Rede von
Dr.
Hans-Jochen
Vogel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Abkommen über die Beseitigung von 1 752 sowjetischen und 859 amerikanischen landgestützten atomaren Mittelstreckensystemen und einer noch wesentlich höheren Zahl von Sprengköpfen, das vorgestern von Ronald Reagan, dem amerikanischen Präsidenten, und von Michail Gorbatschow, dem sowjetischen Generalsekretär, in Washington unterzeichnet worden ist, bedeutet einen Sieg der Vernunft und gibt Anlaß zu großer Hoffnung.
In dieser Beurteilung stimmen wir mit der Regierungserklärung und — dessen bin ich gewiß — mit der erdrückenden Mehrheit unseres Volkes, ja der meisten Völker dieser Erde überein.
Noch ist das Abkommen nicht ratifiziert oder gar vollzogen. Noch liegt der Tag, an dem die erste Rakete verschrottet, der erste atomare Sprengkopf unschädlich gemacht wird, vor uns. Noch gibt es Kräfte, die all das verhindern wollen. Aber das steht schon heute fest: Die Dynamik der Aufrüstung ist an einer entscheidenden Stelle durchbrochen. Der Wahn, im atomaren Zeitalter könne Sicherheit gegeneinander errüstet werden, ist an einer entscheidenden Stelle widerlegt worden.
Denn erstmals in der Geschichte haben sich die Weltmächte darauf verständigt, daß nicht die weitere Anhäufung von Waffen, sondern deren Verminderung den Frieden sicherer macht, und sie haben sich auf ein
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Kontrollverfahren verständigt, das in seiner Dichte und Präzision bislang ohne Beispiel ist.
Erfreulicherweise hat es den Anschein, daß dem ersten Schritt weitere folgen werden, daß sich das Klima zwischen den Weltmächten zum Guten verändert, daß Kooperation auch da möglich wird, wo es bisher nur Konfrontation gab. So auch bei der Bewältigung regionaler Krisen oder in der Frage der sozialen und der individuellen Menschenrechte. Darin liegt die eigentliche Bedeutung dessen, was in diesen Tagen in Washington geschehen ist und was entgegen aller Skepsis und Schwarzmalerei aus den Reihen der Union
gerade auch unsere eigene Sicherheit nicht vermindert, sondern erhöht.
Hinter der Freude und Genugtuung über diese Fortschritte sollte heute eigentlich der Streit darüber zurücktreten, welche von den politischen Kräften unseres Landes dazu den größeren Beitrag geleistet hat.
— Warten Sie es ab, meine Herrschaften.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben es in den letzten Tagen und auch heute für richtig gehalten, diesen Streit in den Vordergrund zu rücken, und Sie haben Ihre Koalition als die eigentliche Geburtshelferin der beiden Null-Lösungen dargestellt.
Das ist unredlich.
Denn die vehemente Skepsis gegenüber der ersten Null-Lösung, der entschiedene Widerstand gegen die zweite Null-Lösung und der noch entschiedenere Widerspruch
gegen die Einbeziehung der Pershing-I a-Systeme
kam doch aus Ihren Reihen, meine Herrschaften von der Union.
Sie können doch nicht als Erfolg ausgeben, was aus Ihren Reihen bis in die letzten Wochen hinein erbittert bekämpft worden ist.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben begonnen, Zitate zu verlesen. Ich möchte Ihnen da nichts schuldig bleiben und Ihnen — nachdem Sie diese Zitatenleserei eröffnet haben — einige Texte aus Ihren gesammelten
Werken in Erinnerung rufen. Kohl: Gegen das Gerede von der Null-Option.
Dann wörtlich Helmut Kohl:
Die gleiche Wirkung ... erzeugt nun dieses neue Gerede von der Null-Option. Sie sagen,
— das hat er in Richtung der SPD gesagt —
daß Sie sich im Idealfall sogar eine Null-Option vorstellen können, d. h. den Verzicht auf Nachrüstung, wenn die Sowjets ihre Mittelstreckenraketen gänzlich abbauen. Lassen Sie mich doch in aller Deutlichkeit sagen, . . .
— immer noch Kohl —
dieses Gerede
— von der Null-Option —— etwas anderes ist es nicht — ist eine schlichte Täuschung der deutschen Öffentlichkeit.
