Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Freunde und Freundinnen aus der Friedensbewegung! Es ist wahrlich bemerkenswert, was sich in den letzten Wochen und besonders heute morgen hier abgespielt hat. Alle haben die Abrüstung entdeckt. Jeder will der gewesen sein, der das Abkommen herbeigeführt hat, und jeder will weitere Abrüstung. Ist das nicht wunderbar?
Ich möchte mich in dieser feierlichen Stunde zunächst an Herrn Bundesverteidigungsminister Wörner wenden. Herr Minister, Sie haben es immer für völlig unmöglich gehalten, daß der Westen jemals würde diese Raketen abbauen müssen. Weil Sie es für völlig ausgeschlossen hielten, daß das jemals passiert, haben Sie unklugerweise am 16. September 1983 hier im Bundestag ein Versprechen gegeben. Sie haben damals erklärt:
Ich habe das in der Öffentlichkeit gesagt, und ich wiederhole es vor den Augen und den Ohren der Mitglieder dieses Parlaments: Ich rutsche auf den Knien von meinem Wahlkreis aus nach Bonn, wenn es uns gelingt, unser Ziel zu verwirklichen, die Mittelstreckenwaffen schlechthin aus dieser Welt zu verbannen.
Herr Minister, wir hoffen, daß Sie dieses Ihr Männerwort heute oder in nächster Zeit einlösen werden, und damit es nicht gar zu schwer für Sie wird, hier ein Geschenk der grünen Fraktion für Sie. Ich möchte es Ihnen am Ende der Sitzung überreichen, damit Sie nicht wie beim letztenmal wieder weglaufen müssen. Es sind ein Paar solide Knieschoner.
3430 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Frau Beer
— Ja, natürlich, aber ich muß sie erst auspacken. — Hier sind sie.
Guten Rutsch!
Aber jetzt eine Erinnerung an die Wirklichkeit: Abrüstung gibt es jetzt also vielleicht, wenn der US-Senat das Abkommen ratifiziert, bei einer speziellen Kategorie von Atomwaffen. Der Preis, den die Sowjetunion gezahlt hat, damit dieses Abkommen zustande kommt, bestand darin, nicht mehr über französische Atomwaffen und auch nicht mehr über britische zu reden.
Bei denen passiert folgendes — das sind Zahlen, die Sie sich anhören sollten — : An die Stelle der 128 britischen Polaris-U-Boot-Raketen tritt in den nächsten Jahren die Trident-Rakete mit mindestens 640 — ich wiederhole: mindestens 640 — Atomsprengköpfen. Aus den 274 französischen Atomsprengköpfen in diesem Bereich werden in den nächsten Jahren 710 Atomsprengköpfe, davon 592 seegestützte und 118 landgestützte Systeme. Die Engländer und die Franzosen rüsten also jetzt — gerade jetzt, in diesem Moment — nuklear auf! Die NATO baut 396 in Europa stationierte amerikanische Atomraketen ab und baut in derselben Zeit mindestens 948 britische und französische Atomraketen auf.
Aber wenigstens die Amerikaner rüsten doch ab — so heißt es —, insgesamt — nimmt man nicht nur die in Europa stationierten, sondern alle Systeme zusammen — sogar 692 Sprengköpfe. Doch auch das hat einen ganz gewaltigen Haken, denn parallel dazu sind die USA dabei, insgesamt etwa 9 600 neue Cruise Missiles zu stationieren — ich wiederhole: etwa 9 600 — , davon knapp 4 000 auf See und 4 000 in der Luft, an Bord von Flugzeugen. Von diesen etwa 9 600 neuen Cruise Missiles, die in den nächsten Jahren stationiert werden, werden etwa 5 400 mit Atomsprengköpfen ausgerüstet sein. Das Plutonium, das bei den jetzt bei uns abzubauenden Raketen übrigbleibt, wird also gleich für neue, andere Atomwaffen neue Verwendung finden!
Wir haben immer vor der besonderen Gefährlichkeit gerade der Nachrüstungswaffen, besonders der Pershing II mit ihrer hohen Treffsicherheit und großen Eindringfähigkeit, gewarnt. Das Jammern mancher Militärs, daß sie diese wichtige Waffe verlieren, ist natürlich Musik in unseren Ohren. Es ist einfach total gut, daß diese Raketen wegkommen. Nur, das hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, daß jetzt der Durchbruch zur Abrüstung schon erreicht wäre. Dazu müßte sich der politische Wille ändern, zuallererst bei uns im Westen. Der Wille, immer weiter aufzurüsten, wenn nicht mit dem einen Waffensystem, dann mit einem anderen, diese wahnwitzige Grundeinstellung, Sicherheit durch Rüstung herbeiführen zu wollen, und diese teils offenen, teils verdeckten Hintergedanken, man könne ja vielleicht auch einmal wieder eine echte militärische Überlegenheit erlangen, das alles
muß aufhören. Aber davon kann keine Rede sein. Dieser Wille ist nicht vorhanden. Selbst wenn — was wir sehr hoffen und wünschen — noch weitere Abkommen zustande kommen — Verminderung der Zahl der strategischen Atomwaffen auf je 5 100, wozu anzumerken ist, daß dabei vom zwanzigfachen Weltvernichtungspotential auf das zehnfache heruntergegangen würde, und Verbot der chemischen Waffen —, wird trotzdem und gerade deswegen weitergerüstet, und zwar in den Bereichen, die außerhalb der Abkommen liegen.
