Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie herzlich zur Fortsetzung der Aussprache zurRegierungserklärung der Bundeskanzlerin und rufeTagesordnungspunkt 1 auf:Regierungserklärung der Bundeskanzlerinmit anschließender AusspracheIch darf Sie daran erinnern, dass wir gestern für dieheutige Aussprache zehneinviertel Stunden beschlossenhaben – mit einer Vereinbarung über die Reihenfolge derFachbereiche, die ich als bekannt voraussetze. Wir be-ginnen mit dem Bereich Wirtschaft und Technologie.Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Wirt-schaft und Technologie, dem Kollegen Brüderle.
Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wahl-kampf und Regierungsbildung liegen hinter uns.
Schauen wir nach vorn, machen wir uns an die Arbeit.Ein Weiter-so darf es nicht geben.An die neuen Aufgaben können wir mit Optimismusund Zuversicht gehen; dazu gibt es allen Grund. DieAuftragsbücher der Industrieunternehmen füllen sichwieder. Auch die Exporte legen zu. Die Weltwirtschaftwird nach Aussagen des IWF im nächsten Jahr um mehrals 3 Prozent wachsen. Davon wird Deutschland profi-tieren. Zugleich hat sich der Arbeitsmarkt als wider-standsfähiger erwiesen, als es zu befürchten war.Aber ich kann keine Entwarnung geben. Die schwersteFinanz- und Wirtschaftskrise seit der Nachnoch nicht überwunden. Deshalb geht es jetzdie Weichen von der Politik neu gestellt wvon der Krisenbewältigung der letzten Zeit mwendigen Feuerwehreinsätzen hin zu einer Politik, dieung 11. November 2009.00 Uhrdas Wachstum nachhaltig stärkt. Wir müssen die Wachs-tumskräfte fördern.Schlüssel dafür ist die Steuerpolitik. Mit ihr könnenwir die Motivation und Leistungsbereitschaft der Bürge-rinnen und Bürger stärken und zusätzliche Nachfrageim-pulse auf den Weg bringen. Das ist unerlässlich, umWohlstand und Arbeitsplätze zu erhalten und neu zuschaffen. Deshalb ist das Wachstumsbeschleunigungsge-setz so wichtig. Es heißt nicht nur so, es wirkt auch so.Es beschleunigt das Wachstum.
Für mich ist der zentrale Punkt: Das Gesetz entlastetdie Bezieher unterer und mittlerer Einkommen.
Es hilft Familien mit Kindern, und es trägt zur Stärkungder Konjunktur bei. Es ist sozial sensibel und konjunk-turpolitisch absolut richtig.
Wir beseitigen die gröbsten Schnitzer der letzten Unter-nehmensteuerreform; ich nenne die Stichworte: Zins-schranke bzw. Hinzurechnungen bei der Gewerbesteuer.textDas ist eine Kehrtwende. Die Besteuerung der Unterneh-menssubstanz wird deutlich entschärft. Eine Besteuerungvon Gewinnen versteht man. Aber eine Besteuerung derUnternehmenssubstanz ohne Gewinn kann keiner nach-vollziehen.
Die Erbschaftsteuer wird mittelstandsfreundlich ver-ändert. Außerdem werden Geschwister steuerrechtlichnicht mehr wie Fremde behandelt. Das ist notwendig zurErhaltung der Betriebe, insbesondere bei Personenge-sellschaften, und eine Frage nicht nur des mittelstands-freundlichen Klimas, sondern auch der Achtung des Ver-igentums.lem entlasten wir die Bürger und Unterneh- 21 Milliarden Euro.kriegszeit istt darum, dasserden – wegit ihren not-mögens und EAlles in almen um rund
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Bundesminister Rainer BrüderleDas sind 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; das isteine konjunkturwirksame Größe.
Die Deutsche Bank hat gestern eine Berechnung vorge-legt, dass dies einen zusätzlichen Wachstumsimpuls voneinem halben Prozent bringen kann.
Wir rücken den Mittelstand in den Mittelpunkt unse-rer Wirtschaftspolitik. Wir stärken ihn, wir entlasten ihn.Vordringlich ist die Verbesserung der Finanzierungsbe-dingungen für die Unternehmen. Sie brauchen Kreditefür Investitionen und Innovationen sowie zur Sicherungvon Arbeitsplätzen. Dabei sind zunächst die Banken ge-fragt. Etliche Banken haben nach dem Staat gerufen, umKonsolidierungshilfen einzufordern. Für mich ist völligklar: Wer Steuergelder zur Bilanzbereinigung entgegen-nimmt, muss auch seiner Verantwortung bei der Kredit-vergabe nachkommen.
Die Bundeskanzlerin hat gestern zu Recht von derGefahr einer Kreditklemme gesprochen.
Wir haben im Koalitionsvertrag Maßnahmen gegen einesolche gefährliche Entwicklung vereinbart, damit dieKonjunkturpflänzchen sich entwickeln und entfaltenkönnen. Wir werden einen Kreditmediator einrichten.Frankreich hat mit einer solchen Institution die gute Er-fahrung gemacht, dass konkrete Probleme im Dialog mitden Banken bereinigt werden.
Der Deutschlandfonds muss noch stärker auf den Mit-telstand zugeschnitten werden. Ein Weg kann sein, sichdas Zusageverhalten der beteiligten Banken genauer an-zuschauen. Unternehmen mit vertretbaren Risiken müs-sen auch Zugang zu den Finanzierungen durch denFonds bekommen. Wir werden die Kreditanstalt für Wie-deraufbau in ihrer Funktion als Mittelstandsbank stär-ken. Aber eines muss auch klar sein, meine Damen undHerren: Die Krise bewältigen können nur die Unterneh-men selbst.
Wir treten für eine Wiederbelebung, eine Renaissanceder sozialen Marktwirtschaft ein.
Nur die Wirtschaftskrise hat die massiven Beteiligungenund Unterstützungen des Staates bei Banken und Unter-nehmen gerechtfertigt. Nun muss die Wirtschaft wiederin die geordneten Bahnen der sozialen Marktwirtschaftzurückgeführt werden. Freiheit und Verantwortung müs-sen wieder stärker gelten. Wer die Gewinne macht, mussauch die Verluste tragen. Der Staat muss sich Zug umZug aus der fiskalpolitischen Konjunkturstützung zu-rückziehen, und die verstärkte Haushaltskonsolidierungmuss dann wieder greifen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:Nein, ich möchte meine Gedanken im Zusammen-hang ausdrücken.Die Hängepartie bei Opel ist dabei eine Warnung.Viel zu lange wurden nötige Entscheidungen hinausge-zögert.
Viel zu lange ist bereits Geld verbrannt worden. Der Ballliegt jetzt bei General Motors und nicht in Berlin.
Als Bundeswirtschaftsminister geht es mir um einevolkswirtschaftliche Gesamtschau. Die Automobilindus-trie, diese Kernbranche Deutschlands, zeigt ihr Poten-zial an vielen Standorten, zum Beispiel in Ingolstadt,Wolfsburg, Leipzig und Sindelfingen und nicht nur anden aktuell diskutierten Standorten in Deutschland.
Die Automobilindustrie in Deutschland braucht Per-spektiven für eine gute Zukunft. Das geht nur mit Inno-vationen. Ich nenne den Bereich neue Antriebe: Elektro-mobilität kann das Megathema des nächsten Jahrzehntswerden.
Elektromobilität ist die Chance für Klimaschutz undFahrkomfort. Hier liegt ein weites Feld für Innovationen,Investitionen und neue Arbeitsplätze.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, mit denaufgezeigten Instrumenten und entschlossenem Handelnwerden wir es schaffen, Deutschland erfolgreich in dasneue Jahrzehnt zu führen. Dazu brauchen wir Energie-politik aus einem Guss. Es geht um eine sichere Versor-
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Bundesminister Rainer Brüderlegung für unser Industrieland. Zudem brauchen wir wett-bewerbsfähige Energiepreise. Vor uns steht – last, butnot least – die große Menschheitsaufgabe des Klima-schutzes. An diesen wichtigen Herausforderungen wer-den wir arbeiten, und dafür bitte ich Sie um Ihre Unter-stützung.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrter Herr Brüderle!
– Ganz locker bleiben.
– Ich bin wirklich etwas überrascht davon, dass das dieRede des Bundeswirtschaftsministers gewesen sein soll.
Herr Brüderle, es ist wohl nicht ganz leicht, von Dampf-plauderei in der Opposition auf eine staatstragende Redeumzuschalten.
Es war eine Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen.
Gleichwohl möchte ich Ihnen, Herr Brüderle, auch imNamen meiner Fraktion zur Ernennung herzlich gratulie-ren. Ich wünsche Ihnen im Interesse unseres Landes,dass Sie eine glückliche Hand haben. Ich sage es ganzoffen: Die wirtschaftliche Lage in diesem Land ist vielzu ernst, als dass man Ihnen das nicht wünschen sollte.Gleichwohl sind Zweifel berechtigt. Ich komme gleichdarauf zu sprechen.Vorweg muss man sich vergegenwärtigen, wo wir inDeutschland volkswirtschaftlich stehen. Deutschlandsteht in der derzeit größten Wirtschaftskrise seit Beste-hen der Bundesrepublik Deutschland besser da als an-dere europäische Länder. Das ist auch ein Verdienst derGroßen Koalition, die dieses Land erfolgreich durch tur-bulente Zeiten geführt hat. Es ist auch der Verdienst ei-ner Vorgängerregierung, nämlich der rot-grünen Koali-tion. Man stelle sich einmal vor, wir wären ohne dieReformpolitik der rot-grünen Koalition in die Weltwirt-schaftskrise geschlittert. Deutschland stünde schlechterda.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie glaubendoch nicht ernsthaft, dass die Erfolge der Jahre 2005 bis2008 irgendetwas mit dem segensreichen Wirken vonMichael Glos zu tun haben und nichts mit der Arbeit vonGerhard Schröder und Franz Müntefering.
Es war die Politik der Großen Koalition, die durchrichtiges Handeln in der Krise dafür gesorgt hat, dass dieKreditversorgung der deutschen Wirtschaft nicht zusam-mengebrochen ist. Es war die Politik, die mitgeholfenhat, die Konjunktur zu stabilisieren, Anreize für Investi-tionen zu geben und Arbeitsplätze zu sichern. Für meineFraktion stelle ich voller Stolz fest: Es waren Sozialde-mokraten, die die Konjunkturpakete maßgeblich entwi-ckelt und durchgesetzt haben.
Unsere erfolgreichen Konjunkturmaßnahmen wer-den weltweit kopiert: von der Abwrackprämie beispiels-weise in den USA bis hin zu den Regelungen zur Kurz-arbeit. Ich sage, es ist gut – wir haben es gefordert –,dass der neue Arbeitsminister die Regelung zur Kurzar-beit verlängert. Erfunden hat sie Olaf Scholz. Sie hilftHunderttausenden von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern in Deutschland, in Beschäftigung zu bleiben.Es hilft den Unternehmen, durch die Krise zu kommen.Das ist unsere Politik. Wenn Sie die fortsetzen, dann ha-ben Sie unsere Unterstützung.
Unsere Politik hat dazu geführt, dass die Binnennach-frage trotz der Weltwirtschaftskrise außerordentlich stabilgeblieben ist und dass die Auswirkungen auf den Arbeits-markt trotz der Einbrüche, die wir als Exportweltmeisterzu erleben hatten, weniger massiv sind als bei anderen.Wir können mit Fug und Recht behaupten, dass das dieHandschrift von Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrückund Olaf Scholz ist.Aber ich sage auch, Herr Brüderle: Die Aufgabe derneuen Bundesregierung ist es, das einzulösen, was ges-tern von Frau Bundeskanzlerin Merkel und heute auchvon Ihnen in pathetischen Sätzen formuliert wurde:Deutschland gestärkt aus dieser Krise zu führen.Meine guten Wünsche haben Sie bekommen. Aberich stelle fest: Es gibt berechtigten Zweifel. Übrigensglaubt auch die Mehrheit Ihrer Anhänger nicht, dass Sieals Bundeswirtschaftsminister in der Lage sind, dazu ei-nen vernünftigen Beitrag zu leisten. Wenn ich mir dieKoalitionsvereinbarung durchlese oder Ihre Rede heute
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höre, dann kann ich nur sagen: Der Zweifel an dieserStelle ist berechtigt.
Wenn wir uns den Koalitionsvertrag genauer anschauen,wird eines klar – übrigens auch durch Ihre Rede, HerrBrüderle –: Schwarz-Gelb fehlt ein klares Konzept fürdie Wirtschaftspolitik in Deutschland. Sie sind nicht inder Lage, die zentralen Fragen unserer Volkswirtschaftkonzeptionell hinreichend zu beantworten.
Die erste Frage ist: Wie schaffen wir nachhaltigesWachstum und gute Arbeit? Dazu kann ich nur sagen:Fehlanzeige. Die zweite Frage lautet: Wie erneuern wirunsere industrielle Basis und erschließen neue Poten-ziale für Dienstleistungen in Deutschland? Auch dazunur Allgemeinplätzchen. Wie nutzen wir die Chancenneuer Technologien? Auch dazu Fehlanzeige. Wie siehtein Energiekonzept der Zukunft aus? Dazu haben Siekeinen Satz gesagt. Vor ein paar Tagen haben Sie nochgesagt, Sie seien Energieminister. Das habe ich in derFAZ gelesen. Sie haben hier keinen Satz zur Energiepoli-tik gesagt. Die entscheidende Frage aber ist: Wie gestal-ten wir die Wirtschaftspolitik in der Konsequenz derWirtschaftskrise? Investitionen müssen Vorrang vorkurzfristigen Spekulationen haben, um Deutschlandlangfristig erfolgreich zu halten. Kein Satz dazu.
Herr Brüderle, die Süddeutsche Zeitung hat über IhrenKoalitionsvertrag geschrieben, das Werk sei eine ArtRoman mit Fehldruck. Immer wenn es spannend wird,fehlt eine Seite. An diesen Stellen befinden sich Leersei-ten. So liest sich auch der Teil über die Wirtschaftspoli-tik im Koalitionsvertrag. Statt einer klaren Konzeptionfinden sich auch da Prüfaufträge. Ich habe einmal ge-zählt: 23 Prüfaufträge allein im Bereich Wirtschaft. HerrBrüderle, heute bekommen Sie einen 24. dazu: Wir wer-den prüfen, ob der Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie seinem Amt gewachsen ist. Das ist unserPrüfauftrag, den Sie heute hören.
Herr Brüderle, Sie haben Ihr sogenanntes Wachs-tumsbeschleunigungsgesetz angesprochen. Ich willeinmal die Aussage des DIW-Präsidenten, KlausZimmermann, zum Koalitionsvertrag zitieren. Er hat ge-sagt:Insgesamt wirkt der Vertrag– und damit auch diese Maßnahmen –so, als sei es gegen alle ökonomische Realität vorallem darum gegangen, Wahlversprechen zu halten.Das ist keine Strategie für Wachstum. Das ist keine Kon-junkturpolitik. Was soll das denn sein? Ein drittes Kon-junkturpaket? Das ist es nicht. Das ist Klientelpolitikohne nachhaltige Wachstumsimpulse für dieses Land,die jetzt notwendig wären.
Wir können uns das gerne einmal anschauen: Ihr ein-faches Credo „Steuern runter macht Deutschland mun-ter“ ist eine Form von Voodoo-Ökonomie, die mit denvolkswirtschaftlichen Bedürfnissen dieses Landes nichtszu tun hat und mit den Notwendigkeiten auch nicht.
Wir können uns die Maßnahmen ja einmal im Einzel-nen anschauen: Ich räume ein, dass Steuersenkungen,wenn sie richtig gemacht werden, per se die Binnen-nachfrage stärken können. Aber die Frage ist, ob dieSteuersenkungen, die Sie vorschlagen, tatsächlich diesenEffekt haben. Die Erhöhung des Kindergeldes kannmöglicherweise einen schwachen Wachstumsimpuls mitsich bringen. Das Geld wird dann allerdings für anderegesellschaftliche Aufgaben fehlen, beispielsweise fürden Ausbau der Kinderbetreuung. Die Erhöhung derKinderfreibeträge allerdings wird aufgrund der Progres-sionsabhängigkeit nicht die Nachfrage stärken, sonderndie Sparquote in Deutschland erhöhen. Das ist kein Bei-trag zu nachhaltigem Wachstum.
Ich finde, das schönste Beispiel für Klientelpolitik indiesem Wachstumsbeschleunigungsgesetzentwurf ist dieReduzierung des Umsatzsteuersatzes für Hotelübernach-tungen. Eine niedrige Mehrwertsteuer führt nicht zu ge-ringeren Preisen und damit zu mehr Nachfrage. Der Ver-such, mithilfe der Mehrwertsteuer die wirtschaftlichenProbleme einzelner Branchen zu lösen, muss scheitern;denn die Mehrwertsteuer ist nicht die Ursache strukturel-ler Probleme der Branchen. Ich sage es einmal anders:Herr Brüderle, glauben Sie ernsthaft, dass wir aufgrunddieser Maßnahme einen Boom bei den Übernachtungenin Deutschland haben werden, dass die Tourismusbran-che aufgrund dieser Maßnahme boomen wird?
Das ist Klientelpolitik. Mit konzeptioneller Wirtschafts-politik, mit Ordnungspolitik in der Tradition von LudwigErhard und Karl Schiller hat das nichts zu tun.
Sie haben die Maßnahmen im Bereich der Unterneh-mensbesteuerung angesprochen. Diese bedeuten vor al-len Dingen für den Mittelstand keinen Wachstumseffekt.Das sind eher Steuerschlupflöcher für Großkonzerne.Man kann sagen: Sie machen bei den Steuerschlupf-löchern die Scheunentore wieder auf, die die Große Ko-alition gerade mit großer Mühe geschlossen hat. Dassollte die Finanzpolitiker in der Union umtreiben. Derarme Herr Kampeter, der neue Staatssekretär im Finanz-
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ministerium, der so sehr gegen Steuerschlupflöcher ge-kämpft hat, tut mir schon jetzt leid. Diese Steuerge-schenke für Klientelgruppen sind nicht zielgerichtet, sieleisten keinen Beitrag zur Stabilisierung des Konsums,aber sie haben einen Effekt, der uns wirtschaftspolitischin die Knie zwingen wird: Sie schwächen die Nachfrageder öffentlichen Hand von Bund, Ländern und Kommu-nen; sie wird nachlassen. Es konterkariert die Effektedes von der Großen Koalition von CDU/CSU und SPDgemeinsam beschlossenen kommunalen Investitionspro-gramms. Was ist denn das für eine Politik, dass wir de-nen in der Krise zu Recht Investitionsmittel an die Handgeben und dann im Jahr danach und für Jahre danachdurch Ihre Steuerpolitik die Mittel für Investitionen indie Infrastruktur seitens der öffentlichen Hand wiedergekürzt werden? Das ist widersinnig und unsinnig.
Herr Brüderle, Ihr Lieblingswort in der letzten Legis-laturperiode – oder sollte ich sagen: in gefühlten Tau-send Jahren Opposition? – war „Mittelstand“. Nachdemich den Koalitionsvertrag gelesen habe und mir IhreRede angehört habe, kann ich nur sagen: Allgemein-plätzchen. Die kleinen und mittleren Unternehmen, diefür unsere Volkswirtschaft so wichtig und das Rückgratunserer Wirtschaft sind, haben von Ihren Sprüchen kon-kret nichts.
Ich will Ihnen drei praktische Beispiele nennen, woSie an das anknüpfen können, was die Große Koalitiongetan hat. Das betrifft zum Beispiel den Bürokratieab-bau, den wir in vielen Bereichen vorangebracht haben.
– Hören Sie einmal zu.Bei einem werden wir gut aufpassen: Wenn Sie unterder Chiffre des Bürokratieabbaus den Abbau von Arbeit-nehmerrechten, Umweltstandards und Verbraucherstan-dards verstehen, dann werden Sie zu Recht auf harte Op-position in diesem Hause treffen; denn das ist keinBürokratieabbau.
Das betrifft auch das Vergaberecht, um es deutlich zu sa-gen.Bei einem bin ich wirklich enttäuscht, Herr Brüderle;da hatte ich – sogar auf die FDP – eine gewisse Hoffnung.Sie haben im Bereich der Kreditklemme einiges aus demDeutschlandplan von Frank-Walter Steinmeier abgekup-fert. Stichwort Kreditmediator: Die Formulierungen, dieSie gebracht haben, sind dort wörtlich abgeschrieben. Diesbetrifft auch den Verweis auf Frankreich. An einer Stellehätte ich mir gewünscht, dass Sie auch da abschreiben:beim Mittelstand und dem Thema der Tax Credits, dersteuerlichen Forschungsförderung. Wenn Sie für denErfolg von Investitionen und Innovationen bei kleinen undmittleren Unternehmen etwas tun wollen, dann wäre ne-ben der Projektförderung bei Forschung und Entwicklungein konkretes Konzept für steuerliche Förderung bei klei-nen und mittleren Unternehmen ein konkreter Schritt ge-wesen. Aber was steht dazu in Ihrem Programm? Prüfauf-trag. Hier ist wieder einmal im Ergebnis Fehlanzeige. Dasist keine Politik für den Mittelstand in Deutschland.
Vor allen Dingen – auch das finde ich an Ihrer Redebemerkenswert – wenn es um die industrielle Basis un-seres Landes geht, findet sich im Koalitionsvertrag außereinem allgemeine Bekenntnis zum IndustriestandortDeutschland nicht einmal ansatzweise so etwas wie einindustriepolitisches Konzept. Wir haben darauf gewar-tet. Herr zu Guttenberg – er ist gerade nicht da – hat javor der Wahl munter ein großes industriepolitischesKonzept angekündigt, auf das man bis heute wartet.