So Kohl, der Erfinder der Null-Option.
— Sie kommen auch noch dran; Sie werden auch noch zitiert.
Ich beschränke mich bei den weiteren Zitaten auf die Überschriften. Strauß:
„Null-Lösung unsinnig, irreal und unerreichbar". Als nächster Dregger: „Gorbatschow-Vorschlag" zur Null-Lösung „würde Sicherheit aufs schwerste gefährden". Todenhöfer: „Ich kann Null-Lösung nicht zustimmen". Strauß: „Keine Null-Lösung ohne Einbeziehung der Kurzstreckenraketen". Tandler: „Null-Lösung nicht in unserem Interesse". Lowack: — —
— Ich freue mich ja darüber, daß Sie Ihre eigenen Kollegen erheiternd finden. Wir finden es erheiternd, daß Sie sich auf diesem Hintergrund als Väter der Null-Lösung ausgeben.
Dieser wackere Kollege Lowack, über den Sie so herzlich lachen,
sagte also: „Null-Lösung verstärkt" Forderung nach „Austritt aus der NATO". Rühe: „Kurzstrecken nicht abkoppeln", sonst können wir nicht zustimmen. Biehle — warum lachen Sie bei Biehle nicht? Warum nur bei Lowack? Das ist ungerecht.
Also Biehle, meine Herrschaften: Durch die Null-Lösungen „Frieden nicht sicherer, sondern unsicherer". Rühe: unter keinen Umständen zweite Null-Lösung. So geht es weiter, und da geht dieser Bundeskanzler
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her und gibt sich als Vater der Null-Lösungen aus. Das ist Hochstapelei!
Nein, Herr Bundeskanzler, Sie waren nicht der Vorkämpfer dessen, was Sie heute feiern. Sie haben sich vielmehr in letzter Minute in das Unvermeidliche gefügt. Deshalb steht es Ihnen schlecht an, uns wegen unserer Haltung in den Jahren vorher zu kritisieren.
Im übrigen spricht vieles dafür, daß nicht die Stationierungen des Jahres 1983, sondern der Wechsel an der sowjetischen Führungsspitze, das Engagement einer weltweiten Friedensbewegung,
die nicht nur in unserem Land, sondern auch in vielen anderen Ländern auf das Bewußtsein Einfluß genommen hat, und schließlich auch die veränderte Haltung des amerikanischen Präsidenten das Mittelstreckenabkommen möglich gemacht haben.
Der Streit über die Vergangenheit, den Sie hier begonnen haben, mag bei anderer Gelegenheit fortgesetzt werden.
Heute geht, es, so meine ich, um die Zukunft. Es geht jetzt darum, daß wir die konstruktive Entwicklung, die nunmehr in Gang gekommen ist, nach besten Kräften fördern.
Die Regierungserklärung enthält dafür Elemente, die mit unseren Positionen übereinstimmen.
Das gilt beispielsweise für die Halbierung der Zahl der strategischen Raketen und für die strenge Einhaltung des Vertrages über das Verbot der Raketenabwehrsysteme im Weltall, eine Einhaltung, die wir stets von beiden Seiten verlangt haben. Das gilt für den Abbau der Nuklearsysteme kurzer Reichweiten und der konventionellen Ungleichgewichte. Es gilt für die Beendigung aller Atomversuche, und es gilt für die weltweite Beseitigung chemischer Waffen.
Die von uns Sozialdemokraten im Gespräch mit der DDR-Führung entwickelten Projekte eines Korridors, der von Atomwaffen und schwerem konventionellen Gerät frei ist, und einer chemiewaffenfreien Zone in Europa stellen auf dem Weg zu diesen Zielen wichtige Zwischenstationen dar. Atomare und konventionelle Streitkräfte müssen dabei im Zusammenhang der besonderen Gefährdung Europas durch sie gesehen werden, und in diesem Zusammenhang muß über sie verhandelt werden. Diese Verhandlungen müssen zu einer konventionellen Stabilität auf möglichst niedrigem Niveau führen, die den beiderseitigen Streitkräften die Fähigkeit zu nachhaltiger Verteidigung beläßt, sie aber zum Angriff unfähig macht.
