit entfernt. Afghanistan ist dabei nur ein Stichwort.
Meine Fraktion wird nicht zögern, die sich bietenden Chancen zu einer wirklichen Entspannung zu ergreifen. Wir werden aber auch nicht aufhören, gegebene Versprechungen immer wieder anzumahnen. Ein umfassender Austausch von Wirtschaftsgütern, von Rohstoffen und technologischem Know-how, die dringende Lösung der Ost und West gleichermaßen bedrückenden Umweltprobleme, die Bekämpfung von Not und Elend in der Dritten Welt: all das sind Aufgaben, die durch eine intensive Zusammenarbeit von Ost und West leichter zu lösen wären. Es wäre sicherlich ganz großartig, wenn unsere Enkel dereinst feststellen könnten, daß mit den INF-Vereinbarungen und mit der doppelten Null-Lösung dazu der Grundstein gelegt wurde.
Ich danke Ihnen.