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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/49 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 49. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 Inhalt: Nachruf auf das verstorbene Mitglied des Deutschen Bundestages Dr. h. c. Peter Lorenz 3399 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 3399C, 3440 D Absetzung des Punktes 20a von der Tagesordnung 3400 A Tagesordnungspunkt 16: a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Einheitliche Akte muß ein Erfolg werden: Die Reform der Strukturfonds (Drucksachen 11/929 Nr. 2.3, 11/1209) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Einheitliche Akte muß ein Erfolg werden: Mitteilung der Kommission über die Haushaltsdisziplin (Drucksachen 11/929 Nr. 2.2, 11/1211) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Einheitliche Akte muß ein Erfolg werden: Zweite Änderung des Vorschlags für eine Verordnung (EGKS — EWG — EURATOM) des Rates zur Änderung der Haushaltsordnung vom 21. Dezember 1977 für den Haushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (Drucksachen 11/929 Nr. 2.5, 11/1212) e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Sitzung des Europäischen Rates am 29./30. Juni 1987 in Brüssel (Drucksachen 11/523, 11/1293) Dr. Kohl, Bundeskanzler 3400 C Dr. Vogel SPD 3406 D Rühe CDU/CSU 3412D Dr. Mechtersheimer GRÜNE 3418D Mischnick FDP 3421 B Frau Wieczorek-Zeul SPD 3424 B Frau Geiger CDU/CSU 3427 A Frau Beer GRÜNE 3429 C Genscher, Bundesminister AA 3432 B Dr. Spöri SPD 3435 D Bohl CDU/CSU 3438 C Erler SPD 3441A Lintner CDU/CSU 3442 C Frau Flinner GRÜNE 3444 B Frau Würfel FDP 3445 D Dr. Gautier SPD 3447 B Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 3449 C Brück SPD 3451A Becker (Nienberge) SPD (zur GO) 3452 B Seiters CDU/CSU (zur GO) 3452 C Kleinert (Marburg) GRÜNE (zur GO) 3452 D II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10, Dezember 1987 Namentliche Abstimmung 3454 A Ergebnis 3482 D Tagesordnungspunkt 17: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Kohlevorrangpolitik (Drucksache 11/958) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung Zustimmungsbedürftige Verordnung über den Prozentsatz der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz für das Jahr 1988 (Drucksachen 11/1350, 11/1446) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags des Abgeordneten Stratmann und der Fraktion DIE GRÜNEN: Umbaukonzept für die heimische Steinkohle (Drucksache 11/1476) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerstein, Wissmann, Dr. Lammert, Müller (Wadern) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Baum, Beckmann, Dr. Graf Lambsdorff, Dr. Hirsch, Dr. Hoyer, Dr.-Ing. Laermann, Möllemann, Frau Würfel und der Fraktion der FDP: Förderung der deutschen Steinkohle (Drucksache 11/1485) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Solidarität mit dem Widerstand der Bergleute und Stahlarbeiter gegen Arbeitsplatz- und Standortvernichtung (Drucksache 11/1511) Meyer SPD 3455 B Gerstein CDU/CSU 3458 C Stratmann GRÜNE 3460 C Beckmann FDP 3463 A Dr. Bangemann, Bundesminister BMWi 3464 C Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes 3468A, 3478 C Schreiber CDU/CSU 3472 A Jung (Düsseldorf) SPD 3473 D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 3475A, 3478 D Hinsken CDU/CSU 3476 B Dr. Lammert CDU/CSU 3479 A Namentliche Abstimmungen 3479D, 3480A Ergebnisse 3484B, 3485 D Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung empfängnisverhütender Mittel durch die Krankenkassen (Drucksache 11/597) Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 3480 D Frau Verhülsdonk CDU/CSU 3488 A Kirschner CDU/CSU 3489 B Frau Würfel FDP 3490 C Vogt, Parl. Staatssekretär BMA 3491 C Tagesordnungspunkt 19: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht 1986 (Drucksachen 11/42, 11/1131) Weiskirch, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages 3492 A Heistermann SPD 3494 B Breuer CDU/CSU 3498 A Frau Schilling GRÜNE 3501 B Nolting FDP 3503 C Leidinger SPD 3505 D Dr. Wörner, Bundesminister BMVg 3509 B Leidinger SPD (Erklärung nach § 30 GO) 3512B Vizepräsident Cronenberg 3510D, 3512 C Tagesordnungspunkt 22: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1988 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1988) (Drucksachen 11/1000, 11/1431) Niegel CDU/CSU 3512D, 3520A Müller (Pleisweiler) SPD 3514 B Funke FDP 3516B Sellin GRÜNE 3517 B Dr. von Wartenberg, Parl. Staatssekretär BMWi 3518 C Pfuhl SPD 3519 B Tagesordnungspunkt 20 b: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Ernährungssicherung in Hungerregionen (Drucksachen 11/946, 11/1501) in Verbindung mit Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 III Zusatztagesordnungspunkt 9: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Ernährungssituation in Äthiopien (Drucksache 11/1482) Höffkes CDU/CSU 3520 C Frau Eid GRÜNE 3521 D Frau Folz-Steinacker FDP 3523 D Großmann SPD 3525 C Dr. Köhler, Parl. Staatssekretär BMZ 3527 A Nächste Sitzung 3528 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 3529* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3399 49. Sitzung Bonn, den 10. Dezember 1987 Beginn: 9.01 Uhr
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    Berichtigung 48. Sitzung, Seite IV, linke Spalte: Statt „ZusFr Frau Bulmahn GRÜNE" ist „ZusFr Frau Bulmahn SPD" zu lesen. Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein 11. 12. Dr. Ahrens * 11. 12. Andres 11. 12. Bahr 11. 12. Frau Becker-Inglau 11. 12. Frau Beck-Oberdorf 11. 12. Frau Blunck * 11. 12. Böhm (Melsungen) * 11. 12. Frau Brahmst-Rock 11. 12. Brandt 10. 12. Dr. Briefs 11. 12. Büchner (Speyer) * 11. 12. Dr. von Bülow 11. 12. Frau Fischer * 11. 12. Dr. Friedrich 11. 12. Frau Ganseforth 11. 12. Dr. von Geldern 10. 12. Glos 11. 12. Dr. Glotz 11. 12. Grünbeck 11. 12. Haack (Extertal) 11. 12. Frau Dr. Hellwig 11. 12. Frau Hoffmann (Soltau) 11. 12. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Hürland-Büning 11. 12. Jaunich 10. 12. Frau Kelly 11. 12. Kittelmann * 11. 12. Kolb 11. 12. Kreuzeder 11. 12. Lemmrich * 11. 12. Frau Luuk * 11. 12. Dr. Mahlo 11. 12. Marschewski 11. 12. Dr. Mertens (Bottrop) 11. 12. Dr. Möller 11. 12. Dr. Müller * 11. 12. Dr. Neuling 11. 12. Frau Oesterle-Schwerin 11. 12. Frau Olms 11. 12. Oswald 11. 12. Petersen 11. 12. Poß 10. 12. Rauen 11. 12. Dr. Schmude 10. 12. von Schmude 11. 12. Schröer (Mülheim) 10. 12. Schulze (Berlin) 11. 12. Frau Seuster 11. 12. Frau Dr. Timm * 11. 12. Frau Trenz 11. 12. Frau Vennegerts 11. 12. Dr. Warnke 11. 12. Wieczorek (Duisburg) 11. 12. Würtz 11. 12.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute geht in Washington das Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow zu Ende. Dieses Treffen wird in die Geschichte eingehen, weil es das erste wirkliche Abrüstungsabkommen erbracht hat. Auf Grund des am 8. Dezember 1987 unterzeichneten INF-Abkommens werden weltweit alle amerikanischen und sowjetischen nuklearen, landgestützten Mittelstreckenflugkörper zwischen 500 und 5500 km Reichweite abgeschafft. Die Sicherheit von Millionen von Menschen — zumal in Europa — wird damit verbessert.
    Der 8. Dezember 1987 markiert auch einen großen Erfolg für das Atlantische Bündnis, das seit dem NATO-Doppelbeschluß von 1979 auf dieses Abkommen hingewirkt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Bedrohung Westeuropas durch die sowjetischen SS-20-Raketen wird beendet. Vom Boden der Bundesrepublik Deutschland werden 108 Pershing-II-
    Flugkörper und 64 Marschflugkörper abgezogen. Das Bündnis wird außerdem ab sofort die noch laufende Stationierung von Marschflugkörpern aussetzen.
    Herr Präsident, meine Damen und Herren, dieser Vertrag ist von grundlegender Bedeutung für den Abrüstungsprozeß, weil er eine ganze Kategorie von Waffen beseitigt, weil er stark asymmetrische Reduzierungen und weil er ein umfassendes Überprüfungssystem einschließlich Verdachtskontrollen vorsieht. Dieses Ergebnis — wir haben das oft besprochen hier im Hohen Haus — haben viele nicht für möglich gehalten. An diesem großartigen Erfolg haben viele mitgewirkt, allen voran der amerikanische Präsident Ronald Reagan.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3401
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Er ist viel kritisiert worden, auch bei uns. Wir haben heute allen Grund, ihm herzlich zu danken. Auch Generalsekretär Gorbatschow gebührt Anerkennung dafür, daß er den Weg zu einem Kompromiß und einem guten Ergebnis freigemacht hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Solidarität des Bündnisses war eine grundlegende Voraussetzung für diesen Erfolg. Die Vereinigten Staaten haben ihre Partner laufend und in vertrauensvoller Weise zu allen wichtigen Verhandlungsfragen konsultiert. Die Bündnispartner ihrerseits haben den USA in entscheidenden Verhandlungsphasen den Rücken gestärkt und damit zu dem jetzt erreichten Ergebnis beigetragen.
    Zur Geschichte dieses Erfolges gehört aber auch, daß das Bündnis erst Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper stationieren mußte, bevor es zu wirklich ernsthaften Verhandlungen in Genf kam. Dieser Schritt ist uns damals nicht leicht gefallen.
    Die Opposition hat seinerzeit von uns die Aufkündigung des NATO-Doppelbeschlusses und damit den Bruch der Vereinbarung verlangt.

