Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Herren! Sehr geehrte Damen! Der Gründer von Amnesty International, Peter Benenson, schrieb 1961:
Schlagen Sie Ihre Zeitung an irgendeinem beliebigen Tag auf, und Sie werden eine Meldung aus irgendeinem Teil dieser Welt lesen, die folgendermaßen lautet: Ein Mensch ist eingekerkert, gefoltert, hingerichtet worden, weil seine Ansichten oder religiösen Überzeugungen nicht mit denen der Machthaber übereinstimmten.
Leider gilt dies heute noch. Millionen solcher Menschen sitzen in Gefängnissen, keineswegs nur hinter dem Eisernen oder dem Bambusvorhang; und ihre Zahl wächst.
Die Unterzeichnung des Vertrages über den Abbau atomarer Mittelstreckenraketen durch Präsident Reagan und Parteichef Gorbatschow war für die Weltöffentlichkeit ein Signal von besonderer Tragweite. Wer könnte sich angesichts dieses historischen Ereignisses nicht des persönlichen Gefühls erwehren, daß hiermit ein Weg beschritten worden ist, durch den wir womöglich alle eine neue, eine andere Lebenschance, ja, Lebensqualität erhalten können?
3446 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Frau Würfel
Heißt aber die Unterzeichnung dieses ersten wirklichen Abrüstungsabkommens, daß die Völker unserer Erde von nun an ohne Angst leben werden? Ganz bestimmt heißt es das nicht.
In unserem Jahrzehnt finden in jedem dritten Staat der Erde brutale Folter- und Mißhandlungspraktiken Anwendung.
In etwa 130 Staaten ist die Todesstrafe nach wie vor gesetzlich verankert, und nach wie vor nehmen Regierungen ihren Bürgern das Leben, sei es in Form von Hinrichtungen, sei es durch politische Morde.
In unzähligen Gefängnissen sitzen Menschen ein, weil sie dafür bestraft wurden, daß sie sich zu ihren politischen oder religiösen Überzeugungen bekannt haben.
In zahlreichen Staaten der Erde sind Menschen wegen politischer Vergehen in Haft, ohne daß ihnen Gelegenheit gegeben wird, sich in einem fairen Gerichtsverfahren zu verteidigen.
In unzähligen Haftzentren, Gefängnissen und Militärlagern werden Menschen brutal mißhandelt und gefoltert.
Selbstverständlich sind von Menschenrechtsverletzungen Männer und Frauen gleichermaßen betroffen, so wie die Menschenrechte für Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen zu gelten haben.
Dennoch gibt es besondere Formen von Menschenrechtsverletzungen, die ausschließlich an Frauen verübt werden. Frauen werden verfolgt und inhaftiert, weil sie gegen kulturelle jahrtausendealte Normen und Sitten aufbegehren und gegen die ihnen von der Gesellschaft zudiktierte Rolle opponieren. Frauen werden als Geiseln genommen, inhaftiert und gefoltert, um ihre Männer oder Familienangehörigen zu zwingen, sich zu stellen. Frauen sind in ihren Verfolgungssituationen einem Polizei- und Militärapparat ausgeliefert, der oft ausschließlich aus Männern besteht. Vergewaltigungen und sexueller Mißbrauch weiblicher Häftlinge in Verhör- und Haftsituationen sind an der Tagesordnung. Sexuelle Gewalt wird häufig als ein überlegtes Mittel eingesetzt, um Persönlichkeit und Menschenwürde der Frauen zu zerstören.
Es besteht eine große Kluft zwischen den Verpflichtungen von Regierungen zur Achtung der Menschenrechte und ihren tatsächlichen Praktiken.
Die Realisierbarkeit der Menschenrechte hängt vielfach nicht nur von schriftlichen Garantien eines Staates oder einer Staatengruppe ab, sondern auch von einer Menschenrechtspolitik, mit der andere Länder sowie Organisationen und Publizisten die Bewahrung und Einlösung solcher geschriebener Rechtsgarantien wirkungsvoll unterstützen können. Keine Regierung der Welt darf für sich in Anspruch nehmen, das Recht zu haben, ihre Bürger willkürlich zu verhaften, zu foltern, zu töten oder derartige Praktiken auch nur zu dulden.
— Keine!
