Guten Abend, liebe Leute hier im Plenum! Lieber Herr Weiskirch! Liebe Leute
dort oben als Zuhörerinnen und Zuhörer! Und auch: Hallo, Bundeswehr!
Der Bericht des Wehrbeauftragten enthält für meine Begriffe zwei Dilemmas. Ein politisches Dilemma: Der Wehrbeauftragte soll nämlich auf Grund seiner verfassungsrechtlichen Stellung seine Aufgaben als „Hilfsorgan der Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle" wahrnehmen: „Der Wehrbeauftragte wird auf Weisung des Bundestages oder des Verteidigungsausschusses zur Prüfung bestimmter Vorgänge tätig." Man kann aus dem Gesetz über den Wehrbeauftragten schließen: Er hat eine ganze Reihe von Möglichkeiten.
Wenn ich mir diese Möglichkeiten weiter angucke, wie sie im Gesetz niedergelegt sind: „Der Wehrbeauftragte kann bei dem Verteidigungsausschuß um eine Weisung zur Prüfung bestimmter Vorgänge nachsuchen ... Der Wehrbeauftragte wird nach pflichtgemäßem Ermessen auf Grund eigener Entscheidung tätig, wenn ihm ... durch Mitteilung von Mitgliedern des Bundestages oder auf andere Weise Umstände bekannt werden, die auf eine Verletzung der Grundrechte der Soldaten oder der Grundsätze der Inneren Führung schließen lassen."
Bei den Berichtspflichten sieht es so aus, daß der Wehrbeauftragte jederzeit dem Bundestag oder dem Verteidigungsausschuß Einzelberichte vorlegen kann. Er kann Auskunft und Akteneinsicht verlangen. Er ist berechtigt, den Einsender von irgendwelchen Beschwerden, Zeugen und Sachverständige anzuhören. Er kann zuständigen Stellen Gelegenheit zur Regelung einer Angelegenheit geben. Er kann jederzeit ohne Anmeldung alle Truppenteile besuchen und sich ihre Einrichtungen zeigen lassen. Dieses Recht steht dem Wehrbeauftragten ausschließlich persönlich zu.
Er kann vom Bundesminister der Verteidigung Berichte anfordern. Er kann sich praktisch in alle Bereiche einmischen. Er hat sogar in Strafverfahren und in disziplinargerichtlichen Verfahren wie etwa der Vertreter der Einleitungsbehörde das Recht, die Akten einzusehen.
Er kann von Bund und Ländern, von Behörden Amtshilfe verlangen. Zwar können Bundestag oder Verteidigungsausschuß allgemeine Richtlinien für seine Arbeit erlassen, er ist aber von Weisungen frei. Er kann also wirklich agieren, wie er will.
Wenn Soldaten eine Eingabe machen, kann er diese erst einmal ohne Nennung von Namen bearbeiten usw.
Ich will mit dem Zitieren aus dem Gesetzestext erreichen, daß Sie sich wieder oder überhaupt erst einmal klarmachen, welche Möglichkeiten Herr Weiskirch hat.
3502 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Frau Schilling
Diese Rechte des Wehrbeauftragten führen aber leider nur dazu,
daß er im Bericht die Widersprüche, die sich zwischen der militärischen Einsatzbereitschaft und den menschenwürdigen Lebensformen der Soldaten auftun, zwar mehr oder weniger zur Kenntnis nimmt, daß sich seine Lösungsversuche aber — das ist jedenfalls mein Eindruck — mehr auf ein Herumkurieren an den Symptomen beschränkt und nicht auf das Anpacken der Ursachen zielt.
Das menschliche Dilemma — das ist der zweite Punkt — besteht darin, daß Herr Weiskirch eigentlich ein sehr netter Mensch ist.
— Ja. — Aber die Rolle, die er spielt, gefällt mir nicht. Ich wünsche mir Herrn Weiskirch mutiger und selbstbewußter. Denn was soll Ihnen eigentlich passieren, Herr Weiskirch, wenn Sie das Ganze einmal so richtig anpacken würden?