In Ihrem Koalitionsvertrag steht nichts zu diesem Be-reich. Damit verspielen Sie die Chancen Deutschlands,auf den Leitmärkten der Zukunft erfolgreich zu sein.Wenn man industriepolitisch keine Ahnung hat unddie Weichen nicht richtig stellt, dass Wirtschaft, Wissen-schaft und Politik an einem Strang ziehen, damit diedeutsche Volkswirtschaft mit modernen Produkten, Ver-fahren und Dienstleistungen auf den Märkten der Welterfolgreich sein kann, dann verspielt man die Chancenunserer Volkswirtschaft. Ihr Fehler ist folgender: Sie se-hen die Zukunft der Arbeit in Deutschland vor allen Din-gen bei Billigjobs und nicht bei den besten Produkten,Verfahren und Dienstleistungen.
Wer dies so sieht, hat weder von Wirtschaft noch vonden Bedürfnissen der Menschen in Deutschland Ah-nung.
Wo sind denn Ihre Konzepte für die Leitmärkte derZukunft, für den Bereich der erneuerbaren Energien, füreffiziente Energieproduktion, für neue Werkstoffe, fürden Bereich der Elektromobilität, für den Gesundheits-markt oder die Kreativwirtschaft? Nur warme Worte.Die Kreativwirtschaft kam in Ihrer Rede nicht einmalvor, obwohl sie wichtig ist. Im Bereich der Digitalisie-rung ergeben sich neue Chancen. In Ihrer Rede gab eskeinen Ansatz dazu. Zum Ausbau der Breitbandinfra-struktur sagten Sie eben in Ihrer Rede keinen Satz; ges-tern sagte Herr Kauder zwei, drei Sätze dazu. Sie habenkein Konzept, wie man es wirklich schaffen kann, in die-ser Branche Arbeitsplätze zu schaffen und einen Beitragzur Modernisierung unserer Volkswirtschaft insgesamtzu leisten.Dass eine moderne Industriepolitik Chancen bietet,bestätigen Institute – das können Sie nicht bestreiten –,die Vorschläge gemacht haben, wie wir im Bereich der
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erneuerbaren Energien – das, was Rot-Grün damals ein-geleitet hat – und im Bereich der Effizienztechnologientatsächlich vorankommen können.Es geht darum, auf der Angebotsseite das zu tun, wasnotwendig ist, damit Unternehmen und Wissenschaft zuden entsprechenden Technologiesprüngen kommen, undes geht darum, auf der Nachfrageseite mitzuhelfen, dassinnovative und junge Technologien flächendeckendmarkteingeführt werden können. Sie haben in diesemBereich keinen Ansatz. Im Gegensatz zu anderen Län-dern, die im Moment anfangen, deutsche Konzepte ausrot-grüner Zeit zu kopieren,
haben Sie in diesem Bereich keinen vernünftigen An-satz. Meine Damen und Herren, Sie werden nicht be-streiten, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz, gegendas Sie früher waren, weltweit zu einem Schlager ge-worden ist und Arbeitsplätze in Deutschland schafft.
Zur Energiepolitik, zu der Sie so beredt geschwiegenhaben, erlaube ich mir schon jetzt den Hinweis: Das, wasCredo Ihrer Koalition ist, nämlich die Verlängerung vonRestlaufzeiten alter, finanziell abgeschriebener Atom-meiler, wird genau das verhindern, was wir in Deutsch-land in Sachen Energiestandort am dringendsten brau-chen: Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik undauch in erneuerbare Energien. Das, was Sie machen, isteine Politik, die gegen die Zukunft gerichtet ist. Sie istökologisch unsinnig, aber auch wirtschaftspolitisch fatal,weil wir in Deutschland dringend Investitionen in mo-derne Kraftwerkstechnik und nicht längere Restlaufzei-ten alter Atommeiler brauchen.
Meine Damen und Herren, es ist, wie gesagt, schwie-rig, sich mit den Leerstellen in Ihrem Koalitionsvertragauseinanderzusetzen, weil er so viele Prüfaufträge ent-hält. Wir sind gespannt. Ich sage es ganz offen: Wir bie-ten auch unsere Unterstützung an. Ich werde Ihnen gerneunseren Deutschland-Plan zuschicken. Er enthält näm-lich eine Fülle von guten Ideen für die Wirtschaftspolitikin diesem Lande.
Ich sage Ihnen: Die Zeiten sind ernst. Die Wirt-schaftskrise ist noch nicht vorbei. Wir sind bisher besserdurch die Krise gekommen als andere Volkswirtschaften.Aber weiterhin gilt: Wir müssen handeln und dürfennicht nur zugucken.Herr Brüderle, in einem Bereich bieten wir Ihnenkonkrete Unterstützung an. Wenn das, was Sie, auch inInterviews, zum Thema KfW angedeutet haben, notwen-dig ist, werden wir Sie unterstützen, wenn es darumgeht, die Kreditversorgung der deutschen Wirtschaftzu stärken, im Zweifelsfall auch mit harten Maßnahmengegenüber den Banken. Reine Appelle, wie wir sie heutewieder von Ihnen gehört haben, reichen auf diesem Wegmöglicherweise nicht aus. Hier bieten wir Ihnen unsereMitarbeit an.Was aber nicht geht, Herr Brüderle, ist, dass Sie,wenn wirtschaftspolitische Probleme in Deutschlandauftauchen, immer nur mit dem Finger auf andere zei-gen. Jetzt sind Sie in der Verantwortung. An dieser Stellemuss ich sagen: Ich finde das, was Sie eben zum ThemaOpel vom Stapel gelassen haben, eines Bundeswirt-schaftsministers unwürdig.
Sie haben von den guten, hervorragenden Automobil-standorten in Deutschland gesprochen. Als jemand, deraus der Nähe von Wolfsburg kommt, kann ich davon einLied singen. Die deutschen Automobilstandorte sindsehr erfolgreich. Sie dürfen aber nicht nur die anderenStandorte nennen und so tun, als seien die Opel-Stand-orte Schrott.
Das, was zum Beispiel in Eisenach, Rüsselsheim, Kai-serslautern und Bochum geleistet wird, haben Sie ver-schwiegen. Sie haben nur gesagt: Wir haben hervorra-gende andere Standorte. – Was heißt das denn am Endedes Tages? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren,dass viele in der FDP, auch einige in CDU und CSU,klammheimliche Freude darüber verspüren, dass dieÜbernahme durch Magna geplatzt ist.
Den Beschäftigten und dem Industriestandort Deutsch-land hilft das aber nicht. Herr Brüderle, jetzt sind Sie ge-fragt. Sie müssen aktiv handeln und dürfen sich nicht nurbeklagen.
Die Übernahme durch Magna war ein tragfähigerWeg, der durch aktives Handeln der Politik ermöglichtwurde. Es wäre kein einfacher Weg gewesen. Aber esgab einen Weg. Ich frage mich: Wo ist jetzt Ihr Weg indieser ganzen Geschichte? Einfach nur zu sagen: „Dasist nicht unser Problem, das ist ein amerikanisches Pro-blem“, hilft bei der Sicherung der Arbeitsplätze inDeutschland nicht. Ich fordere Sie auf: Sie müssen un-verzüglich, und zwar persönlich, in Verhandlungen mitGM eintreten, um im Interesse der Arbeitsplätze inDeutschland eine Lösung zu finden.
Herr Brüderle, ich kann mich noch erinnern, dass Sievor einigen Jahren von diesem Pult aus den damaligenBundeswirtschaftsminister Michael Glos gewarnt haben,dass er der „Problembär“ der Regierung werden könnte.
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Ich kann nur sagen: Jetzt müssen Sie in dieser Hinsichtaufpassen.
Ich habe den Eindruck – das kann ich Ihnen nicht erspa-ren –, dass Sie in sehr große Fußstapfen treten und nichtetwa die Nachfolge von Ludwig Erhard, Karl Schilleroder Helmut Schmidt antreten, sondern dass das, was Siehier geboten haben, eher nach der legitimen Nachfolgevon Michael Glos klingt.
Ich sage Ihnen: Von einem Bundeswirtschaftsministerwird mehr erwartet als launige Reden und Grußworte.Wir erwarten von Ihnen Konzepte für den Wirtschafts-standort Deutschland. Wenn sie gut sind, werden wir sieunterstützen; darauf können Sie sich verlassen. Bisherhaben Sie, jedenfalls was Ihre heutige Rede angeht,nichts geboten. Ich sage Ihnen: Die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer in Deutschland, die tüchtigen Unter-nehmerinnen und Unternehmer in Deutschland, die deut-sche Wirtschaft, sprich: Deutschland insgesamt, eineführende Wirtschaftsnation der Welt, der Exportwelt-meister, hat eine bessere Wirtschaftspolitik verdient, alsSie sie heute geboten haben. Wir werden Sie treiben, da-mit Sie zu einer guten Wirtschaftspolitik kommen. Dasist unsere Aufgabe als Opposition.
Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Das,was Sie heute geboten haben, war nicht dünne Suppe,das war ganz dünne Suppe. Das ist kein guter Anfang.Ich kann nur sagen: Das ist keine Form von modernerWirtschaftspolitik, das ist Grußwortepolitik. AberDeutschland verdient mehr.
Dr. Michael Fuchs ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lieber Herr Heil, ich weiß nicht, ob jemand, der alsGeneralsekretär der SPD das zweitschlechteste Ergebnisder Partei bei einer Wahl zu verantworten hat und damitder zweitschlechteste Generalsekretär der Sozialdemo-kratie im vereinten Deutschland ist – nur Egon Krenzwar schlechter –,
das Recht hat, so mit dem Bundeswirtschaftsministerumzugehen.Ihre Rede stand unter dem Motto „Vorwärts, Genos-sen, zurück in die Vergangenheit!“. Damit können wirnichts anfangen. Wir werden dieses Land in die richtigeRichtung führen. Was Sie hier aufgeführt haben, warTheater.
Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich willdas Risiko des Lebens selbst tragen, will für meinSchicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du,Staat, dafür, daß ich dazu in der Lage bin.Diese Worte stammen von Ludwig Erhard, und siewerden in den kommenden vier Jahren die Richtschnurfür die Union sein. Kein Politiker vor oder nach LudwigErhard hat treffender beschrieben, was den Kern einerfreiheitlichen und dennoch sozialen Politik ausmacht.Ich spreche von einer Politik, die auf die Kraft jedes Ein-zelnen vertraut, auf die Leistungsbereitschaft, auf denMut, auf die Kreativität von 81 Millionen Bundesbür-gern. Ich spreche von einer Politik, die dort unterstützt,wo dem Einzelnen die Kraft fehlt. Markt, Wirtschaft undsoziale Verantwortung sind für die CDU/CSU immer et-was Zusammengehöriges gewesen, und das muss auchso bleiben.
Wir waren es, die erkannt haben, dass eine Nation beidesbraucht: Freiheit und Verantwortung. Die Bundeskanzle-rin hat das gestern sehr deutlich gemacht.Wie wurden wir wegen der Diffamierungskampa-gnen, die Sie im Wahlkampf gemacht haben, von denMenschen teilweise wahrgenommen: als „Koalition derKälte“ etc. Lesen Sie bitte unseren Koalitionsvertrag! Daist von Kälte nichts zu spüren.
Lassen Sie mich heute an einigen Punkten erläutern,wie wir Deutschland aus der Krise herausführen wollen:Freiheit in Verantwortung und Wachstum durch Leis-tungsbereitschaft. Wir werden Deutschland in Bildung,Wissenschaft und Forschung zurück an die Weltspitzeführen, um gerade den kommenden Generationen einLeben in Wohlstand, Gerechtigkeit und Sicherheit zu er-möglichen.Das heißt insbesondere, einen freiheitlichen Ansatzzu verfolgen, statt mit ideologischen ScheuklappenChancen zu verhindern. Das gilt insbesondere für dieZukunftsthemen, nämlich für Forschung, für Bildung,für Energie- und für Technologiepolitik. Hier ideologi-sche Scheuklappen zu haben, das verhindert Zukunftund verhindert Wachstum in Deutschland.
Wir werden die Arbeitnehmer, insbesondere Familienund Geringverdiener, steuerlich entlasten durch ein ein-facheres, niedrigeres und gerechtes Steuersystem. Diekalte Progression ist ein Mühlstein am Hals der Leis-
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Dr. Michael Fuchstungsträger unserer Gesellschaft. Ich meine damit dieje-nigen, die jeden Morgen aufstehen, früh zur Arbeitgehen, spät zurückkommen, die Krankenschwester, denPolizisten, den Handwerker, den Facharbeiter; das sinddie Leistungsträger. Sie werden durch unser Steuerrechtfür ihren Einsatz bestraft. Das muss aufhören, und dafürwerden wir gemeinsam sorgen.
Ich bin der Bundeskanzlerin dafür dankbar, dass sie diesin ihrer Regierungserklärung ganz deutlich zum Aus-druck gebracht hat.Zwar erforderte die globale Wirtschaftskrise eine vo-rübergehende stärkere Rolle des Staates, doch für uns istklar, dass der Staat weder der bessere Banker noch derbessere Unternehmer ist. Liebe Kollegen von der SPD,er ist auch nicht der bessere Autobauer.
Daher haben wir im Koalitionsvertrag klargemacht,dass wir eine klare Exit-Strategie brauchen, dass wir ausstaatlichen Hilfen möglichst schnell aussteigen wollenund aus Staatsbeteiligungen herauswollen. Das gilt be-sonders für den Bankenbereich. Ich empfehle nebenbeiauch den Ländern, hinsichtlich ihrer Hausbanken da-rüber einmal nachzudenken.
Wir werden es auch sein, die aus Deutschland einGründerland machen werden. Wir werden deshalb eineGründerkampagne starten und dafür sorgen, dassJungunternehmer bessere Finanzierungsbedingungen er-halten. Dazu werden wir die Angebote im Bereich derMikrokredite, der Business Angels und des Wagniskapi-tals verbessern. Hier müssen noch Strukturverbesserun-gen vorgenommen werden, die wir mit Ihnen in der letz-ten Legislaturperiode leider nicht erreichen konnten,weil Sie sich da verweigert haben.Wir wollen mehr Freiräume für unternehmerische Be-tätigung und für Selbstständigkeit schaffen; denn dasschafft Arbeitsplätze in unserem Land.
Getreu Erhards Motto „Je freier die Wirtschaft, umsosozialer ist sie auch“ werden wir den Abbau bürokrati-scher Hemmnisse vorantreiben. Auch wenn wir hier inden letzten Jahren ein Stück vorangekommen sind – daswill ich nicht verleugnen –, dürfen wir uns mit dem bisjetzt Erreichten nicht zufriedengeben. Nach wie vor ent-stehen der Wirtschaft durch Statistik- und Informations-pflichten jährliche Bürokratiekosten in Höhe von40 Milliarden Euro. Deshalb werden wir die Kosten ausStatistik- und Informationspflichten bis 2011 um 25 Pro-zent reduzieren. Und zwar netto! Dem haben Sie sich inder letzten Legislaturperiode immer verweigert. Ichkenne ein oder zwei Ausnahmen, die sich da nicht ver-weigert haben, aber Sie als ganze Fraktion haben sichdem verweigert. Jetzt können wir das machen; mit derFDP werden wir das machen.
Wir werden uns auch um die materiellen Kosten derBürokratiebelastung kümmern. Wir werden den Nor-menkontrollrat bitten, uns jeweils auch die materiellenKosten aufzuzeigen; denn auch hier ist Kontrolle not-wendig.Freiheit heißt für mich auch, dass sich der Staat ausder Lohnfindung herauszuhalten hat. Sie ist zuallererstAufgabe von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbän-den. Die Tarifautonomie gehört für uns zum Ordnungs-rahmen der sozialen Marktwirtschaft und hat Vorrangvor staatlicher Lohnfestsetzung. Das hat sich in 60 Jah-ren Bundesrepublik Deutschland bewährt, und das wol-len wir auch nicht verändern.
Freiheit heißt auch, dass Unternehmen nicht nur um-satzsteuerrechtlich gleich behandelt werden müssen.Dies gilt sowohl für die Post als auch für die kommuna-len Versorgungsunternehmen. Wettbewerbsgleichheit istunsere Maxime. Regeln dafür zu setzen, ist die Aufgabedes Staates, und mehr nicht.Freiheit ist aber nicht grenzenlos. Daher werden wirsittenwidrige Löhne eindeutig verbieten, um Lohndum-ping zu unterbinden. Wir setzen uns in unserer Koali-tionsvereinbarung für eine faire Verantwortungskultur inUnternehmen ein. Unternehmer, Vorstände und Auf-sichtsräte stehen selbstverständlich in Verantwortung zuihren Unternehmen und zur Gesellschaft.Freiheit bedeutet auch, sich dieser Verantwortung be-wusst zu sein. Wer dieses Bewusstsein nicht hat, demmuss man helfen, es zu entwickeln.
Gerade der Mittelstand macht dies aber vor, und die Bür-gerinnen und Bürger nehmen das auch wahr. Freiheitund Verantwortung schaffen Vertrauen, gerade im Mit-telstand.Laut einer aktuellen Stern-Umfrage haben über70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und ArbeitnehmerVertrauen zu ihrem direkten, eigenen Arbeitgeber, zuden Gewerkschaften haben 30 Prozent Vertrauen, unddie Manager liegen dabei an letzter Stelle, was michnicht wundert.
Freies Unternehmertum beinhaltet Gewinnchancen,aber selbstverständlich ebenso Risikohaftung für Fehl-entscheidungen. Deshalb werden wir die jüngsten Geset-zesanpassungen zur Haftung und Vergütung weiterent-wickeln. Die Vergütungssysteme müssen sich stärker alsbisher am langfristigen Erfolg eines Unternehmensorientieren. Wo es Bonuszahlungen gibt, muss es auchMalusregelungen geben.
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Dr. Michael FuchsEs sollte überall freiwillige Selbstverpflichtungen vonEntscheidern geben, um Fehlverhalten zulasten Drittervorzubeugen. Deshalb fordern wir auch für Betriebsräteeinen Ehrenkodex. Damit hätte man manche Eskapadezwischen Wolfsburg und München verhindern können.
Die Verantwortung der Politik ist es nicht, Marktteil-nehmer zu sein, sondern Spielregeln für den Markt zusetzen. Deswegen werden wir in Anlehnung an dieMinistererlaubnis beim Fusionsrecht auch eine umge-kehrte Regelung durchsetzen. Wenn Konzerne so großwerden, dass sie Schaden für die Volkswirtschaft anrich-ten können, so kann ich mir als Ultima Ratio oder, wie esder frühere Wirtschaftsminister einmal genannt hat, als„Ultissima Ratio“ vorstellen, dass beispielsweise innetzgebundenen Branchen ein Entflechtungsinstru-ment zur Anwendung kommt. Dieses werden wir entwi-ckeln.Politik ist aber nicht nur dafür da, faire Spielregelnaufzustellen, sondern auch richtige Anreize zu setzenund einen guten Nährboden für Wachstum zu bereiten.Die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzmarkt-krise hat tiefe Spuren hinterlassen. Der Koalitionsvertragstellt die Weichen für nachhaltiges Wachstum. Er setztauf nachhaltiges Wirtschaften für Wohlstand, neue Zu-kunftschancen durch Bildung, Innovation und sozialenZusammenhalt. Deswegen werden wir bereits morgenals erste Maßnahme ein Wachstumsbeschleunigungs-gesetz auf den Weg bringen.Neben den steuerlichen Entlastungen für Familienund Kinder werden wir vor allen Dingen die krisenver-schärfenden Elemente der Unternehmensteuerreformund der Erbschaftsteuerreform korrigieren, Dinge, aufdie wir Sie während der letzten Legislaturperiode auf-merksam gemacht haben, die Sie aber mit uns nicht ma-chen wollten. Wir machen das jetzt. Wir reagieren sofortund schnell; denn wir dürfen Unternehmen in dieser Kri-sensituation nicht in eine Existenzkrise bringen.
Zusammen mit dem Sofortprogramm und den bereits be-schlossenen Maßnahmen werden wir Familien, Beschäf-tigte und Unternehmen zum 1. Januar 2010 um rund22 Milliarden Euro entlasten. Das wird einen Schub ge-ben. Das wird dazu führen, dass es in Deutschland vo-rangeht. Das ist unser Ziel.Auch wenn die jüngsten Arbeitsmarktzahlen belegen,dass Deutschland im internationalen Vergleich in derKrise besser als andere dasteht, so sind wir dennoch indiesem Winter von den Folgen des Konjunktureinbruchsganz sicher betroffen. Umso wichtiger ist es, zusätzlicheBrücken zu bauen und zusätzliche Belastungen zu ver-meiden. Union und FDP werden dafür eine Stabilisie-rung der Lohnzusatzkosten bewirken. Wir wollen sielangfristig unter 40 Prozent halten. Wir werden auch dasInstrument der Kurzarbeit länger nutzbar machen. Wirkommen nur mit den Unternehmern und den Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern durch diese Krise undnicht ohne sie.
Unser wichtigstes Ziel bleibt: Deutschland muss soschnell wie möglich auf einen stabilen und nachhaltigenWachstumspfad zurückgebracht werden. Ohne Wachs-tum ist ein Schuldenabbau nicht möglich.
Neben einer Politik für Wachstum müssen wir uns aberauch mit dem Thema Sparen beschäftigen.
Was heißt denn eigentlich Sparen? Sparen heißt, Geld,das man hat, nicht auszugeben. Sparen in der Politikheißt leider, allenfalls weniger Schulden zu machen.
Deswegen müssen wir uns mit allen Ausgaben und mitallen Förder- und Subventionsprogrammen beschäftigenund sie vorbehaltlos auf den Prüfstand stellen.
Das sind wir kommenden und zukünftigen Generationenschuldig.
Eine Kürzung von Ausgaben ist möglich. Das solltenwir hinbekommen. Wir müssen gemeinsam daran arbei-ten.
Das gilt nebenbei nicht nur für den Bund. Das gilt auchfür die Länder. Das kann man am Beispiel meines Hei-matlandes, Stichwort Nürburgring, ganz wunderbar be-trachten.
