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ID1104900400

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/49 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 49. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 Inhalt: Nachruf auf das verstorbene Mitglied des Deutschen Bundestages Dr. h. c. Peter Lorenz 3399 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 3399C, 3440 D Absetzung des Punktes 20a von der Tagesordnung 3400 A Tagesordnungspunkt 16: a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Einheitliche Akte muß ein Erfolg werden: Die Reform der Strukturfonds (Drucksachen 11/929 Nr. 2.3, 11/1209) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Einheitliche Akte muß ein Erfolg werden: Mitteilung der Kommission über die Haushaltsdisziplin (Drucksachen 11/929 Nr. 2.2, 11/1211) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Einheitliche Akte muß ein Erfolg werden: Zweite Änderung des Vorschlags für eine Verordnung (EGKS — EWG — EURATOM) des Rates zur Änderung der Haushaltsordnung vom 21. Dezember 1977 für den Haushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (Drucksachen 11/929 Nr. 2.5, 11/1212) e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Sitzung des Europäischen Rates am 29./30. Juni 1987 in Brüssel (Drucksachen 11/523, 11/1293) Dr. Kohl, Bundeskanzler 3400 C Dr. Vogel SPD 3406 D Rühe CDU/CSU 3412D Dr. Mechtersheimer GRÜNE 3418D Mischnick FDP 3421 B Frau Wieczorek-Zeul SPD 3424 B Frau Geiger CDU/CSU 3427 A Frau Beer GRÜNE 3429 C Genscher, Bundesminister AA 3432 B Dr. Spöri SPD 3435 D Bohl CDU/CSU 3438 C Erler SPD 3441A Lintner CDU/CSU 3442 C Frau Flinner GRÜNE 3444 B Frau Würfel FDP 3445 D Dr. Gautier SPD 3447 B Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 3449 C Brück SPD 3451A Becker (Nienberge) SPD (zur GO) 3452 B Seiters CDU/CSU (zur GO) 3452 C Kleinert (Marburg) GRÜNE (zur GO) 3452 D II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10, Dezember 1987 Namentliche Abstimmung 3454 A Ergebnis 3482 D Tagesordnungspunkt 17: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Kohlevorrangpolitik (Drucksache 11/958) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung Zustimmungsbedürftige Verordnung über den Prozentsatz der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz für das Jahr 1988 (Drucksachen 11/1350, 11/1446) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags des Abgeordneten Stratmann und der Fraktion DIE GRÜNEN: Umbaukonzept für die heimische Steinkohle (Drucksache 11/1476) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerstein, Wissmann, Dr. Lammert, Müller (Wadern) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Baum, Beckmann, Dr. Graf Lambsdorff, Dr. Hirsch, Dr. Hoyer, Dr.-Ing. Laermann, Möllemann, Frau Würfel und der Fraktion der FDP: Förderung der deutschen Steinkohle (Drucksache 11/1485) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Solidarität mit dem Widerstand der Bergleute und Stahlarbeiter gegen Arbeitsplatz- und Standortvernichtung (Drucksache 11/1511) Meyer SPD 3455 B Gerstein CDU/CSU 3458 C Stratmann GRÜNE 3460 C Beckmann FDP 3463 A Dr. Bangemann, Bundesminister BMWi 3464 C Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes 3468A, 3478 C Schreiber CDU/CSU 3472 A Jung (Düsseldorf) SPD 3473 D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 3475A, 3478 D Hinsken CDU/CSU 3476 B Dr. Lammert CDU/CSU 3479 A Namentliche Abstimmungen 3479D, 3480A Ergebnisse 3484B, 3485 D Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen (Drucksache 11/597) Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 3480 D Frau Verhülsdonk CDU/CSU 3488 A Kirschner CDU/CSU 3489 B Frau Würfel FDP 3490 C Vogt, Parl. Staatssekretär BMA 3491 C Tagesordnungspunkt 19: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht 1986 (Drucksachen 11/42, 11/1131) Weiskirch, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages 3492 A Heistermann SPD 3494 B Breuer CDU/CSU 3498 A Frau Schilling GRÜNE 3501 B Nolting FDP 3503 C Leidinger SPD 3505 D Dr. Wörner, Bundesminister BMVg 3509 B Leidinger SPD (Erklärung nach § 30 GO) 3512B Vizepräsident Cronenberg 3510D, 3512 C Tagesordnungspunkt 22: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1988 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1988) (Drucksachen 11/1000, 11/1431) Niegel CDU/CSU 3512D, 3520A Müller (Pleisweiler) SPD 3514 B Funke FDP 3516B Sellin GRÜNE 3517 B Dr. von Wartenberg, Parl. Staatssekretär BMWi 3518 C Pfuhl SPD 3519 B Tagesordnungspunkt 20 b: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Ernährungssicherung in Hungerregionen (Drucksachen 11/946, 11/1501) in Verbindung mit Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 III Zusatztagesordnungspunkt 9: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Ernährungssituation in Äthiopien (Drucksache 11/1482) Höffkes CDU/CSU 3520 C Frau Eid GRÜNE 3521 D Frau Folz-Steinacker FDP 3523 D Großmann SPD 3525 C Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär BMZ 3527 A Nächste Sitzung 3528 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 3529* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3399 49. Sitzung Bonn, den 10. Dezember 1987 Beginn: 9.01 Uhr
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    Berichtigung 48. Sitzung, Seite IV, linke Spalte: Statt „ZusFr Frau Bulmahn GRÜNE" ist „ZusFr Frau Bulmahn SPD" zu lesen. Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein 11. 12. Dr. Ahrens * 11. 12. Andres 11. 12. Bahr 11. 12. Frau Becker-Inglau 11. 12. Frau Beck-Oberdorf 11. 12. Frau Blunck * 11. 12. Böhm (Melsungen) * 11. 12. Frau Brahmst-Rock 11. 12. Brandt 10. 12. Dr. Briefs 11. 12. Büchner (Speyer) * 11. 12. Dr. von Bülow 11. 12. Frau Fischer * 11. 12. Dr. Friedrich 11. 12. Frau Ganseforth 11. 12. Dr. von Geldern 10. 12. Glos 11. 12. Dr. Glotz 11. 12. Grünbeck 11. 12. Haack (Extertal) 11. 12. Frau Dr. Hellwig 11. 12. Frau Hoffmann (Soltau) 11. 12. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Hürland-Büning 11. 12. Jaunich 10. 12. Frau Kelly 11. 12. Kittelmann * 11. 12. Kolb 11. 12. Kreuzeder 11. 12. Lemmrich * 11. 12. Frau Luuk * 11. 12. Dr. Mahlo 11. 12. Marschewski 11. 12. Dr. Mertens (Bottrop) 11. 12. Dr. Möller 11. 12. Dr. Müller * 11. 12. Dr. Neuling 11. 12. Frau Oesterle-Schwerin 11. 12. Frau Olms 11. 12. Oswald 11. 12. Petersen 11. 12. Poß 10. 12. Rauen 11. 12. Dr. Schmude 10. 12. von Schmude 11. 12. Schröer (Mülheim) 10. 12. Schulze (Berlin) 11. 12. Frau Seuster 11. 12. Frau Dr. Timm * 11. 12. Frau Trenz 11. 12. Frau Vennegerts 11. 12. Dr. Warnke 11. 12. Wieczorek (Duisburg) 11. 12. Würtz 11. 12.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Abkommen über die Beseitigung von 1 752 sowjetischen und 859 amerikanischen landgestützten atomaren Mittelstreckensystemen und einer noch wesentlich höheren Zahl von Sprengköpfen, das vorgestern von Ronald Reagan, dem amerikanischen Präsidenten, und von Michail Gorbatschow, dem sowjetischen Generalsekretär, in Washington unterzeichnet worden ist, bedeutet einen Sieg der Vernunft und gibt Anlaß zu großer Hoffnung.

