Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lange Zeit verlief die heutige Debatte so, wie es meine Kollegin Heidi Wieczorek-Zeul vermutet hatte: Die Abgeordneten der Koalitionsparteien sprachen vor allem vom Washingtoner Gipfel, weil das ein Erfolg war, obwohl die Bundesregierung dort nicht vertreten war; sie sprachen kaum vom Kopenhagener Gipfel, obwohl die Bundesregierung dort vertreten war, weil das eben ein Mißerfolg war. Aber dann kam ja noch der Kollege Bohl. Und er hat über diesen Kopenhagener Gipfel gesprochen und versucht, nun, Herr Präsident, weiß ich nicht, ob das Wort, das ich auf den Lippen habe, parlamentarisch genug ist: aber er hat versucht, daraus eben Gold zu machen. Und das ist ihm nicht gelungen.
Aber ich muß auch fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob wir immer in diesen klischeehaften Bahnen diskutieren müssen - lieber Friedrich Bohl, die Frage geht an Sie — , daß die Abgeordneten der Opposition alles schlecht finden, was die Regierung macht, und die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen eben alles gut finden, was die Regierung macht. Wäre es nicht besser gewesen, wir hätten uns einmal auf das geeinigt, was alle Zeitungen geschrieben haben, was wir im Fernsehen gesehen und gehört haben, daß nämlich der Kopenhagener Gipfel gescheitert ist?
Dann hätten wir darüber reden können, wer denn daran schuld sei.
Sie haben das heute morgen schon gehört: Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat die Schuld nicht der Bundesregierung allein gegeben. Wir denken nicht daran, hier einseitige Schuldzuweisungen zu verteilen.
Lassen Sie mich am Schluß dieser Debatte auch fragen, ob wir uns nicht in die eigene Tasche lügen würden, wenn wir uns damit begnügten, in einer solchen Debatte nur Schuldzuweisungen zu machen; denn eines ist ja deutlich geworden, jetzt in Kopenhagen wieder: Wir sind in Europa an die Grenzen dessen gestoßen, was im Rahmen der institutionellen Verfassung, wie wir sie jetzt haben, möglich ist. Trotz aller Bekenntnisse zu Europa haben sich der Rat und der Europäische Rat bisher nicht als Lenkungsgremien erwiesen, die die Einigung energisch und zum Wohl der Gemeinschaft vorantreiben könnten. Kopenhagen hat gezeigt, daß beide nicht einmal mehr zum Krisenmanagement fähig sind. Die Gemeinschaft, so meine ich, braucht politische Gestaltung, wenn sie nicht zu einer Freihandelszone verkümmern soll.
Am Anfang der europäischen Einigung stand das Bewußtsein, daß die europäischen Nationalstaaten nicht mehr die Macht haben, sich allein in der Weltpolitik zu behaupten. Jetzt müssen wir die Erfahrung gemeinschaftlicher Ohnmacht machen. Die Regierungen der zwölf europäischen Mitgliedstaaten streiten sich wie einst deutsche Duodezfürsten um die kleinliche Wahrung ihrer Eigeninteressen.
Natürlich, die Einigungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft werden immer schwieriger, je enger die Gemeinschaft auf den einzelnen Politikgebieten zusammenwächst. Das ist nur zu natürlich. Da gibt es nationale Interessen. Wer möchte sie bestreiten? Und immer wieder finden in irgendeinem Mitgliedstaat Wahlen statt.
Konflikte sind in der Europäischen Gemeinschaft unausweichlich, weil es unterschiedliche Interessen gibt. Wir werden diese Konflikte nur auflösen können, wenn wir auch in der Europäischen Gemeinschaft die Grundregel demokratischer Staaten einführen, nämlich: Bei unterschiedlichen Auffassungen wird mit Mehrheit darüber entschieden, was zu geschehen hat,
nicht darüber, was auf alle Fälle richtig ist. Denn auch das wissen wir: Die Mehrheit hat nicht immer recht.
