Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Interesse der Regierungsparteien und der Regierung scheint heute morgen eher darauf abgestellt zu sein, weniger vom Scheitern eines Gipfels, an dem sie selbst Verantwortung getragen haben, zu sprechen, als von den Ergebnissen eines Gipfels zu reden, für dessen Zustandekommen und dessen Ergebnisse sie keinerlei Verantwortung tragen.
Ich möchte diese Strategie gern durchkreuzen, indem ich von dem Gipfel in Kopenhagen spreche. Übrigens wäre es nach den Ergebnissen wohl angemessen, eher von einem Mittelgebirge als von einem Gipfel zu sprechen.
Es war jedenfalls ein Offenbarungseid der EG-Regierungschefs in ihrer Mehrzahl. Es war nicht der Offenbarungseid der Europäer und Europäerinnen oder der europäischen Idee. Im Gegenteil: Vor manchen solcher Regierungen muß man die europäische Idee schützen.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle insbesondere dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors danken, der sich als einer der wenigen mit europäischem Weitblick gezeigt hat und der ein Glück für die Europäische Gemeinschaft ist.
Entgegen allen Trends der Verharmlosung, die heute morgen im Zusammenhang mit der Bewertung des Gipfel deutlich wurden, will ich aus „Le Monde" vom 8. Dezember 1987 zitieren. Es heißt dort:
Die Entente Paris—Bonn war in Kopenhagen nichts anderes als eine Art konservativer Komplizenschaft. Die Entente hat mehr als Bremse gewirkt als die britische Unnachgiebigkeit. Frankreich hat, obwohl es den Vorschlägen von Herrn Delors in großen Zügen zugestimmt hat, sich in Kopenhagen auf die deutsche Seite geschlagen und die Starrköpfigkeit gedeckt, die der Bundeskanzler den Vorschlägen entgegensetzte. Diese Blockade hat eine Einigung über die anderen Punkte unmöglich gemacht.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß selbst mehrfache Versuche der Verharmlosung es nicht schaffen können, die öffentliche Meinung und die Bevölkerung in der Europäischen Gemeinschaft über das Scheitern und die Ursachen des Scheiterns dieses Gipfels im unklaren zu lassen.
Zwei Tage vor dem historischen Vertrag über die Beseitigung der Mittelstreckenwaffen auf europäischem Boden hätten die europäischen Bürger und Bürgerinnen von den zwölf EG-Regierungschefs einen Beweis europäischer Selbstbehauptung erwartet. Statt dessen haben sie einen Akt der Aufgabe europäischer Handlungsfähigkeit erlebt; das war ein wirklicher „Tu-nix-Gipfel".
Wo ein Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von über 15 Millionen Menschen in der EG und zur Gegensteuerung gegen die weltwirtschaftliche Rezession notwendig gewesen wäre, haben die Regierungschefs versagt. Wo das Konzept von Jacques Delors zur Abstimmung stand, haben sich die Regierungschefs in Einzelheiten verstrickt, den politischen Überblick verloren, die Reform an Haupt und Gliedern vertan und die Chancen zur Verwirklichung des großen gemeinsamen Binnenmarkts im absehbaren Zeitraum gemindert. Das ist ein Tatbestand, liebe Kolleginnen und Kollegen. Alle Fachleute sagen, daß durch diese Nichtentscheidung die Verwirklichung
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3425
Frau Wieczorek-Zeul
des Binnenmarktes sich um mindestens ein Jahr verschieben wird.
Das Scheitern hat allerdings auch tieferliegende grundsätzliche Ursachen. Diese möchte ich im folgenden nennen: Die Mehrzahl der aktuellen, sich selbst als konservativ begreifenden Regierungen der EG-Mitgliedsländer hat sich einem Wirtschaftskonzept verschrieben, das die wirtschaftlichen Entwicklungen dem Selbstlauf überläßt. Dieser Ansatz hat aber drastische Konsequenzen für die europäische Integration und den europäischen Zusammenhalt. Die Politik des: „Nimm's vom Nachbarn" — „beggar my neighbour" —, des Umverteilungskampfs zwischen den Mitgliedstaaten um Arbeitsplätze und finanzielle Ressourcen, wird schärfer. Die Chancen zu einer Einigung, bei der es einen gerechten Ausgleich gäbe, sinken.
Deshalb trägt die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP mit ihrer wirtschaftspolitischen Reformunfähigkeit zu einer derartigen integrationsfeindlichen Entwicklung bei.
Ich will in diesem Zusammenhang Helmut Schmidt zitieren, der zu Recht vor wenigen Tagen gesagt hat:
Diese konservativen Regierungen, die heute in Europa regieren, ob Chirac oder Thatcher oder Kohl, die kommen mir zur größeren Hälfte so vor, daß sie wirtschaftsideologische Prediger sind; und zur kleineren Hälfte sind das Klempner, aber die klempnerischen Fähigkeiten sind relativ geringfügig ausgeprägt.