– Sie wissen genau, dass es dort zu erheblichen Ver-schwendungen gekommen ist, Herr Heil. Darüber solltenSie sich informieren. Ansonsten schicke ich Ihnen ent-sprechende Presseartikel aus Rheinland-Pfalz zu.
Meine Damen und Herren, es ist möglich, diese Krisezu bewältigen.
Es ist möglich, aus ihr herauszukommen. Das müssenwir gemeinsam tun. Es zeigt sich, dass es Licht am Endedes Tunnels gibt. Ich weiß zwar, dass die Opposition denTunnel am liebsten verlängern würde. Aber wir werdendas nicht mitmachen. Wir sind die soziale und die wirt-
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Dr. Michael Fuchsschaftliche Kraft in diesem Lande. Wir werden das ge-meinsam schaffen.
Das Wort erhält nun die Kollegin Sahra Wagenknecht,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die briti-sche BBC hat dieser Tage eine sehr interessante Studieveröffentlicht. Im Rahmen dieser Studie wurden Men-schen aus 27 Ländern befragt. Ich denke, die Ergebnissedieser Studie sind außerordentlich bemerkenswert. Siebesagen nämlich, dass noch ganze 11 Prozent der Bevöl-kerung in diesen Ländern den Kapitalismus in derForm, wie wir ihn heute haben, für eine funktionierendeWirtschaftsordnung halten. 51 Prozent der Befragtenfordern eine stärkere Regulierung der Märkte.
Immerhin 23 Prozent meinen sogar, dass eine vollkom-men neue Wirtschaftsordnung geschaffen werden muss.Wenn man sich im Gegensatz dazu anhört, was HerrBrüderle hier vorgetragen hat, dann muss man sichschon fragen: Wo leben Sie denn eigentlich?
Irren mag ja menschlich sein. Aber wer an einer Politikfesthält, die ihre Unfähigkeit zur Lösung der ökonomi-schen Probleme in den letzten Jahren eindeutig unter Be-weis gestellt hat, der ist meines Erachtens kein Irrender.
Er ist entweder komplett lernunfähig oder von bestimm-ten Interessen gekauft.
Was wir seit 2008 erleben, ist die schwerste Welt-wirtschaftskrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahr-hunderts. Wer glaubt, es ginge irgendwann einfach soweiter wie vor 2008, der hat, denke ich, die Dimensiondieser Krise überhaupt nicht begriffen. Deutschland hatin den Jahren 2002 bis 2008 insgesamt Exportüber-schüsse in einer Größenordnung von 900 MilliardenEuro aufgehäuft. Dieser Exportirrsinn und die Hyperver-schuldung der amerikanischen Konsumenten sind zweiSeiten einer Medaille gewesen. Die vielzitierten Schrott-papiere in den Bankbilanzen, über die wir seit zwei Jah-ren reden, sind ein Ergebnis dieses Zusammenspiels.Das muss man doch begreifen.
Wer im Ernst glaubt, er könne einfach so weiterma-chen wie bisher, der möge uns doch schon einmal vor-sorglich erklären, wer die Verluste des nächsten Millio-nencrashs übernehmen soll: wieder der Steuerzahler aufKosten der Staatsverschuldung oder wer sonst?Was der deutschen Wirtschaft fehlt, sind, denke ich,nicht neue Exporterfolge, sondern das ist Nachfragehier im Land, in der Bundesrepublik Deutschland. DieseNachfrage fehlt nicht, weil die Menschen etwa keineLust zum Konsumieren hätten, sondern diese Nachfragefehlt, weil immer mehr Menschen nicht genug Geld imPortemonnaie haben, um sich die Dinge leisten zu kön-nen, die sie brauchen und die sie sich leisten könnenmöchten.Das ist das Ergebnis einer jahrelangen Politik desLohndumpings, einer jahrelangen Politik der Deregulie-rung, einer jahrelangen Politik der Privatisierung unddes Sozialraubs. Das ist das Ergebnis dieser Politik, dieschon unter Rot-Grün gemacht und unter der GroßenKoalition fortgesetzt wurde. Genau diese wahnwitzigePolitik wollen Sie jetzt weitermachen. Das ist eine Poli-tik, die Mehrheiten in diesem Lande ärmer gemacht hat,und es ist eine Politik, die die oberen Zehntausend inbeispielloser Weise bereichert hat.
Deutschland ist dank der Reformen der letzten Jahreschon längst ein Steuer-Eldorado für große Konzerneund Multimillionäre. Das Aufkommen aus der Erb-schaftsteuer ist lächerlich im internationalen Vergleich,und da erzählen Sie uns, weitere Steuergeschenke fürUnternehmer und Reiche würden die Konjunktur ankur-beln. Wenn das so stimmen würde, dann hätten wir inder Bundesrepublik seit der Jahrtausendwende den gran-diosesten Wirtschaftsboom der deutschen Nachkriegsge-schichte erleben müssen. Denn genau das, was Sie jetztvertreten, ist doch schon die ganze Zeit gemacht worden.
Also hören Sie bitte auf, solche Phrasen zu dreschen!Sie wollen die Regierung der Mitte sein, und Sie setzennahtlos eine Politik fort, in deren Folge die Mittel-schichten in der Bundesrepublik Jahr für Jahr ge-schrumpft sind. Sie wollen eine Koalition des Mittel-stands sein. Sie schauen aber zu, wie die Banken kleinenund mittleren Unternehmen den Kredithahn zudrehen.Alles, was Ihnen dazu einfällt, sind moralische Appelle –moralische Appelle wohlgemerkt genau an die Banken,bei denen Sie schon Milliarden an Steuergeld versenkthaben. Warum haben Sie sich für das verdammt vieleGeld nicht wenigstens ein Mindestmaß an Mitspracheund Einfluss gesichert?
Das betrifft durchaus nicht nur die Banken, die direktvom SoFFin gestützt werden. Auch die Deutsche Bankwäre doch längst bankrott, wenn der Steuerzahler in die-sem Land nicht mit Milliarden und Abermilliarden fürdie Rettung der IKB und vor allem für die Rettung derHypo Real Estate bluten würde und noch bluten wird. Esist doch unser aller Geld, mit dem diese Banker längstwieder auf internationalem Parkett zocken gehen. Es istunser aller Geld, mit dem Herr Ackermann schon wieder
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Sahra WagenknechtDividenden verteilt, statt sich um die Kreditversorgungder Wirtschaft zu kümmern.Repräsentanten eines Staates, die sich von Bankvor-ständen oder vom Management gewisser Automobilkon-zerne wie dumme Tanzbären am Nasenring durch dieManege ziehen lassen, entwürdigen die Demokratie.Dann dürfen Sie sich auch nicht wundern, wenn sich im-mer mehr Menschen von dieser Art von Politik angewi-dert abwenden.
Wir brauchen kein Weiter-so! Wir brauchen einen po-litischen Neuanfang und perspektivisch eine andereWirtschaftsordnung. Wir brauchen eine andere Wirt-schaftsordnung, weil dieser entfesselte Kapitalismus, dermit den Ideen der sozialen Marktwirtschaft längst nichtmehr das Geringste zu tun hat, eine kleine Schicht vonLeuten, nämlich die Besitzer großer Kapitalvermögen, inbeispielloser Weise gegenüber allen anderen Gruppender Gesellschaft privilegiert und zu einer Einkommens-verteilung führt, die die Einkommen genau bei denjeni-gen konzentriert, die sowieso schon viel zu viel haben.Das ist doch die eigentliche Ursache der bestehendenUngleichgewichte, die eigentliche Ursache der Krisenund die eigentliche Ursache des wirtschaftlichen Nieder-gangs.
Frau Kollegin!
Deswegen brauchen wir andere Formen wirtschaftli-
chen Eigentums. Wir brauchen eine radikale Umvertei-
lung der Einkommen und Vermögen von oben nach un-
ten. Nur wenn wir eine solche Einkommensverteilung
hinbekommen, werden wir perspektivisch aus dieser
Krise herauskommen.
Frau Kollegin Wagenknecht, das war Ihre erste Rede
im Deutschen Bundestag, zu der Ihnen das Präsidium
gleich einen Zuschlag auf die von der Fraktion gewährte
Redezeit eingeräumt hat. Ich wünsche Ihnen eine gute
Zeit und Zusammenarbeit hier im Deutschen Bundestag.
Wir wollen schauen, ob es bei künftigen eng bewirt-
schafteten Redezeiten ähnlich großzügig weitergeht.
Nun hat das Wort die Kollegin Kerstin Andreae für
die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Wirtschaftsminister Brüderle, als ich IhreRede gehört habe, fiel mir ein: So viel gestern war nochnie.
Wir erwarten von einem Wirtschaftsminister Schwung,Ideen, ein Leitbild und eine Vision. Wir brauchen Mutund Modernität. Nichts von alledem habe ich in IhrerRedezeit von knapp 9 Minuten gehört.
Wenn ich mir den Koalitionsvertrag und Ihre Redevor Augen führe, dann bleibt mir nur zu sagen: Sie ha-ben aus der Krise nichts gelernt. Sie vergeben dieChance zum Umsteuern. Es gibt keinen Aufbruch. Esgibt keine strukturelle Modernisierung. Wo stehen wirdenn heute? Es gibt eine Wirtschafts- und eine Klima-krise. Das alles spielt sich vor dem Hintergrund derKrise der öffentlichen Haushalte ab. Das heißt, klugeWirtschaftspolitik muss diese drei Krisen im Zusam-menhang sehen und sich Gedanken machen, wie manaus der Wirtschaftskrise herauskommt. Wirtschafts- undKlimakrise lassen sich nur gemeinsam lösen, Herr Wirt-schaftsminister.
Das heißt, ich muss mir Gedanken machen: Wo liegendie Märkte der Zukunft? Wohin geht es? Was braucht dieWirtschaft, um neue Produkte und neue Produktionspro-zesse zu entwickeln? Das sind die Energietechnologie,die Speichertechnik, die erneuerbaren Energien, dieNetze, die Mobilität, neue Mobilitätskonzepte. All diesmuss doch einmal in einem wirtschaftspolitischen Kon-zept von Ihnen entwickelt werden im Sinne von „Dageht es lang, da ist die Zukunft für unsere Wirtschaft undfür den Wirtschaftsstandort Deutschland“.
Ich will, dass Sie in der Lage sind, zu sagen: Wir nut-zen diese Umweltwirtschaft, wir rufen ein neues Grün-derzeitalter aus, wir rufen ein solares Zeitalter aus, wirerkennen, dass die Chance für unsere Wirtschaft im Be-reich der Umwelt- und der Effizienztechnologien liegt,wir rufen eine CO2-arme Wirtschaftsweise aus, wir legenFörderprogramme zur Wärmedämmung bei Altbautenauf, entwickeln neue Mobilitätskonzepte, stellen Wag-niskapital für innovative Unternehmen zur Verfügung.All dies muss ein Wirtschaftsminister bei seinem erstenAuftritt zu der Frage, wohin es die nächsten vier Jahregeht, skizzieren.
Sie sagen, Klimaschutz sei Ihnen wichtig. Auch inden Überschriften des Koalitionsvertrags taucht das auf.Wenn ich mir die Maßnahmen aber anschaue, dann mussich sagen: Das sind reine Lippenbekenntnisse. Das Erste,was Sie machen, ist, dass Sie das EEG stutzen.70 000 Arbeitsplätze hängen von der Solarwirtschaft ab.Das ist der Mittelstand, und es ist mittelstandsfeindlichePolitik, wenn Sie hier anfangen, zu stutzen, und diesemWirtschaftsbereich derartig das Wasser abgraben.
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Kerstin AndreaeStattdessen fordern Sie längere Laufzeiten für Atom-kraftwerke. Die Monopolkommission selber hat Ihnengesagt: Wenn Sie die Laufzeiten für die AKWs verlän-gern, behindern Sie den Wettbewerb auf dem Energie-markt. – Das sagte die Monopolkommission, die Sie,Herr Brüderle, in den letzten Jahren immer wieder zitierthaben. Das müssen Sie sich anhören, das müssen Sie le-sen, das müssen Sie verstehen.
– Lesen und Verstehen scheint ein Problem zu sein.Es gibt noch ein anderes Problem beim Lesen undVerstehen. Sie haben hier sehr vehement für Ihr neuesWachstumsbeschleunigungsgesetz geworben und ha-ben ernsthaft die Deutsche Bank zitiert, die Ihnen sagt– Sie loben auch noch Ihre eigene Politik –,
dieses Gesetz bringt 0,5 Prozent Wachstum. Was heißtdas? Sie nehmen 23 Milliarden Euro in die Hand, um0,5 Prozent Wachstum zu erzielen, wobei wir wissen,dass das ungefähr 3 Milliarden Euro Einnahmen gene-riert. Wo bleiben die restlichen 20 Milliarden Euro? Dasist unseriöse Politik, ungerechte Politik, es ist unver-schämt, uns hier so etwas zu verkaufen.
Herr Brüderle hat gesagt, die durch die Wirtschafts-krise sinkenden Steuereinnahmen dürften kein Argu-ment gegen Steuererleichterungen sein. Das sei haus-haltspolitisch zu verantworten. Ich bin sehr gespannt aufdie Diskussion zwischen Ihnen und Ihren Haushaltspoli-tikern und darauf, wie Sie dies haushaltspolitisch verant-worten wollen, ohne neue Schulden zu machen. Es wirdIhnen nichts anderes übrig bleiben, als neue Schulden zumachen. Das ist eine hochgradig generationenunge-rechte Politik. Sie denken überhaupt nicht mehr an zu-künftige Generationen. Das sind Lippenbekenntnissevon gestern. Wenn es um Steuersenkungen und Klientel-politik geht, ist der FDP jedes Argument recht.
Was ist die Folge von diesen Steuersenkungen? DieFolge wird vor allem die Kommunen treffen, die Städteund Gemeinden. Die schlagen schon jetzt Alarm. DieStädte und Gemeinden müssen nämlich Folgendes ma-chen: Sie müssen die Gebühren für ihre Einrichtungenerhöhen. Es wird ihnen gar nichts anderes übrig bleiben.Sie müssen Gebühren für die Kindergärten erhöhen, siewerden Schwimmbäder und Kultureinrichtungen teil-weise schließen müssen. Da bleibt nichts mehr von„mehr Netto vom Brutto“. Das ist „rechte Tasche, linkeTasche“, das ist schlicht ein Verschiebebahnhof zulastenvon denen, die auf diese Infrastruktur angewiesen sind.Das ist wirklich unseriöse Politik.
Sie sprechen von Wettbewerb, und Sie sprechen da-von, dass man wieder Ordnungspolitik im Land betrei-ben müsse. Im Wachstumsbeschleunigungsgesetz ist dieUmverteilung bei den Kindern vorgesehen: Erhöhungdes Kindergelds um 20 Euro, den Kinderfreibetrag set-zen Sie ebenfalls hoch, Hartz-IV-Empfänger erhalten garnichts. Warum sollen wir hier in diesem Hohen Haus, diewir Kinder haben und kindergeldberechtigt sind, in denGenuss von mehr Geld für unsere Kinder kommen, nichtaber die Hartz-IV-Empfänger? Ich bin gespannt, wie Siedas in Ihrer nächsten Bürgersprechstunde erklären wol-len. Das ist ungerecht.
Diese Politik müssen Sie ändern. Sie müssen das Gelddenen geben, die es wirklich brauchen, und nicht denen,die es nicht brauchen.
Ein besonderes Schmankerl ist die Sache mit denHotelübernachtungen. Herr Thiele – er steht jetzt ge-rade auf – und Herr Wissing, Sie beide saßen mit unszusammen in den Beratungen über die Mehrwertsteuer-regelungen im Rahmen des Steuervergünstigungsabbau-gesetzes. Sie haben immer gesagt: Das muss jetzt einfa-cher, gerechter und nachvollziehbarer werden. Jetztwollen Sie allen Ernstes, dass auf Hotelübernachtungenein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gezahlt wird. Sollman sich das Frühstück mitbringen, oder zahlt man fürdas Frühstück dann den vollen Mehrwertsteuersatz?Dies ist ein ordnungspolitischer Sündenfall. Das ist reineKlientelpolitik, nichts anderes.
Wenn wir schon bei Klientelpolitik sind: Der Ver-sandhandel bei Apotheken wird eingeschränkt; dasMehrbesitzverbot wird aufrechterhalten; Steuerberater-kosten sind wieder absetzbar. Bei den Dienstwagen le-gen Sie noch eins drauf. Das ist reine Klientelpolitik.Lobbyinteressen haben hier Vorrang. Teilweise wurdenForderungen der jeweiligen Verbände eins zu eins in denKoalitionsvertrag hineingeschrieben. Das ist peinlich.
Was ich von einem Wirtschaftsminister fordere undwas dieses Land braucht, sind eine Vision, sind Mut undIdeen. Wir brauchen Innovationen. Der Gründergeistmuss geweckt werden; Potenziale müssen ausgeschöpftwerden. Die Forschungsförderung – sie ist angesprochenworden – wird nur vage benannt. Jetzt hätte doch dieMöglichkeit bestanden, in die Vollen zu gehen. Hiermüssen Sie ansetzen, hier müssen Sie Geld ausgeben;
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Kerstin Andreaedenn das – nicht Steuergeschenke für alle – wirft Zu-kunftsrendite ab.Da wir gerade bei Innovationen sind, Stichwort„Frauen in Führungspositionen“: In Ihrem Koalitions-vertrag steht Folgendes:Die Ziele des Bundesgleichstellungsgesetzes unddes Bundesgremienbesetzungsgesetzes werden mitNachdruck verfolgt. Wir werden prüfen,
– der wievielte Prüfauftrag? –ob und inwieweit die Gesetze geändert und effekti-ver gestaltet werden müssen. Der Anteil von Frauenin Führungspositionen in der Wirtschaft und im öf-fentlichen Dienst soll maßgeblich erhöht werden.
Wenn ich mir die Ministerriege – die Ministerinnen-riege – und wenn ich mir vor allem die Bereiche Wirt-schaft, Finanzen und Haushalt anschaue, dann scheint esso zu sein, dass die Kompetenz von Frauen überhauptkeine Rolle mehr spielt.
Es gibt in der ersten und in der zweiten Führungsebenedieser Bereiche keine einzige Frau. Für Sie ist Gleich-stellung hier ein reines Lippenbekenntnis.
Das müssen Sie anerkennen. Wäre es nicht so, hätten Siees anders gemacht.Der Wirtschaftsminister stellt sich in der Glos’schenTradition hierhin und sagt: Das ist alles gar nicht soschlimm; es wird gerade wieder besser; die Anzeichendafür mehren sich. Ich möchte Ihnen wirklich mit aufden Weg geben, sich sehr genau anzuschauen, welcheAnzeichen sich gerade mehren. Die Anzeichen, dass dieKrise vorbei ist, mehren sich nämlich nicht. Hingegenmehren sich die Anzeichen, dass die Erholungssignaleüberschätzt werden. Wir wissen, dass vieles von dem,was wir jetzt spüren, teuer erkauft ist und uns am Endenoch teurer zu stehen kommen wird.Wir legen demnächst einen Vorschlag vor; ihn könnenSie sofort umsetzen. Wir haben ein großes Problem beiden kleinen und mittleren Unternehmen. Ihnen drohtteilweise die Insolvenz, weil sie in eine Liquiditäts-klemme geraten sind. Wir sagen Ihnen: Helfen Sie denkleinen und mittleren Unternehmen. Wir schlagen vor,dass der Staat die Sozialversicherungsbeiträge für dreiMonate vorfinanziert, günstig, unbürokratisch, um überdiese Lücke hinwegzuspringen. Dann kommen Sie ausder augenblicklichen Konzernlastigkeit des Staatsfondsheraus. Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärunggestern gesagt, sie wolle das einmal prüfen. Ich wieder-hole: Wir müssen von der Konzernlastigkeit des Staats-fonds wegkommen. Wir müssen verstärkt kleine undmittlere Unternehmen unterstützen. Dadurch kann1,5 Millionen Unternehmen tatsächlich etwas Gutes ge-tan werden. Diesen Vorschlag sollten Sie auf jeden Fallaufnehmen.
Ich komme zum Schluss. Ich muss wirklich sagen:Ich hätte mir von Ihnen viel mehr erwartet. Ich bin wirk-lich davon ausgegangen, dass hier heute Morgen einSzenario für die nächsten vier Jahre entwickelt wird.
Wir werden ein Konzept für einen wirtschaftspolitischenAufbruch entwickeln. Nichts von alldem, was wir erwar-tet haben, haben wir erfahren: keinen Mut, keine Moder-nität, keine Visionen, keine Ideen. Ich befürchte: Unsstehen vier verlorene Jahre bevor.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir steckennoch in der Krise, und die Bundeskanzlerin hat gesternin ihrer Regierungserklärung darauf hingewiesen: Jetztkommt es darauf an, alle Anstrengungen zu unterneh-men, um aus dieser Krise herauszukommen. Das ist ge-genwärtig die zentrale Aufgabe.Die Frage ist: Mit welcher Politik, mit welchen In-strumenten können wir die Krisenbewältigung be-schleunigen? Da gibt es im Prinzip nur drei Alternativen:Entweder sparen Sie sich aus der Krise. Das war nochnie ein erfolgreiches Konzept. Das ist ja seinerzeit unterBrüning versucht worden und hat die Weltwirtschafts-krise erst richtig beschleunigt.Oder Sie versuchen, die Staatshaushalte über Abga-ben- und Steuererhöhungen zu sanieren. Dann belastenSie genau die Menschen, auf die es ankommt, um ausder Krise herauszukommen.Dann gibt es die dritte Strategie, die wir verfolgen,nämlich die Leistungsträger in der Gesellschaft, die Ar-beitnehmer, die kleinen und mittleren Unternehmen, zuentlasten, um ihre Leistungskraft anzuspornen, und da-durch Wachstumsimpulse auszulösen und aufgrund die-ses Wachstums mehr Beschäftigung zu erzielen. MehrBeschäftigung führt auch nachhaltig wieder zu einer
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Dr. Hermann Otto SolmsStabilisierung der Staatseinnahmen. Nur so kann eine er-folgreiche Strategie aussehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neue Koalitionhat in absoluter Rekordzeit, nämlich sechs Wochen nachder Bundestagswahl – so kurze Zeit ist das ja erst her –,ein Gesetz vorgelegt, das morgen in diesem Hause bera-ten wird, nämlich ein Wachstumsbeschleunigungs-gesetz, das
genau diese Strategie umsetzt. Es wird noch in diesemJahr realisiert und zum 1. Januar des nächsten Jahres inKraft gesetzt. Schneller geht es ja überhaupt nicht.
