Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Das Washingtoner Abkommen ist ein Erfolg des Abrüstungswillens der Menschen über die Kräfte der Aufrüstung.
Weil aber der Erfolg bekanntlich viele Väter und wohl auch Mütter hat, feiern Nachrüstungsgegner und Nachrüstungsbefürworter das Washingtoner Abkommen als ihren Sieg. Allerdings fällt auf, daß in beiden Lagern eine merkwürdige Tendenz besteht, dieses Abkommen herunterzuspielen. Man spricht von nur
3 %, die abgerüstet werden sollen. Das ist eine wenig hilfreiche Interpretation dieses Abkommens,
denn weder die Friedensbewegung noch die Befürworter der Nachrüstung haben sich jemals über 3 oder
4 % gestritten. Von beiden Seiten wurde immer darauf hingewiesen, daß das eine Frage der Qualität sei.
Die Kriseninstabilität dieser Waffen — natürlich ein Qualitätsbegriff — und auf der anderen Seite die permanenten Hinweise darauf, daß die Abschreckung glaubwürdig bleiben müsse: Das war die Begründung. Dann kann man nicht sagen: Es sind nur 3 % dieser Waffen abgerüstet worden.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3419
Dr. Mechtersheimer
Alleine die Vereinbarungen zur Verifikation sind die größten vertrauensbildenden Maßnahmen in der Ost-West-Geschichte.
Schon allein deshalb ist es richtig, dieses Abkommen hoch einzuschätzen.
Natürlich werden wir nicht hier, Herr Bundeskanzler und die anderen Vertreter der Regierungskoalition in der Regierung, zu entscheiden haben, wer nun wirklich Anteil am Zustandekommen dieses Vertrages hat und wie groß dieser Anteil ist. Aber mit Sicherheit werden sich die Historiker sehr wundern, wenn sie z. B. einmal Ihren Beitrag, Herr Genscher, in der letzten Ausgabe des „Stern" lesen. Dort steht der unvorstellbare Satz — ich zitiere — :
Die Behauptung, die Nachrüstung sei zur Stärkung des Abschreckungsverbundes ohnehin notwendig gewesen, die sowjetische SS-20-Rüstung habe nur einen zusätzlichen Grund geliefert, ist eine von den Gegnern der doppelten Null-Lösung nachgeschobene Erfindung.
Herr Genscher, das tut weh. Ich kann zu Ihren Gunsten nur annehmen, daß Sie das, was Sie geschrieben haben,
nie lesen konnten; denn in Papieren, die Ihr Haus zu verantworten hat — „Argumente zum Doppelbeschluß des Nordatlantischen Bündnisses" — , finden Sie an mindestens vier Stellen Beschreibungen dieses Abschreckungsverbundes und die Begründung, die nämlich lautet: Wir brauchen den Abschreckungsverbund, und wir brauchen für diesen Abschreckungsverbund die Stationierung.
Dazu nur ein Satz:
Dieser Nachrüstungsbeschluß bedeutet für die Allianz politisch einen weiteren sichtbaren Beweis für die enge Koppelung gerade der USA an die Verteidigung Europas.
Was ist das anderes als Abschreckungsverbund? Ich möchte also wirklich darum bitten, daß solche Entstellungen wie die in diesem Artikel von Ihnen hier korrigiert werden.
1986 fand die „Frankfurter Allgemeine Zeitung"
— wobei man ja „FAZ" zweckmäßigerweise mit „Frankfurter Aufrüstungszeitung" übersetzen
sollte —
es geboten, ehrlich zu sein. Man ahnte nicht, was da auf diese Position zukam.
— Nein, nein, da steht: Das Angebot einer Null-Lösung war für die Öffentlichkeit gedacht und im Vertrauen darauf ausgesprochen, daß Moskau nicht bereit wäre, seine Mittelstreckenraketen total zu beseitigen.
Vergessen Sie das doch bitte nicht!