    (Zurufe von der SPD)

    Sie war bereit, die einseitige Bedrohung unseres Landes durch die SS 20 hinzunehmen. Wir haben dies abgelehnt und den NATO-Doppelbeschluß durchgeführt.
    Meine Damen und Herren, ich verstehe sehr wohl, daß Sie bei diesem Punkt unruhig sind; denn heute ist für Sie die Stunde der Wahrheit gekommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Oh!)

    Dieses Ergebnis war nur möglich,

    (Schily [GRÜNE]: Onkel Brese spricht!)

    weil wir Ihren Diffamierungen und Ihren Fehlprognosen widerstanden haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik wenige Beispiele dafür, daß in einer so erbärmlichen Weise Geschäfte mit der Angst der Menschen gemacht wurden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich erinnere daran — ich will darauf hinweisen, wie uns das getroffen hat — , daß uns als Union vom Podium des Deutschen Bundestags aus die Fähigkeit zum Frieden abgesprochen wurde.

    (Jungmann [SPD]: Das ist aber schon sehr lange her, Herr Kohl!)

    — Ich bringe Ihnen noch Beispiele, Herr Apel, die nicht sehr lange zurückliegen. Gerade Sie sollten keinen Zwischenruf machen; denn Sie waren in diesem Zusammenhang einer von denen, die das Thema des Krieges und der Kriegshetze besonders betrieben haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen und Zurufe bei der SPD)

    Herr Bahr sagte am 22. Dezember 1983:
    Wir werden diese Entscheidungen, die die Mehrheiten im Bundestag getroffen haben, zu bezahlen haben, auch in unserem Verhältnis zum Osten.

    (Sellin [GRÜNE]: Wie teuer war denn die Stationierung?)

    Die Bundesregierung hat sich geirrt.
    — So sagte Herr Bahr weiter. —Die Verhandlungen sollten leichter werden nach der Stationierung, die Russen sollten nachgiebiger werden nach der Stationierung. Das Gegenteil ist eingetreten.
    Ich finde, der Kollege Bahr sollte hierherkommen und sagen, er habe sich getäuscht. Das kann ja passieren, aber es ist wahr.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Und Sie haben sich nicht getäuscht?)

    — Herr Abgeordneter Vogel, Sie, (Dr. Vogel [SPD]: Ja, hier!)

    der Sie zu diesem Thema gerne sprechen, sagten auf dem Essener Parteitag Ihrer Partei im Mai 1984:

    (Dr. Vogel [SPD]: Da passen Sie mal gut auf!)

    Es ist absichtsvolle Irreführung, wenn die Bundesregierung auch jetzt noch behauptet, durch den Beginn der Stationierungen sei die Sicherheit gewachsen und die Verständigungsbereitschaft größer geworden,

    (Dr. Vogel [SPD]: Die Sicherheit ist auch nicht gewachsen!)

    während doch mit Händen zu greifen ist, wie sich der Rüstungswettlauf beschleunigt und wie die Spannungen zwischen den beiden Mächten seit dem November des vergangenen Jahres fast von Monat zu Monat zugenommen haben.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Vogel [SPD]: So war es auch 1984!)

    Herr Abgeordneter Vogel, Sie haben sich getäuscht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie haben bewußt — ich sage das noch einmal — mit der Erzeugung von Kriegsangst die deutsche Öffentlichkeit irregeführt. Das ist die Erfahrung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Dummes Zeug! — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Er muß sich schämen! — Gegenruf des Abg. Dr. Vogel [SPD]: Waigel, der Freund der Null-Lösung. Null in Person. Strauß, auch null! — Dr. Waigel [CDU/ CSU]: Schämen soll er sich!)

    Als die Verhandlungen zwischen den Großmächten im März 1985 wieder aufgenommen wurden, hat die Bundesregierung sowohl innerhalb des westlichen Lagers wie auch gegenüber der Sowjetunion ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um die beiderseitige Abschaffung dieser nuklearen Mittelstreckensysteme auf dem Verhandlungswege zu erreichen. Der Weg und die Politik der Bun-
    3402 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    desregierung waren folgerichtig und klar. Die Erfolge unserer Politik sind heute für jedermann erkennbar. Wir haben mit dieser Politik den Frieden für unser Volk sicherer gemacht.

    (Beifall hei der CDU/CSU und der FDP)

    Unsere Politik war immer berechenbar und deshalb auch erfolgreich.

    (Lachen bei der SPD)

    Sie ist im übrigen eine glänzende Bestätigung

    (Dr. Vogel [SPD]: Für Ihr Geeiere bei der Null-Lösung!)

    für das Harmel-Konzept des Bündnisses im Verhältnis zwischen West und Ost.
    Herr Abgeordneter Vogel, an einem Tag wie dem heutigen sollten Sie schweigen;

    (Widerspruch bei der SPD)

    denn Sie waren einer der falschen Propheten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Um eines parteipolitischen Vorteils und Machtkalküls willen waren Sie bereit, die Sicherheit des Landes aufs Spiel zu setzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Dummes Zeug! Sie waren doch gegen die Null-Lösung! — Dr. Spöri [SPD]: Sie mußten doch zur Null-Lösung getragen werden! — Dr. Scheer [SPD]: Sie halten hier eine reine Parteirede! Das ist doch nicht der Parteitag von Schleswig-Holstein!)

    Ausgehend von gesicherter Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung haben wir uns intensiv um eine Verhandlungslösung bemüht. Wir waren immer überzeugt, daß Ergebnisse in Abrüstungsverhandlungen nur möglich sein können, wenn auch alle anderen Bereiche in die Zusammenarbeit zwischen West und Ost einbezogen werden.
    Die Bundesregierung hat wesentliche Beiträge zum Gelingen dieses Abkommens geleistet, was weltweit anerkannt wird.

    (Dr. Vogel [SPD]: Strauß vor allem!)

    Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft haben bei ihrem Treffen in Kopenhagen das INF-Abkommen als einen „Meilenstein" in den West-Ost-Beziehungen bezeichnet. Mit dieser Würdigung wollten wir besonders zwei Gesichtspunkte zum Ausdruck bringen: einerseits die Genugtuung über dieses Ergebnis und andererseits die Erwartung, daß das Abkommen ein erster Schritt ist zu gesichertem Frieden mit weniger Waffen.

    (Jungmann [SPD]: Das ist auch das einzig Positive, was Sie aus Kopenhagen zu berichten haben!)

    — Meine Damen und Herren von der SPD, ich verstehe ja, daß Sie heute aufgeregt sind. Das ist ein Tag der Blamage für Sie.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

    Mit Ihrem unkontrollierten Dazwischenschreien wollen Sie ja nur von der Tatsache Ihres Fehlverhaltens ablenken.

    (Dr. Vogel [SPD]: Wir sind hier nicht in Schleswig-Holstein!)

    Es ist unabdingbar, daß der Prozeß von Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa und weltweit Schritt für Schritt weitergeht. Die Bundesregierung tritt mit aller Kraft dafür ein, daß die jetzt ausgelöste Dynamik zur Kontrolle und zum weiteren Abbau der Rüstungen entschlossen genutzt wird.
    Das INF-Abkommen kann das gesamte West-OstKlima verbessern und in einer entscheidenden Weise zur Vertrauensbildung zwischen den Weltmächten beitragen. Wir sollten nicht vergessen, daß dieses Abkommen die weitestgehenden und umfassendsten gegenseitigen Überprüfungen in Form der Verdachtskontrolle vorsieht, die es je gegeben hat.
    Die Erwartungen der Bundesregierung richten sich jetzt auf den 50 %igen Abbau der strategischen Nuklearwaffen, auf ein weltweites Verbot chemischer Waffen, auf die Herstellung eines umfassenden und stabilen Kräfteverhältnisses konventioneller Streitkräfte durch die Beseitigung von Ungleichgewichten sowie auf Verhandlungen über deutliche und überprüfbare Reduzierungen amerikanischer und sowjetischer bodengestützter nuklearer Flugkörpersysteme kürzerer Reichweite, die zu gleichen Obergrenzen führen.
    Diese vier Verhandlungsschwerpunkte entsprechen den von den NATO-Außenministern im Juni dieses Jahres in Reykjavik festgelegten Prioritäten des Bündnisses. Sie stellen zugleich das Gerüst für das Gesamtkonzept zur Rüstungskontrollpolitik unseres Bündnisses dar, das die NATO-Gremien gemäß Ministerbeschluß derzeit entwickeln.
    Die Bundesregierung arbeitet selbstverständlich intensiv an der Ausgestaltung dieses Konzepts mit. Wir gehen dabei von folgenden grundlegenden Bewertungskriterien aus:
    Erstens. Die enge Wechselwirkung zwischen Rüstungskontrolle und Verteidigungspolitik macht es erforderlich, einzelne rüstungskontrollpolitische Schritte auf ihre Auswirkung auf die eigene Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit zu prüfen. Die gesamte Sicherheitslage des Bündnisses muß einer ständigen Überprüfung unterzogen werden.
    Zweitens. Die Strategie der Kriegsverhinderung durch Abschreckung muß glaubwürdig und durchsetzbar bleiben. Hierfür wird auf absehbare Zeit ein ausgewogenes Verhältnis konventioneller und nuklearer Streitkräfte erforderlich bleiben, wie dies die sieben Mitgliedstaaten der WEU jetzt erneut in ihrer gemeinsamen Plattform der europäischen Sicherheit unterstrichen haben. Der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.

