Rede von
Dr. h.c.
Gernot
Erler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt unterschiedliche Wertungen dessen, was vorgestern am 8. Dezember 1987, in Washington besiegelt worden ist. Aber in einem Punkt sind sich alle Politiker und Kommentatoren einig, nämlich über die historische Dimension des INF-Abkommens. Auch der Herr Bundeskanzler hat heute morgen davon gesprochen, daß dieser Akt in die Geschichte eingehen werde.
Die Frage ist nur, ob das, was danach folgte, insbesondere bei ihm und auch bei dem Herrn Kollegen Rühe, dieser historischen Dimension angemessen war. Wir haben erlebt, daß die Debatte sehr schnell in eine kleinkarierte Parteienrechthaberei ausglitt und in Vaterschaftsklagen, die hier vorgetragen wurden.
Ich glaube nicht, daß das den Erwartungen entspricht, die die Menschen an das Niveau dieser Debatte in diesem historischen Moment haben.
Das ist auch deswegen schade, weil es sich lohnt einen etwas näheren Blick auf die vertragliche Seite dieses Erfolges, also des nun unterzeichneten Abkommens, zu werfen.
Das Paket umfaßt 31 Seiten, dazu zwei noch längere Protokolle und 100 Seiten MoU. In diesen komplizierten Texten sind alle Produktionsstätten und Stationierungsorte aufgeführt, sind die Methoden zur Zerstörung der Raketen und ihrer Abschußrampen beschrieben, und vor allem ist minutiös festgehalten, wie der Abrüstungsvorgang wechselseitig kontrolliert werden soll. Um die Philosophie dieses Inspektionsprogramms zu beschreiben, zitierte Präsident Reagan bei der Unterzeichnung ein russisches Sprichwort: Dowerjai no prowerjai. Ich weiß nicht, ob er wußte, daß das eine Lieblingslosung von Lenin war, die am besten so übersetzt werden kann: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Zwei Dinge an diesem Verifizierungsteil sind festhaltenswert, der praktisch das Mark des Washingtoner Abkommens darstellt. Das eine ist die Bereitschaft, Spezialisten der anderen Seite, also lebendige Menschen der anderen Nation, in die geheimsten Produktions- und Lagerstätten nuklearer Waffen zur Überprüfung des Verschrottungsprozesses hereinzulassen. Da mußten beide Weltmächte über ihren Schatten springen. Da ist Packeis gebrochen worden,
das bisher tonnenschwer auf allen Abrüstungsverhandlungen gelegen hat.
Das zweite könnte sich vielleicht als noch bedeutungsvoller herausstellen. Denn trotz des perfektionistisch anmutenden Inspektionsrasters: Lücken bleiben doch. Wo die Technik zwangsläufig Schlupflöcher offen läßt, kann nur Vertrauen weiterhelfen. Vielleicht hat die langsam gewachsene, schließlich sensationell weitgehende Bereitschaft, sich der Verdachtskontrolle des anderen zu unterwerfen, am Ende dieses wechselseitige Vertrauen möglich gemacht. Das ist jetzt ein Modell: Diese Symbiose von Kontrolle und Vertrauen hat den Durchbruch gebracht. Das kann man jetzt übertragen z. B. und als erstes auf ein Abkommen zur weltweiten Abschaffung aller chemischen Waffen. Hier liegt ein Teil der historischen Bedeutung des INF-Abkommens, dessen wir uns bewußt werden sollten, aus dem heraus wir Zukunft gestalten können.
Wieviel brauchbarer und hoffnungsvoller ist es, wenn man das Washingtoner Abkommen aus diesem mühsamen Annäherungsprozeß heraus, der auf beiden Seiten nicht selten die Grenze der Selbstverleugnung gestreift hat, begreift und nicht mit dem Holzhammerargument kommt, das wir heute hier auch gehört haben, nämlich nach dem Muster: Wir haben nachgerüstet, die Russen sind eingeknickt, und jetzt akzeptieren sie leise weinend das, was wir immer wollten, nämlich unsere Abrüstungsvorschläge.
Diese fatale Logik einer Abrüstung durch Aufrüstung hat durch das INF-Abkommen keinerlei Bestätigung erfahren.
Aber dieses falsche Konzept lebt weiter. Noch vor wenigen Tagen wollte man uns allen Ernstes in diesem Hause weismachen, daß der Weg zu einem C-
Waffen-Abkommen nach dieser Logik eben über die Aufnahme der Produktion neuer binärer Chemiewaffen in den Vereinigten Staaten führe. 10 Milliarden Dollar haben die Mittelstreckenwaffen des Westens gekostet. Niemand weiß heute, was die binären C-Waffen, die in sechs Tagen in die Endmontage gehen dürfen, kosten werden. Aber eines steht heute schon fest: Jeder Dollar dafür ist falsch investiert.
Das Modell INF heißt: Der Weg über die kontrollierte Abrüstung ist möglich, wenn auf dem letzten Stück des Wegs ein wenig Vertrauen hinzukommt. Und nur dieses Modell wird in Genf zum endgültigen Aus der teuflischen C-Waffen führen.