Das Scheitern des EG-Gipfels zeigt, wohin eine Politik führt, die zu jeder Reform unfähig ist. Ohne eine Reform der Agrarpolitik hat die EG keine Zukunft. Wer sich wie die Bundesregierung die Agrarpolitik von den Vertretern der Großagrarier im Bauernverband und den Interessierten aus der Industrie diktieren läßt, blockiert die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft und macht sie handlungsunfähig. Diese Verantwortung muß er dann auch tragen.
Ab dem 1. Januar 1988 trägt die deutsche Bundesregierung als Ratspräsidentschaft noch mehr Verantwortung als bisher für die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft. Wir erwarten als allererstes von der Bundesregierung, daß sie durch eine Änderung ihrer Haltung in der Agrarpolitik den Weg freimacht für eine Neuordnung der Agrarpolitik und damit für die Verabschiedung des gesamten Pakets von Jacques Delors. Nur dadurch wird nämlich der Weg frei für neue finanzielle Eigenmittel der Gemeinschaft, die zur Weiterentwicklung der EG notwendig sind. Die bisherige Haltung der Bundesregierung schadet nicht nur der Europäischen Gemeinschaft, sondern — Jochen Vogel hat heute morgen darauf hingewiesen — sie schadet auch der Mehrzahl der deutschen Bauern, die ohnehin von der Preissubventionierung nur noch maximal 30 % erhalten. Deshalb muß dieses Konzept geändert werden.
Herr Mischnick, Sie haben gesagt, es sei wichtig, daß wir die deutschen Interessen einbringen. Unser Vorwurf lautet, daß die Bundesregierung die Prioritäten in dieser Europäischen Gemeinschaft falsch setzt, daß sie das Gewicht der deutschen Bundesregierung und Deutschlands nicht dafür einsetzt, z. B. den großen gemeinsamen Binnenmarkt zu verwirklichen,
sondern daß sie sich an Konzepte, die längst überholt sind, in der Agrarpolitik klammert, daß sie ihr Gewicht also für die falschen Interessen einsetzt.
Wir, die SPD, verlangen von der Bundesregierung, daß sie sich für eine Verdoppelung der Strukturfonds engagiert. Ich muß sagen, ich halte es für ein kleinkariertes Feilschen, wenn sich die Bundesregierung weigert, dieser Forderung des Delors-Paketes nachzukommen. Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, um zusätzlich 300 Millionen DM pro Jahr in diesem Zeitraum. Man muß wissen, daß zum Beispiel die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um Spanien allein dazu geführt hat, daß sich der Export der Bundesrepublik Deutschland um 2 Milliarden DM verdoppelt hat.
Wer sich dann hinstellt und sagt, wir wollen aber nicht verdoppeln, der leistet eben keinen Beitrag zur Solidarität mit den südlichen Ländern und den Ländern an der Peripherie der EG,
sondern betreibt kleinkariertes Feilschen, und er wird dazu beitragen, daß der Binnenmarkt nicht zustande kommt. Denn zu Recht werden sich die Spanier und Portugiesen solchen Ansinnen widersetzen, wenn wir keinen Ausgleich dafür leisten, daß sie sich dem großen gemeinsamen Binnenmarkt anschließen.
Von der Bundesregierung verlangen wir, daß sie sich neben einer Verdoppelung der Strukturfonds auch dafür engagiert, daß Industrieregionen, die in der Krise sind — auch in der Bundesrepublik Deutschland — , weiterhin zusätzlich zu den nationalen Maßnahmen durch die EG-Strukturfonds finanziert werden. Oder wollen Sie sich in Hannover nach dem Gipfel im Juni hinstellen und sagen, daß zum Beispiel Regionen wie das Ruhrgebiet künftig ohne Finanzierung aus den EG-Fonds bleiben sollen? Das halten wir für völlig unerträglich. Deshalb gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Forderung nach Verdoppelung der Strukturfonds — ich habe die dafür notwendigen Finanzmittel vorhin genannt — und der Weiterfinanzierung von Regionen, die in den Industrieländern in der wirtschaftlichen Krise sind.
Man sieht auch hier: Die Position der Bundesregierung schadet deutschen und europäischen Interessen. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, ihre Position in dieser Frage zu revidieren und sich der Position anzuschließen, die Christdemokraten — man höre! — , GRÜNE und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament in dieser Frage eingenommen haben. Sie entspricht dem, was ich hier skizziert habe.
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Ich habe schon gesagt: Diese Bundesregierung setzt die falschen Prioritäten und deshalb droht eine Fortsetzung der Stagnation der Europäischen Gemeinschaft. Ich frage mich, wenn es schon um Prioritäten geht: Warum wird das Marktprinzip in der EG-Landwirtschaft verweigert, aber von der Bundesregierung zum Beispiel für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen der Stahlindustrie verteidigt? Hätten sich Herr Kohl und Herr Bangemann so für die Erhaltung der Arbeitsplätze in der Stahlindustrie und gegen die Liberalisierung in diesem Bereich eingesetzt, wie sie es für den Unsinn der Agrarpreissubventionierung in der Landwirtschaft getan haben,
dann wären wir heute in der Stahlindustrie auch im Ruhrgebiet in einer anderen Situation.