    (Zustimmung des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3403
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Drittens. Kein Bereich der Rüstungskontrolle darf isoliert und aus dem gesamtstrategischen Zusammenhang herausgelöst betrachtet werden.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

    Viertens. Jeder Schritt zu Abrüstung und Rüstungskontrolle muß verläßlich überprüfbar sein. Nur so kann gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden.
    Fünftens. Zielsetzung eines jeden rüstungskontrollpolitischen Schrittes muß es sein, ein stabiles Kräfteverhältnis auf niedrigerem Niveau zu erreichen.
    Sechstens. Die Umgehung getroffener Rüstungskontrollvereinbarungen durch Ausnutzung von Grauzonen muß verhindert werden.
    Siebtens. Abrüstung ist kein Selbstzweck. Sie muß dazu beitragen, die gemeinsame Sicherheit zu erhöhen. Am Ende eines Abrüstungsprozesses muß die Sicherheit größer und nicht geringer sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Nach dem derzeitigen Kenntnisstand der Bundesregierung hat das Gipfeltreffen von Washington auch wichtige Annäherungen bei den Verhandlungen über eine Halbierung der strategischen Offensivpotentiale der USA und der Sowjetunion erbracht. Dies betrifft vor allem die Obergrenzen für einzelne strategische Waffensysteme. Darüber hinaus gibt es eine Teileinigung über ein befristetes Festhalten am ABM-Vertrag.
    Dies bringt uns einer langfristig tragfähigen Einigung der Großmächte über das Verhältnis von Offensiv- und Defensivsystemen näher, die die Bundesregierung als erste westliche Regierung hier im Bundestag immer wieder gefordert hat.
    Damit ist ein START-Abkommen, d. h. die Verschrottung von mehr als 10 000 nuklearen Sprengköpfen beider Großmächte, ebenfalls in greifbare Nähe rückt. Wir werden nicht nachlassen, beide Seiten zu ermutigen, sich über ein solches Abkommen zu einigen.
    Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion haben auch eine besondere Verantwortung für den Abschluß einer Konvention zum weltweiten Verbot chemischer Waffen. Wir Deutsche haben uns stets wegen unserer ganz besonderen Interessenlage für ein solches Verbot eingesetzt.
    Die Verhandlungen in Genf zu diesen Fragen sind weit gediehen. Die noch zu lösenden Kontrollfragen sind kompliziert; wir sind der Überzeugung, sie sind lösbar. Ich rufe deshalb alle beteiligten Seiten dazu auf, einem umfassenden und praktikablen Überprüfungssystem zuzustimmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ein wesentlicher Angelpunkt für die künftige Entwicklung des West-Ost-Verhältnisses insgesamt wird der Verlauf der künftigen Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle in Europa sein. Ich gehe davon aus, daß wir in den nächsten Monaten zu einem einvernehmlichen Mandat mit den Staaten des Warschauer Paktes über solche Verhandlungen kommen werden.
    Ziel dieser Verhandlungen muß es sein, auch eine Stabilisierung des konventionellen Kräfteverhältnisses in ganz Europa zu erreichen. Hierzu müssen die zugunsten des Warschauer Pakts bestehenden Ungleichgewichte beseitigt werden. Generalsekretär Gorbatschow hat noch in der vergangenen Woche solche Asymmetrien eingeräumt.
    Die Überlegenheit und Invasionsfähigkeit der Sowjetunion ergibt sich aus der Stärke, aus der Dislozierung, der Ausbildung und der Ausrüstung ihrer Truppen. Die Bundesregierung wird verständlicherweise gerade diesen Verhandlungen ihre besondere Aufmerksamkeit widmen. Sie werden sicherlich besonders schwierig und langwierig sein, insbesondere auch im Hinblick darauf, daß die Überprüfung besondere Probleme aufwerfen wird und eben asymmetrische Reduzierungen erforderlich sind.
    Herr Präsident, meine Damen und Herren, das Problem der Kurzstreckenraketen unter 500 km Reichweite ist für uns Deutsche, ist für unser Volk auf Grund von Stationierung, Reichweite und drastischer Überzahl der sowjetischen Raketen von einer ganz besonderen Bedeutung. Die uns bedrohende hohe Überzahl sowjetischer Raketen in diesem Reichweitenband ist durch Gesichtspunkte der Verteidigung nicht gerechtfertigt. Ein Verzicht auf einen Teil dieser Raketen würde deshalb nicht das Sicherheitsinteresse der Sowjetunion beeinträchtigen, es würde gleichzeitig die Glaubwürdigkeit des neuen Denkens erhöhen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir müssen auch die Sowjetunion fragen, was sie mit ihren rund 600 SCUD-Systemen beabsichtigt. Auch diese Raketen veralten. Sollen sie, nachdem das Nachfolgemodell, die SS 23, bereits vom INF-Abkommen erfaßt wird, modernisiert werden?
    Die Bundesregierung wird weiterhin darauf hinwirken, daß gemäß dem Kommunique der Außenminister von Reykjavik die sowjetischen und amerikanischen landgestützten nuklearen Kurzstreckenraketen operativ in das Rüstungskontrollkonzept der NATO einbezogen werden. Die Bundesregierung behält sich abschließende Entscheidungen vor. Wesentliche Kriterien werden dabei sein: die im Bündnis erarbeiteten Erfordernisse der gemeinsamen Sicherheit, der weitere Fortgang der Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen und die weitere Entwicklung des gesamten West-Ost-Dialogs.
    Meine Damen und Herren, vorrangig geht es jetzt darum, das INF-Vertragswerk in Kraft zu setzen. Die Bundesregierung begrüßt es, daß der Senat der Vereinigten Staaten von Amerika den INF-Vertrag bereits Mitte Januar in seinen Ausschüssen beraten wird. Wir werden dabei jede sich bietende Gelegenheit nutzen, unsere guten Gründe für den Vertrag und unser Interesse an einer zügigen Ratifikation zu verdeutlichen. Eine Neueröffnung der Verhandlungen zwischen den Weltmächten wäre nicht in unserem Interesse.
    Unsere eigene vertragliche Einbindung in das INF-Vertragswerk, das sogenannte Stationierungsländerabkommen, muß hier im Bundestag ratifiziert wer-
    3404 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    den, weil es uns verpflichtet, 13 Jahre lang Inspektionen auf unserem Hoheitsgebiet hinzunehmen.
    Bereits vorgestern hat das Bundeskabinett den Bundesminister des Auswärtigen ermächtigt, das Abkommen am Rande der Herbsttagung der NATO-Außenminister in Brüssel zu unterzeichnen. Die Bundesregierung wird danach unverzüglich das parlamentarische Verfahren einleiten.
    Ebenfalls auf der Brüsseler Tagesordnung steht das Gesamtkonzept unseres Bündnisses für Abrüstung und Rüstungskontrolle. Grundlage dieses Gesamtkonzepts muß eine gemeinsame Bewertung der Kräfteverhältnisse sein. Diese Aufgabe gewinnt erhöhte Bedeutung für die vor uns liegenden Gespräche und Verhandlungen im konventionellen Bereich.
    Für uns und unsere Verbündeten geht es um die entscheidende Frage: Wie können wir auf Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit, auf einem möglichst niedrigen Niveau der Rüstungen, begleitet von konkreten Maßnahmen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung, die gemeinsame Sicherheit auch in Zukunft verbürgen?
    Der Washingtoner Gipfel bestätigt erneut grundlegende Erfahrungen: Begegnungen auf höchster Ebene sind besonders geeignet, bei entsprechender Vorbereitung den West-Ost-Beziehungen weiterführende Impulse zu geben. Ich habe seit meinem Amtsantritt immer wieder und konsequent eine solche Gipfeldiplomatie verlangt. Ich stelle mit Befriedigung fest: Wir sind jetzt ein gutes Stück weitergekommen.
    Es ist ein besonders gutes Beispiel, daß Ort und Zeit der nächsten Begegnung bereits feststehen: 1988 wird eine vierte Begegnung stattfinden.
    Es gilt, die Chancen für solche Begegnungen zu verbessern und sie als normale Form der West-Ost-Beziehungen zu verankern.
    Die Bundesregierung hat im abgelaufenen Jahr konsequent derartige hochrangige Begegnungen genutzt, um das verbesserte Klima im West-Ost-Verhältnis im bilateralen Bereich zum Wohl der Menschen einzusetzen. Das war der Sinn der Begegnungen mit Generalsekretär Honecker, mit Generalsekretär Schiwkow sowie mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Grosz. Genauso erwarte ich dies für meine Begegnungen mit Generalsekretär Husak und mit Generalsekretär Gorbatschow.
    Die West-Ost-Beziehungen dürfen nicht auf Abrüstung und Rüstungskontrolle verengt werden,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    sondern müssen alle Felder der Zusammenarbeit erfassen und weiterentwickeln.
    Ich begrüße nachdrücklich, daß die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion Fortschritte nicht nur in Fragen der Sicherheit und Vertrauensbildung erzielt haben, sondern auch bei der friedlichen Lösung regionaler Konflikte, in ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit und im kulturellen Austausch. Ein besonderes Anliegen des Präsidenten war es auch auf dem Gipfel, Fortschritte in humanitären Fragen zu erreichen und mehr Menschenrechte durchzusetzen. Sie sind und
    bleiben in Wahrheit das entscheidende Fundament einer dauerhaften Friedensordnung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ein umfassender Dialog und die Entwicklung der Beziehungen in allen Bereichen sind ein Erfolgsrezept für eine dauerhafte Stabilisierung des West-Ost-Verhältnisses.
    Wir sind dem amerikanischen Präsidenten zu besonderem Dank verpflichtet, daß er wie bei seinen früheren Gipfelbegegnungen gegenüber Generalsekretär Gorbatschow zwei wesentliche deutsche Anliegen zur Sprache gebracht hat: Er hat zusammen mit den Ausreisewünschen sowjetischer Juden das gleiche Anliegen der Sowjetbürger deutscher Nationalität vertreten, und er hat in Fortsetzung seiner BerlinInitiative vom Juni dieses Jahres darauf gedrungen, daß auch Berlin, unsere alte Hauptstadt, bei der Verbesserung von Anfang an voll einbezogen wird zum Nutzen der Lebensfähigkeit der Stadt und zum Zusammenhalt der dort lebenden Menschen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wir hoffen, daß die Begegnung in Washington neue Bewegung in die Frage des Krieges in Afghanistan bringt. Nach fast acht Jahren Krieg mit weit mehr als 100 000 Toten und Millionen Flüchtlingen hoffen wir im Interesse des leidgeprüften Landes, daß dort endlich Frieden einkehrt.
    Wir sind davon überzeugt, daß wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen West und Ost beiden Seiten nützt. Wir erwarten, daß die USA und die Sowjetunion ihren Wirtschaftsaustausch nunmehr auf eine breite Grundlage stellen.
    Die Reformen, vor allem die wirtschaftlichen Reformen, die sich Generalsekretär Gorbatschow für sein Land und die sich die Mehrzahl der übrigen Staaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe vorgenommen haben, bieten eine Fülle von Ansätzen für neue, vernünftige Wege der Zusammenarbeit. Daher habe ich Generalsekretär Gorbatschow bereits im Sommer 1986 eine West-Ost-Wirtschaftskonferenz vorgeschlagen.
    Diese Initiative, meine Damen und Herren, liegt nunmehr als gemeinsamer Vorschlag der EG-Staaten auf dem Verhandlungstisch des Wiener KSZE-Folgetreffens. Die Bundesregierung sieht es als eine der Schwerpunktaufgaben ihrer bevorstehenden EG-Präsidentschaft an, nicht nur diesen EG-Vorschlag der West-Ost-Wirtschaftskonferenz umzusetzen, sondern das Wiener Folgetreffen insgesamt zum Erfolg zu führen. Wir würden es begrüßen, wenn es während unserer EG-Präsidentschaft möglich wäre, die Verhandlungen über ein Abkommen zwischen der EG und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe zum Abschluß zu bringen.
    Meine Damen und Herren, ein anderer Gipfel, der Europäische Rat in Kopenhagen, hat — verständlicherweise — für kritische Schlagzeilen gesorgt. Wir haben keine abschließenden Entscheidungen erreicht. Es ist uns aber in zwei Tagen intensiver Diskussion gelungen, in wesentlichen Fragen der künftigen Ausrichtung der Gemeinschaftspolitiken, des so-
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3405
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    genannten Delors-Pakets, ein gutes Stück voranzukommen.