    (Beifall bei der SPD)

    In dieser Beurteilung stimmen wir mit der Regierungserklärung und — dessen bin ich gewiß — mit der erdrückenden Mehrheit unseres Volkes, ja der meisten Völker dieser Erde überein.
    Noch ist das Abkommen nicht ratifiziert oder gar vollzogen. Noch liegt der Tag, an dem die erste Rakete verschrottet, der erste atomare Sprengkopf unschädlich gemacht wird, vor uns. Noch gibt es Kräfte, die all das verhindern wollen. Aber das steht schon heute fest: Die Dynamik der Aufrüstung ist an einer entscheidenden Stelle durchbrochen. Der Wahn, im atomaren Zeitalter könne Sicherheit gegeneinander errüstet werden, ist an einer entscheidenden Stelle widerlegt worden.

    (Beifall bei der SPD)

    Denn erstmals in der Geschichte haben sich die Weltmächte darauf verständigt, daß nicht die weitere Anhäufung von Waffen, sondern deren Verminderung den Frieden sicherer macht, und sie haben sich auf ein
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3407
    Dr. Vogel
    Kontrollverfahren verständigt, das in seiner Dichte und Präzision bislang ohne Beispiel ist.
    Erfreulicherweise hat es den Anschein, daß dem ersten Schritt weitere folgen werden, daß sich das Klima zwischen den Weltmächten zum Guten verändert, daß Kooperation auch da möglich wird, wo es bisher nur Konfrontation gab. So auch bei der Bewältigung regionaler Krisen oder in der Frage der sozialen und der individuellen Menschenrechte. Darin liegt die eigentliche Bedeutung dessen, was in diesen Tagen in Washington geschehen ist und was entgegen aller Skepsis und Schwarzmalerei aus den Reihen der Union

    (Lachen bei der CDU/CSU — Beifall bei der SPD)

    gerade auch unsere eigene Sicherheit nicht vermindert, sondern erhöht.

    (Feilcke [CDU/CSU]: Spaßvogel! — Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

    Hinter der Freude und Genugtuung über diese Fortschritte sollte heute eigentlich der Streit darüber zurücktreten, welche von den politischen Kräften unseres Landes dazu den größeren Beitrag geleistet hat.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Sie nicht!) — Warten Sie es ab, meine Herrschaften.

    Sie, Herr Bundeskanzler, haben es in den letzten Tagen und auch heute für richtig gehalten, diesen Streit in den Vordergrund zu rücken, und Sie haben Ihre Koalition als die eigentliche Geburtshelferin der beiden Null-Lösungen dargestellt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist unredlich.


    (Beifall bei der SPD)

    Denn die vehemente Skepsis gegenüber der ersten Null-Lösung, der entschiedene Widerstand gegen die zweite Null-Lösung und der noch entschiedenere Widerspruch

    (Seiters [CDU/CSU]: Gegen Helmut Schmidt)

    gegen die Einbeziehung der Pershing-I a-Systeme

    (Zurufe von der SPD: Aha!)

    kam doch aus Ihren Reihen, meine Herrschaften von der Union.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

    Sie können doch nicht als Erfolg ausgeben, was aus Ihren Reihen bis in die letzten Wochen hinein erbittert bekämpft worden ist.

    (Beifall bei der SPD — Feilcke [CDU/CSU]: Herr Vogel, der Erfinder der Beckmesserei!)

    Sie, Herr Bundeskanzler, haben begonnen, Zitate zu verlesen. Ich möchte Ihnen da nichts schuldig bleiben und Ihnen — nachdem Sie diese Zitatenleserei eröffnet haben — einige Texte aus Ihren gesammelten
    Werken in Erinnerung rufen. Kohl: Gegen das Gerede von der Null-Option.

    (Jungmann [SPD]: Hört! Hört!) Dann wörtlich Helmut Kohl:

    Die gleiche Wirkung ... erzeugt nun dieses neue Gerede von der Null-Option. Sie sagen,
    — das hat er in Richtung der SPD gesagt —
    daß Sie sich im Idealfall sogar eine Null-Option vorstellen können, d. h. den Verzicht auf Nachrüstung, wenn die Sowjets ihre Mittelstreckenraketen gänzlich abbauen. Lassen Sie mich doch in aller Deutlichkeit sagen, . . .
    — immer noch Kohl —
    dieses Gerede
    — von der Null-Option —— etwas anderes ist es nicht — ist eine schlichte Täuschung der deutschen Öffentlichkeit.
    So Kohl, der Erfinder der Null-Option.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

    — Sie kommen auch noch dran; Sie werden auch noch zitiert.

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Ich beschränke mich bei den weiteren Zitaten auf die Überschriften. Strauß:

    (Seiters [CDU/CSU]: Nennen Sie doch einmal ein Datum!)

    „Null-Lösung unsinnig, irreal und unerreichbar". Als nächster Dregger: „Gorbatschow-Vorschlag" zur Null-Lösung „würde Sicherheit aufs schwerste gefährden". Todenhöfer: „Ich kann Null-Lösung nicht zustimmen". Strauß: „Keine Null-Lösung ohne Einbeziehung der Kurzstreckenraketen". Tandler: „Null-Lösung nicht in unserem Interesse". Lowack: — —

    (Zuruf des Abg. Jungmann [SPD] — Lachen bei der CDU/CSU)

    — Ich freue mich ja darüber, daß Sie Ihre eigenen Kollegen erheiternd finden. Wir finden es erheiternd, daß Sie sich auf diesem Hintergrund als Väter der Null-Lösung ausgeben.

    (Beifall bei der SPD)

    Dieser wackere Kollege Lowack, über den Sie so herzlich lachen,

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Nein, wir lachen nicht über ihn, sondern über Sie!)

    sagte also: „Null-Lösung verstärkt" Forderung nach „Austritt aus der NATO". Rühe: „Kurzstrecken nicht abkoppeln", sonst können wir nicht zustimmen. Biehle — warum lachen Sie bei Biehle nicht? Warum nur bei Lowack? Das ist ungerecht.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    Also Biehle, meine Herrschaften: Durch die Null-Lösungen „Frieden nicht sicherer, sondern unsicherer". Rühe: unter keinen Umständen zweite Null-Lösung. So geht es weiter, und da geht dieser Bundeskanzler
    3408 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
    Dr. Vogel
    her und gibt sich als Vater der Null-Lösungen aus. Das ist Hochstapelei!