Im Verlaufe dieses Prozesses werden dann auch alle Atomwaffen, die sich heute noch auf dem Boden nichtatomarer europäischer Staaten befinden, endgültig überflüssig, und auch die endgültige Überwindung der atomaren Abschreckungsdoktrin rückt damit ein Stück näher.
Das ist der Sinn der von uns entwickelten Prinzipien der gemeinsam verantworteten Sicherheit und der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit, zweier Prinzipien, die in der nationalen und internationalen Diskussion ebenso immer stärkere Aufmerksamkeit finden wie unsere Forderung, die herkömmlichen, weit überzogenen Bedrohungsanalysen durch eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Gegebenheiten zu ersetzen. Erfreulicherweise sind gerade in den letzten Tagen auch aus dem amerikanischen Verteidigungsministerium solche realistischeren Einschätzungen bekanntgeworden.
Es liegt im Interesse beider Weltmächte und beider Bündnisse, es liegt aber vor allem in unserem Interesse, daß die Phase der militärischen Konfrontation zwischen Ost und West, die sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, mehr und mehr durch eine Politik des friedlichen Wettstreits der Gesellschaftsordnungen und einer verstärkten ökonomischen, ökologischen und kulturellen Zusammenarbeit abgelöst wird.
Nur eine solche Politik macht die Grenzen durchlässiger, die Menschenrechte wirksamer, den Pluralismus vielfältiger und den Frieden sicherer. Nur mit Hilfe einer solchen Politik kann die Vergeudung der Ressourcen für militärische Zwecke beendet und die Konzentration aller Kräfte auf die Bewältigung der großen Menschheitsaufgaben vorangebracht werden,
etwa zur Überwindung des Hungers in der Dritten Welt. Auch sonst wird in einer solchen neuen Phase der Entspannung und Zusammenarbeit manches möglich, was bisher unlösbar erschien. Das gilt beispielsweise auch für Fortschritte in und um Berlin. Schon jetzt müssen wir übrigens darauf achten, daß Berlin voll in alle positiven Entwicklungen einbezogen wird und nicht immer stärker in den Schatten dieser Entwicklungen gerät.
In diesem Rahmen erscheinen uns in der Frage der Friedenssicherungspolitik gemeinsame Anstrengungen über die Fraktionsgrenzen hinweg denkbar: Anstrengungen, bei denen die Auseinandersetzung nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie geführt wird, eine Gemeinsamkeit, die das Gewicht der Bundesrepublik und die Berechenbarkeit ihrer Politik verstärken würde. Gewisse Äußerungen — ich beziehe mich auf Kollegen Dregger — aus den Reihen der
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Union lassen es als möglich erscheinen, daß sich hierfür Ansatzpunkte ergeben, die wir bei der FDP schon seit längerem erkennen. Wir sind zu Gesprächen darüber mit den anderen Fraktionen des Deutschen Bundestages bereit. Und wir werden selbstverständlich dem Stationierungsländerabkommen zustimmen, weil dies ein notwendiges Element des INF-Vertrages darstellt.
Mit derselben Deutlichkeit sage ich allerdings: Wir sind nicht bereit, Forderungen nach neuerlichen Nachrüstungen etwa auf dem Gebiet der Kurzstrekkenraketen auch nur um einen einzigen Millimeter nachzugeben,
und zwar ganz gleich, ob sie als Modernisierung, als Ausfüllung von Obergrenzen oder in sonstiger Weise kaschiert werden. Wer solches im Schilde führt, wird unserem entschiedenen Widerstand begegnen. Ich bedaure, daß das Bundesverteidigungsministerium gerade am heutigen Tage wieder die Notwendigkeit der Modernisierung der Kurzstreckensysteme betont — gerade an dem heutigen Tage!
Stellt sich der Washingtoner Gipfel danach als ein Erfolg und als eine Ermutigung dar, so gilt für den Gipfel von Kopenhagen das völlige Gegenteil. Er bedeutet einen Fehlschlag, und er bedeutet eine neuerliche Entmutigung für alle, die es mit dem europäischen Gedanken und der Einigung Europas ernst meinen, eine Entmutigung für die, die wissen, daß nur ein einiges Europa seine Interessen wahren und dann auch bei den weiteren Abrüstungsverhandlungen, bei denen es vor allem um das Schicksal Europas geht, mit am Tisch sitzen kann, während wir heute nur als Randfiguren dabeistehen.