    (Widerspruch bei der SPD)

    In einer Reihe wichtiger Punkte waren jedoch noch keine kompromißfähigen Lösungen möglich, um die notwendigen, in die Zukunft weisenden Grundsatzentscheidungen zu verabschieden. In dieser Lage habe ich meinen Kollegen den Vorschlag unterbreitet, den Europäischen Rat auf den 11. und 12. Februar 1988 nach Brüssel zu vertagen. Dieser Vorschlag wurde angenommen. Ich hätte in Kopenhagen natürlich lieber mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen, um die Arbeit der deutschen Präsidentschaft im nächsten halben Jahr auf andere Fragen, vor allem auf die Vollendung des Binnenmarktes, konzentrieren zu können, was natürlich auch geschehen muß.
    Ich habe diesen frühestmöglichen Termin vorgeschlagen, um klarzumachen, daß wir als künftige Präsidentschaft entschlossen sind, die Entscheidungen möglichst rasch zu treffen und sie nicht auf den Europäischen Rat Ende Juni 1988 in Hannover zu verschieben. Die Gemeinschaft braucht die Entscheidungen über das Delors-Paket, um die notwendige Orientierung in der Agrar- und Strukturpolitik sowie die notwendige solide Finanzgrundlage zu erhalten.
    Als Zwischenergebnis von Kopenhagen kann man festhalten: Erstens. Die Mittel der Strukturfonds werden deutlich erhöht. Sie sollen mehr als bisher auf die strukturschwachen Länder der Gemeinschaft konzentriert werden. Dies ist ein notwendiges Zeichen der Solidarität, insbesondere gegenüber Spanien und Portugal. Diese gezielte Strukturhilfe ist zugleich eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung eines funktionierenden Binnenmarkts. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß wir das Ziel auch der politischen Einigung nur erreichen werden, wenn wir den Binnenmarkt verwirklichen. Und wir werden den Binnenmarkt nur verwirklichen, wenn die unterschiedlichen Lebensverhältnisse und auch die verschiedene wirtschaftliche Situation in den einzelnen Staaten der EG einander angenähert werden, und zwar bald, in einer absehbaren Zukunft.
    Zweitens. Das Finanzierungssystem der Gemeinschaft wird reformiert. Wir werden neben den bereits vorhandenen Gemeinschaftseinnahmen, den Zöllen, den Abschöpfungen und einem Teil der Mehrwertsteuer, eine vierte Finanzquelle schaffen.

    (Dr. Spöri [SPD]: Welche?)

    Ihr Ziel ist es, die Gemeinschaftseinnahmen stärker am Wohlstand der einzelnen Mitgliedstaaten zu orientieren.
    Drittens. Auch in dem sehr schwierigen Agrarbereich hat der Europäische Rat wesentliche Fortschritte gebracht, die vor allem für die deutsche Landwirtschaft von besonderer Bedeutung sind. Die Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten haben anerkannt, daß angesichts der Überschüsse Flächenstillegungen ein wesentlicher Beitrag zur Markt- und Kostenentlastung sind. Für uns hat der Großversuch in Niedersachsen gezeigt, daß in der Flächenstillegung ein richtiger Ansatz zu finden ist. Bevor wir zu einer bloß einkommensorientierten Preispolitik zurückkehren können, müssen vor allem die Fehlentwicklungen der Vergangenheit korrigiert werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Bis dahin muß es in erster Linie darum gehen, die Einkommen in der Landwirtschaft zu stützen und den Strukturwandel auch sozial akzeptabel und erträglich zu machen. Dazu müssen innerhalb der EG und auch national die erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen werden.
    Viertens. Der Europäische Rat hat sich erneut auf eine strikte Haushaltsdisziplin verpflichtet. Die Gemeinschaft verwaltet immer mehr Mittel der einzelnen Länder. Für diese Ausgaben müssen selbstverständlich die gleichen strikten Regelungen gelten, wie das in den einzelnen Ländern — auch in der Bundesrepublik — der Fall ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Von Beginn der Präsidentschaft an werden wir uns gemeinsam mit der Kommission und unseren Partnern bemühen, die in Kopenhagen erzielten Fortschritte jetzt in konkrete Beschlußvorschläge umzusetzen. Auf Grund der geleisteten Vorarbeit sollte es uns gelingen, im Februar in Brüssel die notwendigen Beschlüsse zu fassen.
    Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Gemeinschaft muß sich jetzt stärker auf ein entscheidendes Anliegen der Einheitlichen Europäischen Akte, nämlich die Verwirklichung des Binnenmarktes, konzentrieren. Dieser „Raum ohne Binnengrenzen" umfaßt über 320 Millionen Menschen. Er soll den „freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleisten" , wie es in der Einheitlichen Europäischen Akte heißt. Ein solcher Binnenmarkt stellt für die Wirtschaft der Gemeinschaft und damit im übrigen auch für unsere Volkswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland eine unverzichtbare Basis dar, um im weltweiten Wettbewerb bestehen zu können. Allerdings — ich sage dies mit Bedacht — müssen wir uns alle darüber im klaren sein, daß der Binnenmarkt von den Volkswirtschaften aller Staaten, auch der deutschen, erhebliche Anpassungen verlangt und daß hier mancherlei Schwierigkeiten überwunden werden müssen.
    Europa muß sich den Aufgaben der Zukunft stellen. Das ist gleichermaßen Herausforderung und Chance. Die Bundesregierung will das Notwendige dazu beitragen, damit der Integrationsprozeß gerade im Binnenmarkt neuen Schwung erhält.
    Weder der Ablauf dieses Europäischen Rates noch mancherlei Erfahrungen in der Vergangenheit noch die schwierigen Aufgaben, die uns gerade im Binnenmarkt bevorstehen, sind für mich ein Grund zu irgendeiner Resignation. Im Gegenteil, die europäische Einigung ist ein schwieriger und, wie wir wissen, ein langwieriger Prozeß. Er muß und wird weitergehen, denn jeder weiß: Es gibt zu dieser Entwicklung nach Europa keine Alternative.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, bei mancherlei Ärger über den Stand der aktuellen Diskussion dürfen wir nicht vergessen, was in diesen letzten 30 Jahren erreicht werden konnte. Viele, auch bei uns in der Bun-
    3406 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    desrepublik Deutschland, vergessen zu leicht und zu schnell, daß heute mehr als 50 % unserer Exporte in die übrigen Länder der Gemeinschaft gehen, daß heute diese Exporte jeden fünften Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland sichern. Die Gemeinschaft ist für uns nicht nur der Markt vor der Haustür. Sie hat sich in den letzten Jahren auch zu einer Zone wirtschafts- und währungspolitischer Stabilität entwickelt. Diese Rahmenbedingungen sind für eine exportorientierte Wirtschaft wie die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland von entscheidender Bedeutung.
    Europa — EG Europa — hat gerade angesichts der Ereignisse in den letzten Wochen an den internationalen Finanzmärkten durch enges und abgestimmtes Handeln gezeigt, daß es sich seiner Verantwortung nicht nur bewußt ist, sondern sie auch praktisch wahrnimmt. Es ist selbstverständlich, daß wir uns auch in Kopenhagen über die jüngsten Turbulenzen und deren eventuelle Rückwirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung in den kommenden Wochen ausgesprochen haben. Sowohl der Präsident der EG-Kommission wie auch die anderen Regierungschefs haben dabei die jüngsten Maßnahmen der Bundesregierung und der Bundesbank zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung positiv gewürdigt. Ich konnte in diesem Zusammenhang auf die Zinsentwicklung verweisen. Ich konnte darauf verweisen, daß sich das deutsche Zinsniveau bereits seit geraumer Zeit auch im internationalen Vergleich auf einem niedrigen Stand bewegt und daß die Deutsche Bundesbank die kurzfristigen Geldmarktzinssätze in den letzten Wochen wiederholt gesenkt und am 3. Dezember 1987 den Diskontsatz auf 2,5 % zurückgenommen hat, d. h. auf den niedrigsten Stand seit Kriegsende überhaupt.
    Was die deutsche Finanzpolitik betrifft, konnte ich unterstreichen, daß wir in nur vier Jahren, von 1986 bis 1990, die Steuern netto um rund 50 Milliarden DM, d. h. um rund 2,5 % des Bruttosozialprodukts senken, daß wir die Steuersenkung 1988 auf Grund der internationalen Lage auf 14 Milliarden DM erweitert haben, daß wir steigende öffentliche Haushaltsdefizite aus konjunkturellen Gründen derzeit bewußt in Kauf nehmen und daß wir den Gemeinden und dem Mittelstand in den nächsten drei Jahren zusätzliche zinsgünstige Darlehen in einem Gesamtvolumen von 21 Milliarden DM zur Verfügung stellen werden.