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Vorsicht, daß Sie keinen Herzinfarkt bekommen! — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt habe ich aber Angst um Ihren Blutdruck, Herr Vogel! — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Ganz ruhig!)

    Nein, Herr Bundeskanzler, Sie waren nicht der Vorkämpfer dessen, was Sie heute feiern. Sie haben sich vielmehr in letzter Minute in das Unvermeidliche gefügt. Deshalb steht es Ihnen schlecht an, uns wegen unserer Haltung in den Jahren vorher zu kritisieren.

    (Beifall bei der SPD)

    Im übrigen spricht vieles dafür, daß nicht die Stationierungen des Jahres 1983, sondern der Wechsel an der sowjetischen Führungsspitze, das Engagement einer weltweiten Friedensbewegung,

    (Unruhe bei der CDU/CSU)

    die nicht nur in unserem Land, sondern auch in vielen anderen Ländern auf das Bewußtsein Einfluß genommen hat, und schließlich auch die veränderte Haltung des amerikanischen Präsidenten das Mittelstreckenabkommen möglich gemacht haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Der Streit über die Vergangenheit, den Sie hier begonnen haben, mag bei anderer Gelegenheit fortgesetzt werden.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Die Wahrheit tut weh!)

    Heute geht, es, so meine ich, um die Zukunft. Es geht jetzt darum, daß wir die konstruktive Entwicklung, die nunmehr in Gang gekommen ist, nach besten Kräften fördern.

    (Seiters [CDU/CSU]: Ihnen hört nicht einmal die eigene Fraktion zu! Nicht einmal die Hälfte Ihrer Fraktion ist anwesend!)

    Die Regierungserklärung enthält dafür Elemente, die mit unseren Positionen übereinstimmen.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

    Das gilt beispielsweise für die Halbierung der Zahl der strategischen Raketen und für die strenge Einhaltung des Vertrages über das Verbot der Raketenabwehrsysteme im Weltall, eine Einhaltung, die wir stets von beiden Seiten verlangt haben. Das gilt für den Abbau der Nuklearsysteme kurzer Reichweiten und der konventionellen Ungleichgewichte. Es gilt für die Beendigung aller Atomversuche, und es gilt für die weltweite Beseitigung chemischer Waffen.
    Die von uns Sozialdemokraten im Gespräch mit der DDR-Führung entwickelten Projekte eines Korridors, der von Atomwaffen und schwerem konventionellen Gerät frei ist, und einer chemiewaffenfreien Zone in Europa stellen auf dem Weg zu diesen Zielen wichtige Zwischenstationen dar. Atomare und konventionelle Streitkräfte müssen dabei im Zusammenhang der besonderen Gefährdung Europas durch sie gesehen werden, und in diesem Zusammenhang muß über sie verhandelt werden. Diese Verhandlungen müssen zu einer konventionellen Stabilität auf möglichst niedrigem Niveau führen, die den beiderseitigen Streitkräften die Fähigkeit zu nachhaltiger Verteidigung beläßt, sie aber zum Angriff unfähig macht.

    (Beifall bei der SPD)

    Im Verlaufe dieses Prozesses werden dann auch alle Atomwaffen, die sich heute noch auf dem Boden nichtatomarer europäischer Staaten befinden, endgültig überflüssig, und auch die endgültige Überwindung der atomaren Abschreckungsdoktrin rückt damit ein Stück näher.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist der Sinn der von uns entwickelten Prinzipien der gemeinsam verantworteten Sicherheit und der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit, zweier Prinzipien, die in der nationalen und internationalen Diskussion ebenso immer stärkere Aufmerksamkeit finden wie unsere Forderung, die herkömmlichen, weit überzogenen Bedrohungsanalysen durch eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Gegebenheiten zu ersetzen. Erfreulicherweise sind gerade in den letzten Tagen auch aus dem amerikanischen Verteidigungsministerium solche realistischeren Einschätzungen bekanntgeworden.
    Es liegt im Interesse beider Weltmächte und beider Bündnisse, es liegt aber vor allem in unserem Interesse, daß die Phase der militärischen Konfrontation zwischen Ost und West, die sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, mehr und mehr durch eine Politik des friedlichen Wettstreits der Gesellschaftsordnungen und einer verstärkten ökonomischen, ökologischen und kulturellen Zusammenarbeit abgelöst wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Nur eine solche Politik macht die Grenzen durchlässiger, die Menschenrechte wirksamer, den Pluralismus vielfältiger und den Frieden sicherer. Nur mit Hilfe einer solchen Politik kann die Vergeudung der Ressourcen für militärische Zwecke beendet und die Konzentration aller Kräfte auf die Bewältigung der großen Menschheitsaufgaben vorangebracht werden,

    (Beifall bei der SPD)

    etwa zur Überwindung des Hungers in der Dritten Welt. Auch sonst wird in einer solchen neuen Phase der Entspannung und Zusammenarbeit manches möglich, was bisher unlösbar erschien. Das gilt beispielsweise auch für Fortschritte in und um Berlin. Schon jetzt müssen wir übrigens darauf achten, daß Berlin voll in alle positiven Entwicklungen einbezogen wird und nicht immer stärker in den Schatten dieser Entwicklungen gerät.

    (Beifall bei der SPD)

    In diesem Rahmen erscheinen uns in der Frage der Friedenssicherungspolitik gemeinsame Anstrengungen über die Fraktionsgrenzen hinweg denkbar: Anstrengungen, bei denen die Auseinandersetzung nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie geführt wird, eine Gemeinsamkeit, die das Gewicht der Bundesrepublik und die Berechenbarkeit ihrer Politik verstärken würde. Gewisse Äußerungen — ich beziehe mich auf Kollegen Dregger — aus den Reihen der
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3409
    Dr. Vogel
    Union lassen es als möglich erscheinen, daß sich hierfür Ansatzpunkte ergeben, die wir bei der FDP schon seit längerem erkennen. Wir sind zu Gesprächen darüber mit den anderen Fraktionen des Deutschen Bundestages bereit. Und wir werden selbstverständlich dem Stationierungsländerabkommen zustimmen, weil dies ein notwendiges Element des INF-Vertrages darstellt.

    (Beifall bei der SPD)

    Mit derselben Deutlichkeit sage ich allerdings: Wir sind nicht bereit, Forderungen nach neuerlichen Nachrüstungen etwa auf dem Gebiet der Kurzstrekkenraketen auch nur um einen einzigen Millimeter nachzugeben,

    (Beifall bei der SPD)

    und zwar ganz gleich, ob sie als Modernisierung, als Ausfüllung von Obergrenzen oder in sonstiger Weise kaschiert werden. Wer solches im Schilde führt, wird unserem entschiedenen Widerstand begegnen. Ich bedaure, daß das Bundesverteidigungsministerium gerade am heutigen Tage wieder die Notwendigkeit der Modernisierung der Kurzstreckensysteme betont — gerade an dem heutigen Tage!

