Rede von
Dr.
Fritz
Gautier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die bisherige Debatte verfolgt hat, kann man zu einem ganz eigenartigen Eindruck kommen: entweder Thema verfehlt, oder es war, was die Ergebnisse des Kopenhagener Gipfels angeht, der Bereich Schönfärberei. Das, was ich am besten fand, war die außenpolitische Rede des ab 1. Januar 1988 personifizierten Ratspräsidenten, Herrn Genscher, die ich wirklich sehr beeindruckend fand.
Aber er hat quasi kein Wort zu den Aufgaben der deutschen Ratspräsidentschaft ab 1. Januar 1988 gesagt.
— Doch, das steht auf der Tagesordnung, nämlich der Kopenhagener Gipfel, die Schlußfolgerungen, die wir daraus ziehen, und was die Aufgaben der deutschen Ratspräsidentschaft sind.
Herr Genscher, Sie als personifizierter Ratspräsident haben ja ab 1. Januar 1988 das Vergnügen, die Geschicke der EG wesentlich mitzubestimmen.
— Das weiß ich nicht. Das hoffe ich jedenfalls nicht. Ich bin an sich ein ganz friedlicher Mensch. Von daher nehme ich das nicht an.
Am 1. Januar 1988 haben wir übrigens noch einen sehr bemerkenswerten Tag. Am 1. Januar 1988 sind nämlich die Römischen Verträge 30 Jahre lang in Kraft. Wenn wir einmal ganz kurz zurückblicken, hat es seit 1958 sicher ein in weiten Bereichen einen europapolitischen Aufbruch gegeben. Wir haben damals durch den Abbau der Grenzen, Verwirklichung der Zollunion, gemeinsame Handelspolitik, gemeinsame Agrarpolitik — damals noch als erfolgreich verstanden — , Niederlassungsfreiheit, Freizügigkeit und vieles mehr, viele Sachen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft verwirklicht. Wir hatten dann in den 70er und zu Beginn der 80er Jahre zwei Erweiterungen der Gemeinschaft mit Großbritannien, Dänemark, Irland und später mit Griechenland, Spanien und Portugal. Diese Erweiterungen der Gemeinschaft fielen auch mit erheblichen ökonomischen Krisen zusammen, mit denen sich alle Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft auseinandersetzen mußten. Ich erinnere nur an die Ölpreisschocks, die wir zweimal hatten, und daran, daß viele Mitgliedsstaaten nicht die Konsequenz daraus gezogen haben, gemeinsam eine Politik zu betreiben, sondern die nationalen Egoismen zugenommen haben.
Die EG hatte nach meiner Einschätzung kaum die Kraft zu einem gemeinsamen Handeln. Das Ergebnis der Politik der 70er und 80er Jahre ist so, wie es die Bürger draußen auch verstehen. Man hört dies, wenn man auf Veranstaltungen ist. Die Bürger verstehen die Europäische Gemeinschaft nämlich vielfach als einen Verein zur Finanzierung der Agrarpolitik. Da diese gemeinsame Agrarpolitik bei der Bevölkerung ein relativ schlechtes Image hat — darüber kann man nun lange reden, das ist so; das erfährt jeder, egal ob er in der Regierung oder in der Opposition ist — , spielt dies auch eine Rolle für das Image der EG insgesamt.
Was wir, glaube ich, brauchen, ist eine neue Identifikation der Bürger mit der Europäischen Gemeinschaft. Ich glaube, daß hier Jacques Delors Bemerkenswertes geleistet hat, als er mit den Stichworten Binnenmarkt bis 1992, Selbstbehauptung Europas, Demokratisierung Europas und Loslösung von der Vorherrschaft des Dollar — als einige Stichworte, die ich hier nennen möchte — einen neuen Impuls gegeben hat.
Doch eine solche Vision von Europa nützt herzlich wenig, wenn sich nicht auch faktisch die Politik ändert. Eine Änderung dieser Politik sollte ja auf dem Gipfel in Kopenhagen erreicht werden. Drei Punkte sollten die Regierungschefs entscheiden, da die Fachminister dazu nicht in der Lage waren: die zukünftige Finanzierung der EG und Haushaltsdisziplin, die Rolle der Strukturfonds und die Reform der Agrarpolitik. Leider ist dieser Gipfel gescheitert. Warum? Weil die notwendige Reform der EG-Agrarpolitik nicht beschlossen werden konnte. Bundeskanzler Kohl und Agrarminister Kiechle haben dies zumindest mit verhindert und damit, glaube ich, langfristig auch den Interessen Deutschlands geschadet.
Worum geht es im Bereich der Agrarpolitik? Ich möchte einmal ein paar Zahlen sagen. Die Kosten der Agrarpolitik sind, glaube ich, für fast keinen Bürger mehr verständlich. Im Haushalt 1988 stehen sage und schreibe 57 Milliarden DM für Agrarmarktordnungsausgaben. Das sind 68 % des EG-Haushalts oder umgerechnet 160 Millionen DM pro Tag oder, in einer
3448 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Dr. Gautier
anderen Zahl, 170 DM pro Kopf der Bevölkerung in der Europäischen Gemeinschaft. Wir haben in den letzten Jahren jährliche Steigerungsraten des Agrarhaushalts von 10 bis 20% gehabt. Die Subventionen in der Landwirtschaft, ausgedrückt in Haushaltszahlen, übersteigen mittlerweile die Nettowertschöpfung in der Landwirtschaft.
— Nein. Ich komme noch darauf zurück, warum sie nicht Millionäre sind.
Warum ist es so, daß wir solche explodierende Agrarausgaben haben?
— Ja, ja. Seien Sie einmal ganz ruhig! — Warum ist dies so? Ich glaube, es ist ein grundsätzlicher Mangel der europäischen Agrarpolitik, daß wir sie so wie Leistungsgesetze in der Bundesrepublik Deutschland konzipiert haben. Zum Beispiel richten sich Kindergeldzahlungen in der Bundesrepublik Deutschland nach der Anzahl der Kinder. Dies sind typische Leistungsgesetze, und das ist gut so. Wenn die Geburtenrate hoch ist, dann entstehen eben mehr Kosten für Kindergeld. Aber genauso ist auch die europäische Agrarpolitik konzipiert. Wir subventionieren das Produkt. Wird viel Getreide produziert, dann wird es halt teuer; es ist wie bei einem Leistungsgesetz. Dies kann halt nicht gutgehen; denn im Gegensatz zu den Geburtenzahlen wird jedes Jahr mehr an Getreide, Rindfleisch, Ölsaaten usw., usf. produziert, und die EG muß bezahlen, unabhängig davon wieviel produziert wird.
Das Ziel dieser Politik, nämlich die Sicherung des landwirtschaftlichen Einkommens, wird dadurch erwiesenermaßen ja nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Agrareinkommen stagnieren, und die Einkommensschere innerhalb der Landwirtschaft geht immer weiter auseinander.
Wenn man sich die Agrarausgaben der EG einmal nach Produkten ansieht, stellt man fest, daß der größte Batzen des Geldes für Getreide, Milch, Rindfleisch und Fette ausgegeben wird.