    (Zuruf von der SPD: Welchen Gemeinden?)

    Das positive Echo unserer Partner — das ist wichtiger als das, was Sie dazu sagen —

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    ist um so verständlicher, als ich in Kopenhagen auch darauf aufmerksam gemacht habe, daß die Bundesrepublik Deutschland bereits seit etwa zwei Jahren einen fühlbaren Beitrag zum Abbau der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte leistet. Denn seit Herbst 1985 geht der sogenannte Außenbeitrag zum Bruttosozialprodukt, also der Überschuß aus Exporten und Importen, in realer Rechnung kontinuierlich zurück. Damit fällt unser jährliches reales Wirtschaftswachstum derzeit spürbar schwächer aus,

    (Dr. Spöri [SPD]: Das liegt doch an den Wechselkursen!)

    weil dieser außenwirtschaftliche Anpassungsprozeß unverändert in vollem Gange ist — im übrigen zugunsten unserer Handelspartner und zu unseren eigenen Lasten. Anders ausgedrückt: Wenn man allein die dynamische Entwicklung unserer Inlandsnachfrage betrachtet, so sieht man, daß diese 1987 ein Wachstum von annähernd 3 % erreicht. Auf diese Erfolge, meine Damen und Herren, konnten wir in der europäischen Diskussion mit Recht verweisen.
    Die internationalen Entwicklungen sind in den letzten Jahren in umfassender Weise in Gang gekommen. Ich glaube, bei aller berechtigten Skepsis in bezug auf dieses oder jenes Feld der Politik ist es zu verantworten, zu sagen, daß die Perspektiven auch im Blick auf das nächste Jahr hoffnungsvoll sind. Die Bundesregierung wird selbstverständlich im Sinne Ihres Auftrags ihre ganze Energie einsetzen, um den Frieden in Freiheit für unser Land zu sichern und zum Frieden in der Welt beizutragen.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Abkommen über die Beseitigung von 1 752 sowjetischen und 859 amerikanischen landgestützten atomaren Mittelstreckensystemen und einer noch wesentlich höheren Zahl von Sprengköpfen, das vorgestern von Ronald Reagan, dem amerikanischen Präsidenten, und von Michail Gorbatschow, dem sowjetischen Generalsekretär, in Washington unterzeichnet worden ist, bedeutet einen Sieg der Vernunft und gibt Anlaß zu großer Hoffnung.

    (Beifall bei der SPD)

    In dieser Beurteilung stimmen wir mit der Regierungserklärung und — dessen bin ich gewiß — mit der erdrückenden Mehrheit unseres Volkes, ja der meisten Völker dieser Erde überein.
    Noch ist das Abkommen nicht ratifiziert oder gar vollzogen. Noch liegt der Tag, an dem die erste Rakete verschrottet, der erste atomare Sprengkopf unschädlich gemacht wird, vor uns. Noch gibt es Kräfte, die all das verhindern wollen. Aber das steht schon heute fest: Die Dynamik der Aufrüstung ist an einer entscheidenden Stelle durchbrochen. Der Wahn, im atomaren Zeitalter könne Sicherheit gegeneinander errüstet werden, ist an einer entscheidenden Stelle widerlegt worden.

    (Beifall bei der SPD)

    Denn erstmals in der Geschichte haben sich die Weltmächte darauf verständigt, daß nicht die weitere Anhäufung von Waffen, sondern deren Verminderung den Frieden sicherer macht, und sie haben sich auf ein
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3407
    Dr. Vogel
    Kontrollverfahren verständigt, das in seiner Dichte und Präzision bislang ohne Beispiel ist.
    Erfreulicherweise hat es den Anschein, daß dem ersten Schritt weitere folgen werden, daß sich das Klima zwischen den Weltmächten zum Guten verändert, daß Kooperation auch da möglich wird, wo es bisher nur Konfrontation gab. So auch bei der Bewältigung regionaler Krisen oder in der Frage der sozialen und der individuellen Menschenrechte. Darin liegt die eigentliche Bedeutung dessen, was in diesen Tagen in Washington geschehen ist und was entgegen aller Skepsis und Schwarzmalerei aus den Reihen der Union

    (Lachen bei der CDU/CSU — Beifall bei der SPD)

    gerade auch unsere eigene Sicherheit nicht vermindert, sondern erhöht.

    (Feilcke [CDU/CSU]: Spaßvogel! — Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

    Hinter der Freude und Genugtuung über diese Fortschritte sollte heute eigentlich der Streit darüber zurücktreten, welche von den politischen Kräften unseres Landes dazu den größeren Beitrag geleistet hat.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Sie nicht!) — Warten Sie es ab, meine Herrschaften.

    Sie, Herr Bundeskanzler, haben es in den letzten Tagen und auch heute für richtig gehalten, diesen Streit in den Vordergrund zu rücken, und Sie haben Ihre Koalition als die eigentliche Geburtshelferin der beiden Null-Lösungen dargestellt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist unredlich.


    (Beifall bei der SPD)

    Denn die vehemente Skepsis gegenüber der ersten Null-Lösung, der entschiedene Widerstand gegen die zweite Null-Lösung und der noch entschiedenere Widerspruch

    (Seiters [CDU/CSU]: Gegen Helmut Schmidt)

    gegen die Einbeziehung der Pershing-I a-Systeme

    (Zurufe von der SPD: Aha!)

    kam doch aus Ihren Reihen, meine Herrschaften von der Union.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE])

    Sie können doch nicht als Erfolg ausgeben, was aus Ihren Reihen bis in die letzten Wochen hinein erbittert bekämpft worden ist.

    (Beifall bei der SPD — Feilcke [CDU/CSU]: Herr Vogel, der Erfinder der Beckmesserei!)

    Sie, Herr Bundeskanzler, haben begonnen, Zitate zu verlesen. Ich möchte Ihnen da nichts schuldig bleiben und Ihnen — nachdem Sie diese Zitatenleserei eröffnet haben — einige Texte aus Ihren gesammelten
    Werken in Erinnerung rufen. Kohl: Gegen das Gerede von der Null-Option.

    (Jungmann [SPD]: Hört! Hört!) Dann wörtlich Helmut Kohl:

    Die gleiche Wirkung ... erzeugt nun dieses neue Gerede von der Null-Option. Sie sagen,
    — das hat er in Richtung der SPD gesagt —
    daß Sie sich im Idealfall sogar eine Null-Option vorstellen können, d. h. den Verzicht auf Nachrüstung, wenn die Sowjets ihre Mittelstreckenraketen gänzlich abbauen. Lassen Sie mich doch in aller Deutlichkeit sagen, . . .
    — immer noch Kohl —
    dieses Gerede
    — von der Null-Option —— etwas anderes ist es nicht — ist eine schlichte Täuschung der deutschen Öffentlichkeit.
    So Kohl, der Erfinder der Null-Option.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

    — Sie kommen auch noch dran; Sie werden auch noch zitiert.

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Ich beschränke mich bei den weiteren Zitaten auf die Überschriften. Strauß:

    (Seiters [CDU/CSU]: Nennen Sie doch einmal ein Datum!)

    „Null-Lösung unsinnig, irreal und unerreichbar". Als nächster Dregger: „Gorbatschow-Vorschlag" zur Null-Lösung „würde Sicherheit aufs schwerste gefährden". Todenhöfer: „Ich kann Null-Lösung nicht zustimmen". Strauß: „Keine Null-Lösung ohne Einbeziehung der Kurzstreckenraketen". Tandler: „Null-Lösung nicht in unserem Interesse". Lowack: — —

    (Zuruf des Abg. Jungmann [SPD] — Lachen bei der CDU/CSU)

    — Ich freue mich ja darüber, daß Sie Ihre eigenen Kollegen erheiternd finden. Wir finden es erheiternd, daß Sie sich auf diesem Hintergrund als Väter der Null-Lösung ausgeben.

    (Beifall bei der SPD)

    Dieser wackere Kollege Lowack, über den Sie so herzlich lachen,

    (Dr. Waigel [CDU/CSU]: Nein, wir lachen nicht über ihn, sondern über Sie!)

    sagte also: „Null-Lösung verstärkt" Forderung nach „Austritt aus der NATO". Rühe: „Kurzstrecken nicht abkoppeln", sonst können wir nicht zustimmen. Biehle — warum lachen Sie bei Biehle nicht? Warum nur bei Lowack? Das ist ungerecht.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    Also Biehle, meine Herrschaften: Durch die Null-Lösungen „Frieden nicht sicherer, sondern unsicherer". Rühe: unter keinen Umständen zweite Null-Lösung. So geht es weiter, und da geht dieser Bundeskanzler
    3408 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
    Dr. Vogel
    her und gibt sich als Vater der Null-Lösungen aus. Das ist Hochstapelei!