    (Dr. Scheer [SPD]: Notorisch!)

    Stellt sich der Washingtoner Gipfel danach als ein Erfolg und als eine Ermutigung dar, so gilt für den Gipfel von Kopenhagen das völlige Gegenteil. Er bedeutet einen Fehlschlag, und er bedeutet eine neuerliche Entmutigung für alle, die es mit dem europäischen Gedanken und der Einigung Europas ernst meinen, eine Entmutigung für die, die wissen, daß nur ein einiges Europa seine Interessen wahren und dann auch bei den weiteren Abrüstungsverhandlungen, bei denen es vor allem um das Schicksal Europas geht, mit am Tisch sitzen kann, während wir heute nur als Randfiguren dabeistehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist ein Zustand, der nur durch die fortschreitende Einigung Europas verändert werden kann.
    In Kopenhagen — Sie haben es im Grunde in Ihrer Regierungserklärung eingeräumt — , ist keines der brennenden Probleme gelöst worden. Einige Probleme, so die Haushaltskrise und die Krise der Agrarpolitik, haben sich sogar noch verschärft, und das in einer Zeit, in der die Handlungsfähigkeit Europas angesichts der weltwirtschaftlichen Gefahrenmomente und der innereuropäischen Strukturkrisen — ich denke dabei insbesondere an die verzweifelte Lage der Stahlarbeiter bei uns, aber auch im übrigen Europa — doppelt notwendig wäre.
    Ich behaupte nicht, daß Sie und die Bundesregierung allein für den Fehlschlag von Kopenhagen verantwortlich sind. Dafür gibt es auch noch andere Adressen, so die Adresse der britischen Premierministerin, die einmal mehr dabei ist, den Bogen zu überspannen. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie trifft ein gerüttelt Maß Mitschuld, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen, einmal, weil Sie weiterhin an einer Agrarpolitik festhalten, die unsere Bauern und die Europäische Gemeinschaft gleichermaßen in den
    Ruin treibt und zugleich auch noch unsere Finanzen exzessiv in Anspruch nimmt.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Drei Zahlen machen das ganze Ausmaß des Widersinns, der hier praktiziert wird, deutlich.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Was wollen Sie denn?)

    Seit 1977 sind in der Europäischen Gemeinschaft die Werte der landwirtschaftlichen Produktion um 20 %, die finanziellen Aufwendungen der Gemeinschaft hingegen um 300 %, nämlich von 18 auf 57 Milliarden DM gestiegen. Gleichzeitig stagniert das Durchschnittseinkommen der Landwirte in der Bundesrepublik, ja, es hat sogar real abgenommen und liegt mit rund 25 000 DM im Jahr erheblich unter dem Durchschnittseinkommen anderer Branchen. Dies ist nämlich der eigentliche Wahnsinn bei dem System, daß immer höhere Milliardenaufwendungen den Bauern nur noch sinkende Einkommen ermöglichen, die unter dem Durchschnitt vergleichbarer Berufe liegen; das muß auch zum Schutze und im Interesse der Bauern gesagt werden.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Schily [GRÜNE])

    Ich weiß nicht, wer der Feststellung widersprechen wollte, daß dies keine Politik mehr ist, sondern blanker Unsinn. Und dabei können Sie sich nicht auf andere — wie Sie das immer so gern tun — , etwa auf Herrn Ertl, den früheren Bundeslandwirtschaftsminister, hinausreden. Als Kollege Ertl Anfang der 80er Jahre Maßnahmen gegen die Überproduktion einleiten wollte und vorschlug, da sagte der Herr Kollege Kiechle, agrarpolitischer Sprecher Ihrer Partei, noch am 25. März 1982 — am 25. März 1982! — : Wir richten unseren Blick nicht engstirnig auf vielleicht gerade momentan vorhandene Lebensmittelüberschüsse und glauben nicht, daß wegen solcher Überschüsse sofort die ganze Agrarpolitik der EG reformiert werden müßte.

    (Jahn [Marburg] [SPD]: Hört! Hört!)

    In Ihrer bilderreichen Sprache, Herr Bundeskanzler, haben Sie zur EG-Agrarpolitik gesagt — ich zitiere wörtlich —, Sie müßten den Bockmist, den andere angerührt haben, auslöffeln.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

    Mir ist übrigens dieses Wort nicht ganz geläufig; Sie rechnen offenbar Bockmist unter die Nahrungsmittel,

    (Heiterkeit bei der SPD)

    weil Sie von Auslöffeln sprechen, eine ungewöhnliche Ernährungsweise.

    (Seiters [CDU/CSU]: Haben Sie heute Ihren witzigen Tag?)

    Herr Bundeskanzler, um in Ihrem Sprachgebrauch zu bleiben: Der Bockmist, mit dem Sie sich da zu beschäftigen haben, das ist schon Ihr eigener Bockmist aus den letzten fünf Jahren.

    (Beifall bei der SPD)

    3410 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
    Dr. Vogel
    Und dieser Bockmist wird sich noch vermehren, wenn Sie die notwendigen, von uns stets bejahten Maßnahmen zur Erhaltung der bäuerlichen Familienbetriebe nicht endlich von der produktionsorientierten Einkommensstützung auf eine flächen- und personenbezogene Stützung umstellen. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch; Sie brauchen sie nur zu übernehmen, und dann können Sie das Konzept von Jacques Delors unterstützen, ohne daß unsere Bauern noch zusätzlichen Schaden erleiden.

    (Beifall bei der SPD)

