Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, vor zwei Tagen ist in Washington ein Abkommen unterzeichnet worden, das ohne den Beitrag der Bundesregierung, vor allem auch des Bundeskanzlers Helmut Kohl, nicht zustande gekommen wäre.
Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, daß es dem Führer der Opposition schwerfällt, dem Bundeskanzler hier in aller Öffentlichkeit Lob auszusprechen. Aber mir fehlt jedes Verständnis dafür, Herr Kollege Vogel, daß Sie es nicht fertiggebracht haben, wenigstens den früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt an dieser Stelle einmal zu loben, Helmut Schmidt, den Sie 1982 im Stich gelassen haben.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3413
Rühe
Das ist ein Verhalten, das Ihnen offensichtlich bis zum heutigen Tage peinlich ist.
Herr Vogel, Sie haben heute wieder einmal gezeigt, daß Sie mit Zitaten auf dem Kriegsfuß stehen. Sie haben den Bundeskanzler aus der Zeit vor der Stationierung zitiert, als er vor dem Gerede von der NullOption auf Ihrer Seite gewarnt hat, weil Sie sich um die schwierige Entscheidung herumdrücken wollten, die damals zu fällen war.
— Warten Sie doch mal ab.
Sie haben gesagt, ich hätte im Frühjahr in einer strittigen Debatte vor einer Abkoppelung der Kurzstreckenwaffen gewarnt. Das war doch wohl richtig. Es hat sich doch gezeigt, daß unser Spielraum für die Abrüstung bei den kürzeren Systemen, die uns politisch-psychologisch die meisten Probleme machen, geringer geworden ist. Was wollen Sie mir also in diesem Zusammenhang vorwerfen?
Herr Kollege Vogel, nicht nur, daß Sie Probleme haben, aus dem Jahre 1983 richtig zu zitieren; Sie schaffen es ja nicht einmal, aus der „Welt" von heute richtig zu zitieren.
Sie haben gesagt, da ständen die Wirtschaftsführer Schlange, um an der Führungslosigkeit der Bundesregierung Kritik zu äußern.
Ich habe mir das eben einmal angeschaut. Schon ein erster Blick zeigt folgendes. Es gibt erstens eine breite Zustimmung zur Steuerreform und dann Vorschläge, die Steuerreform vorzuziehen. Ich kann nur sagen: Mit einer solchen Kritik an einem richtigen Programm kann man in der Tat leben. Das ist doch keine Kritik, sondern das ist Zustimmung zu einer richtigen Politik.
Sie stehen hingegen mit Ihrer Ablehnung der Steuerreform im Abseits.
Ich kann dort lesen: Die Politik der Bundesregierung hat 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Schließlich wird in der Tat die Kritik geäußert: Die Regierung muß ihre Erfolge offensiver verkaufen. Dieser Kritik möchte ich mich ausdrücklich im Namen der Bundestagsfraktion anschließen.
Das sind Beispiele für die Fähigkeit des Herrn Dr. Vogel, aus der heutigen „Welt" richtig zu zitieren.
Lieber Herr Dr. Vogel, wenn Sie dem Kollegen Wirtschaftsminister Bangemann Munterkeit und Optimismus vorwerfen und sagen, daß die Menschen
sich darüber beschwert fühlen, dann kann ich nur erwidern: Diese Munterkeit und der Optimismus, der auch von dieser Regierung ausgestrahlt wird, sind unseren Mitbürgern allemal lieber als die Miesmacherei und die Griesgrämigkeit, mit der Sie hier angetreten sind.
Sie sind auch heute wieder angetreten, alles mies zu finden, egal, wie die Tatsachen sind.
Mit dem Europa-Gipfel werden sich andere Kollegen noch beschäftigen.
Lassen Sie mich hier vor allem zur Sicherheitspolitik sprechen. Ich will auch ein Wort dazu sagen, warum wir heute streiten müssen und wie es mit den Gemeinsamkeiten aussieht.
Das Abkommen von Washington ist — ich glaube, da stimmen wir alle überein — ein historisches Ereignis. Hier wird das erste Mal vertraglich abgerüstet. Es wird asymmetrisch abgerüstet: Derjenige, der mehr vorgerüstet hat, muß mehr abrüsten. Schließlich werden Vereinbarungen über die Vertragsüberprüfungen geschlossen, die vielleicht noch wichtiger sind als die Substanz des Vertrages selbst, weil sie einen Durchbruch bedeuten und weitere Verträge erleichtern werden.
Dieser Abrüstungserfolg ist ein Erfolg für das ganze Bündnis und für alle, Herr Dr. Vogel, die die Politik des Bündnisses zu allen Zeiten mitgetragen und mitgestaltet haben, und dazu gehören Sie leider nicht.
Insofern besteht Anlaß zur Genugtuung auf seiten der Bundesregierung und auf seiten der Koalitionsfraktionen und sollte Anlaß zur Nachdenklichkeit und zur Selbstkritik bei Sozialdemokraten, bei GRÜNEN und bei der Friedensbewegung bestehen.