Das ist ein Zustand, der nur durch die fortschreitende Einigung Europas verändert werden kann.
In Kopenhagen — Sie haben es im Grunde in Ihrer Regierungserklärung eingeräumt — , ist keines der brennenden Probleme gelöst worden. Einige Probleme, so die Haushaltskrise und die Krise der Agrarpolitik, haben sich sogar noch verschärft, und das in einer Zeit, in der die Handlungsfähigkeit Europas angesichts der weltwirtschaftlichen Gefahrenmomente und der innereuropäischen Strukturkrisen — ich denke dabei insbesondere an die verzweifelte Lage der Stahlarbeiter bei uns, aber auch im übrigen Europa — doppelt notwendig wäre.
Ich behaupte nicht, daß Sie und die Bundesregierung allein für den Fehlschlag von Kopenhagen verantwortlich sind. Dafür gibt es auch noch andere Adressen, so die Adresse der britischen Premierministerin, die einmal mehr dabei ist, den Bogen zu überspannen. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie trifft ein gerüttelt Maß Mitschuld, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen, einmal, weil Sie weiterhin an einer Agrarpolitik festhalten, die unsere Bauern und die Europäische Gemeinschaft gleichermaßen in den
Ruin treibt und zugleich auch noch unsere Finanzen exzessiv in Anspruch nimmt.
Drei Zahlen machen das ganze Ausmaß des Widersinns, der hier praktiziert wird, deutlich.
Seit 1977 sind in der Europäischen Gemeinschaft die Werte der landwirtschaftlichen Produktion um 20 %, die finanziellen Aufwendungen der Gemeinschaft hingegen um 300 %, nämlich von 18 auf 57 Milliarden DM gestiegen. Gleichzeitig stagniert das Durchschnittseinkommen der Landwirte in der Bundesrepublik, ja, es hat sogar real abgenommen und liegt mit rund 25 000 DM im Jahr erheblich unter dem Durchschnittseinkommen anderer Branchen. Dies ist nämlich der eigentliche Wahnsinn bei dem System, daß immer höhere Milliardenaufwendungen den Bauern nur noch sinkende Einkommen ermöglichen, die unter dem Durchschnitt vergleichbarer Berufe liegen; das muß auch zum Schutze und im Interesse der Bauern gesagt werden.
Ich weiß nicht, wer der Feststellung widersprechen wollte, daß dies keine Politik mehr ist, sondern blanker Unsinn. Und dabei können Sie sich nicht auf andere — wie Sie das immer so gern tun — , etwa auf Herrn Ertl, den früheren Bundeslandwirtschaftsminister, hinausreden. Als Kollege Ertl Anfang der 80er Jahre Maßnahmen gegen die Überproduktion einleiten wollte und vorschlug, da sagte der Herr Kollege Kiechle, agrarpolitischer Sprecher Ihrer Partei, noch am 25. März 1982 — am 25. März 1982! — : Wir richten unseren Blick nicht engstirnig auf vielleicht gerade momentan vorhandene Lebensmittelüberschüsse und glauben nicht, daß wegen solcher Überschüsse sofort die ganze Agrarpolitik der EG reformiert werden müßte.
In Ihrer bilderreichen Sprache, Herr Bundeskanzler, haben Sie zur EG-Agrarpolitik gesagt — ich zitiere wörtlich —, Sie müßten den Bockmist, den andere angerührt haben, auslöffeln.
Mir ist übrigens dieses Wort nicht ganz geläufig; Sie rechnen offenbar Bockmist unter die Nahrungsmittel,
weil Sie von Auslöffeln sprechen, eine ungewöhnliche Ernährungsweise.
Herr Bundeskanzler, um in Ihrem Sprachgebrauch zu bleiben: Der Bockmist, mit dem Sie sich da zu beschäftigen haben, das ist schon Ihr eigener Bockmist aus den letzten fünf Jahren.