    Ein zweiter gravierender Fehler liegt in Ihrer Weigerung, die Mittel des EG-Strukturfonds in dem von der Kommission vorgeschlagenen Maße zu erhöhen. Wer den Binnenmarkt wirklich will — seine Realisierung liegt doch gerade auch in unserem wirtschaftlichen Interesse — , der muß den strukturell schwächeren Mitgliedstaaten auf diese Weise helfen, mit den Problemen fertig zu werden, die der Binnenmarkt für sie schon in seiner Anfangsphase mit sich bringt; das ist ein Gebot der europäischen Solidarität und ein Gebot der Vernunft. Mit der Vertagung der notwendigen Entscheidungen auf den 11. und 12. Februar 1988 ist für die Abwendung einer Krise, die uns in Europa weit zurückwerfen würde, eine allerletzte Frist gesetzt worden. Da die Präsidentschaft am 1. Januar 1988 auf die Bundesrepublik übergeht, ist es jetzt vor allem Ihre Pflicht, diese Frist zu nutzen. An unserer Unterstützung wird es nicht fehlen, wenn Sie nur endlich handeln und wenn Sie bedenken, daß Europa nicht nur ein Europa der Landwirtschaft, sondern ein Europa der Arbeitnehmer sein muß, wenn es eine Zukunft haben soll.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich wiederhole: Wir sind zur Kooperation bereit, und wir wissen auch, daß die Bundesrepublik ihre finanziellen Leistungen für Europa erhöhen muß. Aber genauso klar sage ich: Jede zusätzliche Mark für Europa ist verloren und vertan, wenn die Agrarpolitik nicht durchgreifend geändert wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir haben es nicht nur mit einer europäischen Krise, wir haben es mittlerweile auch mit einer weltwirtschaftlichen Krisensituation zu tun. Als ich vor einem Vierteljahr von dieser Stelle aus auf die damals schon erkennbaren Symptome hinwies, haben Sie das als Miesmacherei abgetan und unsere Warnungen in den Wind geschlagen. Inzwischen können auch Sie die Alarmglocken nicht mehr überhören. Mehr noch: Sie müssen sich eingestehen, daß Ihre Angebotspolitik nach fünf Jahren gescheitert ist, daß Sie mit dieser Angebotspolitik am Ende sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Das sind die Fakten. Entgegen all Ihren Ankündigungen hat nämlich die weit überdurchschnittliche Steigerung der Unternehmensgewinne und die ebenso deutliche Absenkung der Lohnquote, des Anteils der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen, weder das Absinken der Investitionsquote auf unter 20 % noch das Anwachsen der Arbeitslosigkeit, die im Durchschnitt dieses Jahres wieder deutlich über 2,2 Millionen liegt, verhindert. Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich doch selber nach dem Sinn
    einer Politik fragen, die bei steigenden Unternehmensgewinnen zu sinkenden Investitionen und steigender Arbeitslosigkeit führt.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist doch ein Widerspruch, der auch Ihnen einleuchten muß. Zugleich hat sich das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht in diesen fünf Jahren dramatisch verstärkt.
    Diese Fakten, dieses Ergebnis von fünf Jahren Angebotspolitik, lagen doch bereits auf dem Tisch, bevor die Aktienkurse an den internationalen Börsen zusammengebrochen sind und bevor der Dollar in wenigen Wochen noch einmal um 10 % auf seinen historisch tiefsten Stand gefallen ist. Daß ein armes Land in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, daß in einem armen Land eine wachsende Zahl von Menschen arbeitslos wird, daß in einem armen Land ganze Regionen und Städte zum Erliegen kommen, das ist nicht weiter verwunderlich. Sie, Herr Bundeskanzler, haben in den letzten fünf Jahren das Kunststück fertiggebracht, daß dies alles in einem reichen Land, nein, in einem der reichsten Länder der Erde geschieht,

    (Beifall bei der SPD)

    in einem Land, dessen Bruttosozialprodukt dank des Fleißes der Menschen und aller Beteiligten in diesen fünf Jahren um 350 Milliarden DM gestiegen ist.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Dank unserer guten Politik!)

    Können Sie eigentlich nicht nachempfinden, Herr Bundeskanzler, daß gerade diese Tatsache, daß gerade dieser Reichtum die Erbitterung, ja die Wut derer noch verstärkt, die ihre Arbeitsplätze verloren haben oder noch verlieren sollen, ohne daß ihnen eine andere Chance geboten wird?

    (Beifall bei der SPD)

    Die Wut der Männer und Frauen von Rheinhausen kommt doch gerade auch daher, daß sie den Reichtum und unsere Leistungsfähigkeit sehen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Es ist die Wut der Männer und Frauen, die erkennen, daß es in dieser Situation nicht an den finanziellen Mitteln, sondern am politischen Gestaltungswillen dieser Bundesregierung und ihres Kanzlers fehlt.

    (Beifall bei der SPD)

    Jetzt werden Sie von allen Seiten zum Handeln gedrängt. Nicht nur wir, nicht nur die Gewerkschaften, auch die Sprecher der deutschen Industrie und das Ausland mahnen Ihre politische Führung an, und die Zustimmung Ihrer europäischen Kollegen ist wohl unter „geheim" im verschlossenen Kämmerlein erteilt worden. Nach außen ist sie nicht deutlich geworden. Es sind nicht allein die Herren Reuter und von Kuenheim, die das Fehlen dieser Führung beklagen. Die Herren Rodenstock, Herrhausen und Necker kritisieren Sie doch in der gleichen Weise. Heute gibt es in der „Welt" eine ganze Seite sogar mit Abbildungen der Herren, die Ihre Führung und Ihre Handlungen anmahnen.
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3411
    Dr. Vogel
    Aber gerade diese Führung lassen Sie vermissen. Sie haben zunächst überhaupt nichts getan und dann halbherzig und schwächlich gehandelt. Dabei tadele ich nicht, daß Sie Bruchstücke unseres Programms „Arbeit und Umwelt" kopiert haben, daß Sie zum Erstaunen und zur Kritik Ihrer eigenen Parteifreunde etwas in Gang setzen, was Sie jahrelang und noch vor wenigen Wochen als typisch sozialdemokratisch mit stereotypen Redewendungen abgelehnt haben. Das stört uns nicht.
    Wir kritisieren etwas anderes. Wir kritisieren das viel zu geringe Volumen Ihres Programms, für das Sie — das muß man der Öffentlichkeit sagen — 1988 '70 Millionen DM und 1989 200 Millionen DM ausgeben wollen. Wir kritisieren die ungerechte Verteilung dieser Mittel, die vielleicht von den prosperierenden Regionen, von den Städten, denen es gut geht, in Anspruch genommen werden können, die aber doch an den Regionen und Städten, die sich in Not befinden, deswegen vorbeigehen, weil sie doch nicht eine einzige Mark mehr an Schulden aufnehmen können. Das wissen Sie doch.

    (Beifall bei der SPD — Repnik [CDU/CSU]: In Nordrhein-Westfalen bei Johannes Rau! Das ist richtig!)

    Wir kritisieren die Tatsache, daß Sie hartnäckig an Steuerplänen festhalten, die in erster Linie die hohen Einkommen entlasten und die finanziellen Schwierigkeiten derjenigen Länder und Gemeinden erhöhen, die gerade jetzt zusätzliche Mittel benötigen. Dazu gehören doch auch Länder, die von der CDU regiert werden: Für Niedersachsen ist es doch nicht anders als für Nordrhein-Westfalen.

    (Beifall bei der SPD)

    In Schleswig-Holstein ist die Situation doch eher noch bedrohlicher und bedrängender. Es ist doch gar nicht wahr, wenn hier immer so getan wird, als wenn das an einem Unterschied zwischen SPD- und CDU-regierten Ländern liegt.

    (Repnik [CDU/CSU]: Ja, natürlich! — Gegenruf des Abg. Dr. Klejdzinski [SPD]: Noch so ein Schwachsinn!)