Ich will ein Beispiel aus unserer Arbeit nennen. Wir haben in der vergangenen Woche mit Mehrheit den Länderfinanzausgleich in der Bundesrepublik Deutschland neu geregelt. Jeder von uns weiß, wie groß die Interessenunterschiede natürlicherweise zwischen den einzelnen Bundesländern waren und sind. Wir haben eine Regelung getroffen, die nicht meine Zustimmung fand. Aber wir haben eine getroffen. Ich habe dieses Beispiel bewußt gewählt, weil meine Partei bei dieser Entscheidung in der Minderheit war, bei der auch gegen die Interessen meines Bundeslandes entschieden worden ist. Ich habe es auch deshalb gewählt, weil die Interessengegensätze in der Europäischen Gemeinschaft mindestens so groß sind wie in diesem Fall zwischen den deutschen Bundesländern. Nur mit Mehrheitsentscheidungen werden wir sie auflösen können.
Deshalb wird es immer mehr deutlich, wie wenig wir eigentlich mit der Einheitlichen Europäischen Akte Europa nach vorn gebracht haben. Ihr Hauptfehler: Das Europäische Parlament hat durch sie nicht die Rechte erhalten, die es haben muß, wenn wir die Probleme lösen wollen. Vielleicht nutzt die Bundesregierung jetzt in der Zeit ihrer Präsidentschaft im Ministerrat wenigstens die Gelegenheit, um ein bißchen mehr Einfluß für das Europäische Parlament zu schaffen, die ihr auch durch die Einheitliche Europäische Akte gegeben wird.
Mein Fraktionskollege Bernd Reuter hat dieser Tage Sprüche des Berliner Satirikers Adolf Glaßbrenner verschickt, der von 1810 bis 1876 lebte. Einer dieser Sprüche lautete:
Setze dem Überfluß Grenzen und lasse die Grenzen überflüssig werden.
Er war ein weiser Mann, dieser Adolf Glaßbrenner vor mehr als hundert Jahren. Wenn es uns nicht gelingt, dem Überfluß in unserer Agrarproduktion Grenzen zu setzen, werden wir die Grenzen in Europa nicht überflüssig machen können.
Kopenhagen hat gezeigt: Der europäische Zug ist wieder einmal auf ein Abstellgleis gefahren. Auch ein neuer Lokomotivführer aus der Bundesrepublik Deutschland wird den Zug nur schwer von diesem Abstellgleis heruntermanövrieren können.
Es wäre gut, wenn wir endlich erkennen würden, daß in Europa die Weichen anders gestellt werden müssen. Wenn wir das nicht tun, wird der europäische
3452 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Brück
Zug immer wieder auf ein Abstellgleis fahren. Die Weichen in Europa richtig stellen heißt die demokratischen Institutionen stärken, dem Europäischen Parlament mehr Rechte geben, die gewählten Vertreter mit Mehrheit darüber entscheiden lassen, was in Zukunft in Europa zu geschehen hat.
Die Weichen neu stellen, das heißt, der Gemeinschaft — das ist meine Auffassung — eine eigene Steuer zu geben, über die sie verfügt, die die Abgeordneten des Europäischen Parlaments aber auch gegenüber den Wählern selbst verantworten müssen.
Weichen richtig stellen, das heißt auch weise Selbstbeschränkung der Kommission.
Nicht alles und jedes muß in Europa zentralistisch geregelt werden. Manchmal hat man den Eindruck, in Brüssel denke man ununterbrochen darüber nach, was alles noch zentral geregelt werden könne, obwohl es dezentral gar nicht so schlecht geregelt ist. Das heißt auch für das Europäische Parlament, sich zu beschränken, sich um die wesentlichen Dinge zu kümmern, nicht zu allem und jedem in der Welt eine Resolution zu verfassen.
Nun weiß ich auch — ich bin ja nicht von einem anderen Stern — , daß in den nächsten Jahren unser Hauptaugenmerk wohl der Schaffung des Binnenmarktes gelten muß. Dazu sind die Regierungen aufgerufen. Ich bin skeptisch, ob sie es bis 1992 schaffen werden.
Aber wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dürfen uns nicht darauf beschränken. Wir müssen weiter drängen, daß die politischen Institutionen in Europa geändert werden. Wir müssen dem Europäischen Parlament helfen. Wir müssen den Vertragsentwurf für die Europäische Union noch einmal zur Debatte stellen; denn wir brauchen diese Europäische Union. Wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, daß die Weichen in Europa anders gestellt werden, sonst läuft der Zug immer öfter in ein Abstellgleis hinein.