Dazu gehört für mich, daß die Stellungnahme des Verteidigungsministers zu Ihrem Bericht von Ihnen nicht artig — ich zitiere das jetzt — als erfreuliche Übereinstimmung zwischen dem Wehrbeauftragten und dem Verteidigungsminister bezeichnet wird, sondern daß Sie Ihre vielfältigen Möglichkeiten dagegensetzen. Das tun Sie leider nur in ein paar marginalen Punkten. Ich denke, Sie sind für die parlamentarische Kontrolle zuständig, also für uns als Abgeordnete, für den Bundestag und nicht für das Ministerium. Sie sind für die Soldaten zuständig. Das, denke ich, muß bewußter gemacht werden.
Ich möchte einige Beispiele schwerpunktmäßig herausgreifen. Grundrechtsverletzungen: Der Wehrbeauftragte hat gravierende Menschenrechtsverletzungen und Grundrechtsverletzungen registriert. Er sagt, 3 % aller Eingaben beträfen Beschwerden über Grundrechtsverletzungen. Die Zahl sei ein Hinweis darauf — so meint er — , daß so etwas nicht zur Tagesordnung in der Bundeswehr zählt.
Aber gegen diese Logik sind Vorbehalte angebracht; denn der Wehrbeauftragte stellt an einer anderen Stelle seines Berichtes unmißverständlich fest — ich zitiere — :
Es muß mich mit Sorge erfüllen, wenn ich vom Wehrdienstrichterbund erfahre, daß er seit längerem eine Entwicklung in Teilbereichen der Bundeswehr beobachtet, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sich Vorgesetzte — auch höhere — über rechtliche Bestimmungen im vermeintlich übergeordneten Interesse des Dienstes hinwegsetzen. Diese Besorgnis wird um so größer, wenn weiter berichtet wird, daß hierbei Rechte von Untergebenen, die sich dann scheuen, von ihrem gesetzlich verbrieften Beschwerderecht Gebrauch zu machen, beeinträchtigt werden.
So geht es weiter.
Das widerspricht sich und läßt darauf schließen, daß die Dunkelziffer sehr viel höher ist und daß solche Probleme doch mehr zum Alltag der Bundeswehr gehören, als das hier zugegeben wird.
Das ist auch ganz klar; denn ein System, das auf Befehl und Gehorsam aufbaut, kann auch gar nicht anders reagieren.
Ich denke, hier ist auch ein Appell an die Soldaten wichtig: Sie können ebenfalls mutiger sein. Sie können gemeinsam handeln, sie können, wie das Darmstädter Signal belegt, wenigstens den mutigen Schritt tun, sich in ihrem Schwur gegen den Gebrauch und den Einsatz von Massenvernichtungswaffen auszusprechen. Wenigstens das kann man doch tun.
Der jetzige Schwur der Bundeswehr umfaßt den Einsatz von A-, B- und C-Waffen, getreu der Heeresdienstvorschrift der Bundeswehr, in der vom Einsatz von A-, B- und C-Waffen — konventionell, elektronisch usw. — ausgegangen wird. Das kann man in der gültigen Heeresvorschrift nachlesen.
Ich möchte, daß von beiden Seiten die Möglichkeiten mehr genutzt werden.
Ein weiterer Punkt sind die Selbstmorde in der Bundeswehr. Dazu vermisse ich überhaupt eine Aussage in dem Bericht. Unter den Soldaten herrscht eine große Verzweiflung. Die Zahlen werden unter den Tisch gekehrt. Es ist logisch, daß sich die Angehörigen von Soldaten, die sich das Leben genommen haben, nicht mehr an die Bundeswehr wenden. Das ist doch so logisch wie nur irgend etwas.
Sie müssen doch einmal den Konflikt verstehen, daß die Soldaten einerseits gedrillt werden, daß sie, wie es in der Broschüre von Herrn Wörner so schön heißt, kriegsnah ausgebildet werden, am Zweiten Weltkrieg orientiert, an Hitlers Blitzkriegsstrategie orientiert, und daß sie andererseits dauernd eingetrichtert bekommen, sie seien die größte Friedensinitiative, die hier rumläuft.