Sie, Herr Dr. Vogel, spekulieren auf die Vergeßlichkeit der Menschen. Aber niemand hat in dieser emotional zugespitzten Situation von 1983 den Wortbruch der deutschen Sozialdemokratie gegenüber dem Bündnis vergessen, Ihr Abrücken vom Bundeskanzler Helmut Schmidt und Ihre Illoyalität gegenüber der Verhandlungspolitik des Bündnisses, ganz zu schweigen von den Prognosen über „Eiszeit" und den „schwarzen Sonntag von Reykjavik". Lieber Herr Dr. Vogel, das ist nicht vergessen, das werden Sie auch nicht tilgen können aus der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Ich will Ihnen nicht alle Beispiele geben, aber ich will Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, welchen sowjetischen Vorschlägen Sie jeweils zustimmen wollten, um noch einmal deutlich zu machen, was die Alternative zu diesem Abkommen, das jetzt auf dem Tisch liegt, gewesen wäre.
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Rühe
Im Herbst 1983, wenige Tage vor dem Stationierungsbeginn und der leidenschaftlichen Debatte im Deutschen Bundestag, an die ich mich noch sehr gut erinnere, hat die Sowjetunion vorgeschlagen, ihre Systeme auf 140 bzw. 120 SS 20 zu reduzieren — das wären noch über 400 Sprengköpfe gewesen — , wenn der Westen bereit wäre, bei Null zu bleiben, also nicht zu stationieren. Sie haben Ihre volle Zustimmung signalisiert und uns angegriffen. Wir hätten also 400 zu 0 bekommen, wenn wir Ihnen damals gefolgt wären.
Die Sowjetunion hat damals über Jahre hinweg immer wieder die Einbeziehung der britischen und französischen Raketen gefordert. Wir haben das abgelehnt. Sie haben diesem sowjetischen Vorschlag immer wieder Zustimmung signalisiert. Ich frage mich: Wo wären wir heute, auch gegenüber unseren britischen und französischen Bündnispartnern, wenn wir Ihnen gefolgt wären, Herr Dr. Vogel?
Nach Beginn der Nachrüstung hat die Sowjetunion mehrere Moratoriumsvorschläge gemacht, d. h. Stopp der westlichen Nachrüstung auf einem niedrigen Niveau und Beibehalten der sowjetischen Systeme. Jedem sowjetischen Moratoriumsvorschlag haben Sie, Herr Dr. Vogel, zugestimmt. Jeder dieser Vorschläge hätte bedeutet, daß wir nicht gleichgewichtige Abrüstung bekommen hätten, sondern Festschreiben und Einfrieren eines enormen Ungleichgewichts zwischen Ost und West. Das ist Ihre Bilanz der letzten Jahre.
Deswegen ist dieser Vertrag von Washington ein Erfolg der Standfestigkeit der Bundesregierung und des Bundeskanzlers, der gerade auch in den letzten Wochen und Monaten sich immer wieder um einen fairen Interessenausgleich bemüht hat und der dieses konkrete Verhandlungsergebnis letztlich auch durch seine Flexibilität hinsichtlich der Pershing-I-a-Raketen der Bundeswehr mit ermöglicht hat.
Herr Kollege Vogel, Anlaß zu wenn auch später Genugtuung hätten andere Sozialdemokraten: Helmut Schmidt und z. B. auch Georg Leber, über den ich nachher noch etwas sagen werde. Für Sie ist das Ganze Anlaß zur Nachdenklichkeit. Sie haben zusammen mit Willy Brandt in der letzten Woche angedeutet, daß Sie Irrtümer begangen haben; aber ich habe in dieser Debatte von Ihnen davon nichts gehört.
Sie haben jetzt gesagt: Warum über die Vergangenheit streiten? Es ist verständlich, daß Sie am liebsten zur Tagesordnung übergehen möchten. Es geht nicht um Nachkarten, es geht auch nicht um sozialdemokratische Vergangenheitsbewältigung, Herr Kollege Vogel, sondern es geht um das richtige Verständnis des Weges, der zu diesem Vertrag geführt hat. Letztlich geht es um die Zukunft. Denn nur dann, wenn wir den Weg richtig verstehen, der diesen Vertrag ermöglicht hat, werden wir auch für die Zukunft die richtigen Entscheidungen treffen können.
Es ist doch gerade für die künftigen, noch wesentlich schwierigeren Abrüstungsverhandlungen wichtig, daß Sie sich klar darüber werden, daß Erfolge in der Abrüstungspolitik eben nur zu erreichen sind, wenn
man zu beiden Teilen der NATO-Politik im HarmelBericht steht, nämlich nicht nur zur Gesprächsbereitschaft, sondern auch zur Grundlage aller Politik, zu den Verteidigungsanstrengungen innerhalb des Bündnisses.
Deswegen wäre es fatal, Herr Dr. Vogel, wenn Sie jetzt den Eindruck zu erwecken versuchten, als hätten wir dieses Abrüstungsergebnis vor allem, ja nur durch den Wechsel in der sowjetischen Führung erreicht.
Gorbatschow soll bei Ihnen alles erklären.
Das wäre die falsche Lehre aus den letzten Jahren. Denn dieses Abrüstungsergebnis ist kein Zufall, sondern es ist hart und mühsam erarbeitet worden. Es handelt sich weder um ein Geschenk Gorbatschows noch um ein Wunder.
Im übrigen, wenn Sie jetzt auch den amerikanischen Präsidenten loben: Er hat seine Politik nicht geändert. Er war von Anfang an bereit, ein solches Abkommen zu vereinbaren, Herr Dr. Vogel.