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Und dieser Bockmist wird sich noch vermehren, wenn Sie die notwendigen, von uns stets bejahten Maßnahmen zur Erhaltung der bäuerlichen Familienbetriebe nicht endlich von der produktionsorientierten Einkommensstützung auf eine flächen- und personenbezogene Stützung umstellen. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch; Sie brauchen sie nur zu übernehmen, und dann können Sie das Konzept von Jacques Delors unterstützen, ohne daß unsere Bauern noch zusätzlichen Schaden erleiden.
Ein zweiter gravierender Fehler liegt in Ihrer Weigerung, die Mittel des EG-Strukturfonds in dem von der Kommission vorgeschlagenen Maße zu erhöhen. Wer den Binnenmarkt wirklich will — seine Realisierung liegt doch gerade auch in unserem wirtschaftlichen Interesse — , der muß den strukturell schwächeren Mitgliedstaaten auf diese Weise helfen, mit den Problemen fertig zu werden, die der Binnenmarkt für sie schon in seiner Anfangsphase mit sich bringt; das ist ein Gebot der europäischen Solidarität und ein Gebot der Vernunft. Mit der Vertagung der notwendigen Entscheidungen auf den 11. und 12. Februar 1988 ist für die Abwendung einer Krise, die uns in Europa weit zurückwerfen würde, eine allerletzte Frist gesetzt worden. Da die Präsidentschaft am 1. Januar 1988 auf die Bundesrepublik übergeht, ist es jetzt vor allem Ihre Pflicht, diese Frist zu nutzen. An unserer Unterstützung wird es nicht fehlen, wenn Sie nur endlich handeln und wenn Sie bedenken, daß Europa nicht nur ein Europa der Landwirtschaft, sondern ein Europa der Arbeitnehmer sein muß, wenn es eine Zukunft haben soll.
Ich wiederhole: Wir sind zur Kooperation bereit, und wir wissen auch, daß die Bundesrepublik ihre finanziellen Leistungen für Europa erhöhen muß. Aber genauso klar sage ich: Jede zusätzliche Mark für Europa ist verloren und vertan, wenn die Agrarpolitik nicht durchgreifend geändert wird.
Wir haben es nicht nur mit einer europäischen Krise, wir haben es mittlerweile auch mit einer weltwirtschaftlichen Krisensituation zu tun. Als ich vor einem Vierteljahr von dieser Stelle aus auf die damals schon erkennbaren Symptome hinwies, haben Sie das als Miesmacherei abgetan und unsere Warnungen in den Wind geschlagen. Inzwischen können auch Sie die Alarmglocken nicht mehr überhören. Mehr noch: Sie müssen sich eingestehen, daß Ihre Angebotspolitik nach fünf Jahren gescheitert ist, daß Sie mit dieser Angebotspolitik am Ende sind.
Das sind die Fakten. Entgegen all Ihren Ankündigungen hat nämlich die weit überdurchschnittliche Steigerung der Unternehmensgewinne und die ebenso deutliche Absenkung der Lohnquote, des Anteils der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen, weder das Absinken der Investitionsquote auf unter 20 % noch das Anwachsen der Arbeitslosigkeit, die im Durchschnitt dieses Jahres wieder deutlich über 2,2 Millionen liegt, verhindert. Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich doch selber nach dem Sinn
einer Politik fragen, die bei steigenden Unternehmensgewinnen zu sinkenden Investitionen und steigender Arbeitslosigkeit führt.
Das ist doch ein Widerspruch, der auch Ihnen einleuchten muß. Zugleich hat sich das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht in diesen fünf Jahren dramatisch verstärkt.
Diese Fakten, dieses Ergebnis von fünf Jahren Angebotspolitik, lagen doch bereits auf dem Tisch, bevor die Aktienkurse an den internationalen Börsen zusammengebrochen sind und bevor der Dollar in wenigen Wochen noch einmal um 10 % auf seinen historisch tiefsten Stand gefallen ist. Daß ein armes Land in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, daß in einem armen Land eine wachsende Zahl von Menschen arbeitslos wird, daß in einem armen Land ganze Regionen und Städte zum Erliegen kommen, das ist nicht weiter verwunderlich. Sie, Herr Bundeskanzler, haben in den letzten fünf Jahren das Kunststück fertiggebracht, daß dies alles in einem reichen Land, nein, in einem der reichsten Länder der Erde geschieht,
in einem Land, dessen Bruttosozialprodukt dank des Fleißes der Menschen und aller Beteiligten in diesen fünf Jahren um 350 Milliarden DM gestiegen ist.