Die Historiker werden hoffentlich Gelegenheit haben, auch in die Kabinettsprotokolle Einblick zu nehmen. Da hat beispielsweise der damalige Generalinspekteur Jürgen Brandt am 31. März 1982 gesagt: Es geht nicht darum, dem Waffensystem SS-20 entsprechende Waffensysteme des Westens entgegenzusetzen. Er hat das dann noch ausführlich begründet. Das alles sind Vorgänge, die in der Öffentlichkeit noch nicht klar sind, aber ich bin sicher, daß das in aller Deutlichkeit herausgestellt werden wird.
Etwas verwundert bin ich darüber, daß Sie, Herr Bundeskanzler, zumindest am Anfang Ihrer Rede in einer sehr unfriedlichen Form über einen Abrüstungsvertrag gesprochen haben. Da stimmt irgend etwas nicht zusammen. Wer wirklich — auch inhaltlich und emotional — Abrüstung will, kann eigentlich nicht so um sich hauen. Deswegen möchte ich auch, obwohl das hier so ganz unüblich ist, durchaus einmal von Fehleinschätzungen unserer Seite sprechen. Das paßt vielleicht nicht in das Haus, aber ich möchte es trotzdem einmal machen.
Zum einen haben wir nicht damit gerechnet, daß das Wettrüsten so schnell an seine wirtschaftlichen Grenzen stößt. Dadurch wurde eine tiefgreifende Neudefinition der Nuklearbeziehungen zwischen den beiden Supermächten in Gang gesetzt. Die Mittelstreckenraketen sind offenkundig auch für die Supermächte selbst sehr gefährlich geworden.
Es war auch nicht zu erwarten, daß die Vorherrschaft der USA entgegen der bisherigen Praxis nicht dazu benutzt wurde, die Bundesrepublik zu Aufrüstung zu drängen, sondern dazu, sie zu Abrüstung zu veranlassen. Auch damit hatten wir nicht gerechnet.
Es gibt eine zweite Fehleinschätzung unsererseits, die vielleicht gewichtiger ist: Wir haben den westlichen Demokratien mehr Abrüstungsbereitschaft abverlangt als einem kommunistischen Staat.
Das war ein Irrtum. Niemand konnte erwarten, daß die Sowjetunion einmal das Doppelte an Trägersystemen und — man höre — das Fünffache an Sprengköpfen in einen Vertrag einbringen wird. Als Gorbatschow tat, was unter Breschnew nicht möglich gewesen wäre, zeigte sich aber erst wirklich, wer Abrüstung will und wer nicht.
Das war die Stunde der Wahrheit. Da hat sich nämlich gezeigt, daß wir befürchtet hatten, daß die Sowjetunion die Null-Lösung nicht wird annehmen können. Die Bundesregierung und die NATO hingegen haben erwartet und gehofft, daß sie es nicht tun wird,
und auf der Basis dieser Erwartung haben sie das Wettrüsten fortgesetzt. Wie ist es sonst zu erklären, daß Franz Josef Strauß als Anhänger des Vereins zur Förderung der klaren Sprache damals gesagt hat, wenn die Sowjets jemals diese Null-Lösung annehmen, werde er mit der Kerze in der Hand von Schongau nach Altötting pilgern? Das sagt man doch nur,
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wenn man ganz sicher ist, daß die Sowjetunion einem solchen Abkommen nie zustimmen wird.
Es wäre unvorstellbar, mit einem Herrn Breschnew ein solches Abkommen zu machen. Das ist versucht worden; es ist gescheitert. Deswegen ist der Schlüssel für die Veränderung nicht im Nachrüstungsbeschluß, sondern in den Änderungen in Moskau zu sehen. Alles andere mag irgendwo eine Rolle gespielt haben, aber der entscheidende Grund liegt nicht in der Denkweise, die Sie hier als Grund anführen. Die ist das Gegenteil dessen, was Gorbatschow praktiziert hat.
Die Opposition und die Friedensbewegung haben, seit sichtbar wurde, daß es eine einfache und eine doppelte Null-Lösung geben könnte, dies nachhaltig, voll und ohne Vorbehalt begrüßt.