Wir erwarten von der Bundesregierung — ich habe es vorhin angedeutet — , daß sie sich mit Vorrang für die Verwirklichung des einheitlichen europäischen Binnenmarkts starkmacht. Wann begreift diese Regierung endlich, daß der Binnenmarkt im Rahmen der EG die letzte Chance in diesem Jahrhundert ist, das Modell einer staatenübergreifenden Lösung wirtschaftlicher und politischer Probleme zu verwirklichen?
Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, warum die Regierung des größten Industrielandes der EG in der Praxis — nicht mit Worten — ihren Schwerpunkt nicht in dem Bereich setzt, wo die Arbeitsplätze der Exportindustrie der Bundesrepublik den größten Vorteil haben, und warum sie statt dessen auf die Fortsetzung des bisherigen verfehlten Agrarsystems hin orientiert. Wenn sie nicht auf die Sozialdemokratie hört — das tut sie ja leider öfters nicht — , sollte sie wenigstens das Memorandum des BDI einmal lesen, das ihr jedenfalls zu dieser Frage einiges ins Stammbuch geschrieben hat.
Wir erwarten, daß sich die Bundesregierung in ihrer Ratspräsidentschaft um die wirklich drängenden Fragen kümmert. Der Binnenmarkt bedarf der sozialen Gestaltung. Alles, was bisher vorliegt, orientiert sich an der wirtschaftlichen Integration. Aber genauso notwendig ist es, daß in diesem Prozeß die Mitbestimmung der Arbeitnehmer nicht ausgehöhlt wird — die Gefahr besteht — und nicht unterlaufen wird und daß die Mitbestimmungsrechte in diesem Prozeß der Verwirklichung des Binnenmarktes erhalten bleiben, ausgebaut und zum Beispiel verpflichtend für sogenannte europäische Aktiengesellschaften vorgeschrieben werden.
Wir verlangen von der deutschen EG-Ratspräsidentschaft, daß sie die Politik verstärkt, die zur Sicherung des Friedens in der Welt beiträgt. Weil Sie im Moment mit den eigenen Problemen beschäftigt sind, haben diese wichtigen Fragen nicht im Vordergrund gestanden.
Notwendig ist aus unserer Sicht, daß die deutsche EG-Ratspräsidentschaft eine Initiative zur Entschuldigung der Länder der sogenannten Dritten Welt ergreift. Dies ist ein aktiver Beitrag zur Friedenssicherung. Notwendig ist, daß das Mandat für die neuen Lomé-Verhandlungen, das in die Zeit der Ratspräsidentschaft fällt, der dramatisch verschlechterten Situation dieser Länder Rechnung trägt.
Und wir verlangen, daß die Bundesregierung alles unternimmt, um den Friedensplan für Mittelamerika zu fördern. Dazu muß sie aus unserer Sicht — entsprechend dem Beispiel der EG — die Finanzierung für Nicaragua wiederaufnehmen.
Wir erwarten, daß die Bundesregierung in der Zeit ihrer Ratspräsidentschaft ihre Bremserrolle bei der Bekämpfung des Apartheid-Regimes in Südafrika endlich aufgibt. Gerade am heutigen Tage der Menschenrechte sagen wir: Die Apartheid kann man nicht reformieren, man kann sie nur beseitigen. Ich fordere Sie auf: Folgen Sie dem Beschluß und dem Appell des Europäischen Parlaments vom 30. Oktober 1987
und beschließen Sie in der EG endlich, wirkliche Sanktionen gegen Südafrika, die die Mehrzahl der EG-Länder längst fordern.
Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ob eine Regierung europa- oder parlamentsfreundlich ist, erweist sich nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten. Deshalb wollen wir wissen: Ist die Bundesregierung bereit, nicht nur von mehr Rechten für das Europäische Parlament zu sprechen, sondern z. B. auch ein inter-institutionelles Abkommen zwischen den drei EG-Institutionen abzuschließen, mit dem die Rechte des Europäischen Parlaments, wenn die Haushaltsdisziplin verwirklicht wird, von der Bundeskanzler Kohl heute morgen gesprochen hat, ohne etwas zum Europäischen Parlament dazu zu sagen, gesichert werden sollen. Es würde der Ratspräsidentschaft gut anstehen, wenn sie sich dafür einsetzte, daß die Haushaltsrechte des Europäischen Parlaments bei Entscheidungen über die neuen Eigenmittel der EG erweitert werden. 1975 ist das bei der Veränderung der Eigenmittel der EG geschehen. Wir meinen, dies ist ein Beispiel, das nachgeahmt werden muß.
Und zuletzt — deshalb stellen wir ja diese Forderungen — : „Europäischer Fortschritt darf nicht zu einem Verlust an parlamentarischer Substanz werden. " Das hat Richard von Weizsäcker 1985 vor dem Europäischen Parlament formuliert. Notwendig ist deshalb, daß sich die Bundesregierung dafür engagiert — mit den anderen zusammen — , daß das demokratisch gewählte Parlament, das Europäische Parlament endlich die Rechte erhält, die einer demokratisch gewählten Volksversammlung zukommen, und damit einen Beitrag zur Demokratisierung in der Europäischen Gemeinschaft leistet.
Vielen Dank.