    Die Kritik an diesem Programm ist denn auch allgemein. Niemand erwartet im Ernst von dem, was Sie auf den Weg gebracht haben, ein verstärktes Wirtschaftswachstum oder gar positive Auswirkungen auf die Weltwirtschaft.
    Wie stark der Handlungsbedarf wirklich ist, zeigt der Umstand, daß die durchaus notwendige, wenn auch späte, und mit anderen Zentralbanken abgestimmte Zinssenkung der Bundesbank an den Märkten so gut wie nichts bewirkt hat. Das kann man jetzt nach acht oder zehn Tagen ja sagen.

    (Schily [GRÜNE]: Weiße Salbe!)

    Das kann ja auch nicht verwundern. Denn bei den Leistungsbilanzungleichgewichten zwischen den USA einerseits und Japan und der Bundesrepublik andererseits handelt es sich um Beträge in einer Größenordnung von 150 Milliarden Dollar. Das sind selbst nach heutigem Kurs 250 Milliarden DM oder fast 13 unseres gesamten Bruttosozialprodukts. Wenn die Amerikaner jetzt vernünftigerweise darangehen, die-
    ses Ungleichgewicht abzubauen, dann müssen doch unsere Ausgleichsmaßnahmen dazu vom Volumen her in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Daran fehlt es.

    (Beifall bei der SPD)

    Davon — wie bedauern das — kann bei Ihrem Miniprogramm keine Rede sein.
    Unser Programm „Arbeit und Umwelt" wird dieser Anforderung hingegen gerecht. Selbst bei vorsichtigen Schätzungen steigert es die Binnennachfrage und zusätzliche Investitionen — wobei uns die zusätzlichen Investitionen fast noch wichtiger sind als die zusätzliche Konsumnachfrage, weil das für die Zukunft wirkt — ,

    (Beifall bei der SPD)

    selbst bei vorsichtigen Schätzungen steigert unser Programm die Binnennachfrage in den nächsten beiden Jahren um 40 bis 50 Milliarden DM. Vor allem: Es hilft dort, wo Hilfe am dringendsten gebraucht wird. Durch unseren Vorschlag, den Gemeinden 3 Milliarden DM Sozialhilfeleistungen durch Verlängerung und Erhöhung der Arbeitslosenhilfe abzunehmen, helfen wir denen, die die Hilfe am dringendsten brauchen,

    (Beifall bei der SPD)

    also gerade an den Stahlstandorten und Montanregionen im Ruhrgebiet, an der Saar, in der Oberpfalz, im Osnabrücker Raum, wo heute verhandelt wird und möglicherweise eine neue Katastrophe auf die Menschen zukommt, an den Werftstandorten und an der Küste.
    Wir haben aus den Erfahrungen der Jahre 1929 und 1930 gelernt. Ich fürchte, Sie sind drauf und dran, die damaligen Fehler zu wiederholen. Deshalb können wir Ihnen nur raten, wir können Sie nur bitten: Übernehmen Sie unser Programm möglichst rasch und nicht nur bruchstückweise, wie Sie das viel zu spät bei unserem Programm „Arbeit und Umwelt" getan haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Sagen Sie bitte auch nicht, ein solches Programm sei nicht finanzierbar oder es sei zu teuer. Dem setze ich entgegen: Eine neue Weltwirtschaftskrise würde mit Sicherheit um ein Vielfaches teurer werden im Vergleich zu dem, was jetzt aufgewendet werden müßte.

    (Beifall bei der SPD)

    Außerdem: Zumindest ein Teil der notwendigen Maßnahmen kann jedenfalls ab 1990 mit den Beträgen finanziert werden, die Sie für konjunkturell unwirksame steuerliche Maßnahmen vorgesehen haben. Lassen Sie uns doch darüber im zuständigen Ausschuß noch einmal vernünftig reden, ob man hier nicht Korrekturen anbringen kann, die eine wirkliche Investitionsoffensive möglich machen.
    Schließlich — da scheint sich ja jetzt allmählich sogar Übereinstimmung abzuzeichnen — ist angesichts der gegenwärtigen Konstellation zur Verstärkung der Investitionen und zur Steigerung der Binnennachfrage auch eine vorübergehende Erhöhung der Kreditaufnahme durch den Bund vertretbar. Der Bund
    3412 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
    Dr. Vogel
    würde damit nur einen Bruchteil des Kapitals in Anspruch nehmen, das bisher nach Amerika fließt und das in den USA ja gar nicht mehr benötigt wird, wenn es dort wirklich zum dringend notwendigen Abbau des Leistungsbilanzdefizits kommt. Es ist doch ein Gebot der Vernunft, so zu verfahren.
    Auf allen drei Feldern, die heute Gegenstand der Debatte sind, ist entschlossenes Handeln, ist politische Führung gefordert. Aber gerade daran mangelt es in bedrohlicher Weise. Im politischen Zentrum unserer Republik, dort, wo Sie stehen oder sitzen, herrscht Ratlosigkeit, machen sich zunehmend Hilflosigkeit und Kleinmut bemerkbar, die auch die regelmäßigen und lautstarken polemischen Auseinandersetzungen in Ihrer Koalition nicht überdecken können.
    Ihr Finanzminister, Herr Stoltenberg, hat infolge seiner Verstrickung in den Niedergang der schleswigholsteinischen CDU rapide an Ansehen und Überzeugungskraft verloren. Er ist durch die Doppelbelastung als Vorsitzender der CDU in Kiel und als Bundesfinanzminister auch zunehmend überfordert. Herr von Hassel hat diesen wichtigen Punkt ja zum Gegenstand der öffentlichen Äußerung gemacht, wobei nicht klar war, ob er die Entlastung oder die Entlassung forderte. Ich will annehmen, er hat die Entlastung gefordert.
    Herr Bangemann beschränkt sich auf mehr oder minder muntere Redensarten, von denen Sie übrigens wissen sollten, welche zusätzliche Empörung diese aufgesetzte Munterkeit bei den Menschen draußen auslöst —

    (Beifall bei der SPD)

    sie ist sicher aufgesetzt — , oder auf briefliche Ratschläge an Herrn Stoltenberg, wenn seine Gedanken nicht gerade in Richtung Brüssel wandern.
    Sie selbst lassen zu, Herr Bundeskanzler, daß Ihre Koalition gerade jetzt einen großen Teil ihrer politischen Energie auf die Frage verschwendet, ob die Polizei gegen die ohnehin verbotene Vermummung auf jeden Fall oder nur dann einschreiten soll, wenn es ihr zweckmäßig erscheint. Dazu, nicht etwa zur Krise der Europäischen Gemeinschaft oder zu den Gefahrenmomenten der weltwirtschaftlichen Entwicklung, dazu, nicht zur Notlage der Stahlarbeiter und Bergleute veranstaltet Herr Bangemann sogar einen Sonderparteitag. Das ist das Thema, auf das diese Koalition ihre politische Kraft lenkt.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Eine ziemliche Unverfrorenheit!)