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Vorsicht, daß Sie keinen Herzinfarkt bekommen! — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt habe ich aber Angst um Ihren Blutdruck, Herr Vogel! — Dr. Waigel [CDU/CSU]: Ganz ruhig!)

    Nein, Herr Bundeskanzler, Sie waren nicht der Vorkämpfer dessen, was Sie heute feiern. Sie haben sich vielmehr in letzter Minute in das Unvermeidliche gefügt. Deshalb steht es Ihnen schlecht an, uns wegen unserer Haltung in den Jahren vorher zu kritisieren.

    (Beifall bei der SPD)

    Im übrigen spricht vieles dafür, daß nicht die Stationierungen des Jahres 1983, sondern der Wechsel an der sowjetischen Führungsspitze, das Engagement einer weltweiten Friedensbewegung,

    (Unruhe bei der CDU/CSU)

    die nicht nur in unserem Land, sondern auch in vielen anderen Ländern auf das Bewußtsein Einfluß genommen hat, und schließlich auch die veränderte Haltung des amerikanischen Präsidenten das Mittelstreckenabkommen möglich gemacht haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Der Streit über die Vergangenheit, den Sie hier begonnen haben, mag bei anderer Gelegenheit fortgesetzt werden.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Die Wahrheit tut weh!)

    Heute geht, es, so meine ich, um die Zukunft. Es geht jetzt darum, daß wir die konstruktive Entwicklung, die nunmehr in Gang gekommen ist, nach besten Kräften fördern.

    (Seiters [CDU/CSU]: Ihnen hört nicht einmal die eigene Fraktion zu! Nicht einmal die Hälfte Ihrer Fraktion ist anwesend!)

    Die Regierungserklärung enthält dafür Elemente, die mit unseren Positionen übereinstimmen.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

    Das gilt beispielsweise für die Halbierung der Zahl der strategischen Raketen und für die strenge Einhaltung des Vertrages über das Verbot der Raketenabwehrsysteme im Weltall, eine Einhaltung, die wir stets von beiden Seiten verlangt haben. Das gilt für den Abbau der Nuklearsysteme kurzer Reichweiten und der konventionellen Ungleichgewichte. Es gilt für die Beendigung aller Atomversuche, und es gilt für die weltweite Beseitigung chemischer Waffen.
    Die von uns Sozialdemokraten im Gespräch mit der DDR-Führung entwickelten Projekte eines Korridors, der von Atomwaffen und schwerem konventionellen Gerät frei ist, und einer chemiewaffenfreien Zone in Europa stellen auf dem Weg zu diesen Zielen wichtige Zwischenstationen dar. Atomare und konventionelle Streitkräfte müssen dabei im Zusammenhang der besonderen Gefährdung Europas durch sie gesehen werden, und in diesem Zusammenhang muß über sie verhandelt werden. Diese Verhandlungen müssen zu einer konventionellen Stabilität auf möglichst niedrigem Niveau führen, die den beiderseitigen Streitkräften die Fähigkeit zu nachhaltiger Verteidigung beläßt, sie aber zum Angriff unfähig macht.

    (Beifall bei der SPD)

    Im Verlaufe dieses Prozesses werden dann auch alle Atomwaffen, die sich heute noch auf dem Boden nichtatomarer europäischer Staaten befinden, endgültig überflüssig, und auch die endgültige Überwindung der atomaren Abschreckungsdoktrin rückt damit ein Stück näher.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist der Sinn der von uns entwickelten Prinzipien der gemeinsam verantworteten Sicherheit und der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit, zweier Prinzipien, die in der nationalen und internationalen Diskussion ebenso immer stärkere Aufmerksamkeit finden wie unsere Forderung, die herkömmlichen, weit überzogenen Bedrohungsanalysen durch eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Gegebenheiten zu ersetzen. Erfreulicherweise sind gerade in den letzten Tagen auch aus dem amerikanischen Verteidigungsministerium solche realistischeren Einschätzungen bekanntgeworden.
    Es liegt im Interesse beider Weltmächte und beider Bündnisse, es liegt aber vor allem in unserem Interesse, daß die Phase der militärischen Konfrontation zwischen Ost und West, die sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, mehr und mehr durch eine Politik des friedlichen Wettstreits der Gesellschaftsordnungen und einer verstärkten ökonomischen, ökologischen und kulturellen Zusammenarbeit abgelöst wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Nur eine solche Politik macht die Grenzen durchlässiger, die Menschenrechte wirksamer, den Pluralismus vielfältiger und den Frieden sicherer. Nur mit Hilfe einer solchen Politik kann die Vergeudung der Ressourcen für militärische Zwecke beendet und die Konzentration aller Kräfte auf die Bewältigung der großen Menschheitsaufgaben vorangebracht werden,

    (Beifall bei der SPD)

    etwa zur Überwindung des Hungers in der Dritten Welt. Auch sonst wird in einer solchen neuen Phase der Entspannung und Zusammenarbeit manches möglich, was bisher unlösbar erschien. Das gilt beispielsweise auch für Fortschritte in und um Berlin. Schon jetzt müssen wir übrigens darauf achten, daß Berlin voll in alle positiven Entwicklungen einbezogen wird und nicht immer stärker in den Schatten dieser Entwicklungen gerät.

    (Beifall bei der SPD)

    In diesem Rahmen erscheinen uns in der Frage der Friedenssicherungspolitik gemeinsame Anstrengungen über die Fraktionsgrenzen hinweg denkbar: Anstrengungen, bei denen die Auseinandersetzung nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie geführt wird, eine Gemeinsamkeit, die das Gewicht der Bundesrepublik und die Berechenbarkeit ihrer Politik verstärken würde. Gewisse Äußerungen — ich beziehe mich auf Kollegen Dregger — aus den Reihen der
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3409
    Dr. Vogel
    Union lassen es als möglich erscheinen, daß sich hierfür Ansatzpunkte ergeben, die wir bei der FDP schon seit längerem erkennen. Wir sind zu Gesprächen darüber mit den anderen Fraktionen des Deutschen Bundestages bereit. Und wir werden selbstverständlich dem Stationierungsländerabkommen zustimmen, weil dies ein notwendiges Element des INF-Vertrages darstellt.

    (Beifall bei der SPD)

    Mit derselben Deutlichkeit sage ich allerdings: Wir sind nicht bereit, Forderungen nach neuerlichen Nachrüstungen etwa auf dem Gebiet der Kurzstrekkenraketen auch nur um einen einzigen Millimeter nachzugeben,

    (Beifall bei der SPD)

    und zwar ganz gleich, ob sie als Modernisierung, als Ausfüllung von Obergrenzen oder in sonstiger Weise kaschiert werden. Wer solches im Schilde führt, wird unserem entschiedenen Widerstand begegnen. Ich bedaure, daß das Bundesverteidigungsministerium gerade am heutigen Tage wieder die Notwendigkeit der Modernisierung der Kurzstreckensysteme betont — gerade an dem heutigen Tage!

    (Dr. Scheer [SPD]: Notorisch!)

    Stellt sich der Washingtoner Gipfel danach als ein Erfolg und als eine Ermutigung dar, so gilt für den Gipfel von Kopenhagen das völlige Gegenteil. Er bedeutet einen Fehlschlag, und er bedeutet eine neuerliche Entmutigung für alle, die es mit dem europäischen Gedanken und der Einigung Europas ernst meinen, eine Entmutigung für die, die wissen, daß nur ein einiges Europa seine Interessen wahren und dann auch bei den weiteren Abrüstungsverhandlungen, bei denen es vor allem um das Schicksal Europas geht, mit am Tisch sitzen kann, während wir heute nur als Randfiguren dabeistehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist ein Zustand, der nur durch die fortschreitende Einigung Europas verändert werden kann.
    In Kopenhagen — Sie haben es im Grunde in Ihrer Regierungserklärung eingeräumt — , ist keines der brennenden Probleme gelöst worden. Einige Probleme, so die Haushaltskrise und die Krise der Agrarpolitik, haben sich sogar noch verschärft, und das in einer Zeit, in der die Handlungsfähigkeit Europas angesichts der weltwirtschaftlichen Gefahrenmomente und der innereuropäischen Strukturkrisen — ich denke dabei insbesondere an die verzweifelte Lage der Stahlarbeiter bei uns, aber auch im übrigen Europa — doppelt notwendig wäre.
    Ich behaupte nicht, daß Sie und die Bundesregierung allein für den Fehlschlag von Kopenhagen verantwortlich sind. Dafür gibt es auch noch andere Adressen, so die Adresse der britischen Premierministerin, die einmal mehr dabei ist, den Bogen zu überspannen. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie trifft ein gerüttelt Maß Mitschuld, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen, einmal, weil Sie weiterhin an einer Agrarpolitik festhalten, die unsere Bauern und die Europäische Gemeinschaft gleichermaßen in den
    Ruin treibt und zugleich auch noch unsere Finanzen exzessiv in Anspruch nimmt.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Drei Zahlen machen das ganze Ausmaß des Widersinns, der hier praktiziert wird, deutlich.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Was wollen Sie denn?)

    Seit 1977 sind in der Europäischen Gemeinschaft die Werte der landwirtschaftlichen Produktion um 20 %, die finanziellen Aufwendungen der Gemeinschaft hingegen um 300 %, nämlich von 18 auf 57 Milliarden DM gestiegen. Gleichzeitig stagniert das Durchschnittseinkommen der Landwirte in der Bundesrepublik, ja, es hat sogar real abgenommen und liegt mit rund 25 000 DM im Jahr erheblich unter dem Durchschnittseinkommen anderer Branchen. Dies ist nämlich der eigentliche Wahnsinn bei dem System, daß immer höhere Milliardenaufwendungen den Bauern nur noch sinkende Einkommen ermöglichen, die unter dem Durchschnitt vergleichbarer Berufe liegen; das muß auch zum Schutze und im Interesse der Bauern gesagt werden.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Schily [GRÜNE])

    Ich weiß nicht, wer der Feststellung widersprechen wollte, daß dies keine Politik mehr ist, sondern blanker Unsinn. Und dabei können Sie sich nicht auf andere — wie Sie das immer so gern tun — , etwa auf Herrn Ertl, den früheren Bundeslandwirtschaftsminister, hinausreden. Als Kollege Ertl Anfang der 80er Jahre Maßnahmen gegen die Überproduktion einleiten wollte und vorschlug, da sagte der Herr Kollege Kiechle, agrarpolitischer Sprecher Ihrer Partei, noch am 25. März 1982 — am 25. März 1982! — : Wir richten unseren Blick nicht engstirnig auf vielleicht gerade momentan vorhandene Lebensmittelüberschüsse und glauben nicht, daß wegen solcher Überschüsse sofort die ganze Agrarpolitik der EG reformiert werden müßte.