Eine ganz besondere Mahnung, den Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen fortzusetzen, ist der
nicht enden wollende Strom von Flüchtlingen, die auf der Suche nach Sicherheit schon fast jede Staatsgrenze dieser Welt überschritten haben. Während die einen ihre Heimat auf Grund von Hungersnöten oder kriegerischen Auseinandersetzungen verlassen mußten, wurden viele andere zur Flucht gezwungen, weil sie von Menschenrechtsverletzungen betroffen waren. Verletzungen der Menschenrechte sind nicht symptomatisch für bestimmte Regionen oder politische Systeme. Herr Lintner hat auf die Menschenrechtsverletzungen im östlichen Teil unseres Vaterlandes hingewiesen.
Ich hatte im November dieses Jahres Gelegenheit, pakistanische Flüchtlingslager an der Grenze zu Afghanistan zu besichtigen. Ich möchte Ihnen kurz davon berichten.
Im Januar geht der Krieg von Afghanistan ins neunte Jahr. Die Auswirkungen dieses Krieges auf die zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Zivilbevölkerung sind groß. Die wichtigste und sichtbarste Folge des Krieges ist die größte zusammenhängende Flüchtlingsbewegung der Welt. Der Flüchtlingsstrom aus Afghanistan ergießt sich in die Nachbarländer. Die Zahl der Flüchtlinge ist inzwischen auf viereinhalb Millionen angestiegen. Von einem 15 Millionen Menschen umfassenden Volk hat bereits ein Drittel — als Folge der Gewalt, des Unrechts und der Leiden — seine Heimat verlassen. Dies ist ein Faktum, meine Damen und Herren, das bereits an sich ein Menschenrechtsproblem darstellt.
Afghanistan blutet aus. Die Strategie der Sowjetunion zielt offensichtlich darauf ab, die Bevölkerung durch nicht nachlassende Bombardierung der Dörfer, der Städte und der Ernten zum Verlassen des Landes zu zwingen. Diese Entvölkerungspolitik zeigt deutliche Erfolge. Wie gesagt, jeder dritte Afghane hat sein Land bereits verlassen und ist geflohen. Besonders die Kinder, die älteren und schwachen Menschen sind den Strapazen der Flucht in der Regel nicht gewachsen. Die Kindersterblichkeit lag im Winter 1985 beinahe bei 85 %.
Ich habe Flüchtlingslager in Belutchistan angetroffen, in denen die Menschen Mangel an Nahrung, an Kleidung, an Schutz vor Kälte und vor allem an Hygiene haben. Ein einziger künstlich angelegter Wassergraben läuft durch ein riesiges Wüstengebiet, in dem das Wasser stundenweise morgens und abends angestellt wird. Diesem Wassergraben wird das Trinkwasser ebenso entnommen, wie man sich gleichzeitig darin wäscht. Sie können sich vorstellen, wie Krankheiten durch diesen Mangel an Hygiene im Flüchtlingslager begünstigt werden. Auf der anderen Seite gibt es nicht die geringste medizinische Versorgung.
Die Registrierung der Flüchtlinge durch die pakistanischen Behörden in Belutchistan erfolgt durch die Vielzahl der angekommenen Flüchtlinge so schleppend, daß wir Flüchtlinge angetroffen haben, die seit Monaten nicht registriert worden sind und die, um nicht zu verhungern, weil nur registrierte Flüchtlinge Nahrung erhalten, tagelange Fußmärsche in Kauf
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3447
Frau Würfel
nehmen, um beim pakistanischen Straßenbau ein paar Rupien verdienen zu können.
Meine Damen und Herren, meine Zeit reicht nicht aus, um weiteres zu schildern. Wir beschäftigen uns ja auch morgen noch einmal mit Afghanistan. Deshalb möchte ich zusammenfassen:
Die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge ist zweifellos eine wichtige Aufgabe, die von vielen Hilfsorganisationen zu leisten versucht wird. Humanitäre Hilfe kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn Menschenrechtsverletzungen, die so viele Flüchtlingsbewegungen erst auslösen, begegnet und ein Ende bereitet wird.
Die internationale Staatengemeinschaft, aber auch wir in der Bundesrepublik sind aufgerufen, allen vor Krieg oder staatlichen Repressionen fliehenden Menschen zu helfen. Aber wir müssen auch daran arbeiten, den Menschenrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten, die so viele Menschen in unfreiwilliges Exil zwingen.