Damit werden Steuerentlastungen in Höhe von weit über20 Milliarden Euro freigegeben, damit die Bürger mehrkonsumieren, mehr investieren, mehr forschen und ent-wickeln und mehr auf neue Technologien setzen. Wir ge-ben ihnen also mehr finanzielle Freiheiten, um Wachs-tum zu finanzieren.
Das geht nur mit den Bürgern, nicht gegen die Bürger.
Sie müssen immer den Menschen in den Mittelpunkt derPolitik stellen, nicht den Staat, nicht den Haushalt. Aufdie Menschen kommt es an. Das vergessen Sie immer.
Dann wird von Ihnen ja immer bestritten, dass diesePolitik funktionieren könnte. Die Laffer-Kurve funktio-niert.
Wenn Sie es schon anderen nicht glauben und der Wis-senschaft nicht glauben, möchte ich Sie doch fragen:Warum haben Sie so wenig Vertrauen in Ihre eigenePolitik? Erinnern Sie sich: In der ersten Hälfte des Jahr-zehnts haben Sie von Rot-Grün eine Steuerreform durch-geführt,
der auch der jetzige Bundeswirtschaftsminister RainerBrüderle als Vertreter von Rheinland-Pfalz im Bundesratzugestimmt hat und die damit eine Mehrheit bekommenhat.
Diese Steuerreform – Hans Eichel war damals Finanz-minister – hat zwei Jahre später zu einer enormenWachstumsbeschleunigung und zu einer deutlichen Stei-gerung der Staatseinnahmen geführt.
Hier in Deutschland hat vor wenigen Jahren genau die-ses Konzept funktioniert. Warum soll es heute nichtfunktionieren? Erinnern Sie sich an Ihre eigene Politik,anstatt uns Vorwürfe zu machen!
Meine Damen und Herren, ich habe leider so wenigZeit, dass ich jetzt keine Grundsatzrede halten kann.
Ich will nur sagen: Bei der Wirtschaftspolitik der neuenKoalition und der neuen Regierung wird es darauf an-kommen, dass wir das Verhältnis von Staat zu Markt undvon Markt zu Staat, also zwischen Privat und Staat, wie-der ordentlich regeln. Der Staat hat zwar die Aufgabe,Regeln zu setzen, die Einhaltung der Regeln zu überwa-chen, für fairen Wettbewerb zu sorgen und Machtmiss-brauch auf den Märkten zu verhindern, darf aber nichtselbst in den Markt eingreifen. Der Staat ist nicht Mit-spieler, er ist Schiedsrichter. Er hat die Aufgabe der Re-gelsetzung. Der freie Wettbewerb muss dafür sorgen,dass bessere Leistungen entstehen.Dafür, dass sich die Wirtschaftssubjekte entfaltenkönnen und ihre Kreativität einsetzen können, um mehrLeistung und bessere Ergebnisse zu erzielen, ist es abernotwendig, dass sie auf dem Markt die entsprechendeFreiheit haben. Dies müssen wir beherzigen und bei-spielsweise die Fehlregulierung der Finanzmärkte korri-gieren. Wenn wir schon früher die Finanzmärkte besserkontrolliert, die Finanzaufsicht bei der Bundesbank kon-zentriert und für höhere Professionalisierung bei derFinanz- und Bankenaufsicht gesorgt hätten – ich erinneredaran: Das haben wir, der verstorbene Kollege GünterRexrodt und ich, schon im Jahr 2000 angemahnt –,
dann wäre es jedenfalls nicht in dem Ausmaß, in demwir es nun erleben, zu diesem Schlamassel gekommen.Aufgabe ist jetzt, diese Regulierung nachzuholen unddafür zu sorgen, dass sich die Moral beim Managementändert. Wir haben immer gesagt: Wer an Erfolgen teilha-ben will, muss auch für die Misserfolge mithaften. Wennwir nach diesem Prinzip handeln würden, indem wirzum Beispiel Malusregelungen in den Verträgen des Ma-nagements einführen würden, dann würden solche Pro-bleme nicht entstehen; dann würden die Manager einsolches Risiko nicht eingehen.
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Dr. Hermann Otto Solms
Vor liegt uns liegt eine große Aufgabe. Wir wollenschnell aus der Krise herauskommen. Wir sind ent-schlossen, das kompetent und vernünftig anzugehen. Ichbin zuversichtlich, dass es in vier Jahren in Deutschlandsehr viel besser aussehen wird.Vielen Dank.
Die Kollegin Ulla Lötzer ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Herr Brüderle! Kolleginnen und Kol-legen! Auch Ihre Vereinbarung zur Außenwirtschafts-politik macht nur eines deutlich: Sie haben nichts, aberauch gar nichts aus dieser Krise gelernt. Erklärtes Zielsind lediglich die Sicherung des Zugangs deutscher Un-ternehmen zu ausländischen Märkten, die Verdrängungausländischer Unternehmen und die Sicherung der Roh-stoffe. Wie im Hamsterrad treiben Sie die Konkurrenzder Regierungen um den Abbau sozialer und ökologi-scher Standards sowie um Steuererleichterungen für In-vestoren und große Konzerne voran.Skandalös sind die Exportförderung für Atomkraft-werke durch Hermesbürgschaften und die Erleichterungvon Rüstungsexporten.
Auch Ihre Außenwirtschaftspolitik ist Marktradikalis-mus statt sozialer Marktwirtschaft. Sie bedeutet Militari-sierung von Außenwirtschaftspolitik statt friedlicherAußenwirtschaftspolitik. Wir brauchen ein Verbot vonRüstungsexporten.
Wir brauchen fairen Handel statt marktradikalen Frei-handel. Wir müssen verbindliche soziale und ökologi-sche Standards für weltweit agierende Konzerne schaf-fen, statt ihnen die Welt zu Füßen zu legen.Herr Brüderle, Sie haben bei Ihrem Amtsantritt ge-scherzt, Sie wünschten sich, Ihr Vorgänger hätte Opelschon abgewickelt. Die Beschäftigten und ihre Familienkonnten über diesen Scherz nicht lachen.
Ihre Rede zeigt: Sie machen ernst damit. Die Abwick-lung ist die Maxime Ihrer Regierungspolitik, nicht dieSicherung der Standorte und der Arbeitsplätze. Das ha-ben die Opel-Beschäftigten und ihre Familien sowie dieZulieferer von Opel nicht verdient.
Sie setzen den Fehler fort, sich nicht mit den europäi-schen Partnern abzustimmen. Wir haben früh eine euro-päische Lösung gefordert. Die Bundesregierung hielt esfür besser, in Wildwestmanier vorzupreschen. Jetzt fälltdie Standortkonkurrenz auf Deutschland zurück. GMspielt die europäischen Regierungen gegeneinander aus.Verlierer sind alle außer GM. Deshalb wird es Zeit, end-lich ein europäisch abgestimmtes Vorgehen zu realisie-ren.
Ihr zentraler Fehler ist, dass Sie sich als Gegenleis-tung für die Staatshilfen keine Beteiligung und Mitspra-cherechte sichern. Wer freiwillig auf Mitspracherechteverzichtet, darf sich nicht beschweren, wenn er am Endenicht gefragt wird. Jetzt zu klagen, der böse KapitalistGM habe die Regierung an der Nase herumgeführt, istalbern. Damit kaschieren Sie nur Ihr eigenes Versagen.
Frau Merkel hat gestern signalisiert, es könne weitereStaatshilfen für GM geben. Aber auch in diesem Punkthaben Sie nicht gelernt. Nach wie vor wollen Sie auf Ge-genleistungen völlig verzichten. Wir fordern Sie auf,endlich Konsequenzen zu ziehen und sich für eine Betei-ligung des Bundes und der Länder sowie für Mitsprache-rechte einzusetzen.
Das würde übrigens auch Frau Kroes, der EU-Wettbe-werbskommissarin, den Wind aus den Segeln nehmen.Als Eigentümerin kann die öffentliche Hand die Unter-nehmensstrategie mitbestimmen. Die Beteiligung mussdazu genutzt werden, den Erhalt aller Standorte und denAusschluss betriebsbedingter Kündigungen durchzuset-zen. Die Zukunft der Arbeitsplätze hängt an zukunftsfä-higen Konzepten für Technologie und Mobilität. Sie ha-ben zwar davon geredet, aber nur in Form einerLuftblase. Sie müssen industriepolitisch handeln – nichtnur GM. Aber das wollen Sie nicht; das verweigern Sienach wie vor wie Ihr Vorgänger Baron zu Guttenberg.Legen Sie doch endlich die ideologischen Scheuklappenab, und machen Sie Wirtschaftspolitik statt Ideologiepo-litik!Das Mutterland des Turbokapitalismus, die USA, istMehrheitseigner an GM. Warum lernen Sie nicht endlichdaraus? Dann können Sie auch mit der amerikanischenRegierung endlich auf Augenhöhe Verhandlungen überdie Zukunft der Arbeitsplätze beginnen.
Ich fordere Sie hier noch einmal eindringlich auf: Re-den Sie mit den europäischen Regierungen! Holen Siedie Betriebsräte und die Gewerkschaften der europäi-schen Standorte mit den betreffenden Regierungen an ei-nen Tisch, und beginnen Sie selber unverzüglich Ver-handlungen mit GM über den Erhalt der Arbeitsplätzefür die Standorte in ganz Europa und auch in Deutsch-land! Sichern Sie Arbeitsplätze, statt Lohnverzicht undMassenentlassungen in diesem Bereich zu betreiben!Ich danke Ihnen.
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Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechenheute darüber, wie man Wachstum erreichen und be-schleunigen kann und wie wir Deutschland schnell undgestärkt aus der Krise herausbringen können.Die Union, die neue Bundesregierung und die Koali-tion der Mitte haben hier einen klaren ordnungspoliti-schen Kompass und ein Koordinatensystem, in dem wiragieren und in dem wir klare Prioritäten setzen. Es gilt,die Kraft der Freiheit zu aktivieren und zu nutzen. Leis-tung muss sich wieder lohnen. Es geht nicht darum, um-zuverteilen
und Neiddiskussionen auf das Tapet zu bringen. Wir ha-ben schon heute die Situation, dass 10 Prozent der Ein-kommensteuerzahler mehr als 50 Prozent der Einnah-men aus dieser Steuer aufbringen. Wohin eine reineUmverteilung führt, können wir an 40 Jahren DDR se-hen. Dahin wollen wir mit Sicherheit nicht zurück. Wirwollen das Gegenteil.
Wir wollen die Weichen auf Wachstum stellen und dierichtigen Anreize setzen, damit der Motivationsmotorbei Arbeitnehmern und bei Unternehmen gleichermaßenangekurbelt wird. Dafür brauchen wir das Rad nicht neuzu erfinden. Wir brauchen dafür auch keine Revolution.Wir müssen an vielen kleinen Stellschrauben drehen, da-mit sie sich in ihrer Wirkung addieren und die Wachs-tumsbremsen dadurch gelöst werden. Dann geht es in dierichtige Richtung voran.Wir werden zum 1. Januar nächsten Jahres Entlas-tungen in einem Volumen von 22 Milliarden Euro aufden Weg bringen. Schon die Große Koalition hatte mitdem Bürgerentlastungsprogramm und den Konjunktur-paketen Entlastungen in Höhe von 14 Milliarden Eurobeschlossen. Das war richtig, und das ist auch heutenoch richtig. Wir legen zum 1. Januar aber noch zusätz-lich 8,5 Milliarden Euro drauf, wodurch das Wachstumweiter beschleunigt wird.Neben dem Lösen der Wachstumsbremsen gilt es aberauch, die Lehren aus der Krise zu ziehen. Was da pas-siert ist, darf sich weder weltweit noch hier in Deutsch-land wiederholen.
Wir werden – das hat die Bundeskanzlerin gestern ange-sprochen – hart dafür arbeiten, dass international die Re-gelungen getroffen werden, die dafür sorgen, dass Fi-nanzmärkte und Finanzprodukte so reguliert werden,dass sich diese Krise nicht wiederholen kann.
Es wird ein schwerer Weg. Aber wir werden diesen Wegkonsequent gehen. Wir sind sicher, dass wir im End-ergebnis Erfolg haben werden.Aber nicht nur international, sondern auch nationalmüssen wir die entsprechenden Weichenstellungen vor-nehmen. Hier gibt es ein Auseinanderklaffen von Mög-lichkeiten und Verantwortung, von Gewinnchancen undRisiko. Persönliche Haftung und Gewinn müssen zu-sammenpassen. Für mittelständische Unternehmen, ei-gentümergeführte Unternehmen und Handwerker warund ist dies nie ein Thema. Die Balance ist dort gegeben.Diese Balance ist der Kern der sozialen Marktwirtschaft,wie sie Ludwig Erhard beschrieben hat und die das Er-folgsmodell der Bundesrepublik Deutschland war undist.Dort, wo es Schwierigkeiten und Fehlsteuerungengibt, wo diese Dinge auseinanderklaffen, wo Vergü-tungssysteme bzw. Boni ins Uferlose wachsen undkeine persönliche Haftung mehr vorhanden ist, nämlichbei Kapitalgesellschaften, erwarten wir Änderungen. Zu-nächst erwarten wir, dass die Wirtschaft selbst handeltund ihre Lehren aus den Ereignissen zieht. Der Vor-schlag, den beispielsweise BMW in den letzten Wochengemacht hat – es soll eine neue Gehaltsregelung einge-führt werden; Gehälter des Topmanagements sollennicht stärker steigen als die von Bandmitarbeitern –, gehtin die richtige Richtung und ist ein richtiges Signal.Wir von der Union setzen darauf, dass die Wirtschaftihre Hausaufgaben erledigt. Wir sagen klar: Mit Aussit-zen wird man nicht durchkommen. Wenn diese Hausauf-gaben nicht erledigt werden, dann wird die Politik han-deln müssen.
Die neue Regierung wird die Wachstumsbremsen lö-sen, damit die Konjunktur wieder Fahrt aufnimmt undwir gestärkt aus der Krise hervorgehen. Herr Heil, Siehaben vorhin viele Dinge angesprochen, die in diesemZusammenhang notwendig sind. Wir waren in den letz-ten vier Jahren leider nicht in der Lage, die Dinge, dienotwendig waren, gemeinsam mit Ihnen anzugehen.Dies betrifft den Mittelstandsbereich, den Bürokratieab-bau, den Steuerbereich – ich nenne einmal die GWG-So-fortabschreibung – und das Potenzial, Haushalte als Ar-beitgeber zu erschließen. Hier gäbe es viele neueMöglichkeiten. Dem haben Sie sich verweigert. Auch imBereich der Gründungsfinanzierungen war eine Total-verweigerung festzustellen.Deshalb werden und müssen wir jetzt all die Dinge,die mit Ihnen nicht möglich waren, zusammen mit derFDP in den nächsten vier Jahren – wir beginnen mit demWachstumsbeschleunigungsgesetz – umsetzen. Ich musssagen: Sie vergießen heute reichlich Krokodilstränen,wenn Sie Dinge anmahnen, die Sie vor drei Monatennoch selber abgelehnt haben.
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Dr. Joachim PfeifferWir werden den Mittelstand stärken. Wir werden denInnovationsmotor durch zusätzliche Impulse für kleineund mittelständische Unternehmen anwerfen, indem wirbeispielsweise die steuerliche Förderung von Forschungund Entwicklung einführen werden. Wir werden denWettbewerb weiter stärken. Es gilt, das Kartellamt imGesetzgebungsverfahren weiter zu stärken. Wir werdendas GWB erneut überprüfen. Wir werden bestehendeUngleichbehandlungen – ich nenne den Postbereich –schleunigst beseitigen, damit auch hier Wachstumsbrem-sen gelöst werden und neue Arbeitsplätze entstehen kön-nen.Wir werden Wettbewerbsgleichheit auch dort herstel-len, wo sie heute noch nicht besteht, beispielsweise imWettstreit zwischen Kommunen und privaten Anbietern,was die Umsatzsteuer anbelangt. Nur dadurch, dass wirden Wettbewerb fördern, werden wir Wachstumsbrem-sen lösen und die Dinge nach vorne bringen.Wir werden Genehmigungsverfahren weiter beschleu-nigen und Bürokratie abbauen. Wir werden – auch dieswar mit der SPD nicht möglich – Planungs- und Inves-titionssicherheit herstellen. Es ist das höchste Gut in derRepublik, dass die Menschen und die Unternehmen da-rauf vertrauen können, dass Investitionen, die sie nachgeltender Gesetzeslage tätigen, auch sicher sind. Dieshaben Sie verhindert, indem wir den Anlagenbegriff beiBiogasanlagen nachträglich geändert haben.
– Genau Sie waren es, Herr Kelber, der das verhinderthat. Wir werden dies jetzt korrigieren und Planungs- undInvestitionssicherheit wiederherstellen.
Die Leute sollen sich, wenn sie Investitionen tätigen,wieder darauf verlassen können, dass das, was heute gilt,auch noch in vier Jahren gilt.Wir werden – das ist auch angesprochen worden –jetzt eine Energiepolitik aus einem Guss machen, wiees Herr Brüderle angekündigt hat, eine technologieof-fene, markorientierte und ideologiefreie Energiepolitik.
Eine solche Politik habe ich vermisst, Frau Andreae. Insieben Jahren Rot-Grün gab es kein Energieprogramm;auch in den letzten vier Jahren ist es nicht gelungen, einEnergieprogramm auf den Weg zu bringen.
Wir haben dies mit dem Energiegipfelprozess eingelei-tet.
– In der Tat. Aber da war es dann so: Als die Fakten aufdem Tisch lagen, verweigerte man sich und war nicht be-reit, die notwendigen Schlüsse zu ziehen.
Wir werden jetzt ein Energieprogramm vorlegen, dasdeutlich macht, wie wir die internationalen Herausforde-rungen angehen werden. Wir sind viele Verpflichtungenim europäischen und weltweiten Kontext eingegangen;dies zeigen jetzt auch die Verhandlungen über das Kioto-Nachfolgeabkommen in Kopenhagen. Die internationa-len Verpflichtungen, die wir eingehen, und die nationa-len Ziele, die wir uns gesetzt haben, um das Abkommenumzusetzen, das Integrierte Klima- und Energiepaket,der Ausbau der erneuerbaren Energien, die Verdoppe-lung der Energieeffizienz und andere Dinge mehr, müs-sen in unser Programm einfließen.Daraus werden wir rational, an den Zahlen und Fak-ten orientiert, ableiten, wie sich der Energiemix entwi-ckeln wird, und dann werden wir langfristig erreichen,dass die erneuerbaren Energien in einem dynamischenEnergiemix den Hauptanteil übernehmen. Wir haben dasZiel, im Strombereich 30 Prozent bis 2020 zu erreichen;daran halten wir fest. Vielleicht werden wir sogar mehrerreichen. Aber 30 Prozent sind eben 30 Prozent;70 Prozent müssen auch noch irgendwo anders herkom-men.Da diese 70 Prozent nicht vom Himmel fallen, sagenwir ganz klar: Dieses Energiekonzept wird dann denWeg weisen, wie lange wir die Kernkraft als Brücken-technologie brauchen. Dieses Energiekonzept wird denWeg weisen, wie lange wir moderne, effiziente Kohle-kraftwerke in Deutschland brauchen. Dies wird uns dannauch den Weg bei der Laufzeitverlängerung weisen. DieLaufzeitverlängerung ist kein Wert an sich, sondernmuss in das energiepolitische Gesamtkonzept eingebet-tet sein. Wir werden dafür sorgen, dass die höchsten Si-cherheitsstandards, die es in Deutschland und weltweitgibt, zur Anwendung kommen. Anhand dieser Sicher-heitsstandards werden die Laufzeiten der Anlagen dannverlängert werden.Wir werden dafür sorgen, dass der volkswirtschaftli-che Nutzen, den diese Laufzeitverlängerung bringt, nichtnur als ein betriebswirtschaftlicher Nutzen bei den viergroßen Energieunternehmen bleiben wird. Wir werdendie damit volkswirtschaftlich frei werdenden Mittel fürdie Verbesserung der Energieeffizienz, für Forschungund Entwicklung im Energiebereich, für die Speicher-technologie, für die Netzintegration und andere Dingeeinsetzen, wodurch wir die Dynamik des Energiemixesstärker entfalten werden, als es heute möglich ist. Sowird ein Schuh daraus: Erneuerbare Energien und Kern-energie sind kein Widerspruch; sie sind zwei Seiten der-selben Medaille.
Wir werden auch dafür sorgen, dass diese Laufzeit-verlängerung oder die Rücknahme der willkürlich ver-kürzten Laufzeiten
die Wettbewerbsverhältnisse nicht weiter zementiertoder gar den Wettbewerb weiter stört. Wir werden dafür
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Dr. Joachim Pfeiffersorgen, dass dies mindestens wettbewerbsneutral statt-finden oder der Wettbewerb dadurch verstärkt werdenwird. Dafür gibt es Mittel und Instrumente.