Können Sie eigentlich nicht nachempfinden, Herr Bundeskanzler, daß gerade diese Tatsache, daß gerade dieser Reichtum die Erbitterung, ja die Wut derer noch verstärkt, die ihre Arbeitsplätze verloren haben oder noch verlieren sollen, ohne daß ihnen eine andere Chance geboten wird?
Die Wut der Männer und Frauen von Rheinhausen kommt doch gerade auch daher, daß sie den Reichtum und unsere Leistungsfähigkeit sehen.
Es ist die Wut der Männer und Frauen, die erkennen, daß es in dieser Situation nicht an den finanziellen Mitteln, sondern am politischen Gestaltungswillen dieser Bundesregierung und ihres Kanzlers fehlt.
Jetzt werden Sie von allen Seiten zum Handeln gedrängt. Nicht nur wir, nicht nur die Gewerkschaften, auch die Sprecher der deutschen Industrie und das Ausland mahnen Ihre politische Führung an, und die Zustimmung Ihrer europäischen Kollegen ist wohl unter „geheim" im verschlossenen Kämmerlein erteilt worden. Nach außen ist sie nicht deutlich geworden. Es sind nicht allein die Herren Reuter und von Kuenheim, die das Fehlen dieser Führung beklagen. Die Herren Rodenstock, Herrhausen und Necker kritisieren Sie doch in der gleichen Weise. Heute gibt es in der „Welt" eine ganze Seite sogar mit Abbildungen der Herren, die Ihre Führung und Ihre Handlungen anmahnen.
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Aber gerade diese Führung lassen Sie vermissen. Sie haben zunächst überhaupt nichts getan und dann halbherzig und schwächlich gehandelt. Dabei tadele ich nicht, daß Sie Bruchstücke unseres Programms „Arbeit und Umwelt" kopiert haben, daß Sie zum Erstaunen und zur Kritik Ihrer eigenen Parteifreunde etwas in Gang setzen, was Sie jahrelang und noch vor wenigen Wochen als typisch sozialdemokratisch mit stereotypen Redewendungen abgelehnt haben. Das stört uns nicht.
Wir kritisieren etwas anderes. Wir kritisieren das viel zu geringe Volumen Ihres Programms, für das Sie — das muß man der Öffentlichkeit sagen — 1988 '70 Millionen DM und 1989 200 Millionen DM ausgeben wollen. Wir kritisieren die ungerechte Verteilung dieser Mittel, die vielleicht von den prosperierenden Regionen, von den Städten, denen es gut geht, in Anspruch genommen werden können, die aber doch an den Regionen und Städten, die sich in Not befinden, deswegen vorbeigehen, weil sie doch nicht eine einzige Mark mehr an Schulden aufnehmen können. Das wissen Sie doch.
Wir kritisieren die Tatsache, daß Sie hartnäckig an Steuerplänen festhalten, die in erster Linie die hohen Einkommen entlasten und die finanziellen Schwierigkeiten derjenigen Länder und Gemeinden erhöhen, die gerade jetzt zusätzliche Mittel benötigen. Dazu gehören doch auch Länder, die von der CDU regiert werden: Für Niedersachsen ist es doch nicht anders als für Nordrhein-Westfalen.
In Schleswig-Holstein ist die Situation doch eher noch bedrohlicher und bedrängender. Es ist doch gar nicht wahr, wenn hier immer so getan wird, als wenn das an einem Unterschied zwischen SPD- und CDU-regierten Ländern liegt.
Die Kritik an diesem Programm ist denn auch allgemein. Niemand erwartet im Ernst von dem, was Sie auf den Weg gebracht haben, ein verstärktes Wirtschaftswachstum oder gar positive Auswirkungen auf die Weltwirtschaft.
Wie stark der Handlungsbedarf wirklich ist, zeigt der Umstand, daß die durchaus notwendige, wenn auch späte, und mit anderen Zentralbanken abgestimmte Zinssenkung der Bundesbank an den Märkten so gut wie nichts bewirkt hat. Das kann man jetzt nach acht oder zehn Tagen ja sagen.
