Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus dem ERP-Sondervermögen werden 1988 eine Reihe von vernünftigen Aufgaben finanziert. Herr Niegel hat sie genannt; ich brauche sie nicht noch einmal aufzuzählen. Wir befürworten die Existenz und die Aufgaben des ERP-Sondervermögens, aber wir bedauern, daß die Koalition nicht mehr aus diesem Instrument macht; denn in einem anderen Sinn als unmittelbar nach dem Krieg haben wir auch heute wieder viel aufzubauen.
Uns bedrückt Massenarbeitslosigkeit. Wir müssen die wirtschaftliche Lebensfähigkeit von Regionen, die vom Strukturwandel hart betroffen sind, in einem anderen Sinne wieder aufbauen. Wir müssen die in 30, 40 Jahren stark strapazierte Umwelt sanieren. Deshalb stört uns an dem vorgelegten Haushalt, daß die möglichen Investitionszulagen für den Umweltschutz um 300 Millionen zusammengestrichen worden sind. Das Gegenteil wäre nötig und richtig gewesen.
Alleine über die Deutsche Ausgleichsbank könnten in den nächsten drei Jahren zusätzlich fast 4 Milliarden DM finanziert werden für nützliche Investitionen in den Umweltschutz und damit auch zur Verringerung der Arbeitslosigkeit.
Wir bedauern sehr, daß Sie nicht einmal den Versuch gemacht haben, das ERP-Programm dem gestiegenen Bedarf anzupassen. Wir hätten erwartet, daß Sie den ERP-Wirtschaftsplan — nicht nur nachträglich, wie Herr Niegel das jetzt erwähnt hat — in ein Gesamtkonzept für 1988 und die Jahre danach eingebaut hätten, in ein Gesamtkonzept für mehr Beschäftigung und für qualitatives Wachstum.
Angesichts der kritischen wirtschaftlichen Lage können wir diesen ERP-Haushalt nämlich nicht isoliert betrachten. Er steht im Zusammenhang mit dem, was die Bundesregierung an Maßnahmen am 2. Dezember vorgelegt hat, an halbherzigen Maßnahmen. Er muß sich messen lassen an unserem Sofortprogramm für Arbeit, Umwelt und Investitionen vom 1. Dezember dieses Jahres. Wir Sozialdemokraten wollen in den nächsten Jahren ein öffentliches und privates Investitionsvolumen von zusätzlich 40 bis 50 Milliarden DM mobilisieren und schlagen zu diesem Zweck ein weitgefächertes Paket von Anreizen und Maßnahmen vor.
Das Umweltprogramm der mit dem ERP-Sondervermögen verbundenen Kreditanstalten soll um 10 Milliarden DM jährlich aufgestockt werden. Damit diese Mittel auch von jenen Städten und Gemeinden wahrgenommen werden, in deren Bereich Investitionen besonders notwendig sind, müssen wir diese Gemeinden aber von den Kosten der Massenarbeitslosigkeit entlasten.
Der Widersinn des Programms der Bundesregierung vom 2. Dezember liegt in folgendem: Die Bundesregierung streut Zinssubventionen aus, die von den starken Gemeinden mitgenommen werden könnten, und die anderen gehen leer aus, werden sogar noch mehr gebeutelt dadurch, daß ihnen die Steuerreform zusätzliche Mindereinnahmen auflastet.
Diese Widersprüchlichkeit ist gestern im Wirtschaftsausschuß sogar von Kollegen der Koalition eingestanden worden, allerdings ohne das heilsame Versprechen der Besserung.
Wir fordern in unserem Sofortprogramm weiter, die Bundesmittel für Städtebauförderung und Dorferneuerung aufzustocken, und wir verlangen, endlich eine steuerfreie Investitionsrücklage für kleinere und mittlere Unternehmen einzuführen.
Das sind einige Teile aus unserer Antwort auf die kritische wirtschaftliche Lage. Wir haben damit bei Fachleuten und anderen — bei Verbänden und Gewerkschaften — Zustimmung gefunden.
Die Bundesregierung hingegen hat auf ihre Vorschläge hin herbe Kritik einstecken müssen. Ihnen schallt konzertiertes Hohngelächter entgegen, schreibt die „Wirtschaftswoche", die ja der Koalition nicht allzu fern steht. Das ist mit Recht so.