Außerdem werden wir dafür sorgen, dass diese Lauf-zeitverlängerung dazu führt, dass der Verbraucher, derIndustriestandort Deutschland, die energieintensivenUnternehmen und auch der Haushalt etwas davon haben.Es geht also nicht nur um einen zukunftsfähigen Ener-giemix, sondern auch um Entlastung und Erleichterung,wodurch Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen wer-den wird.Wenn wir die Wachstumsbremsen in allen Berei-chen lösen, dann wird ein Schuh daraus. Dann haben wirdie Möglichkeit, dass diese Maßnahmen wirken. Wirlassen sie uns auch nicht zerreden. Wir werden hier aneinem Strang ziehen, und dann wird sich das Wachstumin Deutschland
mit ordnungspolitisch klaren Linien beschleunigen. Wirwerden dann so gut unterwegs sein, dass wir die Chancehaben, nicht nur aus der Krise gestärkt hervorzugehen,sondern in vier Jahren, am Ende dieser Wahlperiode,auch wieder vor dieses Haus treten und sagen zu können,dass unsere Maßnahmen gewirkt haben und dass esDeutschland nach vier Jahren einer Koalition der Mitteaus Union und FDP besser geht, als es 2009 der Fall war.In diesem Sinne werden wir arbeiten, und dann werdendie Fakten für uns sprechen.Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Themenkomplex ist der
Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Alsletzter Redner in einer solchen Debatte hat man die Ge-legenheit, ein Resümee zu ziehen. Ich finde es bemer-kenswert, dass der einzige Redner der SPD alle Instru-mente zur Krisenbewältigung für seine Partei reklamiertund gesagt hat: Wir sind die Einzigen, die es können.
– Herr Heil, abgesehen davon, dass ich das für ausge-sprochen gefährlich halte – ganz so lapidar ist dieseKrise und ihre Bewältigung nicht –: Die Wählerinnenund Wähler haben das in einer klaren Mehrheit ganz an-ders gesehen und gesagt: Diejenigen, die uns aus dieserKrise führen können, sitzen auf der rechten Seite desHauses. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
Zu Ihrem Beitrag zu diesem Wahlergebnis wurde dasNotwendige vom Vorredner bereits gesagt.Ich will nichts zu dem sagen, was uns hier von derLinken wieder einmal präsentiert wurde. Ich glaube, das,was wir im Wahlkampf gesehen haben, war selbstre-dend. Vorne am Baum hing ein Plakat mit der Aufschrift„Reichtum für alle“, hinten am Baum ein Plakat mit derAufschrift „Reichtum besteuern“. Ja, was denn nun, wiehätten Sie es denn gerne?
Ich glaube, dass ein Teil Deutschlands 40 Jahre Ihressogenannten Reichtums, nämlich den in der DDR, erlebthat und dass er jetzt genug davon hat.Frau Andreae, die Grünen sprechen von Visionen. Ichgebe Ihnen Recht: Visionen sind wichtig. Aber wennman nur Visionen hat, dann wird es grenzwertig.
Ich sage Ihnen auch: Sie sind in der Umsetzung unglaub-lich schwach. Ich werde diese Aussage gleich unterle-gen. Sie hätten uns gerne erzählen können, wie es mitden Mitteln für das CO2-Gebäudesanierungspro-gramm zu Ihrer Regierungszeit bestellt war, wie dasMarktanreizprogramm zu Ihrer Regierungszeit finanziellausgestattet war.
Wenn Sie das mit dem vergleichen, was wir in der letz-ten Legislaturperiode gemeinsam mit der SPD gemachthaben und was wir in dieser Legislaturperiode im Hin-blick auf die Finanzkrise in diesem Bereich tun werden,dann werden Sie feststellen, dass Sie nur einen ganzkleinen Beitrag geleistet haben.
Bei dem, was wir zum Thema Energiepolitik im Rah-men dieser Debatte gehört haben, fand ich eine Einlas-sung bemerkenswert, die zwar ehrlich, aber auch be-denklich ist. Vonseiten der Kernenergiegegner heißt es:Wir müssen konventionelle Energieformen – sprichKohle und Kernenergie – verhindern, sie müssen weg,damit Platz für die erneuerbaren Energien geschaffenwerden kann.Wir sehen das anders. Wir haben sehr viel Vertrauenin das, was sich im Bereich der erneuerbaren Energienentwickelt.
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Dr. Georg Nüßlein
Wir wissen, dass sie sich am Markt entwickeln können.Wir sind – wie es der Kollege Pfeiffer vorhin formulierthat – aber überzeugt, dass Kernenergie und erneuerbareEnergie zwei Seiten einer Medaille sind.
Ich weiß, dass es Sie ärgert, dass es Ihnen nicht gelin-gen wird, uns in die Richtung der Kernenergielobby zudrängen.
Sie tun so, als ob wir diejenigen wären, die glauben, al-lein mit Kernenergie könnte man das Energieproblem lö-sen.
Das wird Ihnen nicht gelingen, weil wir im Koalitions-vertrag klar definiert haben, dass wir einen dynamischenEnergiemix wollen,
bei dem die erneuerbaren Energien aufwachsen und diekonventionellen Energien auch im Hinblick auf dasThema Klimaschutz sukzessive ersetzen.
Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich klar unterstrei-chen, weil hier fälschlicherweise behauptet wurde, wirwürden an der Förderung der erneuerbaren EnergienGravierendes ändern: Wir stehen zum Erneuerbare-Energien-Gesetz, das übrigens nicht Rot-Grün erfundenhat, sondern das auf dem Stromeinspeisegesetz vonHelmut Kohl basiert. Das muss man doch einmal deut-lich sagen.
– Wir haben nicht dagegen gestimmt. Wir haben gegenIhre Ausgestaltungsmaßnahmen gestimmt, weil sie Un-schärfen und Unklarheiten enthalten haben.Wir stehen ganz klar dafür, die erneuerbaren Energienauszubauen. Wir werden im Bereich der Energiefor-schung dafür sorgen, dass alternative Energien und indiesem Zusammenhang auch die Speichermöglichkeitenim Zentrum stehen. Wenn Sie sich den Entwurf desWachstumsbeschleunigungsgesetzes angeschaut haben,wissen Sie, dass die erneuerbaren Energien in diesemersten Gesetz der neuen Koalition eine Rolle spielen.Wir werden uns damit beschäftigen, was man im Be-reich der Kraftstoffe tun kann. Man muss sicher darüberdiskutieren, ob das, was wir uns in steuerlicher Hinsichtvorstellen, letztendlich wirklich zum Ziel führt. Darüberwerden wir im Rahmen der Beratungen dieses Gesetz-entwurfs sicher sprechen.
Außerdem beseitigen wir einen klaren Verstoß gegendas Rückwirkungsverbot im Bereich modular aufgebau-ter Biogasanlagen. Warum tun wir das? Weil wir wis-sen, dass wir im Bereich der erneuerbaren Energien In-vestoren brauchen. Darum muss man seitens des StaatesVerlässlichkeit bieten. Das ist ganz entscheidend.
Wir werden das, was damals ein Herzensanliegen derSPD war, beseitigen, damit deutlich wird: Wir, die neueKoalition, stehen für Verlässlichkeit auch im Bereich derFörderung erneuerbarer Energien.
Nun habe ich wieder die üblichen Ressentiments ge-genüber der Kohle vernommen. Ich bin der Auffassung,dass die Kohlevorkommen dieser Welt energetisch ver-wertet werden sollten. Die Frage wird sein, mit welcherTechnologie und in welchem Zeitraum. Entscheidend ist,dass wir einen Beitrag dazu leisten, dass dies mit hoherEffizienz geschieht. Deshalb werden wir uns vorrangigmit dem Thema CCS beschäftigen müssen, aber auchmit der Frage, was im Bereich des internationalen Emis-sionshandels geschieht.
Herr Kollege Nüßlein, ich möchte Sie fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Kelber gestatten.
Gerne.
Das ist eine andere Debatte.Vielen Dank für die Möglichkeit, Herr KollegeNüßlein. – Sie und der Kollege Pfeiffer haben gerade diegleiche Behauptung aufgestellt. Dazu habe ich eineFrage: Können Sie mir, dem Plenum und der Öffentlich-keit, natürlich in umgekehrter Reihenfolge, bestätigen,dass das Thema Biogasanlagen, das Sie beide herausge-
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Ulrich Kelberstellt haben, auf einen Wunsch des Bundesrates zurück-geht – genauer gesagt: der CSU-geführten Landesregie-rung Bayern und der CDU-geführten LandesregierungBaden-Württemberg – und mit den Stimmen von HerrnDr. Pfeiffer und Ihnen beschlossen wurde, dass Sie inder Debatte über das Erneuerbare-Energien-Gesetz kei-nen Wunsch zur Änderung dieser Regelung formulierthaben, dass es danach ein Urteil des Bundesverfassungs-gerichts gegeben hat, nach dem es keine rückwirkendeÄnderung ist, und dass das, was Sie machen, kein Schutzvon Investoren ist, sondern der Schutz von zwei großenFinanzfonds, an die Bürgerinnen und Bürger ansonstenRückforderungsansprüche stellen könnten?
Lieber Herr Kollege Kelber, ich weiß nicht, in wel-cher Reihenfolge ich Ihnen das nun bestätigen soll: erstIhnen und dann der Öffentlichkeit?
Wie auch immer, ich kann Ihnen an dieser Stelle einessagen: Sie wissen genau, wie die Verhandlungen damalsgelaufen sind, wo unsere Interessen beim Thema „För-derung der erneuerbaren Energien“ lagen und dass wir inder Koalition letztendlich gesagt haben: Wir hätten esgerne, dass das Thema Fotovoltaik mit etwas mehr Vor-sicht und Marktbezug geregelt wird.
– Lassen Sie mich die Frage so beantworten, wie ich siebeantworten möchte, Herr Trittin.
Dann wären wir im Bereich der Fotovoltaik jetzt nicht ineiner so schwierigen Situation, wie es im Moment derFall ist. Ich weiß, dass das an Dingen wie der Finanz-krise liegt, die man vielleicht nicht hat vorhersehen kön-nen. Jeder hat seine Anliegen in diese Diskussion einge-bracht. Ich erinnere mich daran, dass die SPD einInteresse daran hatte, bezüglich Penkun so zu entschei-den.Letztendlich kann man lange über die juristischeFrage, ob das eine echte oder unechte Rückwirkung ist,diskutieren. Ich habe schon damals gesagt: Das, was wirda gemacht haben, erscheint im Nachhinein ausgespro-chen fragwürdig.
Ich gebe zu, dass wir das gemeinsam gemacht haben.Sonst hätten Sie wieder gesagt, wir stimmten dem EEG,das richtungsweisend sei, nicht zu. Ich habe nur einenkleinen Teil herausgegriffen, um deutlich zu machen:Wir stehen für Verlässlichkeit im Bereich der erneuerba-ren Energien und auch für Investorenschutz.
Da ist eine, wenn auch kleine, Maßnahme; aber wir wer-den das entsprechend fortsetzen.
Ich möchte an dieser Stelle unsere Position zumThema Kernenergie noch einmal ganz klar herausarbei-ten.
– Ich bin kein Kernenergiefan, aber ich sage Ihnen deut-lich: Wir brauchen die Kernenergie als Brücke in einenEnergiemix, den wir heute noch nicht kennen.
Den kennen auch Sie noch nicht. Wer weiß denn, ob das,was wir uns im Bereich der alternativen Energien vor-stellen, der Weisheit letzter Schluss ist? Frau Andreaespricht von Visionen; aber offenkundig haben Sie danndoch keine.
Das scheint doch so zu sein. Denn ich kann mir durchausvorstellen, dass wir irgendwann einmal ganz andereEnergiegewinnungsformen haben
und sagen: Damals hat man über Biomasse und Wind-kraft diskutiert, heute gibt es ganz andere Ansatzpunkte.Lassen Sie uns in diesem Bereich doch zumindest for-schen. Wir werden in Verhandlungen mit den Betreibernvon Kernkraftwerken dafür sorgen, dass insbesondereder Vorteilsausgleich auch den erneuerbaren Energienzugutekommt, sodass uns auch da niemand vorhaltenkann, das eine spiele man gegen das andere aus. Die Ein-zigen, die das tun, die das eine gegen das andere ausspie-len, sind immer Sie.
Ich weiß, dass das der emotionalste Bereich der Ener-giepolitik ist. Wenn ich mir dann immer von Kollegin-nen und Kollegen insbesondere von der grünen Seite an-hören muss, wie unverantwortlich und nicht tragbar dasist, dann muss ich Sie, Herr Trittin – Sie sitzen ganzvorne –, fragen: Wie konnten Sie eine Laufzeitverlän-gerung von 20 Jahren einfach so hinnehmen? Denn dieKernenergie war aus Ihrer Sicht auch schon vor 20 Jah-ren unverantwortlich und nicht tragbar, und angeblichsind damals schon mehr Kinder an Krebs erkrankt etc.
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Dr. Georg NüßleinDiese Frage sollte einmal jemand von Ihnen beantwor-ten.
Das ist eine spannende energiepolitische Frage. EineLaufzeitverlängerung von 20 Jahren war unter Rot-Grünmachbar, und jetzt ist eine Laufzeitverlängerung untrag-bar und ein Unding. Das ist eine Doppelzüngigkeit, dieich so nicht unterstützen kann.Vielen herzlichen Dank.
Wir kommen nun zum Themenbereich Umwelt.Ich erteile das Wort zunächst dem BundesministerDr. Norbert Röttgen.
Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,Naturschutz und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieFinanzmarktkrise war das Thema, das uns in diesemHaus im vergangenen Jahr am meisten beschäftigt hat.Der damalige Bundesfinanzminister hat in den erstenWochen davon gesprochen: „Wir haben in den Abgrundgeschaut.“ Wir haben hier im Haus innerhalb von einerWoche ein Schutzpaket in Höhe von 500 MilliardenEuro beraten und verabschiedet. Gestern in der Regie-rungserklärung der Bundeskanzlerin war der erste Punktdie Notwendigkeit, konsequent, grundlegend und zügigumzusteuern.Ich betone diese Debatte und die Auseinandersetzung,die wir geführt haben, weil ich glaube, dass die Erfah-rung der Krise – es war ja nicht Theorie, sondern warund ist Erfahrung – für die Einordnung, den Anspruchund den Ernst der Umweltpolitik im Allgemeinen undder Klimaschutzpolitik im Besonderen fruchtbar ge-macht werden kann. Ich glaube, dass wir beide Krisenmiteinander vergleichen können und sollten: die Finanz-marktkrise und die Ökokrise, die kommt, wenn wir aufdiesem Gebiet nicht ebenso grundlegend, zügig, syste-matisch und entschlossen umsteuern.
Was sind die Vergleiche, was sind die Bezüge? Ichwill vier herstellen.Erstens. Die Finanzmarktkrise war und ist mehr alseine Bankenkrise. Sie hat sich zur Wirtschaftskriseweitergefressen und barg und birgt weiterhin die Gefahr,zum gesellschaftlichen Kollaps zu führen. Die Klima-krise, die Ökokrise, die kommt, wenn wir uns nicht än-dern,
hat existenzielle Dimension. Ein Gesellschaftskollapswäre schon fundamental. Die Ökokrise aber ist eineÜberlebensfrage für Hunderte von Millionen Menschen.
Zweitens. Bei der Finanzmarktkrise konnten die Ret-ter noch sagen: Wir haben in den Abgrund geschaut, sindeinen Schritt zurückgegangen und konnten uns retten. –Wenn wir es bei der Klimakrise, bei der Ökokrise soweit kommen lassen, dann können wir nicht mehr einenSchritt zurückgehen; denn die Ökosysteme sind zu träge,als dass man sie per Kommando stoppen könnte. Dannsind wir verloren. Wir müssen vorher umschalten undumsteuern.
Drittens. Ich habe an dieser Stelle in Anlehnung anden Jesuitenpater Professor Friedhelm Hengsbach vorungefähr einem Jahr davon gesprochen, dass die Funk-tionsfähigkeit der Finanzmärkte ein öffentliches Gut dar-stellt. Die Bundeskanzlerin hat gestern völlig zu Rechtgesagt: Das öffentliche Gut liegt in dem dienenden Cha-rakter der Finanzmärkte für Wirtschaft und Gesellschaft. –Ich stehe dazu und halte das nach wie vor für richtig.Das war die Legitimation dafür, dass wir sozusagen ineinem Akt kollektiver Selbstverteidigung zu diesenMaßnahmen gegriffen haben.Das Gut, das wir mit Klimapolitik, mit Umweltpolitikverteidigen, unsere natürlichen Lebensgrundlagen, istein Menschheitsgut. Es hat für die Menschen nicht nurdienenden Charakter, sondern es ist Selbstwert. FürChristen ist es Schöpfung, und der Schöpfungscharakterist in unsere Traditionen und unsere Kultur eingegangen.Wir verteidigen den Eigenwert, den Selbstwert, dasMenschheitsgut Schöpfung, wenn wir Klimapolitik ma-chen. Das geht über das, was wir in der Finanzmarkt-krise verteidigt haben und verteidigen, noch weit hinaus.
Viertens. Die Finanzmarktkrise ist nicht – das hatHans-Peter Friedrich gestern richtig ausgeführt – durchdie Marktwirtschaft entstanden, sondern wir haben unsdiese Krise durch die Verletzung marktwirtschaftlicherPrinzipien eingehandelt. Diese Krise ist geradezu markt-wirtschaftswidrig entstanden,
durch Verletzung der Grundsätze marktwirtschaftlichenOrdnungsdenkens.Unsere Auffassung ist, dass wir Klimaschutz undUmweltschutz nicht gegen die Marktwirtschaft betreibendürfen, sondern dass wir dies innerhalb des marktwirt-schaftlichen Ordnungsrahmens versuchen müssen. Inder Vergangenheit hat sich jede Planwirtschaft wie keineandere Ordnung an der Umwelt versündigt, an den
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Bundesminister Dr. Norbert RöttgenMenschen, aber auch an der Umwelt. Wir halten dasmarktwirtschaftliche System für überlegen.Daraus ziehen wir allerdings die Lehre: Marktbraucht Ordnung. Auch der Markt, der Umweltziele er-reichen will, braucht Ordnung. Es gibt ein überragendes,übergreifendes Ordnungsprinzip des Marktes, und dasheißt Nachhaltigkeit. Wir brauchen eine nachhaltigeWirtschaftsordnung. Die Schäden von Kurzfristigkeitkonnten wir auf den Finanzmärkten beobachten. Wirwerden sie auch in der Umwelt sehen, wenn wir kurz-fristig denken. Darum müssen wir das Leitprinzip derNachhaltigkeit durchsetzen.
Es gehört zur inneren Logik marktwirtschaftlichenDenkens, dass wir die Grundlagen unserer wirtschaftli-chen Tätigkeit, dass wir die Grundlagen unseres Lebenserhalten und nicht an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen.Wir machen ökologische Politik, weil sie die Grundlageunseres Lebens und auch unseres Wirtschaftens ist. Wirwollen dabei marktwirtschaftliche Instrumente anwen-den, weil wir die Effizienz, die Überlegenheit, das Ent-deckungsverfahren, die wettbewerblichen Potenzialenutzen wollen, um ökologische Ziele zu erreichen. Ge-nauso richtig ist aber auch, dass die ökologische Zielset-zung Klimaschutz nicht nur instrumentellen Charakterhaben darf, sondern dass Ökologie und UmweltschutzMärkte produzieren. Umweltschutzpolitik zu machen, istauch eine Innovations- und Wirtschaftsstrategie.
Heute ist in der FAZ unter der Schlagzeile „Ökoge-schäft stabilisiert Siemens“ zu lesen:Der Siemens-Konzern hat im Geschäftsjahr 2009schon 23 Milliarden Euro Umsatz mit Umweltpro-dukten generiert. Das ist gegenüber dem … Vorjah-reswert … ein Plus von 11 Prozent. Dadurch wur-den die Einbußen im übrigen Geschäft als Folge derWirtschaftskrise von rund 4 Prozent aufgefangen.Wir hatten einmal eine Phase, in der galt: Ökonomieund Ökologie sind Gegner. Dann kam eine Phase, in deres hieß: Wir müssen beides miteinander versöhnen. Ichglaube, inzwischen haben wir die Phase erreicht, dasswir erkennen: Das eine ist ohne das andere nicht mach-bar und nicht denkbar. Ökonomie und Ökologie sindzwei Seiten einer Medaille.
Die Aufgabe ist, aus dieser grundlegenden ethischenund ordnungspolitischen Einschätzung von Umwelt- undKlimaschutz eine politische Strategie und konkrete Poli-tik abzuleiten. Das muss die Konsequenz aus dieser Ein-ordnung sein. Das ist nicht Lyrik, sondern das sind dieFundamente, auf denen wir Politik machen.
Ich glaube, die drei wichtigsten Felder der Umweltpo-litik sind erstens der Klimaschutz – ich denke auch anKopenhagen –, zweitens die Energiepolitik und drittensder Schutz der biologischen Vielfalt. Ich will zu diesendrei Feldern jeweils einige Anmerkungen machen.Zum ersten Punkt – Klimaschutz – will ich ganzknapp sagen: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es zueinem Erfolg der Klimakonferenz von Kopenhagenkeine Alternative gibt. Es gibt keine zweite Option, esgibt keinen Plan B. Bei der Rettung, bei der Verteidi-gung des Menschheitsgutes natürliche Lebensgrundla-gen haben wir keine Wahl. Aus der Sache heraus ist klar:Die Konferenz von Kopenhagen muss ein Erfolg wer-den.
Wir haben in diesem Prozess eine Vorreiterrolle. DieStimme unseres Landes – das zählt zu den Erfahrungen,die man innerhalb von Tagen machen kann – hat Ge-wicht. Dass wir diese Vorreiterrolle haben, dass dieStimme unseres Landes mehr Gewicht hat, als es sozusa-gen proportional wäre, ist nicht die Leistung dieser Re-gierung, es ist die Leistung der Vorgängerregierungen:meines Amtsvorgängers, seines Amtsvorgängers, dessenAmtsvorgängerin. Dank des Beitrages von vielen in die-sem Parlament, in dieser Gesellschaft ist der Klima-schutz vom Rand ins Zentrum der Aufmerksamkeit ge-rückt, ist Klimaschutz kein Nebenthema mehr. UnserLand ist international glaubwürdig, weil wir national ge-handelt haben und nicht nur anderen Vorschläge ge-macht haben. Ich möchte meine erste Rede als Bun-desumweltminister nutzen, die Leistungen der früherenRegierungen, der Minister anderer Fraktionen und Par-teien ausdrücklich anzuerkennen.
