Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir haben — dies ist schon mehrfach erwähnt worden — zwei Anträge heute abend auf der Tagesordnung. Da man in zehn Minuten nicht einen Parforceritt durch die ganze Welt machen kann, möchte ich mich in meinem Redebeitrag auf die Situation in Äthiopien beschränken und diesem Land die ganze Aufmerksamkeit widmen.
Als ich im September dieses Jahres in Äthiopien war, war die drohende Hungerkatastrophe bereits vorherzusehen. In einem Gespräch mit Berhanu Jembere, dem Vorsitzenden der Relief & Rehabilitation Commission Äthiopiens konnte man bereits die Dimensionen der Katastrophe erahnen. Es wurden Zahlen genannt, die sich jetzt nicht nur bestätigen, sondern die wahrscheinlich sogar schlimmer werden. Damals wurde bereits gesagt, daß man eine Million Tonnen Nahrungsmittelhilfe brauchen würde, um die Ernteausfälle zu kompensieren. Damals bestand noch einiges an Hoffnung: Die Bauern hatten teilweise zum zweitenmal eingesät, und im September hoffte man auf weitere Regenfälle, die dann aber ausblieben.
Seit mehreren hundert Jahren lassen sich in Äthiopien im Durchschnitt alle elf Jahre Dürreperioden nachweisen. Das Land ist geradezu verdammt, mit diesem Phänomen zu leben. Trotzdem müssen wir uns fragen, warum die Abstände der Dürreperioden immer kürzer werden und warum das Ausmaß der Katastrophen immer größer wird.
In Äthiopien leben derzeit etwa 46 Millionen Menschen. Bei einem Bevölkerungswachstum von etwa 2,8 % pro Jahr kann man leicht errechnen, daß es im Jahr 2000 etwa 68 Millionen Menschen sein werden. Das sind 50% mehr als heute.
Bereits heute wird es jedoch immer schwieriger, diese Menschen zu ernähren. Das hat auch schwerwiegende ökologische Folgen: Nur noch 2,5 % des Landes sind bewaldet. Eine systematische Überweidung läßt vielerorts nichts mehr wachsen. Die Erosion des Mutterbodens nimmt dramatische Formen an: 50% des Hochlandes sind bereits stark erodiert, 10 % sind so stark erodiert,. daß dort überhaupt nichts mehr wächst. An vielen Stellen verwandelt sich ehemals fruchtbares Land in Wüste.
Ein Beispiel aus diesem Szenario: Weil Holz fehlt und Brennholz zunehmend durch andere Materialien, z. B. getrockneten Mist und Ernterückstände, ersetzt wird, die auf der anderen Seite als potentieller Dünger dem Boden dann nicht mehr zugute kommen können, kommt es nach Schätzungen der Weltbank zu Ernteausfällen in Höhe von einer Million Tonnen Getreide und Nahrungsmitteln. Das heißt, es kommt zu Ernte-
3526 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987
Großmann
ausfällen in genau der gleichen Höhe, wie wir jetzt Hilfe leisten müssen.
Der zweite Grund sind sicherlich die seit Jahrzehnten in einigen Landesteilen wütenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Sie führen dazu, daß Heuschreckenplagen nicht mehr systematisch bekämpft werden, daß vielerorts Felder nicht mehr richtig bestellt werden können und daß oft an sehr unzugänglichen Stellen, die man dann auch nicht erreichen kann, Felder angelegt werden, etwa an steilen Hängen, was die Bodenerosion natürlich noch beschleunigt.
Fatal ist auch, daß alle an diesem Bürgerkrieg Beteiligten in der Gefahr sind, die Hungerkatastrophe für sich auszunutzen, wie es schon einmal passiert ist, sie für sich quasi zu instrumentalisieren. Da werden Lebensmitteltransporte überfallen, da findet ein Vertragspoker statt, um vielleicht auf diesem Wege eine Art von offizieller Anerkennung zu bekommen. Da öffnet sich natürlich auch plötzlich eine Weltöffentlichkeit, die geradezu herausfordert, eigene Ziele, Programme und Appelle öffentlich zu machen. Auf all das reagiert die äthiopische Regierung, und so folgt der Subversion die Repression, ein Teufelskreis gewaltsamer Auseinandersetzungen.
Man muß dies wissen, um unseren gemeinsamen Antrag zu verstehen. Schon einmal haben die Europäische Gemeinschaft, westeuropäische Länder, die Bundesrepublik, viele Bürger unseres Landes dazu mitgeholfen und dazu beigetragen, daß Hunger in Äthiopien beseitigt wird. Damals kam die Hilfe für viele zu spät, auch deshalb, weil die äthiopische Regierung zu spät die Weltöffentlichkeit alarmierte. Etwa eine Million Menschen starben.