    Sie selbst, Herr Bundeskanzler, halten dieses Thema für so wichtig, daß Sie deswegen erstmals in Ihrer Amtszeit Ihre Minister sogar öffentlich zur Ordnung rufen, wobei nebelhaft bleibt, wen Sie eigentlich gemeint haben; wahrscheinlich Herrn Bangemann. Vielleicht halten Sie das unter Beratung des Adenauerhauses auch noch für eine gelungene Taktik, weil Sie hoffen, daß dieser Streit über das Problem der Vermummung vom Versagen auf anderen Gebieten ablenken wird. In Wahrheit offenbart es jedoch einen Mangel an Führung; denn unser Wohlergehen und unsere Zukunft hängen nicht von dieser Frage ab, die die Koalition Tag und Nacht beschäftigt. Sie hängt
    von der Bewältigung der Probleme ab, von denen hier und heute die Rede ist: von der weiteren Abrüstung, von der Einigung und Handlungsfähigkeit Europas und von der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und der weltweiten Krisensymptome.

    (Beifall bei der SPD)

    Diese Themen, so sagen wir, lohnen den Streit, aber sie lohnen auch die Zusammenarbeit. Wir Sozialdemokraten sind auf beides vorbereitet.
    Herr Strauß, der Katastrophenphilosoph von Sonthofen, wollte 1974 in einer Lage, die damals im Vergleich um ein Vielfaches besser war als die Lage, der wir uns heute gegenübersehen, wollte — ich zitiere — lieber eine weitere Inflationierung, lieber weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit, lieber weitere Zerrüttung der Staatsfinanzen in Kauf nehmen, als seine Alternativen zu nennen. Er empfahl — wiederum wörtlich; Empfehlung Strauß — , nur anzuklagen und zu warnen, aber keine konkreten — —

    (Seiters [CDU/CSU]: Sie müssen aber weit zurückgehen!)

    — Herr Strauß ist doch noch immer da. Oder ist der schon weg? Das könnte Ihnen so passen. Der bleibt Ihnen noch, darauf können Sie sich verlassen.

    (Heiterkeit bei der SPD — Seiters [CDU/ CSU]: Sie bleiben uns auch erhalten!)

    Der bleibt Ihnen noch länger, als Sie hier mitzureden haben. — Seine Aufforderung an die Opposition von damals: nur anklagen, nur warnen, keine konkreten Rezepte nennen. Und dann weiter: Es müsse alles noch schlechter werden. Das war damals die Botschaft der Opposition. Es müsse alles noch schlechter werden, das war Ihre Philosophie, meine Damen und Herren; unsere ist es nicht. Wir wollen, daß die Gefahren gebannt und überwunden werden, und dafür werden wir auch in Zukunft unermüdlich arbeiten.

    (Anhaltender lebhafer Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)



Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Volker Rühe


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, vor zwei Tagen ist in Washington ein Abkommen unterzeichnet worden, das ohne den Beitrag der Bundesregierung, vor allem auch des Bundeskanzlers Helmut Kohl, nicht zustande gekommen wäre.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

    Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, daß es dem Führer der Opposition schwerfällt, dem Bundeskanzler hier in aller Öffentlichkeit Lob auszusprechen. Aber mir fehlt jedes Verständnis dafür, Herr Kollege Vogel, daß Sie es nicht fertiggebracht haben, wenigstens den früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt an dieser Stelle einmal zu loben, Helmut Schmidt, den Sie 1982 im Stich gelassen haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Jungmann [SPD]: Sie Legendenbildner! — Weitere Zurufe von der SPD)

    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3413
    Rühe
    Das ist ein Verhalten, das Ihnen offensichtlich bis zum heutigen Tage peinlich ist.
    Herr Vogel, Sie haben heute wieder einmal gezeigt, daß Sie mit Zitaten auf dem Kriegsfuß stehen. Sie haben den Bundeskanzler aus der Zeit vor der Stationierung zitiert, als er vor dem Gerede von der NullOption auf Ihrer Seite gewarnt hat, weil Sie sich um die schwierige Entscheidung herumdrücken wollten, die damals zu fällen war.

    (Dr. Vogel [SPD]: Sie haben sie doch bekämpft! — Dr. Spöri [SPD]: Der Rühe ist überall herumgereist! — Weitere Zurufe von der SPD)

    — Warten Sie doch mal ab.
    Sie haben gesagt, ich hätte im Frühjahr in einer strittigen Debatte vor einer Abkoppelung der Kurzstreckenwaffen gewarnt. Das war doch wohl richtig. Es hat sich doch gezeigt, daß unser Spielraum für die Abrüstung bei den kürzeren Systemen, die uns politisch-psychologisch die meisten Probleme machen, geringer geworden ist. Was wollen Sie mir also in diesem Zusammenhang vorwerfen?

    (Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Kollege Vogel, nicht nur, daß Sie Probleme haben, aus dem Jahre 1983 richtig zu zitieren; Sie schaffen es ja nicht einmal, aus der „Welt" von heute richtig zu zitieren.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie haben gesagt, da ständen die Wirtschaftsführer Schlange, um an der Führungslosigkeit der Bundesregierung Kritik zu äußern.
    Ich habe mir das eben einmal angeschaut. Schon ein erster Blick zeigt folgendes. Es gibt erstens eine breite Zustimmung zur Steuerreform und dann Vorschläge, die Steuerreform vorzuziehen. Ich kann nur sagen: Mit einer solchen Kritik an einem richtigen Programm kann man in der Tat leben. Das ist doch keine Kritik, sondern das ist Zustimmung zu einer richtigen Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Lesen Sie mal weiter!)

    Sie stehen hingegen mit Ihrer Ablehnung der Steuerreform im Abseits.
    Ich kann dort lesen: Die Politik der Bundesregierung hat 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Schließlich wird in der Tat die Kritik geäußert: Die Regierung muß ihre Erfolge offensiver verkaufen. Dieser Kritik möchte ich mich ausdrücklich im Namen der Bundestagsfraktion anschließen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Noch ein Kritiker!)

    Das sind Beispiele für die Fähigkeit des Herrn Dr. Vogel, aus der heutigen „Welt" richtig zu zitieren.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Klitterer!)

    Lieber Herr Dr. Vogel, wenn Sie dem Kollegen Wirtschaftsminister Bangemann Munterkeit und Optimismus vorwerfen und sagen, daß die Menschen
    sich darüber beschwert fühlen, dann kann ich nur erwidern: Diese Munterkeit und der Optimismus, der auch von dieser Regierung ausgestrahlt wird, sind unseren Mitbürgern allemal lieber als die Miesmacherei und die Griesgrämigkeit, mit der Sie hier angetreten sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie sind auch heute wieder angetreten, alles mies zu finden, egal, wie die Tatsachen sind.
    Mit dem Europa-Gipfel werden sich andere Kollegen noch beschäftigen.

    (Dr. Scheer [SPD]: Für Karneval ist es zu früh!)