Ich will definieren, was Erfolg bedeutet. Ein takti-scher Ratschlag könnte sein: Definier das nicht zu kon-kret, sonst wird die Opposition dir deine Definition vor-halten, wenn es nicht so herauskommt! – Ich bekennemich zur Notwendigkeit des Erfolges. Darum will ichdefinieren, was Erfolg heißt: Erfolg heißt erstens klareZiele zur Reduzierung der CO2-Emissionen, Ziele, diesich ableiten aus der Erkenntnis, dass die globale Erwär-mung auf höchstens 2 Grad Celsius zu begrenzen ist.2 Grad Celsius sind das Äußerste, was tolerierbar ist.Wenn wir dieses Ziel erreichen, dann können wir eini-germaßen sicher sein, dass für über 1 Milliarde Men-schen in Asien die Wasserversorgung nicht gefährdet ist;dann können wir einigermaßen sicher sein, dass nichtweitere zig Millionen Menschen in Afrika auf der Suchenach Wasser und Weideland vertrocknen, verdursten,sterben. Diese existenzielle Dimension – die Gesichtervon Menschen, die kein Wasser mehr finden und sterben –müssen wir uns vor Augen halten. Darum brauchen wirden Erfolg.
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Bundesminister Dr. Norbert RöttgenWir müssen das Ziel erreichen, die Emissionen bis2050 weltweit um 50 Prozent zu reduzieren. Die Indus-trieländer haben hierbei eine Vorreiterrolle: historischbegründet, wegen ihres Anteils an den Emissionen, aberauch aufgrund ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit.Darum war es ein Erfolg, dass sich die Staats- und Re-gierungschefs beim letzten Europäischen Rat dafür aus-gesprochen haben, dass die Industrieländer ihre Emissio-nen um 80 bis 95 Prozent reduzieren, und sich dem Zielverpflichtet haben, den Beitrag zu leisten, der nötig ist,um weitgehend treibhausgasneutrale Gesellschaften zuwerden.Bis 2020 gilt es, die Emissionen in der Größenord-nung von 30 Prozent zu reduzieren. Wir brauchen diesenschrittweisen Prozess. Wir können nicht 30 Jahre weiter-machen wie bisher und darauf verweisen, wir müsstendas Reduzierungsziel ja erst 2050 erreichen. Wir müssenjetzt anfangen; sonst haben wir keine Chance, das Zielbis 2050 zu erreichen. Diese Koalition hat sich vorge-nommen und im Koalitionsvertrag begründet, dassDeutschland die CO2-Emissionen bis 2020 sogar um40 Prozent reduziert. Viele andere Industrieländer sagen– ein bisschen konditioniert – 30 Prozent. Wir sagen:Unter dieser Regierung wird Deutschland seine Emissio-nen unkonditioniert um 40 Prozent reduzieren. Wir sindauf diesem Gebiet ambitionierter als die Vorgängerregie-rung.
Sie sollten uns auf dem guten Weg folgen.Ich bin noch bei der Zieldefinition. Kennzeichen die-ser Ziele ist, dass wir sie im Rahmen eines verbindlichenrechtlichen Abkommens, das alle umfasst – „alle“ heißt:China, USA, Europa, Schwellenländer und Entwick-lungsländer –, festlegen wollen.Zweites Ziel: Wir brauchen rechtlich und finanziellwirkungsvolle Instrumente. Das Instrument internatio-nale Überprüfung und auch die finanziellen Beiträge lie-gen vor. In Entwicklungsländern wird es – bei bis 2020wachsenden Finanzierungsbedarfen und aufbauend aufeinen Schnelleinstieg – ab 2020 100 Milliarden Euro proJahr bedürfen, die aus unterschiedlichen Strängen finan-ziert werden. Manche sagen jetzt: Klimaschutz ist teuer. –Klimaschutz ist teuer, Handeln ist teuer. Nichthandelnwäre sehr viel teurer.
Darum brauchen wir auch die Innovationen und die Mo-dernisierung der Wirtschaft, die damit anstehen.Es ist ein Prozess der ökologischen Veränderung, derVeränderung der Lebensweise und der Art, zu wirtschaf-ten. Am allermeisten ist es aber auch ein Prozess derwirtschaftlichen Modernisierung unseres Landes. Dasmuss uns klar sein. Wenn man es wirtschaftlich betrach-tet, dann wird klar, dass es um die Alternative geht, obwir Rückständigkeit verteidigen und mangelnde Wettbe-werbsfähigkeit subventionieren oder ob wir die Ambi-tion, die Entschlossenheit haben, auch hier wieder eineweltweite wirtschaftliche, innovative Führerschaft zu er-ringen. Wir wollen das. Gerade durch ökologische Mo-dernisierung wollen wir die modernste Volkswirtschaftwerden. Damit werden wir führend sein, damit sichernwir Arbeitsplätze, damit generieren wir Innovationen.
Zweiter Punkt. Die Energiepolitik. Nirgendwo ist esso deutlich wie hier, dass wir die Energiepolitik grundle-gend neu denken und gestalten müssen. Wir werden einin sich schlüssiges energiepolitisches Konzept vorlegen– es fehlt seit knapp 20 Jahren –, mit dem wir Antwortendarauf geben, wie Energiepolitik grundlegend neu ge-macht wird. Wir werden die Angebotsseite betrachten– Klimaverträglichkeit, Versorgungssicherheit, Wirt-schaftlichkeit für Verbraucher und Industrie –, und wirwerden die Nachfrageseite betrachten. In der Diskussionfehlen bislang eigentlich die Nachfrageorientierung, dieVerbraucherorientierung und die Intelligenz und Bereit-schaft – gerade auch aus Sicht der industriellen Nachfra-ger –, sich auf eine neue Energiepolitik um- und einzu-stellen. Die Energieeffizienz beinhaltet das größteKosteneinsparpotenzial, das wir anbieten können. Ichweiß nicht, ob eine Unternehmensteuerreform eine sogroße Kostenentlastung bringt wie die Nutzung vonEnergieeffizienzpotenzialen in unserem Land.
Ich komme zum Schluss und will noch einen drittenPunkt ansprechen. Neben dem Klimawandel ist dasStoppen des Verlustes der biologischen Vielfalt diezweite globale Herausforderung. Es geht darum, zu er-kennen, dass die Ökosysteme die Grundlage allen Le-bens und die Leistungen der Ökosysteme für die Men-schen unverzichtbar sind. Saubere Luft, Ernährung,sauberes Wasser, gesunde Böden: Das ist unsere Lebens-grundlage. Darum ist der Schutz der Ökosysteme eineAufgabe, um die Schöpfung in unserer Zeit zu bewah-ren.Wir wollen das nicht mit einem Verkündungston ma-chen, sondern Naturschutz kann man nur mit den Men-schen und für die Menschen in Kooperation machen.Wir werden ein Bundesprogramm zur Umsetzung derStrategie zur biologischen Vielfalt auflegen, und wirwerden unsere internationale Führungsrolle auch hieraufrechterhalten. Alle Zusagen – auch finanzielle Zusa-gen –, insbesondere im Bereich des internationalenWaldschutzes, werden wir einhalten und weiter aus-bauen.Eine allerletzte Bemerkung. Ich bin – heute ist Mitt-woch – seit zwei Wochen Bundesumweltminister undseit 15 Jahren Parlamentarier.
Darum möchte ich Ihnen ausdrücklich sagen, dass esmeinem Verständnis als Parlamentarier, der ich ja immernoch bin, entspricht, dass wir gut zusammenarbeiten,dass es eine vertrauensvolle Kooperation gibt und dass
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Bundesminister Dr. Norbert Röttgenwir dort, wo wir wirklich einen Konsens haben – es isteine unserer gesellschaftspolitischen Leistungen, aucheinen Konsens erarbeitet zu haben –, an einem Strangziehen. Im Übrigen freue ich mich auf eine sachorien-tierte, kontroverse Auseinandersetzung, über gelegentli-che Unterstützung natürlich auch, vor allem aber aufeine erfolgreiche Zeit in der Umweltpolitik in den nächs-ten vier Jahren.Besten Dank.
Bevor ich dem Kollegen Kelber das Wort erteile, er-
laube ich mir eine knappe Bemerkung. Es ist im wörtli-
chen wie im übertragenen Sinne gut, zu sehen, und viel-
leicht auch ein internationales Signal, dass es wenige
Wochen vor der Konferenz in Kopenhagen mit Blick auf
die Erwartungen und Zielsetzungen im Deutschen Bun-
destag ganz offenkundig eine große fraktionsübergrei-
fende Mehrheit gibt. Das sollte vielleicht in dieser De-
batte mit Blick auf die internationalen Implikationen der
Vorbereitungen dieser Konferenz noch einmal deutlich
werden.
Herr Kollege Kelber, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Sehr geehrter Herr Minister Röttgen! Lieber Wahl-kreisnachbar! Erst einmal auch vonseiten der SPD allesGute für Ihr neues Amt! Ich habe mit Freude gelesen, dasses Ihr Wunschressort war, man Sie also nicht gezwungenhat. Die strategischen Aspekte waren bei diesem Wunschsicherlich nicht zu unterschätzen. Aus allen Vorgängernist etwas geworden: Ministerpräsident, UN-Beauftragter,Bundeskanzlerin, Fraktionsvorsitzender und, wie ichhoffe, ab diesem Wochenende auch Parteivorsitzender.Ich hoffe natürlich auch, dass das inhaltliche Engagementhinzukommt und dann das, was heute relativ abstrakt warund wahrscheinlich sein musste, noch mit Inhalt gefülltwird.In der Tat ist dies keine Nebendebatte. Gut gemachteUmweltpolitik schützt die Lebensgrundlagen, sichertLebensqualität und schafft Jobs mit Zukunftsgarantie.Diesem Anspruch wird zumindest der schwarz-schwarz-gelbe Koalitionsvertrag nicht gerecht. Wir warten natür-lich in den vier Jahren auf die konkrete Politik. Ichnenne dafür ein paar Beispiele.Das erste Beispiel ist: Bei aller Übereinstimmung inSachen Klimaschutz als Ziel gibt es eine gewisse Zu-rückhaltung gegenüber einigen Instrumenten. Der Wahr-heit zuliebe: Dass wir jetzt ohne Vorbehalt eine Senkungder CO2-Emissionen um 40 Prozent zwischen 1990 und2020 zugesagt haben, freut uns. Diesen Vorschlag hattedie SPD in der Großen Koalition mehrfach gemacht. AufArbeitsebene waren wir uns einig. Leider hat dieser Vor-schlag den Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder nieerreicht, weil er vom Ersten Parlamentarischen Ge-schäftsführer der CDU/CSU-Fraktion zurückgehaltenwurde. Dieser hieß in der letzten Legislaturperiode nichtAltmaier, sondern Norbert Röttgen. An dieser Stelledanke ich Ihnen, dass Sie Ihren eigenen Widerstand jetztgebrochen haben, Herr Röttgen. Das war wahrscheinlichein hartes inneres Ringen.
Im Koalitionsvertrag steht auch, dass Sie einen Ablass-handel einführen wollen, um unser Land weiter zu versie-geln. Sie wollen den Schutz vor Umweltbelastungen aufdie Geschwindigkeit des langsamsten europäischen Lan-des reduzieren. Nichts anderes heißt die sogenannte Eins-zu-eins-Umsetzung von europäischen Kompromissen.Sie gefährden die Jobs und die TechnologieführerschaftDeutschlands durch Ihren geschraubten Rückwärtssaltoin der Energiepolitik.Noch etwas fällt auf: Neben jeden Absatz in der schwarz-schwarz-gelben Koalitionsvereinbarung kann man den Na-men des Unternehmens oder des Verbandes schreiben,das oder der mit diesem Absatz bedient werden soll. So et-was habe ich in Deutschland noch nicht erlebt. Vor allemhabe ich noch nicht erlebt, dass sogar noch das Produkt ei-nes Unternehmens in einem Koalitionsvertrag genanntwird. Dort steht, dass der Anbau der Amflora-Kartoffel inDeutschland unterstützt werden soll, obwohl es für dieseGentechnikkartoffel von BASF noch nicht einmal in Eu-ropa eine Zulassung gibt. Auch das hat es in einem Ko-alitionsvertrag in Deutschland noch nicht gegeben.
Besonders gefährlich ist diese Bedienung in derEnergiepolitik. Wenn Sie schon nicht auf die Opposi-tion hören wollen, dann hören Sie doch auf Ihren eige-nen neuen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium,Herrn Heitzer, der zuvor Präsident des Bundeskartell-amts war. Er hat noch vor wenigen Wochen gesagt: Werdie Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert, verlän-gert vor allem das Monopol auf den Energiemärkten, mitdem den Menschen und auch den Firmen in Deutschlandseit Jahren Milliarden Euro unnütz aus den Taschen ge-zogen werden. Hören Sie auf Ihre eigenen Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter, die Sie in führenden Positionen in-stallieren!Die vier Energiekonzerne, die Atomkraftwerke be-treiben, sollen zu diesen Milliardengewinnen von Ihnenjetzt weitere Milliarden geschenkt bekommen, und das,obwohl RWE und Eon im ersten Halbjahr 2009 mehrGewinn gemacht haben als alle anderen börsennotiertenUnternehmen Deutschlands zusammen. Diese Unterneh-men wollen Sie weiter entlasten.Es ist ein Fehler, zu sagen, das sei dieselbe Seite einerMedaille; die längere Laufzeit betreffe eine Brücken-technologie. In technischer Hinsicht kann man schnellerkennen: Das Gegenteil ist der Fall. Die Atomkraft-werke verstopfen die Energienetze. Immer häufiger müs-sen erneuerbare Energieträger abgeschaltet werden, weildie Atomkraftwerke zu Zeiten geringen Stromver-
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Ulrich Kelberbrauchs bereits das gesamte Netz auslasten. Wir werdenIhnen die Zahlen liefern, Herr Kauch. Sie kennen sieselbstverständlich, die anderen vielleicht nicht.Damit gefährden Sie die 280 000 Jobs, die schon jetztim Bereich der erneuerbaren Energien entstandensind, und Sie setzen die deutsche Technologieführer-schaft aufs Spiel. Andere Länder – die USA und China,aber auch andere europäische Länder – investieren zu-sätzlich, schaffen mehr Anreize für erneuerbare Ener-gien und bauen rechtliche Blockaden ab. In Deutschlanddagegen gibt es die Ankündigung, sie im Zusammen-spiel der Energiearten schlechter zu stellen. Sie gefähr-den damit den Vorsprung, den wir auch gemeinsam alsParlament in den letzten Jahren erarbeitet haben.Diese Liebedienerei an einer Lobby wird schon durchihre Ankündigung Deutschland schaden. Wir haben be-reits jetzt durch die Ankündigung, 2012 die Bedingun-gen völlig neu zu formulieren, eine Zurückhaltung inden Investitionen in erneuerbare Energien zu verzeich-nen. Diejenigen, die die Monopole ins Wackeln gebrachthaben – die Stadtwerke und die Erneuerbaren –, müssenbei ihren Investitionen neu rechnen, weil ihre Konkur-renten Milliarden geschenkt bekommen sollen. SprechenSie doch mit den Aufsichtsräten der neuen Wettbewerberund der Stadtwerke! Jede Investition muss jetzt mitschlechteren Renditen neu gerechnet werden, weil dergroße Konkurrent bessere Bedingungen bekommt.Diese Steuereinnahmen und diese Jobs fehlen schonjetzt, unmittelbar nach Ihrer Koalitionsvereinbarung.Das ist klar: Noch nie hat ein Koalitionsvertrag so unge-hemmt und schamlos Klientelinteressen bedient.
Noch nie wurde eine Technologieführerschaft so leicht-fertig aufgegeben. Noch nie hat sich ein wohlhabendesLand beim Schutz seiner Menschen und seiner Umweltmit der Geschwindigkeit des ärmsten Landes zufrieden-gegeben. Diese Politik werden wir bekämpfen. Wir ste-hen für die Investitionen in Energieeffizienz und erneu-erbare Energien, in Lebensqualität und internationaleVerantwortung im Klimaschutz. Das ist ein klares Kon-trastprogramm zu dem, was Schwarz-Schwarz-Gelb ab-geliefert hat.Vielen Dank.
Nun erteile ich Kollegen Michael Kauch für die FDP-
Fraktion das Wort.
Meine Damen und Herren! Ich glaube, Herr Kelberhat gezeigt, wie ratlos die Opposition angesichts diesesKoalitionsvertrages ist.
Denn wenn Sie diesen Vertrag lesen und dem deutschenVolk nicht irgendwelchen Unsinn erzählen würden,würde Ihnen nicht mehr viel dazu einfallen, warum bei-spielsweise weiter die These vertreten wird, die Atom-kraftwerke würden die erneuerbaren Energien in ihrerEntwicklung hemmen. Wir haben das Gegenteil in denKoalitionsvertrag hineingeschrieben.
Es ist eine bewusste Entscheidung dieser Koalition ge-wesen, dass der Einspeisevorrang für erneuerbareEnergien unbegrenzt und ungedeckelt fortgeführt wird.Mit dem Einspeisevorrang für erneuerbare Energienkann jeder Anbieter erneuerbarer Energien auch künftigseinen Angebotsmöglichkeiten entsprechend den Stromins Netz einspeisen. Dann konkurrieren die Erneuerba-ren eben nicht mit den Kernkraftwerken, sondern dieKernkraftwerke konkurrieren mit den Kohle- und Gas-kraftwerken. Das kann man ja möglicherweise ökolo-gisch richtig finden, Herr Kelber.
Diese Koalition hat sich dazu bekannt, dass wir dasZeitalter der erneuerbaren Energien erreichen wollen.Das bedeutet auf lange Sicht eine 100-prozentige Versor-gung mit erneuerbaren Energien. Das ist eine Innova-tionsstrategie für dieses Land, die ein Wettbewerbsmo-tor für unsere Wirtschaft sein wird.
Wir wissen aber auch, dass das nicht von heute aufmorgen geht; denn wir müssen auch die Realitäten aner-kennen. Energie aus Wind und Sonne ist heute nochnicht so in das Netz integriert und speicherbar, wie wiruns das wünschen. Es geht nicht nur um die Strommen-gen, sondern auch um die Stetigkeit der Einspeisung.Deshalb brauchen wir Brückentechnologien. Wir sindder Auffassung, dass wir auf der einen Seite die erneuer-baren Energien ausbauen und auf der anderen Seite dieLaufzeiten der Kernkraftwerke verlängern müssen,damit es grundlastfähigen, die Versorgung sicherndenStrom gibt. Das liegt im Interesse unserer Industrie;denn bei einem Aluminiumwerk beispielsweise kann,wenn einmal der Wind nicht weht, der Strom nicht eineStunde abgeschaltet werden. Dann wäre das Werk ka-putt.
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Michael KauchDeshalb brauchen wir günstigen, aber auch sicheren undklimafreundlichen Strom.
Diese Koalition hat im Übrigen auch klargemacht,dass die Laufzeitverlängerung nicht pauschal für alleAnlagen gilt. Das sage ich auch mit Blick auf die EVUs.Sie werfen uns vor, wir bedienten deren Interessen. Dastun wir hier ganz klar nicht. Im Koalitionsvertrag steht:Wir sind zu einer Laufzeitverlängerung bereit, garantie-ren aber keine Laufzeitverlängerung. Dazu müssen näm-lich bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Wirwerden also keine pauschale Laufzeitverlängerung füralle Kraftwerke vornehmen. Es war gerade die FDP, diedafür gesorgt hat, dass im Koalitionsvertrag steht, dassdie Laufzeiten deutscher Kraftwerke, aber nicht allerdeutschen Kraftwerke verlängert werden.
Diese Koalition nimmt ihre Verantwortung gegenüberkommenden Generationen wahr, auch beim Endlager.Sie, Herr Trittin, und Ihr Nachfolger haben zehn Jahrelang die Hände in den Schoß gelegt. Es wurde verboten,ein Endlager zu erkunden. Sie haben sich an den Interes-sen kommender Generationen versündigt.
Diese Koalition wird dagegen die bestehenden Problemeangehen. Wir alle haben gemeinsam 50 Jahre langAtommüll produziert.
Unabhängig von einer Laufzeitverlängerung sind wiralle gefordert, die Probleme zu lösen, die mit diesemMüll verbunden sind.
Wir werden eine Lösung finden. Die Kollegin Brunkhorstwird für unsere Fraktion diese Politik auf den Weg brin-gen.Beim Erneuerbare-Energien-Gesetz wollen wir Inves-titionssicherheit für die Anlagenbetreiber. Herr Kelber,es war unredlich, als Sie vorhin zu den Biogasanlagen ge-sagt haben, hier gehe es nur um zwei Finanzfonds. IhreÄnderungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, mit de-nen Sie rückwirkend in die Investitionsbedingungen ein-gegriffen haben, haben die Glaubwürdigkeit des EEG be-schädigt. Jeder, der in erneuerbare Energien investiert,erlebt heutzutage, dass manche Banken nicht mehr glau-ben, dass das EEG in seiner jetzigen Form bestehenbleibt. Diese Ihre Änderungen nehmen wir zurück. Wirschaffen Investionssicherheit für erneuerbare Energien.