Andererseits bestehen unverändert in der Bundeswehr die Verbindungen zur HIAG, der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Waffen-SS. Das ist ungebrochen vorhanden.
Es werden gemeinsame Feste gefeiert, es werden gemeinsame Schallplatten gemacht, es werden gemeinsame Lieder gesungen — und welche Lieder, nämlich die alten Kampflieder!
Darauf muß man doch einmal eingehen. Das kann die Leute wirklich zur Verzweiflung bringen, die in der Bundeswehr sind, die dort vielleicht wirklich mit
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Frau Schilling
dem Willen sind, tatsächlich zu verteidigen. Nur: Die Verteidigung wird nicht geübt. Das ist das Problem.
Das wissen Sie alle sehr genau. Nur verleugnen und verdrängen Sie es immer wieder.
Die gültigen Strategien passen gar nicht zu dem, was über die Bundeswehr gesagt wird. Theorie und Praxis passen überhaupt nicht zusammen. Das ist eben das Dilemma. Viele Leute können damit nicht klarkommen.
Ich möchte, daß die Bundeswehr lernt und sich damit befaßt, gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien zu erproben. Wenn die Bundesrepublik militärisch nicht zu verteidigen ist — und das geben mittlerweile neben Herrn Dregger, Herrn Weizsäcker und Herrn Schmidt auch andere Leute zu —, dann kann man sie nur sozial verteidigen. Die Bundeswehr muß irgendeine Lehre daraus ziehen und etwas anderes machen. Statt dessen erleben wir immer mehr Manöver, immer mehr Kriegsübung, immer mehr in dieser Richtung.
Hierzu würde ich gern ein kritisches Wort des Wehrbeauftragten hören.
Das alles kann nur dazu führen, daß Leute, die in diesem Dilemma stecken, zu dem Ergebnis kommen: Hier hilft nur noch Kriegsdienstverweigerung, hier hilft sogar nur noch Totalverweigerung, wenn man sich nicht mitschuldig machen will.
— Allerdings, zur Totalverweigerung für Frauen und für Männer. Die Kriegsdienstverweigerer haben ein grundgesetzlich verbrieftes Recht. Aber wie geht es denn Kriegsdienstverweigerern, und wie werden Totalverweigerer kriminalisiert, wenn sie das Recht in Anspruch nehmen? Das sieht nicht sehr gut aus für dieses demokratische Gemeinwesen. Es könnte sich weiß Gott ein bißchen besser damit befassen und ein bißchen souveräner damit umgehen.
Gerade jetzt ist es ganz wichtig, Kriegsdienstverweigerung im weitesten Sinne zu betreiben, für Frauen und für Männer. Dazu gehören leider Mut und Zivilcourage. Ich wünsche mir, daß viele Leute ihren Mut und ihre Zivilcourage zusammennehmen, auch Sie, Herr Weiskirch, und damit dokumentieren, daß es andere Möglichkeiten, kritische Möglichkeiten gibt, daß wir nicht noch ständig unsere eigene Vernichtung finanzieren. Es muß ein Klima in der Bundeswehr geschaffen werden, in dem Sie eines Tages ehrliche Antworten mit vollem Namen bekommen, weil die Leute keine Repressalien befürchten müssen.
Es geht darum, daß in einem demokratischen Gemeinwesen nicht das Alte Testament mit „Auge um Auge, Zahn um Zahn" gilt, sondern daß man wenigstens in der Perspektive zum Neuen Testament hinkommt, gewaltfreie Möglichkeiten auszuprobieren und Konflikte gewaltfrei lösen zu wollen.
Deswegen lehnen wir Ihre Beschlußempfehlung ab. Wir sind aber nicht der Meinung, daß das immer so bleiben muß. Vielleicht können wir ja mit einer gemeinsamen Anstrengung nächstes Jahr um diese Zeit Ihrem Bericht auch zustimmen. Ich hoffe das, und wir werden daran mitarbeiten.