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Man kann sich natürlich mit dem Hinweis auf Anhangmaterial herausreden. Aber, Graf Lambsdorff, wenn Sie hier ernsthaft behaupten wollen, daß die Bundesregierung in den 70er Jahren keine Energiebedarfsprognosen veröffentlicht hat,
und wenn Sie ernsthaft behaupten wollen, daß diese Energiebedarfsprognosen nicht falsch gewesen seien, dann haben wir die Debatte der letzten zehn Jahre offensichtlich umsonst geführt.
Die Bewältigung dieser Aufgabe erfordere — so hieß es im Energieprogramm 1973; auf Lesen können wir uns noch verständigen; ich zitiere jetzt, Graf Lambsdorff — , daß „nahezu 100 neue Großkraftwerke ge-
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Ministerpräsident Lafontaine
baut werden müßten". Vor allem auf der Grundlage dieser Prognose, die in den Fortschreibungen des Energieprogramms im wesentlichen wiederholt wurde, sind in den Folgejahren Investitionsentscheidungen für die meisten der heute in Betrieb oder im Bau befindlichen Kraftwerke gefallen.
In der ersten Fortschreibung des Energieprogramms von 1974, formuliert unmittelbar nach der ersten Ölkrise, sollten Lehren aus der Krise gezogen werden — jetzt zitiere ich wörtlich —, nämlich
eine Beschleunigung der Nutzung der Kernenergie und eine neue Position für die Steinkohle.
Die Bundesregierung sorgte sich damals, ob genügend Bergleute vorhanden seien und ob die Bergbauunternehmen die notwendigen Investitionen aufbrächten, um eine Steigerung der Förderkapazität der Kohle vorzunehmen. Das war die Situation von 1974. Neue Anschlußbergwerke wurden in Angriff genommen. Als Ziel für die Kernenergie wurden bis 1985 50 000 Megawatt vorgegeben. Tatsächlich erreicht waren 1985 16 900 Megawatt. Hintergrund dieser Expansionspolitik waren wieder völlig überzogene Energieverbrauchsprognosen. Der Primärenergieverbrauch wurde für 1985 auf 555 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten vorausgesagt.
Dabei betrug er letztes Jahr 419 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten, also weniger als 1973. Das ist doch die tatsächliche Entwicklung. Ich verstehe nicht, wieso man nicht einmal bereit ist, Zahlen zur Kenntnis zu nehmen.
In der zweiten Fortschreibung des Energieprogramms von 1977 wurde dann der Konsens — nun hören Sie einmal genau zu — von Kohle und Kernenergie erstmals definiert, und zwar wie folgt — ich zitiere — :
Die deutsche Stein- und Braunkohle ist vorrangig zu nutzen. Nur diese beiden Energieträger stehen aus eigener Förderung in ausreichender Menge zur Verfügung. Die Kernenergie ist in dem zur Sicherung der Stromversorgung unerläßlichen Ausmaß unter Beachtung des Vorrangs der Sicherheit der Bevölkerung auszubauen.
Das war der Konsens von 1977. Es hieß nicht „Vorrang für die Kernenergie", sondern es hieß „Vorrang für die Kohle".
Wenn Sie einmal in der Lage wären, Zahlen zur Kenntnis zu nehmen, dann wüßten Sie, daß mittlerweile bei der Stromherstellung die Kernenergie den Vorrang hat. Genau das ist die Kündigung des damaligen Energiekonsenses.
Die zweite Fortschreibung ist voll von ähnlichen Formulierungen. So heißt es z. B.:
Auch nach vorrangiger Nutzung anderer Möglichkeiten sowie der Nutzung anderer Energieträger, vor allem der deutschen Stein- und Braunkohle, hält die Bundesregierung zur Deckung des
Kapazitätsbedarfs den Ausbau weiterer Kraftwerke in einem so begrenzten Ausmaß für unerläßlich. Diesen begrenzten Ausbau der Kernenergie hält die Bundesregierung für vertretbar, wenn die Entsorgung hinreichend gesichert ist.
Beflügelt wiederum von falschen Prognosen über das Wachstum des Stromverbrauchs zwischen 5 und 6 % pro Jahr wurde mit dem Bau neuer Kernkraftwerke begonnen. 5 bis 6 % pro Jahr wurden vorausgeschätzt. Im Schnitt hatten wir 2,6 % in den letzten zehn Jahren. Der Aufschluß neuer Kohlefelder wird in der dritten Fortschreibung angemahnt.
Im Energiebericht der Bundesregierung vom 24. September — wenige Monate nach Tschernobyl — kommt das Wort Kohlevorrang nicht mehr vor. Das ist die entscheidende Veränderung der Weichenstellung in der Energiepolitik.
In diesem Bericht ist zwar vom Festhalten an der Kernenergie die Rede. Für die Steinkohle werden Kapazitätsabbau und Konzentration auf die kostengünstigen Zechen angesagt. Herr Kollege Bangemann, Sie haben vorhin von Wahrhaftigkeit gesprochen.
Ich habe in meiner Regierungserklärung vom 24. Oktober 1986 vor dem saarländischen Landtag gesagt, daß der Energiebericht des Bundes und die darin zum Ausdruck kommende Energiepolitik eine Ankündigung von Zechenschließungen und die Rücknahme der Kohleförderung in der Bundespublik sei. Der Bundeswirtschaftsminister hat öffentlich darauf geantwortet, ich hätte den Energiebericht entweder nicht gelesen oder bewußt falsch interpretiert.
Sie, Herr Bundesarbeitsminister, waren bei uns an der Saar zu Gast und haben mir eine Politik mit der Angst der Kumpel vorgeworfen.
Ich werfe Ihnen heute vor: Vor einem Jahr haben Sie die Kumpel belogen, indem Sie so getan haben, als würden Zechen aufrechterhalten, die heute geschlossen werden.
Meine Damen und Herren, heute ist die Lage eingetreten, die ich 1986 vor der Bundestagswahl vorausgesagt habe und die Sie landauf, landab bestritten haben. Ich bitte Sie, meine heutige Voraussage zu berücksichtigen, wenn der Bundeswirtschaftsminister von Ihnen verlangt, ihm bei der scheinbar harmlosen Entscheidung zu folgen, den Kohlepfennig zu reduzieren. Sie machen sich sonst mitschuldig am Niedergang unserer nationalen Energiebasis.
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