Alle Welt fragt nun, wie es weitergehen soll. Washington und Moskau peilen bereits den nächsten Schritt, nämlich die Halbierung der von Kontinent zu Kontinent reichenden Atomraketen, an. Und was, kann man fragen, trägt Europa zum Abrüstungsfahrplan bei, was die Bundesrepublik?
Es ist ein Chaos. Von Ihrer Seite hört man täglich etwas anderes. Am häufigsten warnen Vertreter der Koalition davor, jetzt an die nuklearen Kurzstreckenwaffen heranzugehen. Noch vor wenigen Tagen hat Staatssekretär Rühl in der „Neuen Züricher Zeitung" wörtlich festgestellt, die NATO müsse — ich zitiere —
3442 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Erler
„gewisse Neuaufstellungen oberhalb der Minimalreichweite von 120 Kilometern ins Auge fassen" , um ein Gegengewicht zur Überzahl der sowjetischen Kurzstreckenwaffen zu schaffen, und er fügte hinzu — ich zitiere — : „Es ist klar, daß solche amerikanischen NATO-Missile-Systeme vor allem in der Zentralregion, d. h. für alle praktischen Zwecke in Westdeutschland, aufgestellt werden müßten."
Noch weiterreichende Vorstellungen entwickelte die 42. Tagung der Nuklearen Planungsgruppe der NATO in Monterey. Seitdem wissen wir, weshalb wir uns vor dem Abbau der Mittelstreckenwaffen nicht zu fürchten brauchen, weil nämlich schon technischer Ersatz in Sicht ist.
Was die Pershings und landgestützten Marschflugkörper nicht mehr erreichen, sollen nun in ihrer Reichweite verlängerte Lance-Raketen, see- und luftgestützte Cruise Missiles sowie sogenannte Abstandswaffen übernehmen. Der Code, unter dem das laufen soll, heißt: Modernisierung. Das klingt nämlich besser als Nachrüstung.
Es hat nun nicht an Stimmen gefehlt, auch von Sprechern der Koalition, die eine Nachrüstung von Kurzstreckenwaffen ablehnen. Wir haben heute von Herrn Rühe, vorher von Herrn Wörner, gehört, daß sie nicht auf der Tagesordnung stehen, jedenfalls nicht heute, vielleicht aber Anfang der 90er Jahre. Der eigentliche Grund ist, daß eine solche Nachrüstung nicht durchsetzbar sei. Wer soll eigentlich auch begreifen, daß ein Abbau bei den Kurzstreckenraketen, von denen der Warschauer Pakt nach NATO-Rechnungen 1 365 Systeme unterhält, der Westen aber ganze 88, unsere Sicherheit beeinträchtigen soll?
Das Motiv für die Modernisierungs- und Nachrüstungsideen ist schnell gefunden: Es geht um die Aufrechterhaltung einer Verteidigungsstrategie, die aus den 60er Jahren stammt und sich flexible response nennt. Die Verteidiger dieser Doktrin klammern sich verbissen an das Argument, sie habe immerhin bisher nicht versagt. Aber jetzt nach dem Abkommen von Washington erweist sich diese Strategie als Korsett. Dem westlichen Bündnis droht jetzt die Stagnation einer, so möchte ich das nennen: „strukturellen Nichtabrüstungsfähigkeit".
Verzweifelt versucht man, für die herausgebrochene Sprosse der Mittelstreckenwaffen Ersatz zu finden, um eine komplette Eskalationsleiter zu retten. Das ist der falsche Weg!
Wir müssen jetzt den Mut zu einer Triade der Abrüstung haben: bei den Chemiewaffen, bei den atomaren Kurzstreckenraketen, bei den konventionellen Waffen, wo wir bisher noch nicht einmal nachgefragt haben, was der neue sowjetische Begriff „razumnaja dostatotschnost" , der vernünftigen Suffizienz, eigentlich konkret heißen soll, geschweige denn selber über eigene quantitative und qualitative Vorstellungen verfügen, wie konventionelle Stabilität in Europa aussehen müßte. Am Ende eines solchen Prozesses werden in Ost und West die militärischen Strategien und Einsatzkonzepte ganz anders aussehen als heute.
Die Bedeutung der Erklärung des Politischen Beratenden Ausschusses der Warschauer-Vertragsstaaten vom 30. Mai dieses Jahres besteht vor allem in dem Angebot, gemeinsam über den Charakter und die wechselseitigen Perzeptionen dieser Strategien zu reden. Übrigens ist auch dies ein alter westlicher Vorschlag, den Anfang der 80er Jahre der heutige norwegische Verteidigungsminister Johan Jorgen Holst bereits mit seiner Idee eines „Seminar an Strategy" formuliert hat.
Wir fordern die Bundesregierung auf, im westlichen Bündnis dafür zu werben, diesen Vorschlag endlich aufzugreifen. Das Gebot der Stunde nach dem Washingtoner Abkommen kann nicht heißen — ich bin sofort fertig — , den alten löchrigen Sack der flexible response immer weiter zurechtzuflicken, sondern aus den Grundstoffen Abrüstung, Strategiedialog und vertrauensbildende Maßnahmen ein neues Kleid für ein konsensfähiges internationales Sicherheitssystem zu schneidern.
Danke schön.