    Lassen Sie mich hier vor allem zur Sicherheitspolitik sprechen. Ich will auch ein Wort dazu sagen, warum wir heute streiten müssen und wie es mit den Gemeinsamkeiten aussieht.
    Das Abkommen von Washington ist — ich glaube, da stimmen wir alle überein — ein historisches Ereignis. Hier wird das erste Mal vertraglich abgerüstet. Es wird asymmetrisch abgerüstet: Derjenige, der mehr vorgerüstet hat, muß mehr abrüsten. Schließlich werden Vereinbarungen über die Vertragsüberprüfungen geschlossen, die vielleicht noch wichtiger sind als die Substanz des Vertrages selbst, weil sie einen Durchbruch bedeuten und weitere Verträge erleichtern werden.
    Dieser Abrüstungserfolg ist ein Erfolg für das ganze Bündnis und für alle, Herr Dr. Vogel, die die Politik des Bündnisses zu allen Zeiten mitgetragen und mitgestaltet haben, und dazu gehören Sie leider nicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Sie haben es doch bekämpft!)

    Insofern besteht Anlaß zur Genugtuung auf seiten der Bundesregierung und auf seiten der Koalitionsfraktionen und sollte Anlaß zur Nachdenklichkeit und zur Selbstkritik bei Sozialdemokraten, bei GRÜNEN und bei der Friedensbewegung bestehen.
    Sie, Herr Dr. Vogel, spekulieren auf die Vergeßlichkeit der Menschen. Aber niemand hat in dieser emotional zugespitzten Situation von 1983 den Wortbruch der deutschen Sozialdemokratie gegenüber dem Bündnis vergessen, Ihr Abrücken vom Bundeskanzler Helmut Schmidt und Ihre Illoyalität gegenüber der Verhandlungspolitik des Bündnisses, ganz zu schweigen von den Prognosen über „Eiszeit" und den „schwarzen Sonntag von Reykjavik". Lieber Herr Dr. Vogel, das ist nicht vergessen, das werden Sie auch nicht tilgen können aus der deutschen Nachkriegsgeschichte.
    Ich will Ihnen nicht alle Beispiele geben, aber ich will Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, welchen sowjetischen Vorschlägen Sie jeweils zustimmen wollten, um noch einmal deutlich zu machen, was die Alternative zu diesem Abkommen, das jetzt auf dem Tisch liegt, gewesen wäre.

    (Jung [Lörrach] [CDU/CSU]: Das kann man nicht oft genug!)

    3414 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
    Rühe
    Im Herbst 1983, wenige Tage vor dem Stationierungsbeginn und der leidenschaftlichen Debatte im Deutschen Bundestag, an die ich mich noch sehr gut erinnere, hat die Sowjetunion vorgeschlagen, ihre Systeme auf 140 bzw. 120 SS 20 zu reduzieren — das wären noch über 400 Sprengköpfe gewesen — , wenn der Westen bereit wäre, bei Null zu bleiben, also nicht zu stationieren. Sie haben Ihre volle Zustimmung signalisiert und uns angegriffen. Wir hätten also 400 zu 0 bekommen, wenn wir Ihnen damals gefolgt wären.
    Die Sowjetunion hat damals über Jahre hinweg immer wieder die Einbeziehung der britischen und französischen Raketen gefordert. Wir haben das abgelehnt. Sie haben diesem sowjetischen Vorschlag immer wieder Zustimmung signalisiert. Ich frage mich: Wo wären wir heute, auch gegenüber unseren britischen und französischen Bündnispartnern, wenn wir Ihnen gefolgt wären, Herr Dr. Vogel?
    Nach Beginn der Nachrüstung hat die Sowjetunion mehrere Moratoriumsvorschläge gemacht, d. h. Stopp der westlichen Nachrüstung auf einem niedrigen Niveau und Beibehalten der sowjetischen Systeme. Jedem sowjetischen Moratoriumsvorschlag haben Sie, Herr Dr. Vogel, zugestimmt. Jeder dieser Vorschläge hätte bedeutet, daß wir nicht gleichgewichtige Abrüstung bekommen hätten, sondern Festschreiben und Einfrieren eines enormen Ungleichgewichts zwischen Ost und West. Das ist Ihre Bilanz der letzten Jahre.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deswegen ist dieser Vertrag von Washington ein Erfolg der Standfestigkeit der Bundesregierung und des Bundeskanzlers, der gerade auch in den letzten Wochen und Monaten sich immer wieder um einen fairen Interessenausgleich bemüht hat und der dieses konkrete Verhandlungsergebnis letztlich auch durch seine Flexibilität hinsichtlich der Pershing-I-a-Raketen der Bundeswehr mit ermöglicht hat.
    Herr Kollege Vogel, Anlaß zu wenn auch später Genugtuung hätten andere Sozialdemokraten: Helmut Schmidt und z. B. auch Georg Leber, über den ich nachher noch etwas sagen werde. Für Sie ist das Ganze Anlaß zur Nachdenklichkeit. Sie haben zusammen mit Willy Brandt in der letzten Woche angedeutet, daß Sie Irrtümer begangen haben; aber ich habe in dieser Debatte von Ihnen davon nichts gehört.
    Sie haben jetzt gesagt: Warum über die Vergangenheit streiten? Es ist verständlich, daß Sie am liebsten zur Tagesordnung übergehen möchten. Es geht nicht um Nachkarten, es geht auch nicht um sozialdemokratische Vergangenheitsbewältigung, Herr Kollege Vogel, sondern es geht um das richtige Verständnis des Weges, der zu diesem Vertrag geführt hat. Letztlich geht es um die Zukunft. Denn nur dann, wenn wir den Weg richtig verstehen, der diesen Vertrag ermöglicht hat, werden wir auch für die Zukunft die richtigen Entscheidungen treffen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es ist doch gerade für die künftigen, noch wesentlich schwierigeren Abrüstungsverhandlungen wichtig, daß Sie sich klar darüber werden, daß Erfolge in der Abrüstungspolitik eben nur zu erreichen sind, wenn
    man zu beiden Teilen der NATO-Politik im HarmelBericht steht, nämlich nicht nur zur Gesprächsbereitschaft, sondern auch zur Grundlage aller Politik, zu den Verteidigungsanstrengungen innerhalb des Bündnisses.
    Deswegen wäre es fatal, Herr Dr. Vogel, wenn Sie jetzt den Eindruck zu erwecken versuchten, als hätten wir dieses Abrüstungsergebnis vor allem, ja nur durch den Wechsel in der sowjetischen Führung erreicht.

    (Dr. Vogel [SPD]: Gegen Ihren Widerstand!)

    Gorbatschow soll bei Ihnen alles erklären.

    (Dr. Vogel [SPD]: Habe ich überhaupt nicht gesagt! Zuhören!)

    Das wäre die falsche Lehre aus den letzten Jahren. Denn dieses Abrüstungsergebnis ist kein Zufall, sondern es ist hart und mühsam erarbeitet worden. Es handelt sich weder um ein Geschenk Gorbatschows noch um ein Wunder.
    Im übrigen, wenn Sie jetzt auch den amerikanischen Präsidenten loben: Er hat seine Politik nicht geändert. Er war von Anfang an bereit, ein solches Abkommen zu vereinbaren, Herr Dr. Vogel.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)