Dagegen haben Sie mit dem Boykott begonnen. Ich muß hier noch einmal Herrn Todenhöfer zitieren:
Ich kann und werde einer Null-Lösung bei der Mittelstreckenraketenfrage nicht zustimmen.
Herr Todenhöfer hat eine Konsequenz gezogen, die Respekt abnötigt. Herr Wörner hat am 30. Juni 1987 gesagt:
Zur flexiblen Reaktion brauchen wir auch solche taktischen Nuklearwaffen, die das Territorium der Sowjetunion erreichen können.
Herr Wörner, brauchen Sie nun die Waffen, oder brauchen Sie sie nicht? Das muß einmal gesagt werden. Ich kann verstehen, daß Zweifel laut werden, ob bei einer derartigen Wetterwendischkeit der Position die richtigen Voraussetzungen für ein so wichtiges Amt gegeben sind, das Sie anstreben. Deswegen verstehe ich die Diskussion auch über Ihre Person.
Weshalb haben Sie Bauchschmerzen gegenüber einem Abkommen, das auch rein rechnerisch ein ausgezeichnetes Geschäft ist? Die Gründe liegen wohl im Politischen. Dieses Abkommen öffnet die Türen für eine neue politische Ordnung in Mitteleuropa.
Nach dem Abzug der mehr als 4 000 Atomwaffen wird Europa nicht mehr wie bisher sein. Diese Raketen sind wie Nägel, mit denen man eine antiquierte politische Struktur in Europa vor dem Verfall geschützt hat. Werden diese Nägel herausgezogen, dann wird sich zeigen, daß das Bewußtsein der Menschen mit der heutigen militärischen Blockkonstellation immer weniger übereinstimmt.
Die militärischen Folgen sind ähnlich weitreichend. Denn nach dem Abzug von Pershing II, Cruise Missiles und Pershing I ändern die verbleibenden Nuklearsprengköpfe auf dem Territorium der Bundesrepublik natürlich ihre Qualität. Sie sind dann nicht mehr Bestand eines Abschreckungspakets, sondern sind, losgelöst von ihrer Klammer zu dem strategischen Potential der USA, nichts anderes als Gefechtsfeldwaffen. Dann können Sie in amerikanischen Vorschriften,
in Air/Land-Battle und anderswo nachlesen, was mit denen geschehen soll. Sie sollen im Sinne herkömmlicher Kriegführung eingesetzt werden. Zum Glück haben auch Unionspolitiker begriffen, daß das mit Sicherheitspolitik überhaupt nichts mehr zu tun hat. Nur sehe ich im Augenblick gar keine Chance, in der NATO für diese dritte Null-Lösung Unterstützung zu finden. Nur — das dürfen wir von seiten der GRÜNEN eindeutig sagen — : Wenn Sie hier wirklich Position gegen die NATO beziehen sollten, dann können Sie mit einer Allparteienunterstützung aus diesem Parlament rechnen.
Nur habe ich meine Zweifel, ob Sie das machen werden.
Die Regierung brüstet sich heute mit einem Abkommen, das sie nicht verhindern konnte. Das ist die Wirklichkeit.
Wir von den GRÜNEN können damit sehr gut leben, weil die militärischen und politischen Folgen dieses Doppel-Null-Abkommens unseren Zielen der Blocküberwindung und Denuklearisierung sehr wohl dienen. Ihren Zielen, sofern sie klar bekannt sind, dienen sie sicherlich nicht. Sie bekommen nämlich jetzt die Quittung für Ihre maßlosen Bedrohungskampagnen, die Sie gemacht haben, um die Nachrüstung durchzupeitschen. Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie nicht übersehen sollten.
Die Bevölkerung glaubt nämlich Ihrer Bedrohungspropaganda nicht mehr. Sie glaubt ihr immer weniger. Denn die Sowjetunion, die die Regeln des Wettrüstens über Bord wirft, eignet sich nicht zur Kultivierung von Feindbildern. Das hat weitreichende innenpolitisch-psychologische Konsequenzen. Wenn Sie die jüngste Umfrage über die Einstellung der 14- bis 18jährigen zur Bundeswehr gehört haben, werden Sie hoffentlich nachdenklich geworden sein, 41 % dieser jungen Leute beschreiben die Bundeswehr als „nicht so wichtig, überflüssig oder schädlich".