Das kann ja auch nicht verwundern. Denn bei den Leistungsbilanzungleichgewichten zwischen den USA einerseits und Japan und der Bundesrepublik andererseits handelt es sich um Beträge in einer Größenordnung von 150 Milliarden Dollar. Das sind selbst nach heutigem Kurs 250 Milliarden DM oder fast 13 unseres gesamten Bruttosozialprodukts. Wenn die Amerikaner jetzt vernünftigerweise darangehen, die-
ses Ungleichgewicht abzubauen, dann müssen doch unsere Ausgleichsmaßnahmen dazu vom Volumen her in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Daran fehlt es.
Davon — wie bedauern das — kann bei Ihrem Miniprogramm keine Rede sein.
Unser Programm „Arbeit und Umwelt" wird dieser Anforderung hingegen gerecht. Selbst bei vorsichtigen Schätzungen steigert es die Binnennachfrage und zusätzliche Investitionen — wobei uns die zusätzlichen Investitionen fast noch wichtiger sind als die zusätzliche Konsumnachfrage, weil das für die Zukunft wirkt — ,
selbst bei vorsichtigen Schätzungen steigert unser Programm die Binnennachfrage in den nächsten beiden Jahren um 40 bis 50 Milliarden DM. Vor allem: Es hilft dort, wo Hilfe am dringendsten gebraucht wird. Durch unseren Vorschlag, den Gemeinden 3 Milliarden DM Sozialhilfeleistungen durch Verlängerung und Erhöhung der Arbeitslosenhilfe abzunehmen, helfen wir denen, die die Hilfe am dringendsten brauchen,
also gerade an den Stahlstandorten und Montanregionen im Ruhrgebiet, an der Saar, in der Oberpfalz, im Osnabrücker Raum, wo heute verhandelt wird und möglicherweise eine neue Katastrophe auf die Menschen zukommt, an den Werftstandorten und an der Küste.
Wir haben aus den Erfahrungen der Jahre 1929 und 1930 gelernt. Ich fürchte, Sie sind drauf und dran, die damaligen Fehler zu wiederholen. Deshalb können wir Ihnen nur raten, wir können Sie nur bitten: Übernehmen Sie unser Programm möglichst rasch und nicht nur bruchstückweise, wie Sie das viel zu spät bei unserem Programm „Arbeit und Umwelt" getan haben.
Sagen Sie bitte auch nicht, ein solches Programm sei nicht finanzierbar oder es sei zu teuer. Dem setze ich entgegen: Eine neue Weltwirtschaftskrise würde mit Sicherheit um ein Vielfaches teurer werden im Vergleich zu dem, was jetzt aufgewendet werden müßte.
Außerdem: Zumindest ein Teil der notwendigen Maßnahmen kann jedenfalls ab 1990 mit den Beträgen finanziert werden, die Sie für konjunkturell unwirksame steuerliche Maßnahmen vorgesehen haben. Lassen Sie uns doch darüber im zuständigen Ausschuß noch einmal vernünftig reden, ob man hier nicht Korrekturen anbringen kann, die eine wirkliche Investitionsoffensive möglich machen.
Schließlich — da scheint sich ja jetzt allmählich sogar Übereinstimmung abzuzeichnen — ist angesichts der gegenwärtigen Konstellation zur Verstärkung der Investitionen und zur Steigerung der Binnennachfrage auch eine vorübergehende Erhöhung der Kreditaufnahme durch den Bund vertretbar. Der Bund
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würde damit nur einen Bruchteil des Kapitals in Anspruch nehmen, das bisher nach Amerika fließt und das in den USA ja gar nicht mehr benötigt wird, wenn es dort wirklich zum dringend notwendigen Abbau des Leistungsbilanzdefizits kommt. Es ist doch ein Gebot der Vernunft, so zu verfahren.
Auf allen drei Feldern, die heute Gegenstand der Debatte sind, ist entschlossenes Handeln, ist politische Führung gefordert. Aber gerade daran mangelt es in bedrohlicher Weise. Im politischen Zentrum unserer Republik, dort, wo Sie stehen oder sitzen, herrscht Ratlosigkeit, machen sich zunehmend Hilflosigkeit und Kleinmut bemerkbar, die auch die regelmäßigen und lautstarken polemischen Auseinandersetzungen in Ihrer Koalition nicht überdecken können.