Die Vorschläge vom 2. Dezember sind zusammengeschustert und offensichtlich keine fachlich qualifzierte Antwort auf die Schwierigkeiten, in denen unser Land und die Weltwirtschaft stecken. Niemand kann ganu sagen, was aus der Krise auf den Finanzmärkten folgen wird. Aber wir wissen genau: Die Risiken sind hoch. Wir wissen: Aus diesen finanziellen Turbulenzen können auch reale Folgen für viele Menschen abgeleitet werden.
Wir wissen vor allem, daß seit Jahren zwei gesamtwirtschaftliche Ziele gröblichst verletzt sind. Das muß man im Kontext mit dem sehen, was heute getan wird, also auch im Kontext mit diesem ERP-Programm. Über 2,2 Millionen Menschen sind arbeitslos, und das außenwirtschaftliche Gleichgewicht in unserem Land
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3515
Müller
und in der Welt ist gröblichst verletzt. Dieses außenwirtschaftliche Ungleichgewicht hat seinen Ausdruck in der Krise der Devisen- und Finanzmärkte gefunden.
Spätestens ab dem 19. Oktober hätte eine Bundesregierung die Pflicht gehabt, wenigstens ein effizientes Krisenmanagement zu betreiben. Nichts geschieht. Im Gegenteil, der zuständige Staatssekretär — nicht der Parlamentarische Staatssekretär, sondern der beamtete Staatssekretär — erklärte gestern im Wirtschaftsausschuß, die Welt sei vor dem 19. Oktober, dem ersten Schwarzen Montag, realwirtschaftlich in Ordnung gewesen. Man merke: Bei 2,2 Millionen Arbeitslosen und einem massiven außenwirtschaftlichen Ungleichgewicht ist die Welt der Zuständigen realwirtschaftlich in Ordnung! Das muß man sich wirklich merken.
Da nimmt es nicht wunder, daß der Herr Bundeskanzler fünf Wochen nach dem ersten Schwarzen Montag im ZDF erklärt, jetzt sei rasches Handeln notwendig. Das war fünf Wochen später. Und dann geschieht auch nichts Gescheites.
Viele von uns treibt die Sorge um die Folgen dieser Untätigkeit für die Betriebe und die Menschen um. Wir fragen uns: Woher kommt dieser Mangel an Verantwortungsbereitschaft? Ist es böser Wille, oder ist es Mangel an Sachkompetenz?
Mir scheint, es fehlt den heute handelnden Personen am Durchblick, und was ihnen fehlt, ersetzen sie dann durch Ideologie. Die von den heute Regierenden bestimmte wirtschaftspolitische Diskussion ist voller Vorurteile. Ich will an einigen Beispielen aufzeigen, wie tief das Niveau der öffentlichen Argumentation gesunken ist.
Beispiel eins: Die Koalition erzählt uns seit langem: Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen. Das klingt gut, ist aber dennoch eine Halbwahrheit. Denn jeder Handwerker, jeder Unternehmer weiß aus eigener Erfahrung: Er investiert dann in neue Maschinen, wenn er erwarten kann, daß die damit zusätzlich produzierten Güter auch verkauft werden können. Technisch gesprochen: Die Investitionsbereitschaft hängt von der Absatz- und Gewinnerwartung mindestens so sehr ab wie von den angehäuften Gewinnen.
Beispiel zwei: Die Koalition hat die Leistungsbilanzüberschüsse unserer Volkswirtschaft als große Erfolge gefeiert. „D-Mark — super!" hieß es in einer CDU-Wahlkampfzeitung vom Januar 1987. Schon als diese geschrieben wurde, konnte man wissen: Die im schwachen Dollarkurs zum Ausdruck kommenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte werden irgendwann auf uns zurückschlagen. Der Zusammenbruch der Devisen- und Aktienmärkte ist demnach auch die direkte Folge dieser massiven Ungleichgewichte. Nebenbei: Weil das so ist, fehlt mir auch jedes Verständnis für die heute in einem Interview des Vorsitzenden des Sachverständigenrates geäußerte Meinung, man könne ruhig warten, bis der Dollar auf 1,50 DM gesunken ist, und habe dann noch Zeit genug, in der Binnenkonjunktur dagegenzuhalten.