In diesem Bereich steht das harte Nein der NATO zu jeder Rüstungsbegrenzung felsenfest im Raum: keine Verhandlungen über Seestreitkräfte, keine Verhandlungen über Luftstreitkräfte und erst recht keine Verhandlungen über die Waffen, die die Schiffe und Flugzeuge an Bord haben, z. B. die neuen Cruise Missiles. Das ist die solide Basis, auf der die NATO agiert. In diesem Bereich soll unbedingt alles offen bleiben für das Weiterdrehen der Rüstungsspirale. Warum gerade hier? Weil die NATO dem Warschauer Vertrag in diesen Bereichen zahlenmäßig und besonders technologisch jetzt schon haushoch überlegen ist und diese Überlegenheit natürlich ausbauen und nicht beschränken möchte.
Der Osten hingegen ist — so hört man — bei den konventionellen Truppen überlegen, jedenfalls, wenn man nicht die Truppen in Europa, sondern weltweit vergleicht, also so tut, als höre die Sowjetunion am Ural auf und habe keine Ost- und keine Südgrenze. Was von der beliebten Abrüstungsrhetorik in diesem Bereich zu halten ist, Herr Wörner, beleuchtet ein kleiner Blick auf den Anschaffungskatalog, den die westeuropäischen Verteidigungsminister bei ihrer Tagung Anfang Dezember vereinbart haben — ich zitiere aus der Presse — :
1988 kommen 250 moderne Kampfpanzer, über 1 000 andere gepanzerte Fahrzeuge und 50 schwere Artilleriegeschütze dazu, außerdem 350 Panzerabwehrkanonen, 400 verbesserte Milan-Raketen und 10 000 modernste Panzerfäuste, 75 neue Hubschrauber zur Unterstützung von Landstreitkräften, 200 Kampfflugzeuge der Typen Tornado und F 16, 40 Flugabwehrraketensysteme, 7 größere Geleitschiffe für die Marinestreitkräfte der Eurogroup, 3 U-Boote, 5 Marinekampfboote.
Fazit:
Die Minister stellten fest, daß die NATO-Strategie „auch in Zukunft auf einer angemessenen Mischung geeigneter nuklearer und konventioneller Kräfte beruhen muß".
Ich denke, das spricht für sich.
Wir GRÜNE haben es immer abgelehnt, auf Kräftevergleiche zu starren. Beide Seiten haben viel zu viel Militär. Jede Seite sollte und könnte bei sich mit dem
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3431
Frau Beer
Abrüsten anfangen. Wir sollten das am besten bei uns tun, anstatt mit dem Finger nach Osten zu zeigen.
Herr Wörner hat für diesen einzigen Fingerzeig ein Wort geprägt, das weite Verbreitung gefunden hat und mich veranlaßt, nun doch einmal an einem Beispiel auf diesen Kräftevergleich einzugehen
— das macht nichts; das kann er nachlesen, ich glaube, er hört es schon — : das Wort von der Fähigkeit zur konventionellen Invasion des Warschauer Vertrages. Die sicherheitspolitischen Experten gingen immer von einem ungefähren Kräftegleichgewicht in Europa aus. Die Panzer möchte ich als Beispiel nennen. Da stehen in Europa 19 720 westliche gegen 46 200 östliche Panzer. Denkt man den Wahnsinn der Militärs, mit diesen Panzern aufeinander loszugehen, einmal mit, erscheint der Osten also mächtig überlegen. Bloß, was Herr Wörner natürlich nicht erzählt, ist, daß die Hälfte der östlichen Panzer, 23 000 Stück, Uraltmodelle sind, die aus den 50er Jahren stammen. Wenn man Herrn von Bülow von der SPD glauben darf, ist fraglich, ob diese Panzer überhaupt noch fahren können, weil es nämlich in Osteuropa mit den Batterien aus diesen Panzern einen schwungvollen Schwarzhandel gibt. So sieht es mit Herrn Wörners Invasionsfähigkeit aus. Warum redet er solchen Unfug? — Eine gute Frage.
Wie widerwillig unsere Regierenden selbst auf diesen kleinen Abrüstungsschritt reagieren, konnten die Menschen in Hasselbach am Montag erleben. Da fuhren die nuklearen Cruise Missiles auf den Landstraßen ins Manöver, als hätte es die Unfälle beim Transport der Pershing nie gegeben und als sei vom Abkommen keine Rede. Diese Manöver gefährden die Bevölkerung. Sie müssen sofort eingestellt werden.