Ihr Finanzminister, Herr Stoltenberg, hat infolge seiner Verstrickung in den Niedergang der schleswigholsteinischen CDU rapide an Ansehen und Überzeugungskraft verloren. Er ist durch die Doppelbelastung als Vorsitzender der CDU in Kiel und als Bundesfinanzminister auch zunehmend überfordert. Herr von Hassel hat diesen wichtigen Punkt ja zum Gegenstand der öffentlichen Äußerung gemacht, wobei nicht klar war, ob er die Entlastung oder die Entlassung forderte. Ich will annehmen, er hat die Entlastung gefordert.
Herr Bangemann beschränkt sich auf mehr oder minder muntere Redensarten, von denen Sie übrigens wissen sollten, welche zusätzliche Empörung diese aufgesetzte Munterkeit bei den Menschen draußen auslöst —
sie ist sicher aufgesetzt — , oder auf briefliche Ratschläge an Herrn Stoltenberg, wenn seine Gedanken nicht gerade in Richtung Brüssel wandern.
Sie selbst lassen zu, Herr Bundeskanzler, daß Ihre Koalition gerade jetzt einen großen Teil ihrer politischen Energie auf die Frage verschwendet, ob die Polizei gegen die ohnehin verbotene Vermummung auf jeden Fall oder nur dann einschreiten soll, wenn es ihr zweckmäßig erscheint. Dazu, nicht etwa zur Krise der Europäischen Gemeinschaft oder zu den Gefahrenmomenten der weltwirtschaftlichen Entwicklung, dazu, nicht zur Notlage der Stahlarbeiter und Bergleute veranstaltet Herr Bangemann sogar einen Sonderparteitag. Das ist das Thema, auf das diese Koalition ihre politische Kraft lenkt.
Sie selbst, Herr Bundeskanzler, halten dieses Thema für so wichtig, daß Sie deswegen erstmals in Ihrer Amtszeit Ihre Minister sogar öffentlich zur Ordnung rufen, wobei nebelhaft bleibt, wen Sie eigentlich gemeint haben; wahrscheinlich Herrn Bangemann. Vielleicht halten Sie das unter Beratung des Adenauerhauses auch noch für eine gelungene Taktik, weil Sie hoffen, daß dieser Streit über das Problem der Vermummung vom Versagen auf anderen Gebieten ablenken wird. In Wahrheit offenbart es jedoch einen Mangel an Führung; denn unser Wohlergehen und unsere Zukunft hängen nicht von dieser Frage ab, die die Koalition Tag und Nacht beschäftigt. Sie hängt
von der Bewältigung der Probleme ab, von denen hier und heute die Rede ist: von der weiteren Abrüstung, von der Einigung und Handlungsfähigkeit Europas und von der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und der weltweiten Krisensymptome.
Diese Themen, so sagen wir, lohnen den Streit, aber sie lohnen auch die Zusammenarbeit. Wir Sozialdemokraten sind auf beides vorbereitet.
Herr Strauß, der Katastrophenphilosoph von Sonthofen, wollte 1974 in einer Lage, die damals im Vergleich um ein Vielfaches besser war als die Lage, der wir uns heute gegenübersehen, wollte — ich zitiere — lieber eine weitere Inflationierung, lieber weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit, lieber weitere Zerrüttung der Staatsfinanzen in Kauf nehmen, als seine Alternativen zu nennen. Er empfahl — wiederum wörtlich; Empfehlung Strauß — , nur anzuklagen und zu warnen, aber keine konkreten — —
— Herr Strauß ist doch noch immer da. Oder ist der schon weg? Das könnte Ihnen so passen. Der bleibt Ihnen noch, darauf können Sie sich verlassen.
Der bleibt Ihnen noch länger, als Sie hier mitzureden haben. — Seine Aufforderung an die Opposition von damals: nur anklagen, nur warnen, keine konkreten Rezepte nennen. Und dann weiter: Es müsse alles noch schlechter werden. Das war damals die Botschaft der Opposition. Es müsse alles noch schlechter werden, das war Ihre Philosophie, meine Damen und Herren; unsere ist es nicht. Wir wollen, daß die Gefahren gebannt und überwunden werden, und dafür werden wir auch in Zukunft unermüdlich arbeiten.