Heute wissen wir früher Bescheid, schon seit einigen Monaten. Die Hilfe wird wieder dringend gebraucht, denn schon gibt es die ersten erschreckenden Nachrichten, daß die Menschen in den betroffenen Gebieten Äthiopiens nicht warten, bis die Hilfe kommt, sondern daß sich viele Tausende schon auf den Weg gemacht haben, aus ihren Dörfern und Gebieten weggezogen sind und vor den Städten lagern, wo sie bereits 1984/85 Hilfe bekamen. Rechnete man zunächst damit, etwa im Januar/Februar 1988 werde es den Höhepunkt der Not geben, so erkennen wir jetzt, daß sich der Hunger nicht an Fristen hält. Deshalb ist schnelle und gezielte Hilfe unaufschiebbar.
Unser gemeinsamer Antrag fordert daher die Bundesregierung auf, sofort alles Nötige zu veranlassen, um eine solche Hilfe sicherzustellen.
Dazu zählt die Nahrungshilfe selbst, aber vor allem die Möglichkeit, die Lebensmittel in die betroffenen Landesteile zu bringen, das heißt, dafür zu sorgen, daß die Nahrungsmittelhilfe die Betroffenen erreicht.
Mit großer Dankbarkeit stellen wir fest, daß auch viele Nichtregierungsorganisationen sich wieder an der Hilfe beteiligen, wie es schon vor drei, vier Jahren der Fall war.
Die Hilfe muß jedoch noch stärker werden. Wir müssen sicherstellen, daß uns nicht erneut erst die Bilder verhungerter Kinder aufrütteln.
Wenn wir diesen ersten Schritt, ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, geschafft haben, kommt das zweite große Problem, nämlich, wie gesagt, sicherzustellen, daß die Betroffenen erreicht werden. Diesem humanitären Ziel müssen alle anderen Ziele untergeordnet werden.
Das heißt konkret: Die äthiopische Regierung muß Nahrungsmitteltransporte in umkämpfte Gebiete durchlassen, also auch nach Eritrea und Tigre. Die dort tätigen humanitären Organisationen müssen ihre Arbeit ungehindert leisten können. Befreiungsbewegungen aus Tigre und Eritrea dürfen ebenso wie die äthiopische Regierung die drohende Hungersnot nicht für politische und militärische Ziele mißbrauchen. Keine am Bürgerkrieg beteiligte Seite darf Hilfslieferungen beschlagnahmen oder zerstören. Die Transportmittel, die Äthiopien erneut zur Verfügung gestellt werden, dürfen weder jetzt noch später zu militärischen Zwecken eingesetzt werden. Das sind drei zentrale Forderungen an die Nahrungsmittelhilfe.
Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Forderungen durchzusetzen.
Diese kurze Debatte sollte aber auch den Anstoß geben, uns mit Äthiopien intensiver zu beschäftigen, vielleicht nicht heute, aber in naher Zukunft. Es wäre nicht gut, wenn wir uns nur von Katastrophe zu Katastrophe mit diesem Land beschäftigten.
Deshalb enthält der Antrag die weitere Forderung, durch eine mittel- und langfristige Politik sicherzustellen, daß die Ursachen des Hungers bekämpft werden; das heißt — das ist hier schon mehrmals gesagt worden — erstens bei der friedlichen Lösung der Konflikte in diesem Land verstärkt mitzuhelfen und zweitens Äthiopien bei der ökologischen Offensive zu helfen, die das Ziel hat, den Boden zu rehabilitieren und aufzuforsten, seine Erosion zu stoppen, seine Fruchtbarkeit zu vermehren und seine Überbelastung zu vermeiden. Es gibt eine Menge Anstrengungen der äthiopischen Regierung in dieser Richtung, die man unterstützen kann.
Die Lösung der Probleme kann jedoch nicht nur von außen erfolgen. Hier ist die äthiopische' Regierung selber gefordert. Die neue Verfassung, seit September 1987 in Kraft, gibt Anzeichen dafür, daß die Politik der äthiopischen Regierung berechenbarer wird. Es ist Zeit, die Urteile und Vorurteile über die äthiopische Regierung und die äthiopische Politik zu überprüfen. Wir werden das aber kritisch und mit großer Aufmerksamkeit tun.
Wir appellieren an die äthiopische Regierung gerade heute am Tag der Menschenrechte, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Aus dem Verfassungstext muß die Regierung eine nachprüfbare Verfassungswirklichkeit werden lassen.
Wir hoffen, daß die Tatsache, daß erneut eine große Welle der Hilfsbereitschaft, des menschlichen Mitfühlens und der Solidarität mit den Hungernden in Äthiopien erkennbar ist, auch die äthiopische Regierung nachdenklich macht und dazu bringt, diese Hilfsbereitschaft, dieses Mitgefühl und diese Solidarität auch in die eigene Politik einfließen zu lassen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1987 3527
Großmann
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.