Einen entsprechenden Antrag der GRÜNEN stellen wir heute zur namentlichen Abstimmung.
Ich möchte noch ein Wort zu den Folgen der Raketen sagen, die trotz des Vertrages zu bleiben drohen. Es sind die vielen tausend Strafverfahren gegen Menschen, die gegen die Stationierung protestiert haben. Diese Menschen haben dazu beigetragen, das Klima zu schaffen, in dem der Westen von der Null-Lösung nicht mehr herunter konnte.
Ihnen und nur ihnen gebühren Dank und Achtung, nicht Strafverfolgung.
Wir bringen heute einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, der für alle diese Strafverfahren aus dem Widerstand gegen die Stationierung eine Amnestie zum Ziel hat.
Zugleich schlagen wir eine Änderung des Nötigungsparagraphen vor, damit die gewaltfreien Aktionsformen der Sitzblockade und des zivilen Ungehorsams in Zukunft nicht länger kriminalisiert werden können.
Liebe Freundinnen und Freunde aus der Friedensbewegung, wir haben allen Grund zur Freude, einmal wegen eines kleinen aber wichtigen Erfolges, besonders und viel mehr aber wegen der Streitigkeiten, in die die Herrschenden des Westens geraten sind. Es ist herrlich anzusehen, wie ratlos sie über die weitere Zukunft sind. Die Nachrüstungsraketen kommen weg, und dazu haben wir das Unsere beigetragen. Die Mühe hat sich gelohnt. Besonders aber haben wir Grund zur Freude wegen der Streitigkeiten, in die die Herrschenden des Westens geraten sind. Es ist herrlich; es gehört gewissermaßen zu den wenigen Freuden grünen Parlamentarierdaseins, diese Wirrnis aus der Nähe zu sehen.
Im Grunde haben die Leute drei große Probleme. Erstens ist es das Geld. Man kann einfach nicht mehr alle Waffensysteme kaufen und bezahlen, die technisch machbar und militärisch wünschbar sind. Man kann nicht wie in der glücklichen Zeit der sozialliberalen Koalition Waffen einfach draufloskaufen. Der Rüstungswille ist da, aber das Geld ist, ach, so knapp. Man muß sich für das eine und — das ist das besonders Schlimme — gegen das andere entscheiden. Das fällt ziemlich schwer, sehr schwer.
Zweitens ist es dieser Gorbatschow. Die immer neuen Vorschläge der Sowjetunion, die durchweg durch ihre Vernünftigkeit bestechen, sind nicht mehr mit Plattheiten zu beantworten wie ehedem. Früher konnte man einfach sagen: Gute Idee, aber man kann ja doch nicht nachprüfen, ob sich die Russen daran halten, also sinnlos. Seit die Sowjetunion selbst auf schärfere Verifikationsbestimmungen drängt, muß sich der Westen etwas anderes einfallen lassen und bei jedem Vorschlag neue Positionen vereinheitlichen und Störmanöver entwickeln.
Die Zeit reicht nicht, um die zum Teil wirklich lustigen Dinge auf die der Westen bei der konventionellen Rüstungskontrolle und ähnlichem so kommt, hier aufzuzeigen. Bei der konventionellen Rüstungskontrolle will der Westen zwar die Waffen auf beiden Seiten zählen, aber nicht die eigenen, die in Depots liegen, weil ein Panzer im Depot irgendwie kein Panzer ist. Oder man entdeckt plötzlich, daß die Türkei gar nicht zur NATO gehört, sondern nur ein Streifen an der Schwarzmeerküste; der Rest der Türkei ist irgendwie Grauzone und soll nicht berücksichtigt werden.
Der Einfallsreichtum ist erheblich, wenn es darum geht, Abrüstungshindernisse aufzubauen, immer in der Hoffnung, daß die Sowjetunion doch nicht ewig so weitermachen kann.
Der dritte Grund — und das meine ich ganz ernst — sind wir.
3432 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Frau Beer
Ihr solltet nicht unterschätzen, was für eine Angst die Etablierten vor einer Neuauflage der Stationierungsdebatte 1983 haben.
Sie mußten damals ein Jahr nach dem anderen Spießruten laufen, hatten bis weit in ihr eigenes Lager die Bevölkerung gegen sich, weil die Bevölkerung diesen Rüstungswahnsinn einfach nicht mehr mitmachen wollte. Ein Jahr lang und länger in Veranstaltungen immer nur ausgelacht zu werden ist keine angenehme Erfahrung. Diese Erfahrung sitzt tief. Und gemeinsam mit den beiden anderen Faktoren, dem Geldmangel und der Außenpolitik der Sowjetunion, trägt das Trauma von 1983 dazu bei, der NATO ihre neuen Aufrüstungsentscheidungen deutlich schwer zu machen.
Liebe Freundinnen und Freunde, wir haben allen Grund, froh zu sein, und dies ist ein Erfolg von uns, ein kleiner Erfolg, und ich kann nur sagen: weiter geht es, auf in die nächste Runde!
— Die will ich doch noch abgeben.