    (Jahn [Marburg] [SPD]: Hört! Hört!)

    In Ihrer bilderreichen Sprache, Herr Bundeskanzler, haben Sie zur EG-Agrarpolitik gesagt — ich zitiere wörtlich —, Sie müßten den Bockmist, den andere angerührt haben, auslöffeln.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)

    Mir ist übrigens dieses Wort nicht ganz geläufig; Sie rechnen offenbar Bockmist unter die Nahrungsmittel,

    (Heiterkeit bei der SPD)

    weil Sie von Auslöffeln sprechen, eine ungewöhnliche Ernährungsweise.

    (Seiters [CDU/CSU]: Haben Sie heute Ihren witzigen Tag?)

    Herr Bundeskanzler, um in Ihrem Sprachgebrauch zu bleiben: Der Bockmist, mit dem Sie sich da zu beschäftigen haben, das ist schon Ihr eigener Bockmist aus den letzten fünf Jahren.

    (Beifall bei der SPD)

    3410 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
    Dr. Vogel
    Und dieser Bockmist wird sich noch vermehren, wenn Sie die notwendigen, von uns stets bejahten Maßnahmen zur Erhaltung der bäuerlichen Familienbetriebe nicht endlich von der produktionsorientierten Einkommensstützung auf eine flächen- und personenbezogene Stützung umstellen. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch; Sie brauchen sie nur zu übernehmen, und dann können Sie das Konzept von Jacques Delors unterstützen, ohne daß unsere Bauern noch zusätzlichen Schaden erleiden.

    (Beifall bei der SPD)

    Ein zweiter gravierender Fehler liegt in Ihrer Weigerung, die Mittel des EG-Strukturfonds in dem von der Kommission vorgeschlagenen Maße zu erhöhen. Wer den Binnenmarkt wirklich will — seine Realisierung liegt doch gerade auch in unserem wirtschaftlichen Interesse — , der muß den strukturell schwächeren Mitgliedstaaten auf diese Weise helfen, mit den Problemen fertig zu werden, die der Binnenmarkt für sie schon in seiner Anfangsphase mit sich bringt; das ist ein Gebot der europäischen Solidarität und ein Gebot der Vernunft. Mit der Vertagung der notwendigen Entscheidungen auf den 11. und 12. Februar 1988 ist für die Abwendung einer Krise, die uns in Europa weit zurückwerfen würde, eine allerletzte Frist gesetzt worden. Da die Präsidentschaft am 1. Januar 1988 auf die Bundesrepublik übergeht, ist es jetzt vor allem Ihre Pflicht, diese Frist zu nutzen. An unserer Unterstützung wird es nicht fehlen, wenn Sie nur endlich handeln und wenn Sie bedenken, daß Europa nicht nur ein Europa der Landwirtschaft, sondern ein Europa der Arbeitnehmer sein muß, wenn es eine Zukunft haben soll.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich wiederhole: Wir sind zur Kooperation bereit, und wir wissen auch, daß die Bundesrepublik ihre finanziellen Leistungen für Europa erhöhen muß. Aber genauso klar sage ich: Jede zusätzliche Mark für Europa ist verloren und vertan, wenn die Agrarpolitik nicht durchgreifend geändert wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir haben es nicht nur mit einer europäischen Krise, wir haben es mittlerweile auch mit einer weltwirtschaftlichen Krisensituation zu tun. Als ich vor einem Vierteljahr von dieser Stelle aus auf die damals schon erkennbaren Symptome hinwies, haben Sie das als Miesmacherei abgetan und unsere Warnungen in den Wind geschlagen. Inzwischen können auch Sie die Alarmglocken nicht mehr überhören. Mehr noch: Sie müssen sich eingestehen, daß Ihre Angebotspolitik nach fünf Jahren gescheitert ist, daß Sie mit dieser Angebotspolitik am Ende sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Das sind die Fakten. Entgegen all Ihren Ankündigungen hat nämlich die weit überdurchschnittliche Steigerung der Unternehmensgewinne und die ebenso deutliche Absenkung der Lohnquote, des Anteils der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen, weder das Absinken der Investitionsquote auf unter 20 % noch das Anwachsen der Arbeitslosigkeit, die im Durchschnitt dieses Jahres wieder deutlich über 2,2 Millionen liegt, verhindert. Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich doch selber nach dem Sinn
    einer Politik fragen, die bei steigenden Unternehmensgewinnen zu sinkenden Investitionen und steigender Arbeitslosigkeit führt.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist doch ein Widerspruch, der auch Ihnen einleuchten muß. Zugleich hat sich das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht in diesen fünf Jahren dramatisch verstärkt.
    Diese Fakten, dieses Ergebnis von fünf Jahren Angebotspolitik, lagen doch bereits auf dem Tisch, bevor die Aktienkurse an den internationalen Börsen zusammengebrochen sind und bevor der Dollar in wenigen Wochen noch einmal um 10 % auf seinen historisch tiefsten Stand gefallen ist. Daß ein armes Land in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, daß in einem armen Land eine wachsende Zahl von Menschen arbeitslos wird, daß in einem armen Land ganze Regionen und Städte zum Erliegen kommen, das ist nicht weiter verwunderlich. Sie, Herr Bundeskanzler, haben in den letzten fünf Jahren das Kunststück fertiggebracht, daß dies alles in einem reichen Land, nein, in einem der reichsten Länder der Erde geschieht,

    (Beifall bei der SPD)

    in einem Land, dessen Bruttosozialprodukt dank des Fleißes der Menschen und aller Beteiligten in diesen fünf Jahren um 350 Milliarden DM gestiegen ist.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Dank unserer guten Politik!)

    Können Sie eigentlich nicht nachempfinden, Herr Bundeskanzler, daß gerade diese Tatsache, daß gerade dieser Reichtum die Erbitterung, ja die Wut derer noch verstärkt, die ihre Arbeitsplätze verloren haben oder noch verlieren sollen, ohne daß ihnen eine andere Chance geboten wird?

    (Beifall bei der SPD)

    Die Wut der Männer und Frauen von Rheinhausen kommt doch gerade auch daher, daß sie den Reichtum und unsere Leistungsfähigkeit sehen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Es ist die Wut der Männer und Frauen, die erkennen, daß es in dieser Situation nicht an den finanziellen Mitteln, sondern am politischen Gestaltungswillen dieser Bundesregierung und ihres Kanzlers fehlt.

    (Beifall bei der SPD)

    Jetzt werden Sie von allen Seiten zum Handeln gedrängt. Nicht nur wir, nicht nur die Gewerkschaften, auch die Sprecher der deutschen Industrie und das Ausland mahnen Ihre politische Führung an, und die Zustimmung Ihrer europäischen Kollegen ist wohl unter „geheim" im verschlossenen Kämmerlein erteilt worden. Nach außen ist sie nicht deutlich geworden. Es sind nicht allein die Herren Reuter und von Kuenheim, die das Fehlen dieser Führung beklagen. Die Herren Rodenstock, Herrhausen und Necker kritisieren Sie doch in der gleichen Weise. Heute gibt es in der „Welt" eine ganze Seite sogar mit Abbildungen der Herren, die Ihre Führung und Ihre Handlungen anmahnen.
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3411
    Dr. Vogel
    Aber gerade diese Führung lassen Sie vermissen. Sie haben zunächst überhaupt nichts getan und dann halbherzig und schwächlich gehandelt. Dabei tadele ich nicht, daß Sie Bruchstücke unseres Programms „Arbeit und Umwelt" kopiert haben, daß Sie zum Erstaunen und zur Kritik Ihrer eigenen Parteifreunde etwas in Gang setzen, was Sie jahrelang und noch vor wenigen Wochen als typisch sozialdemokratisch mit stereotypen Redewendungen abgelehnt haben. Das stört uns nicht.
    Wir kritisieren etwas anderes. Wir kritisieren das viel zu geringe Volumen Ihres Programms, für das Sie — das muß man der Öffentlichkeit sagen — 1988 '70 Millionen DM und 1989 200 Millionen DM ausgeben wollen. Wir kritisieren die ungerechte Verteilung dieser Mittel, die vielleicht von den prosperierenden Regionen, von den Städten, denen es gut geht, in Anspruch genommen werden können, die aber doch an den Regionen und Städten, die sich in Not befinden, deswegen vorbeigehen, weil sie doch nicht eine einzige Mark mehr an Schulden aufnehmen können. Das wissen Sie doch.

    (Beifall bei der SPD — Repnik [CDU/CSU]: In Nordrhein-Westfalen bei Johannes Rau! Das ist richtig!)

    Wir kritisieren die Tatsache, daß Sie hartnäckig an Steuerplänen festhalten, die in erster Linie die hohen Einkommen entlasten und die finanziellen Schwierigkeiten derjenigen Länder und Gemeinden erhöhen, die gerade jetzt zusätzliche Mittel benötigen. Dazu gehören doch auch Länder, die von der CDU regiert werden: Für Niedersachsen ist es doch nicht anders als für Nordrhein-Westfalen.

    (Beifall bei der SPD)

    In Schleswig-Holstein ist die Situation doch eher noch bedrohlicher und bedrängender. Es ist doch gar nicht wahr, wenn hier immer so getan wird, als wenn das an einem Unterschied zwischen SPD- und CDU-regierten Ländern liegt.