Wir werden darüber hinaus beim Erneuerbare-Ener-gien-Gesetz die Interessen der Verbraucherinnen undVerbraucher, die schließlich alles bezahlen, berücksichti-gen. Deshalb haben wir durchgesetzt, dass das Erneuer-bare-Energien-Gesetz regelmäßig, nämlich alle dreiJahre, auf Überförderung überprüft wird. Das ist ein fai-rer Schritt. Wir werden das auch im Bereich der Fotovol-taik im Dialog mit der Solarbranche und den Verbrau-cherorganisationen machen. Wir werden nicht mit derAxt kommen, sondern darauf achten, dass die Interessender Branche und die Interessen der Verbraucher unter ei-nen Hut gebracht werden.Zum Schluss möchte ich die biologische Vielfalt an-sprechen. Dieses Thema wird immer gerne in Sonntags-reden angesprochen. Wir müssen aber konstatieren: DasErgebnis der letzten Jahrzehnte in diesem Bereich isttrotz Bemühungen aller Regierungen nicht überzeugend.Wir haben es nicht geschafft, die Zielsetzung zu errei-chen und den Verlust an Artenvielfalt zu stoppen. Wirsetzen aber im Koalitionsvertrag beispielsweise ein we-sentliches Zeichen zugunsten der tropischen Regenwäl-der. Wir haben verabredet, dass nicht nur für die Kraft-stoff- oder die Stromproduktion die Nachhaltigkeit vonPalmöl nachgewiesen werden muss, sondern für alleAgrarrohstoffe. Das ist ein Meilenstein, den wir hier er-reicht haben, damit nicht das gute Palmöl in den Tankkommt und das schlechte in die Margarine. Nein, wirwollen, dass die Regenwälder nirgendwo und für nichtsabgeholzt werden, auch nicht für Palmöl, und dieser Ko-alitionsvertrag macht den ersten Schritt.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
Herr Minister! Herr Parlamentspräsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Das Kioto-Protokoll läuft 2012aus. In vier Wochen sollte die UN-Klimakonferenz inKopenhagen eigentlich das Nachfolgeabkommen be-schließen. Vor kurzem hat eine Gruppe von Nobelpreis-trägern diesen Gipfel als wichtigste Konferenz derMenschheit bezeichnet, und ich sage: Die Männer undFrauen haben recht. Wir haben Angst, dass dieser Gipfelscheitert, und nicht nur wir, sondern viele Menschen aufdieser Welt; denn auch die letzte UN-Vorbereitungskon-ferenz letzte Woche in Barcelona ging aus wie das Horn-berger Schießen. Weder zu Minderungszielen wurdenEinigungen erzielt noch zur Frage der Finanzierung vonKlimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen im globalenSüden. Dem Chef des UN-Klimasekretariats, Yvo deBoer, wird die Aussage zugeschrieben, er wundere sich
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Eva Bulling-Schröterbei solchen Ergebnissen, dass die Zivilgesellschaft nichtdie Scheiben des Verhandlungsortes einwirft. Ich denke,das spricht Bände bei diesem Herrn.
In Kopenhagen wird nun ein Verhandlungstext aufden Tisch gelegt, der mit seinen vielen Klammern undOptionen so gut wie nicht verhandlungsfähig ist, unddas, obwohl uns allen die Zeit davonläuft. Das wissenwir. Schließlich ist der weltweite Ausstoß von Klimakil-lern trotz des Kioto-Abkommens seit der Jahrtausend-wende dreimal so schnell angestiegen wie in den 90er-Jahren.Frau Merkel hat sich hier gestern einmal mehr alsVorkämpferin für den Klimaschutz präsentiert. Das istirgendwie merkwürdig; denn schließlich war sie haupt-verantwortlich dafür, dass beim Europäischen Ratvorvorletzte Woche keine Beschlüsse zu konkreten Kli-maschutzfinanzhilfen für die Entwicklungsländer ge-fasst wurden.
Damit hat die Bundeskanzlerin die Blockade verfestigt,die ohnehin zwischen den Industriestaaten auf der einenSeite und den Schwellen- und Entwicklungsländern aufder anderen Seite besteht.
Frau Merkel hat sich also in Brüssel an die Spitze derje-nigen in der EU gesetzt, die meinen, mit den Entwick-lungs- und Schwellenländern pokern zu können.
So sollen die Preise gedrückt werden, die der Norden anden globalen Süden, den großen Verlierer des Klima-wandels, für Technologietransfer und Anpassungsmaß-nahmen zu zahlen hat. Diese arrogante Haltung drohtnun den Kopenhagen-Prozess zum Scheitern zu bringen.Ich meine, die Bundeskanzlerin wird dies wesentlichmitzuverantworten haben.
Aber auch zu Hause in Deutschland liegt einiges imArgen. Ich behaupte, mit den längeren Laufzeiten fürAtomkraftwerke wird der Ausbau der erneuerbarenEnergien blockiert und nicht die Verstromung von kli-maschädlicher Kohle. Atomkraft und Kohle eint näm-lich, dass sie einen steigenden Anteil erneuerbarer Ener-gien im Netz überhaupt nicht gebrauchen können. Dazugibt es Aussagen, auch wenn Sie immer wieder Neindazu sagen. Bei Atomkraftwerken ist es sicherheits-technisch kaum möglich – das wissen Sie –, die Anlagenbei schwankenden Windkrafteinspeisungen herauf- undherunterzuregeln. Das ist einfach so. Kohlekraftwerkerechnen sich eben nicht, wenn sie nicht permanent in derNähe der Volllast gefahren werden. Dies ist der Grunddafür, warum weder Kohle noch Atomkraft Brücken-technologien ins solare Zeitalter sind. Im Gegenteil: IhrSchutz ist ein Schritt ins Gestern.
Wissen Sie eigentlich, dass die CO2-Emissionen in derEnergiewirtschaft von 1990 bis 2007 nur um lächerliche7 Prozent zurückgegangen sind? Und diese 7 Prozent hatuns auch noch größtenteils der Osten geschenkt. Wir ha-ben zwar mittlerweile 14 Prozent erneuerbare Energienim Netz, dafür wurde aber offensichtlich Kohlestrom ex-portiert. Ich frage Sie: Ist das nun Klimaschutz?Laut Koalitionsvertrag möchte Schwarz-Gelb fürRWE und Co die Hintertüren im Klimaschutz noch wei-ter öffnen, beispielsweise indem die Anrechnung vonvermeintlichen Klimaschutzinvestitionen im Ausland,Stichwort CDM, ausgeweitet werden soll, obwohl wirheute schon wissen, dass hier in großem Maßstab betro-gen wird, um an preiswerte Zertifikate zu kommen.Was den Emissionshandel betrifft, haben Sie bereitsin der Vergangenheit in Brüssel ganze Arbeit geleistet:Nicht nur, dass wir bis 2012 damit leben müssen, dassdie wertvollen Zertifikate vom Staat verschenkt werden,was den Versorgern Extraprofite in Milliardenhöhe ein-bringt und dem Klimaschutz schadet, nein, auch nach2012 erhält ausgerechnet die energieintensive Industriekostenlose Emissionsrechte.Zusammenfassend möchte ich der neuen Koalitionins Stammbuch schreiben: Die Klima- und Energiepoli-tik, die Sie anstreben, ist nicht nur widersprüchlich; sienutzt vor allem den großen Konzernen.
Das ist angesichts der Herausforderungen, vor denen wirstehen, nichts anderes als Klientelpolitik auf Kosten derUmwelt und der Menschen.
Das Wort hat nun Kollegin Bärbel Höhn für die Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Röttgen, ich habe mir ganz in Ruhe IhreRede angehört. Ich muss sagen: Sie war sehr nachdenk-lich. Von den Zielen her hat sie mir gut gefallen. 2-Grad-Ziel, Nachhaltigkeit, Erhalt der Artenvielfalt, das sindZiele, die wir unterstützen werden. Ich mache jetzt et-was, was vielleicht ungewöhnlich ist: Ich wünsche Ihnenfür die Erreichung dieser Ziele viel Erfolg. Wenn Sie dasanstreben, werden wir Sie dabei unterstützen.
In der Tat geht es um ganz viel. Es geht um dieLebensgrundlagen von uns, von unseren Kindern und
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Bärbel Höhnvon unseren Enkelkindern. Wir wissen, dass diese Zeitganz wichtig ist: Uns bleiben wenige Jahre, um zum Bei-spiel den Klimawandel noch aufhalten zu können. Dasheißt, Sie sind in einer sehr entscheidenden Phase Minis-ter geworden. Aber der entscheidende Punkt ist: Wasmachen wir jetzt? Widersprechen die vorgesehenen Pro-jekte vielleicht dem, was Sie hier sehr nachdenklich for-muliert haben?Sie haben eben die Kanzlerin angesprochen. Sie hatgestern fünf Punkte genannt. Der erste Punkt war dieÜberwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise. Sie ha-ben zu Recht gesagt: 500 Milliarden Euro sind auf denTisch gelegt worden, um diese Krise in den Griff zu be-kommen. Was die Prävention der Klimakrise angeht:Auf dem Finanzgipfel der EU ging es um die Verteilungvon 5 bis 7 Milliarden Euro, und die EU-Staaten warennicht in der Lage, diese Verteilung zustande zu bringen.Deutschland hat dabei eine unrühmliche Rolle gespielt.Ich muss sagen: Das steht im Widerspruch zu den Zie-len, die Sie hier benannt haben.
Die Wissenschaftler sagen: Uns bleiben wenige Jahre,um das 2-Grad-Ziel zu erreichen – wenn wir es dennüberhaupt schaffen. Aber selbst wenn das 2-Grad-Zielerreicht wird, kommt es zu dramatischen Überflutungen,zu Dürren, zu Toten, zu Hungernden und zu Flüchtlings-strömen. Wir müssen die mit dem Klimawandel, demArtensterben, der Ressourcenkrise, dem Wassermangel,dem Hunger verbundenen Fragen zusammen beantwor-ten. Das alles ist miteinander verknüpft und darf nichtisoliert betrachtet werden.
Jeden Tag verschwinden 120 Arten; jeden Tag ver-schwindet ein Stück Natur. Sie haben zu Recht auf dieBewahrung der Schöpfung verwiesen. Folgen Sie aberdem, was in Ihrem Koalitionsvertrag steht, wird Ihnendie Bewahrung der Schöpfung schwergemacht. Der Na-tur wird in diesem Koalitionsvertrag kein hoher Wertbeigemessen. Es ist neu, dass in Zukunft ein Eingriff indie Natur ohne einen Ausgleich an anderer Stelle vollzo-gen werden kann. Wenn das umgesetzt wird, was in Ih-rem Koalitionsvertrag steht, kann man sich mit Ersatz-geld von der Bestrafung für einen Eingriff in die Naturfreikaufen. Das ist schlecht. Das ist gegen die Natur.Deshalb sagen wir: Das werden wir nicht mitmachen.
– Das ist ein Ablasshandel zur Naturzerstörung.Wie wollen Sie eigentlich Ländern wie Brasilien undIndonesien erklären, dass sie ihren Regenwald schützensollen, wenn wir in Deutschland das bisschen Natur, dasnoch übrig geblieben ist, für alle möglichen Projektewieder infrage stellen? Dazu muss ich sagen: Wir müs-sen Vorbild sein. Wir müssen zeigen, dass wir die Natur,die wir noch haben, erhalten wollen, und wir dürfennicht zulassen, dass sie zerstört wird, wenn nur entspre-chendes Geld gezahlt wird. Anders werden wir andereLänder nicht überzeugen, ihren Regenwald zu erhalten.
Die Kanzlerin hat gestern über die vielen Schuldengesprochen, die gemacht werden. Sie hat hierfür eineLösung präsentiert. Diese Lösung lautete: Wachstum,Wachstum, Wachstum, also Wachstum gleichsam alsZauberformel. Ich finde, auch das muss man ein Stückweit hinterfragen. Ist Wachstum eigentlich per se gut?Um welches Wachstum handelt es sich überhaupt? Wassoll da überhaupt finanziert werden? In der letzten Re-gierung war das Konjunkturprogramm die Abwrackprä-mie. Jetzt sagt der neue Verkehrsminister: Es soll derAutobahnbau finanziert werden, und zwar vor allen Din-gen im Westen.
– Ja, vor allen Dingen in Bayern. – Hierzu sage ich ganzehrlich: Wir müssen mit dieser Klientelpolitik aufhören.Wir müssen das Ganze im Auge haben und dürfen nichtimmer nur für einzelne Bereiche Politik machen. Damitmuss endlich Schluss sein.
Wir müssen auch dafür sorgen, dass Folgendes nichtmehr möglich ist: Mit dem von der letzten Bundesregie-rung aufgelegten Konjunkturprogramm wurde in meinerhochverschuldeten Heimatstadt ein Kreisverkehr gebaut.So ist es jetzt noch komplizierter, über die entsprechendeKreuzung zu fahren. Warum wurde der Kreisverkehr ge-baut? Weil man für seine Finanzierung zusätzlich Schul-den aufnehmen konnte. Für Investitionen in Beton kannman Schulden aufnehmen, für Investitionen in Jugend-arbeit, in Kinderbetreuung, das sind konsumtive Aufga-ben, darf man keine Schulden aufnehmen. Das muss sichendlich ändern. Wir müssen in die Köpfe unserer Kinderinvestieren, nicht in Beton. Hier liegt unsere Zukunft.Das wäre nachhaltig.
Sie, Herr Röttgen, sprachen ja auch von Nachhaltig-keit. Ja, das ist richtig. Aber von Nachhaltigkeit kannmit Blick auf den Koalitionsvertrag nicht die Rede sein.Darin nimmt man nämlich noch mehr Atommüll undneue Schulden in Kauf. Das ist aber das Gegenteil vonNachhaltigkeit. Sie müssen, wenn Sie davon sprechen,bei den Fakten bleiben. Noch besser wäre es allerdings,wenn Sie das umsetzen würden, wovon Sie sprechen.
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Bärbel HöhnEben wurden schon die erneuerbaren Energien an-gesprochen. Es ist in der Tat so, dass Atomkraftwerkeund Kohlekraftwerke den Ausbau erneuerbarer Energienverhindern. Warum sollten die großen Energiekonzerne,wenn sie in neue Kohlekraftwerke investieren oder ihreAtomkraftwerke länger in Betrieb lassen können, eigent-lich große Windparks in der Nordsee bauen? Das heißt,indem Sie denen jetzt Spielräume geben, verhindern Sieden Bau von Windkraftanlagen in der Nordsee, und ge-nau auf diese Weise verhindern Sie den Ausbau erneuer-barer Energien.
Sie sprechen von Atomkraft als Brückentechnologie, defacto wirkt diese aber wie eine Mauer. Sie errichten eineMauer gegen die erneuerbaren Energien, die sozusagenmit Vollgas gegen diese Mauer fahren.
Anstatt neue Kohlekraftwerke zuzulassen, sollten Sielieber in Energie- und Ressourceneffizienz investieren.Damit würde man auch sehr viele Arbeitsplätze schaf-fen. Das Weltmarktvolumen von energieeffizientenTechnologien und nachhaltiger Wasserwirtschaft beträgtnämlich 640 Milliarden Euro. Der Marktanteil deutscherUnternehmen beträgt dabei gerade einmal 5 bis 10 Pro-zent. Doch gerade auf diesem Markt sind kleine und mit-telständische Unternehmen und nicht die großen Ener-giekonzerne aktiv. Wir müssen endlich aufhören, immernur Lobbyarbeit für die großen Energiekonzerne zu ma-chen. Wir müssen wirklich einmal den Mittelstand unter-stützen; das geht über den Ausbau von erneuerbarenEnergien und von Energieeffizienz. Damit schaffen wirArbeitsplätze.
– Mit Schröder habe ich nichts zu tun.In dreieinhalb Wochen wird die Klimakonferenz inKopenhagen stattfinden. Sie haben zu Recht gesagt, eswäre fatal, wenn diese scheitert. Wir verfolgen bei dieserKlimakonferenz ehrgeizige Emissionsminderungsziele:Eine Reduktion um 40 Prozent ist ehrgeizig. Aber imKoalitionsvertrag zu schreiben, man werde für dieseCO2-Reduktion sorgen, indem man vermehrt CDM-Pro-jekte in China oder Indien unterstützt, ist fatal. Denn In-dien und China werden kommen und sagen: Macht dochselber eure Hausaufgaben. Hier in Deutschland musseine Reduktion der CO2-Emissionen um 40 Prozent er-reicht werden; nur so werden wir die anderen Länder mitins Boot bekommen.
Für die oben genannten Ziele – ich komme zumSchluss – wünschen wir Ihnen viel Erfolg in Kopenha-gen. Ich fand es bisher immer toll, Mitglied der deut-schen Delegation zu sein. Aber in Poznan habe ich zumersten Mal erlebt, dass Deutschland und Europa ge-bremst haben. Das möchte ich in Kopenhagen nicht nocheinmal erleben. Deutschland muss Vorreiter in der EUsein. Deshalb wünsche ich Ihnen viel Erfolg in Kopen-hagen. Ich hoffe, dass Sie Ihrer Verantwortung gerechtwerden. Aber halten Sie dort Pohl und fallen Sie nichtum! Seien Sie nicht am Ende der Bremser; sonst habenwir hier danach eine ganz andere Debatte.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Marie-Luise Dött für die Fraktion
der CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Auch in der vor uns liegenden Le-gislaturperiode werden Umwelt- und Klimaschutz imZentrum der politischen Arbeit stehen; Sie haben das ge-rade von allen Rednern gehört. Der Koalitionsvertragzeigt das mehr als deutlich. Das umwelt- und klimapoli-tische Programm dieser Regierung ist Garant dafür, dassDeutschland beim Klima- und Umweltschutz auch inZukunft internationaler Schrittmacher bleibt.
Union und FDP werden dafür sorgen, dass das hohe Um-weltschutzniveau in Deutschland ausgebaut wird, dasswir in Europa der umweltpolitische Treiber bleiben unddass von Deutschland auch künftig wichtige Impulse fürden internationalen Umwelt- und Klimaschutz ausgehen.Wir alle beobachten die Vorbereitungen zum Welt-klimagipfel in Kopenhagen sehr genau. Die Vorzeichenfür den von uns gewünschten Durchbruch bei den Ver-handlungen stimmen nicht gerade hoffnungsvoll. Umsowichtiger ist es, dass wir die verbleibende Zeit nutzenund weiter Überzeugungsarbeit leisten. Globaler Klima-schutz darf nicht zum Feld für politische Profilierungoder vermeintlich wirtschaftliche Vorteilsschöpfung imglobalen Wettbewerb werden.
Augenscheinlich haben noch nicht alle verstanden,dass derjenige, der Klimaschutz als Weg aus der kohlen-stoffbasierten Energieerzeugung begreift, sich auch wirt-schaftlich fit für die Zukunft macht. Der Wettbewerbs-vorteil von morgen entsteht nicht, wenn man möglichstwenig Klimaschutz betreibt. Nicht derjenige verliert, dersich zuerst bewegt; verlieren wird derjenige, der sich zuspät bewegt.
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Marie-Luise DöttDie Übernahme globaler Verantwortung für dasKlima und die Verbesserung der internationalen Wettbe-werbsfähigkeit widersprechen sich nicht. Wer heute denpolitischen Rahmen schafft, um erneuerbare Energienvoranzubringen und die Entwicklung von Effizienztech-nologien voranzutreiben, der macht die Wirtschaft fit fürden globalen Wettbewerb von morgen. Derjenige, derheute handelt, sorgt für eine auch in Zukunft bezahlbareund damit sozial gerechte Energieerzeugung.Deutschland steht zu seinen anspruchsvollen Klima-zielen. Wir sind auf einem guten Weg, unsere Verpflich-tungen zu erfüllen. Es ist aber an der Zeit, dass andereStaaten sich ihrer Verantwortung stellen und mit konkre-ten Zusagen und nachprüfbaren nationalen Zielen mit-ziehen. Kopenhagen braucht keine Schaufensterreden.Es ist höchste Zeit für konkrete nationale Treibhausgas-minderungszusagen aller Industrienationen sowie Zusa-gen für finanzielle und technologische Unterstützung fürdie Entwicklungsländer.
Meine Damen und Herren, der Koalitionsvertrag istein klares Bekenntnis zu einer anspruchsvollen, moder-nen Umweltpolitik. Er ist Ausdruck umwelt- und klima-politischer Kontinuität. Beim Klimaschutz, bei denerneuerbaren Energien, bei Abfall, Wasser und Natur-schutz werden wir den für Bürger und Unternehmen ver-lässlichen rechtlichen Rahmen weiterentwickeln. Dabeigibt es aus meiner Sicht vor allem einen zentralen An-satz, ein zentrales Kriterium, das wir stärker beachtenwerden: Wir brauchen im Umwelt- und Klimaschutzmehr Effizienz. Wir müssen stärker als bisher das Kos-ten-Nutzen-Verhältnis der Maßnahmen im Auge behal-ten. Das ist in wirtschaftlich normalen Zeiten schon einGebot; in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise mussdie Effizienz des Mitteleinsatzes ein ganz entscheiden-des Beurteilungskriterium sein. Der Einsatz eines jedenEuros, den wir für Umwelt- und Ressourcenschutz aus-geben – ob aus Haushaltsmitteln, von Unternehmen odervon Bürgern –, muss unter Effizienzgesichtspunkten ge-rechtfertigt sein.Hier gibt es auch im Bereich der Umweltpolitik Prü-fungsbedarf. Nehmen Sie das Beispiel der Förderung dererneuerbaren Energien. Wir werden bei der Förderungder erneuerbaren Energien am bewährten Erneuer-bare-Energien-Gesetz festhalten, weil wir wissen, dassnur mit einer verlässlichen Förderung unsere anspruchs-vollen Ziele in diesem Bereich erreichbar sind. Wir wer-den daran festhalten, weil wir wissen, dass inzwischenHunderttausende Arbeitsplätze an der erneuerbarenEnergie hängen, und weil wir wissen, dass Öl und Gasmittelfristig weiter im Preis steigen werden.Richtig ist aber auch, dass wir die erneuerbaren Ener-gien mit erheblichen finanziellen Mitteln über die Ein-speisevergütung fördern. Es ist für die Politik nicht nurlegitim, sondern es ist die Pflicht, die Effizienz solcherFörderung im Auge zu behalten. Ich sage das sehr deut-lich. Hier geht es um Über-, aber genauso auch um Un-terförderung. Es geht um die Effizienz des Umgangs mitdem Geld der Bürger.