Beispiel drei für das niedrige Niveau Ihrer Argumentation: Die Koalition erwartet von einer Verlängerung der Ladenschlußzeiten Wachstumsimpulse. An dieser Parole ist eigentlich nur der Mut bewundernswert, sie geäußert zu haben. Denn den meisten Menschen in unserem Land fehlt es nicht an Zeit einzukaufen, es fehlt ihnen an Geld.
Beispiel vier: Die wohl bedeutendste Schwäche der Diskussion wird da sichtbar, wo es um die Breite der Instrumente der Wirtschaftspolitik geht. Seit Jahren wiederholen die Koalitionspartner nahezu gebetsmühlenhaft den Glaubenssatz, Beschäftigungsprogramme brächten nichts. Dieser Glaube hat blind gemacht für die praktischen Erfahrungen. Wir wissen das vom Zukunftsinvestitionsprogramm, und mehrere Ihnen mehr als uns nahestehende Institute haben auch vorgerechnet, wieviel Arbeitsplätze in jener Zeit geschaffen worden sind.
Weil nun nicht sein kann, was nicht sein darf, haben die meisten Wirtschaftssprecher der Koalition in der Haushaltsdebatte der vorletzten Woche weiterhin gegen beschäftigungspolitische Maßnahmen polemisiert. Wenige Tage später hat dann die Bundesregierung ihr wenn auch halbherziges Progrämmchen beschlossen. Herr Stoltenberg und Herr Bangemann mußten allerlei sprachliche Verrenkungen anstellen, um diesen Bruch zwischen Propaganda und praktischer Politik nicht offen sichtbar werden zu lassen.
Für unser Land ist wichtig, daß sich die Koalition aus der Gefangenschaft ihrer eigenen Ideologien und falscher Wirtschaftstheorien befreit. Wir Sozialdemokraten wünschen uns zum Neuen Jahr eine Art von Perestrojka in der amtlichen Wirtschaftspolitik.
: Was
ist das denn, Herr Müller?)
— Das ist z. B. eine Offenheit für die Breite der wirtschaftspolitischen Instrumente.
— Ja, das ist klar. Das ist auch der Umbau hin zu einer breiteren Nutzung der Instrumente, und das ist der Umbau hin zu einem bewußten, geplanten und sinnvollen Einsatz der möglichen Instrumente in der Wirtschaftspolitik.
Ich appelliere an Sie deshalb, das endlich zu begreifen und endlich Schluß zu machen mit dieser Ideologisierung. Es muß Schluß sein mit einem theoretischen Schulstreit, weil wir uns das in der jetzigen Situation wirklich nicht mehr leisten können.
Unser Land hat es nötig, aus diesem Jammertal wirtschaftspolitischer Inkompetenz herauszukommen, in dem wir heute sind. Sie werden das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik auch nicht wiedergewinnen, wenn Sie nicht endlich bald ein deutliches Zeichen einer solchen Offenheit und einer Neuorientierung der Wirtschaftspolitik setzen. Die Bundesregierung muß klar erkennen, daß sie einen solchen Neuanfang machen muß.
Wenn es darum geht, Arbeitsplätze zu sichern, sind wir Sozialdemokraten zur Zusammenarbeit bereit. Trotz unseres Bedauerns darüber, daß Sie diesen ERP-Wirtschaftsplan der kritischen wirtschaftlichen Lage,
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in der wir sind — ich habe vorhin gesagt, er gehört in ein solches Gesamtpaket — , nicht voll nutzen, stellen wir unsere Bedenken zurück und stimmen diesem ERP-Wirtschaftsplan zu, weil wir ihn in seinen Instrumenten und Zielsetzungen für richtig halten. Aber wir tun das, Herr von Wartenberg, unter dem Vorbehalt und in der Erwartung, daß Sie in den wenigen Wochen, die Ihnen bis zur Verabschiedung des Jahreswirtschaftsberichts noch bleiben, begreifen: Es muß mehr getan werden für die Beschäftigung in den Betrieben und der Menschen in unserem Lande. Zu tun gibt es genug.