    (Repnik [CDU/CSU]: Ja, natürlich! — Gegenruf des Abg. Dr. Klejdzinski [SPD]: Noch so ein Schwachsinn!)

    Die Kritik an diesem Programm ist denn auch allgemein. Niemand erwartet im Ernst von dem, was Sie auf den Weg gebracht haben, ein verstärktes Wirtschaftswachstum oder gar positive Auswirkungen auf die Weltwirtschaft.
    Wie stark der Handlungsbedarf wirklich ist, zeigt der Umstand, daß die durchaus notwendige, wenn auch späte, und mit anderen Zentralbanken abgestimmte Zinssenkung der Bundesbank an den Märkten so gut wie nichts bewirkt hat. Das kann man jetzt nach acht oder zehn Tagen ja sagen.

    (Schily [GRÜNE]: Weiße Salbe!)

    Das kann ja auch nicht verwundern. Denn bei den Leistungsbilanzungleichgewichten zwischen den USA einerseits und Japan und der Bundesrepublik andererseits handelt es sich um Beträge in einer Größenordnung von 150 Milliarden Dollar. Das sind selbst nach heutigem Kurs 250 Milliarden DM oder fast 13 unseres gesamten Bruttosozialprodukts. Wenn die Amerikaner jetzt vernünftigerweise darangehen, die-
    ses Ungleichgewicht abzubauen, dann müssen doch unsere Ausgleichsmaßnahmen dazu vom Volumen her in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Daran fehlt es.

    (Beifall bei der SPD)

    Davon — wie bedauern das — kann bei Ihrem Miniprogramm keine Rede sein.
    Unser Programm „Arbeit und Umwelt" wird dieser Anforderung hingegen gerecht. Selbst bei vorsichtigen Schätzungen steigert es die Binnennachfrage und zusätzliche Investitionen — wobei uns die zusätzlichen Investitionen fast noch wichtiger sind als die zusätzliche Konsumnachfrage, weil das für die Zukunft wirkt — ,

    (Beifall bei der SPD)

    selbst bei vorsichtigen Schätzungen steigert unser Programm die Binnennachfrage in den nächsten beiden Jahren um 40 bis 50 Milliarden DM. Vor allem: Es hilft dort, wo Hilfe am dringendsten gebraucht wird. Durch unseren Vorschlag, den Gemeinden 3 Milliarden DM Sozialhilfeleistungen durch Verlängerung und Erhöhung der Arbeitslosenhilfe abzunehmen, helfen wir denen, die die Hilfe am dringendsten brauchen,

    (Beifall bei der SPD)

    also gerade an den Stahlstandorten und Montanregionen im Ruhrgebiet, an der Saar, in der Oberpfalz, im Osnabrücker Raum, wo heute verhandelt wird und möglicherweise eine neue Katastrophe auf die Menschen zukommt, an den Werftstandorten und an der Küste.
    Wir haben aus den Erfahrungen der Jahre 1929 und 1930 gelernt. Ich fürchte, Sie sind drauf und dran, die damaligen Fehler zu wiederholen. Deshalb können wir Ihnen nur raten, wir können Sie nur bitten: Übernehmen Sie unser Programm möglichst rasch und nicht nur bruchstückweise, wie Sie das viel zu spät bei unserem Programm „Arbeit und Umwelt" getan haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Sagen Sie bitte auch nicht, ein solches Programm sei nicht finanzierbar oder es sei zu teuer. Dem setze ich entgegen: Eine neue Weltwirtschaftskrise würde mit Sicherheit um ein Vielfaches teurer werden im Vergleich zu dem, was jetzt aufgewendet werden müßte.

    (Beifall bei der SPD)

    Außerdem: Zumindest ein Teil der notwendigen Maßnahmen kann jedenfalls ab 1990 mit den Beträgen finanziert werden, die Sie für konjunkturell unwirksame steuerliche Maßnahmen vorgesehen haben. Lassen Sie uns doch darüber im zuständigen Ausschuß noch einmal vernünftig reden, ob man hier nicht Korrekturen anbringen kann, die eine wirkliche Investitionsoffensive möglich machen.
    Schließlich — da scheint sich ja jetzt allmählich sogar Übereinstimmung abzuzeichnen — ist angesichts der gegenwärtigen Konstellation zur Verstärkung der Investitionen und zur Steigerung der Binnennachfrage auch eine vorübergehende Erhöhung der Kreditaufnahme durch den Bund vertretbar. Der Bund
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    Dr. Vogel
    würde damit nur einen Bruchteil des Kapitals in Anspruch nehmen, das bisher nach Amerika fließt und das in den USA ja gar nicht mehr benötigt wird, wenn es dort wirklich zum dringend notwendigen Abbau des Leistungsbilanzdefizits kommt. Es ist doch ein Gebot der Vernunft, so zu verfahren.
    Auf allen drei Feldern, die heute Gegenstand der Debatte sind, ist entschlossenes Handeln, ist politische Führung gefordert. Aber gerade daran mangelt es in bedrohlicher Weise. Im politischen Zentrum unserer Republik, dort, wo Sie stehen oder sitzen, herrscht Ratlosigkeit, machen sich zunehmend Hilflosigkeit und Kleinmut bemerkbar, die auch die regelmäßigen und lautstarken polemischen Auseinandersetzungen in Ihrer Koalition nicht überdecken können.
    Ihr Finanzminister, Herr Stoltenberg, hat infolge seiner Verstrickung in den Niedergang der schleswigholsteinischen CDU rapide an Ansehen und Überzeugungskraft verloren. Er ist durch die Doppelbelastung als Vorsitzender der CDU in Kiel und als Bundesfinanzminister auch zunehmend überfordert. Herr von Hassel hat diesen wichtigen Punkt ja zum Gegenstand der öffentlichen Äußerung gemacht, wobei nicht klar war, ob er die Entlastung oder die Entlassung forderte. Ich will annehmen, er hat die Entlastung gefordert.
    Herr Bangemann beschränkt sich auf mehr oder minder muntere Redensarten, von denen Sie übrigens wissen sollten, welche zusätzliche Empörung diese aufgesetzte Munterkeit bei den Menschen draußen auslöst —

    (Beifall bei der SPD)

    sie ist sicher aufgesetzt — , oder auf briefliche Ratschläge an Herrn Stoltenberg, wenn seine Gedanken nicht gerade in Richtung Brüssel wandern.
    Sie selbst lassen zu, Herr Bundeskanzler, daß Ihre Koalition gerade jetzt einen großen Teil ihrer politischen Energie auf die Frage verschwendet, ob die Polizei gegen die ohnehin verbotene Vermummung auf jeden Fall oder nur dann einschreiten soll, wenn es ihr zweckmäßig erscheint. Dazu, nicht etwa zur Krise der Europäischen Gemeinschaft oder zu den Gefahrenmomenten der weltwirtschaftlichen Entwicklung, dazu, nicht zur Notlage der Stahlarbeiter und Bergleute veranstaltet Herr Bangemann sogar einen Sonderparteitag. Das ist das Thema, auf das diese Koalition ihre politische Kraft lenkt.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Eine ziemliche Unverfrorenheit!)

    Sie selbst, Herr Bundeskanzler, halten dieses Thema für so wichtig, daß Sie deswegen erstmals in Ihrer Amtszeit Ihre Minister sogar öffentlich zur Ordnung rufen, wobei nebelhaft bleibt, wen Sie eigentlich gemeint haben; wahrscheinlich Herrn Bangemann. Vielleicht halten Sie das unter Beratung des Adenauerhauses auch noch für eine gelungene Taktik, weil Sie hoffen, daß dieser Streit über das Problem der Vermummung vom Versagen auf anderen Gebieten ablenken wird. In Wahrheit offenbart es jedoch einen Mangel an Führung; denn unser Wohlergehen und unsere Zukunft hängen nicht von dieser Frage ab, die die Koalition Tag und Nacht beschäftigt. Sie hängt
    von der Bewältigung der Probleme ab, von denen hier und heute die Rede ist: von der weiteren Abrüstung, von der Einigung und Handlungsfähigkeit Europas und von der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und der weltweiten Krisensymptome.

    (Beifall bei der SPD)

    Diese Themen, so sagen wir, lohnen den Streit, aber sie lohnen auch die Zusammenarbeit. Wir Sozialdemokraten sind auf beides vorbereitet.
    Herr Strauß, der Katastrophenphilosoph von Sonthofen, wollte 1974 in einer Lage, die damals im Vergleich um ein Vielfaches besser war als die Lage, der wir uns heute gegenübersehen, wollte — ich zitiere — lieber eine weitere Inflationierung, lieber weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit, lieber weitere Zerrüttung der Staatsfinanzen in Kauf nehmen, als seine Alternativen zu nennen. Er empfahl — wiederum wörtlich; Empfehlung Strauß — , nur anzuklagen und zu warnen, aber keine konkreten — —

    (Seiters [CDU/CSU]: Sie müssen aber weit zurückgehen!)

    — Herr Strauß ist doch noch immer da. Oder ist der schon weg? Das könnte Ihnen so passen. Der bleibt Ihnen noch, darauf können Sie sich verlassen.

    (Heiterkeit bei der SPD — Seiters [CDU/ CSU]: Sie bleiben uns auch erhalten!)

    Der bleibt Ihnen noch länger, als Sie hier mitzureden haben. — Seine Aufforderung an die Opposition von damals: nur anklagen, nur warnen, keine konkreten Rezepte nennen. Und dann weiter: Es müsse alles noch schlechter werden. Das war damals die Botschaft der Opposition. Es müsse alles noch schlechter werden, das war Ihre Philosophie, meine Damen und Herren; unsere ist es nicht. Wir wollen, daß die Gefahren gebannt und überwunden werden, und dafür werden wir auch in Zukunft unermüdlich arbeiten.

    (Anhaltender lebhafer Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)