Das waren 1980 noch 24 %. Diese Veränderungen müssen Sie erkennen, wenn Sie auch im eigenen Interesse realistische Politik machen wollen. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer erhöht sich seit mehreren Jahren jährlich um rund 10 000. Es sieht so aus, als wenn sich dieser Prozeß fortsetzen würde.
Insgesamt sind die Bedingungen für eine Fortsetzung des Entnuklearisierungsprozesses in Europa günstig, und zwar aus ganz klaren Gründen.
Erstens wird die Sowjetunion Vorschläge machen, die wiederum so gut sein werden, daß Sie nicht in der Lage sind, nein zu sagen. Das Merkwürdige ist, daß hier Überlegenheit, die als Bedrohung dargestellt wird, plötzlich zum Schlüssel für erfolgreiche Abrüstungsprozesse wird.
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Dr. Mechtersheimer
Der zweite Grund. Keine Regierung in Westeuropa — da kann ich aufgreifen, was die FAZ realistischerweise feststellt — kann die Kraft aufbringen, eine erneute Nachrüstung auf ihrem Territorium innenpolitisch durchzusetzen.
Das ist eine große Leistung der Friedensbewegung für die Zukunft, die oft nicht begriffen wird, übrigens auch in der Friedensbewegung selbst nicht.
Sie werden feststellen, das selbst bei einem Ungleichgewicht, Herr Rühe, von 88 : 1 368 bei den Kurzstreckenraketen keine Nachrüstung nötig ist, um mit der Sowjetunion Abrüstungsabkommen anzugehen. Die 10 Milliarden Dollar sind nicht zu rechtfertigen, die man ausgegeben hat für diese sogenannte Nachrüstung im Mittelstreckenbereich. Dieses Gesetz wird auch in der konventionellen Rüstung gelten. Die Sowjetunion ist bereit, ihre Überlegenheiten zum Instrument von Abrüstungschancen zu machen, und das ist eine historisch neue Situation, die viele erst noch begreifen müssen.
Eine Regierung, die auch nur den Funken eines Abrüstungswillens hätte, müßte in der konkreten Situation den Verteidigungshaushalt kürzen und den Streitkräfteumfang reduzieren.
Was Herr Carlucci machen kann, warum kann das nicht auch Herr Wörner oder sein Nachfolger?
— Ja, bitte. Fortschritte, Veränderungen begeistern mich immer, weil das ein Ausdruck von Positivem ist, das ich immer unterstütze. Weitere Fortschritte wird es allerdings in diesem Land nach der bisherigen Erfahrung immer nur in Verbindung mit Landtagswahlen geben. Erst wenn die CDU vor der Alternative steht „Abrüstung oder Machtverlust" — Herr Stoltenberg, das ist vielleicht auch für Schleswig-Holstein von Interesse —, erst dann wird sie sich in Richtung Abrüstung bewegen. Die Wähler müssen dieser Regierung die Waffen aus den Händen winden, sonst macht sie keine Abrüstungspolitik.
Lassen Sie mich zum Schluß daran erinnern, daß wir heute den Tag der Menschenrechte feiern. Da gibt es einen engen Zusammenhang, den man sehr wohl auch anders darstellen kann, als Sie, Herr Rühe, das getan haben. Im Schatten von Kriegen ist immer Völkermord betrieben worden, und im Schatten von Rüstung werden die Menschenrechte besonders stark verletzt. Deshalb zeigt sich die Ernsthaftigkeit Ihrer Bekenntnisse zu den Menschenrechten auch daran, ob Sie wirklich Abrüstungspolitik betreiben oder nicht. Wer also von Menschenrechtsverletzungen spricht, der sollte aktive Abrüstungspolitik betreiben, dann ist er glaubwürdig. Vielen Dank.