Nicht bei maximaler, sondern bei optimaler Mittel-allokation erhalten wir die erforderliche Innovations-dynamik, die am Ende der Umwelt am meisten nutzt.Umweltpolitik muss deshalb immer auch als wirtschaft-liche Optimierungsaufgabe verstanden werden. Das er-höht nicht nur die Wirkung von Umweltpolitik, sondernauch ihre Akzeptanz beim Bürger.Wenn es um Effizienz geht, dann gehören dazu auchfaire Wettbewerbsbedingungen für alle Anbieter vonUmweltdienstleistungen. Es reicht nicht, den Mittelstandregelmäßig für seine Leistungsfähigkeit zu loben. Ge-rade der Mittelstand braucht fairen Wettbewerb.
Ein fairer Wettbewerb ist das sicherste Instrument, umEffizienzreserven zu heben.Eine effiziente Umweltpolitik ist von neuen, zu-kunftsweisenden Technologien abhängig. Sie schaffenArbeitsplätze in Deutschland sowie Technologien,Werkstoffe und Produkte für die Märkte von morgen.Wenn wir die globalen „grünen Zukunftsmärkte“ beset-zen wollen, müssen wir heute dafür sorgen, dass For-schung und Entwicklung im hohen Maße technologie-offen erfolgen kann.Natürlich müssen die Bedenken bei modernen Tech-nologien ernst genommen werden. Natürlich brauchenwir begleitende Sicherheitsforschung. Es ist aber der fal-sche Weg, stetig Ängste zu schüren und jede neue Tech-nologie zunächst einmal zu stigmatisieren. Forschungund technologischer Fortschritt sind auch im Umwelt-und Klimaschutz der Schlüssel zur Zukunft.
Diesen Schlüssel dürfen wir nicht aus der Hand geben,weder bei der Elektromobilität noch bei den Nanotech-nologien oder den Biotechnologien. Moderne Technolo-gien sind keine Bedrohung, sondern eine Chance – auchfür den Umwelt- und Klimaschutz.
Derzeit steht völlig zu Recht die Klimakonferenz inKopenhagen im Mittelpunkt des politischen Interesses.Es ist mir wichtig, hier auch daran zu erinnern, dass imOktober nächsten Jahres in Japan die 10. Vertragsstaa-tenkonferenz zum Übereinkommen über die biologischeVielfalt stattfindet. Wir haben im Koalitionsvertrag eineganze Reihe von wichtigen Maßnahmen verankert, dieauch mit Blick auf diese Konferenz von Bedeutung sind.Dazu gehören: die Entwicklung eines Bundesprogrammszur Umsetzung der Biodiversitätsstrategie, die Erarbei-tung eines „Bundesprogramms Wiedervernetzung“, dieendgültige Sicherung des Nationalen Naturerbes und– das freut mich angesichts des 20-jährigen Jubiläumsdes Mauerfalls besonders – die Sicherung des GrünenBandes Deutschland entlang der ehemaligen innerdeut-schen Grenze als Naturmonument.
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Marie-Luise DöttDabei werden wir die Maßnahmen in Zusammenarbeitmit allen Verantwortlichen und den Betroffenen planenund umsetzen. Kooperation statt Konfrontation – auchdas ist ein Prinzip einer innovativen und effizienten Um-weltpolitik.Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für IhreAufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Marco Bülow für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Minister, die Energiepolitik von Union und FDP
sollte der große Wurf werden. Doch schauen wir uns ein-
mal an, was im Koalitionsvertrag zur Energiepolitik
festgelegt wurde. Da wurde vorher ein umfangreiches
Energiekonzept versprochen. Herausgekommen sind
vage Andeutungen. Nichts Genaues weiß man nicht. Es
ist eher ein Flickwerk, über das wir heute sprechen.
Die FDP hat in Oppositionszeiten immer wieder kriti-
siert – teilweise zu Recht –, dass die Energieeffizienz in
der Regierung eine zu kleine Rolle spielt. In der Tat hat
sich die SPD, was die Energieeffizienz angeht, häufig
die Zähne an den jeweiligen Ministern für Wirtschaft
und Technologie ausgebissen. Doch schauen wir uns an,
was heute im Koalitionsvertrag zur Energieeffizienz
steht. Es sind nur elf Zeilen, in denen eigentlich nichts
steht – außer dass die EU-Vorlagen eins zu eins umge-
setzt werden müssen. Die EU-Vorlagen eins zu eins um-
zusetzen heißt – das hat Herr Kelber schon gesagt –, sich
an dem Land zu orientieren, das in Europa alles blo-
ckiert. Das bedeutet höchstens Mittelmaß bei der Ener-
gieeffizienz.
Kommen wir zu den erneuerbaren Energien. Ich bin
wie wahrscheinlich viele in diesem Haus froh darüber,
dass sich endlich auch die FDP und die Union insgesamt
für die erneuerbaren Energien einsetzen. Sie werden
auch weiterhin gefördert – Gott sei Dank. Trotzdem, so
ganz sicher sind Sie sich anscheinend nicht. Noch im
Wahlkampf sagte zum Beispiel der stellvertretende Frak-
tionsvorsitzende Meister, dass die Vorrangregelung nicht
weiter gelten soll. Gott sei Dank haben sich die Fort-
schrittlichen in beiden Parteien durchgesetzt; die Vor-
rangregelung wird bestehen bleiben.
Eine erste Maßnahme ist jedoch die Kürzung der För-
dersätze. Darüber hinaus ist die Diskussion über die Er-
neuerbaren nicht zielgerichtet. Wenn man diese wirklich
fördern will, dann muss man schauen, wohin die Reise
geht. Hierbei geht es um die Netzintegration und vor al-
len Dingen um die Förderung von Kombikraftwerken.
Ich glaube, dass wir zielgerichtet darüber diskutieren
müssen – da werden Sie uns an Ihrer Seite haben –, wie
man die Erneuerbaren fördert.
Ich fordere Sie auf – das ist wichtig; Sie haben ja nicht
nur hier, sondern auch in den Ländern die Mehrheit –, mit
Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ländern zu spre-
chen. Eine Behinderung der Erneuerbaren stellt zum
Beispiel die Höhenbegrenzung von Windkraftanlagen
dar. Wenn man die Erneuerbaren ausbauen will, dann
muss man die Hemmnisse, die es gerade auf Länder-
ebene gibt, endlich beseitigen. Die Mehrheiten dazu ha-
ben Sie. Gehen Sie dort also voran!
Schauen wir uns einen weiteren Punkt an. Auch da
gibt es eine große Ankündigung, aus der nichts gewor-
den ist. Zur Entflechtung der Oligopole der großen Ener-
gieunternehmen ist nichts mehr in der Koalitionsverein-
barung zu lesen. Aber es gibt ja die Wunderwaffe von
Schwarz-Gelb, die in der Energiepolitik alles rettet: Das
ist die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraft-
werke. Dies ist eine antiquierte und nicht zukunftsfähige
Energie, die man jetzt doch noch einmal aus der Motten-
kiste herausholen will. Bei den großen Energieunterneh-
men haben die Sektkorken geknallt, als das Wahlergeb-
nis bekannt geworden ist; denn sie wussten, sie werden
zusätzliche hohe Milliardengewinne einfahren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauch?
Ja, natürlich.
Lieber Kollege Bülow, Sie haben im Zusammenhang
mit dem Koalitionsvertrag zwei Behauptungen aufge-
stellt, zu denen ich Sie bitte, noch einmal im Vertrag
nachzuschauen: Erstens bitte ich Sie, zur Kenntnis zu
nehmen, dass wir bezüglich der Kombikraftwerke die
Vereinbarung getroffen haben, dass es in der nächsten
EEG-Novelle einen Stetigkeitsbonus geben wird. Zwei-
tens bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen – dies ist Be-
standteil des Koalitionsvertrages –, dass wir genau das,
was Sie gefordert haben, nämlich für diesen Bereich ein
Entflechtungsinstrument in das Kartellrecht, in das Ge-
setz gegen Wettbewerbsbeschränkungen aufzunehmen,
auf Initiative der FDP vereinbart haben.
Dass für Kombikraftwerke ein Stetigkeitsbonus ein-geführt werden soll, ist zwar ein Ansatz, geht mir abernicht weit genug. Ich habe nicht gesagt, dass im Koali-tionsvertrag nichts steht. Ich habe gesagt, dass wir einezielgerichtete Diskussion führen müssen. Insgesamtglaube ich aber, dass im Koalitionsvertrag im Hinblickauf die Erneuerbaren nicht viel Neues enthalten ist.Was die Entflechtung angeht, kann ich Ihnen nur sa-gen: Mit dem, was Sie dort festgeschrieben haben, wird
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Marco Bülowes keine Entflechtung geben. Das wissen Sie genausogut wie ich. Mit der Verlängerung der Laufzeiten derAtomkraftwerke wird eigentlich erst recht alles verste-tigt, wie es ist. Ich glaube also, dass es am Ende dieservier Jahre eher eine Verstetigung der Monopolstrukturengeben wird und wir keinen Schritt vorwärts gekommensein werden.
Als Nächstes komme ich darauf zu sprechen, was derBürger davon hat. Vielleicht haben ja auch die Bürgerin-nen und Bürger etwas davon, dass die Laufzeiten derKernkraftwerke verlängert werden. Es wird immer vieldavon geredet, dass dann zum Beispiel die Energiepreisesinken werden. Alle wissen aber mittlerweile, dass derEnergiepreis an der Börse festgelegt wird und dass Län-der, die einen sehr hohen Anteil an Atomenergie haben,keine niedrigen Energiepreise haben. Der Bürger wirddavon also nichts haben. Aber ich sage Ihnen, was derBürger von der Verlängerung der Restlaufzeiten habenwird:Erstens wird er – das habe ich gerade schon angedeutet –davon haben, dass sich die Monopolstrukturen verstetigenund die vier großen Energieversorger weiterhin die Preisediktieren.Zweitens wird er davon haben, dass bei einer Verlän-gerung der Laufzeiten in zehn Jahren 4 500 Tonnenhochradioaktiver Atommüll zusätzlich gelagert werdenmüssen.Drittens wird er davon haben, dass er in der Unsicher-heit leben muss, dass einer der Pannenreaktoren, dieweiterhin am Netz bleiben, vielleicht doch einmal explo-diert, oder zumindest mit Zwischenfällen leben muss.Viertens wird er davon haben, dass die Versorgungssi-cherheit zurückgeht. Es kann sich ja bei diesen Reakto-ren nicht nur ein großer Unfall ereignen; vielmehr sindfast immer ein, zwei oder drei dieser Reaktoren gar nichtam Netz und bringen also nicht die Energie ins Netz, dieeingeplant ist. Dadurch wird auch die Versorgungssi-cherheit geschwächt. Hier haben wir ein großes Trauer-spiel zu beklagen.Fünftens wird er davon haben – das ist der wichtigstePunkt, der schon ein paar Mal angesprochen wurde –,dass die Investitionen in die Erneuerbaren, der Ausbauder erneuerbaren Energien, gebremst werden. Eines istdoch klar: Die Gewissheit, dass solche Großkraftwerkenoch zehn oder wie viele Jahre auch immer länger laufenwerden, wird dazu führen, dass der Druck, weiterhin indie Erneuerbaren zu investieren, aus dem Kessel ent-weicht. Diese Investitionen werden zurückgehen.Deswegen nenne ich dieses Gesetz oder dieses Pro-gramm das größte Mittelstandshemmnisprogramm derletzten 20 Jahre. Eines ist klar: Gerade im Bereich dererneuerbaren Energien wurden sehr viele Arbeitsplätzebeim Mittelstand und beim Handwerk geschaffen, wasbei der Atomwirtschaft eben nicht der Fall ist. DieseMaßnahme wird also eindeutig den Mittelstand schädi-gen; auch dies werden die Bürgerinnen und Bürger inKauf nehmen müssen.Richtig ist, dass Ihnen selber bei der ganzen Ge-schichte nicht wohl ist. Deswegen wird von Ihnen immerhäufiger von der Brückentechnologie Atomenergie ge-sprochen. Brückentechnologie ist aber nur ein anderesWort dafür, dass es sich um eine alte Technologie han-delt, die Sie eigentlich selber nicht mehr wollen, aberjetzt noch ein bisschen in Kauf nehmen. Am besten wärees daher, beim alten Beschluss zu bleiben und die Atom-energie auslaufen zu lassen. Das wäre der ehrlichsteUmgang.Herr Minister, ich wünsche Ihnen bei Ihrer Arbeit al-les Gute, vor allen Dingen bei der Klimakonferenz, aberauch beim Ausbau der erneuerbaren Energien und vielenanderen Projekten, die Sie vor sich haben. Vor allemaber wünsche ich Ihnen ein besseres Händchen – ichweiß, dass Sie teilweise gar nicht dabei waren – als beidem Ergebnis, das im Koalitionsvertrag steht. Dann wer-den Sie uns konstruktiv an Ihrer Seite haben. Ansonstenwerden Sie natürlich mit Kritik zu rechnen haben. In die-sem Sinne alles Gute!
Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Meierhofer
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Man hat das Gefühl, die Kollegen aus der Opposition ha-ben ihre Reden vorher geschrieben und können es ei-gentlich gar nicht fassen, dass die FDP und die Unionsich im Hinblick auf die erneuerbaren Energien we-sentlich positiver aussprechen, als sie es jemals erwartethätten.
Deswegen sind sie jetzt nicht in der Lage, auf das zu rea-gieren, worum es wirklich geht, und stellen hier irgend-welche schrecklichen Märchen und Albträume in denRaum, von denen sie glauben, dass sie wahr würden, ob-wohl nichts, aber auch gar nichts davon wahr ist. Die ge-samte Branche der erneuerbaren Energien hat dies ka-piert. Ich bitte daher auch Sie, es endlich zur Kenntnis zunehmen.
Es ist köstlich, wenn ich hier höre, wir seien die größ-ten Lobbyisten der Großkonzerne. Die beiden bekann-testen, die mir in diesem Zusammenhang einfallen, sinddie beiden Gasleute Gerhard Schröder und JoschkaFischer.
Insofern scheinen die großen Lobbyisten bei Ihnen undnicht bei uns zu sitzen. Auch hier sollten wir einmal da-
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Horst Meierhoferrauf achten, wie weit Wirklichkeit und Anspruch ausei-nander liegen.Sie haben hier so getan, als garantierten wir denGroßkonzernen irgendwelche Gewinne, indem wir sag-ten, ein großes Unternehmen müsse weiterhin die ganzeZeit am Netz sein, weil es sich ansonsten nicht lohne. Esist doch nicht die Entscheidung der Politik, ob sich einAtomkraftwerk oder ein Kohlekraftwerk lohnt. Es ist dieEntscheidung eines jeden Unternehmers, ob es sich lohntoder nicht. Solange es den Einspeisevorgang gibt – dafürhaben wir uns verpflichtet –, sind all Ihre ganzen Be-fürchtungen obsolet, Sie können sie vergessen.
Ich würde gerne zu zwei oder drei anderen Themennoch etwas sagen. Zum einen geht es um den Bereichder Rohstoffpolitik. Wir hatten früher – gerade in den90er-Jahren – Probleme mit Müllbergen, mit der Entsor-gungspolitik im Allgemeinen. Das ist Gott sei Dank vor-bei. Wir sind mittlerweile auf einem Weg – den habenwir hier auch eingeschlagen –, Rohstoffe und Ressour-cen als Wertstoffe anzusehen. Dieser Bereich ist mirganz wichtig. Wir können es uns ökologisch und ökono-misch einfach nicht mehr leisten, alles nur noch als Ab-fall zu betrachten. Meist sind es Wertstoffe.
Dafür müssen wir den Weg freimachen. Wir müssen unsvon alten Denkweisen verabschieden und Verpackungdefinieren. Wir müssen uns überlegen, welches Materialwelche Eigenschaften hat. Danach müssen wir entschei-den. Ich hoffe – in der letzten Legislaturperiode hatte ichden Eindruck –, dass wir mit der Opposition einen brei-ten Konsens erreichen können.Wir müssen die Verpackungsverordnung neu kon-struieren. Das ist wichtig. Wir brauchen einen echtenNeuanfang und dürfen nicht weiter im alten System blei-ben. Wir brauchen effizientere und verbraucherfreundli-chere Abfall- und Ressourcenpolitik. Wir müssen wegvon der alten Symbolpolitik, in der wir die Menschen alsdressierte Äffchen betrachteten. Vielmehr müssen wirdarauf achten, dass wir beste Ergebnisse erzielen undden Menschen möglichst wenig Umstände zumuten,wenn sie ökologisch nicht sinnvoll sind.
Ich möchte einen kritischen Punkt ansprechen: diesteuerliche Gleichstellung im Abfallbereich. Es gabeinen großen Aufschrei in der Bevölkerung und in derOpposition. Uns wurde vorgeworfen, dass wir die Men-schen abkassieren wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Ichwill Ihnen das erklären.Es geht darum, dass wir die Privilegien abschaffen,die vor allem die öffentlich-rechtlichen Unternehmenhaben. Es ist natürlich schwer, die Abschaffung von Pri-vilegien zu akzeptieren, wenn man sie über Jahrzehntegehabt hat. Aber eins möchte ich Ihnen sagen: Wenn je-mand bereit ist, privat Geld zu investieren, und das Ri-siko des Unternehmertums eingeht und dabei in einemWettbewerb mit der öffentlichen Hand steht, in dem dieöffentliche Hand 0 Prozent Mehrwertsteuer zahlt und derprivate Unternehmer 19 Prozent, dann halte ich das, ehr-lich gesagt, für einen Skandal.
Wir müssen zu fairen Wettbewerbsbedingungen kom-men. Das bedeutet nicht, dass es teurer wird bzw. dassdie Daseinsfürsorge geschmälert wird. Ganz im Gegen-teil. Beim Trinkwasser – ein sehr sensibler Bereich – wares sicher genauso. Wir haben es geschafft, einen fairenWettbewerb durch einen ermäßigten Steuersatz zwischenöffentlich-rechtlichen und privaten Unternehmen zu ge-währleisten. Da es uns dort gelungen ist, wird es unsauch im Bereich Abfall gelingen.
Es geht darum, dass wir keine Abzocke wollen. Wirwollen genau das Gegenteil. Wir haben festgestellt, dassauch schon jetzt Unternehmen, die den vollen Mehrwert-steuersatz zahlen, mit den öffentlich-rechtlichen, diekeine Mehrwertsteuer zahlen, zum Teil mithalten kön-nen. Man sieht, dass es bei der Einsparung große Poten-ziale gibt. Wir müssen es schaffen, die Unternehmen ineinen fairen Wettbewerb zu bringen. Wenn uns das ge-lingt, dann haben wir eine große Chance auf Erfolg.
Lassen Sie mich etwas zum Thema Durchgängigkeitvon Fließgewässern sagen. Mir persönlich war es einAnliegen, dass wir uns darauf geeinigt haben, den hohenWert der frei fließenden Gewässer anzuerkennen. Wirwollen die Durchgängigkeit nicht nur halten, sondern so-gar noch ausbauen. Das ist wichtig, weil es auch die Eu-ropäische Wasserrahmenrichtlinie vorschreibt. Wir er-kennen fließende Gewässer als echten Wert und nichtnur als Wasserstraße an. Wir müssen die Menschen,Tiere und Pflanzen in den Fokus stellen, statt nur die zutransportierenden Frachten.
Auch das haben wir in diesem Koalitionsvertrag verein-bart.Ich möchte auch darauf hinweisen, dass wir uns an ei-ner Stelle nicht geeinigt haben, nämlich in der Frage, wiees mit der Donau zwischen Straubing und Vilshofen wei-tergeht. Das finde ich schade, aber auch das muss manoffen diskutieren.Mein letzter Punkt, über den ich gerne sprechenwürde, ist der Lärmschutz. Wir haben uns für mehr In-frastruktur ausgesprochen. Wir wollen uns dafür einset-zen, dass die Menschen frei in ihren Entscheidungensind, weil sie sich auch frei entfalten wollen. Es ist aberauch wichtig, dass wir den Menschen den Schutz geben,den sie benötigen. Einen Schutz geben wir ihnen da-durch, dass wir Lärmschutz ermöglichen, dass wir dieLärmschutzwerte verschärfen, dass wir den Schienenbo-
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Horst Meierhofernus abschaffen, dass wir lärmabhängige Trassenpreisebei der Bahn einführen. Sie sehen, es gibt viele konkretePunkte, die zu einer Verbesserung dessen führen, was dieMenschen erwarten können, zu einem echten Natur- undUmweltschutz für die Menschen und mit den Menschen.
Es ist keine Frage von links oder rechts, wie man mitÖkologie umgeht. Es geht auch nicht darum, was aus Ih-rer Sicht ideologisch richtig oder falsch ist. Es geht umdie Frage, ob etwas grundsätzlich richtig oder falsch ist.Es geht um den Unterschied zwischen gut gemeint undgut gemacht. Wir entscheiden uns für gut gemacht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Dorothée Menzner für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Herr Minister! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Das zentrale Projekt der Koalition im Be-reich Energie und Klimapolitik ist die Aufkündigungdes Atomausstiegs. Das ist ein Rollback und eine Ver-höhnung der Menschen, die sich seit Jahren und Jahr-zehnten für ihre Sicherheit, für die Sicherheit ihrer Kin-der und für die Sicherheit der Umwelt engagieren, derMenschen, die sagen: Ein sofortiger Atomausstieg istnötig.Die Kapitalanleger haben das sehr schnell realisiert.Die Entwicklung des Aktienkurses der großen Strom-konzerne in den letzten Wochen macht das deutlich. DieAnleger wissen: Längere Laufzeiten längst abgeschrie-bener AKWs sind eine Lizenz zum Gelddrucken.
Laufzeitverlängerungen – das ist hier schon mehrfachgesagt worden – sind keine Brücke für erneuerbare Ener-gien, sondern eher eine Weichenstellung dagegen. DerSachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregie-rung bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, es gebe einengrundlegenden Systemkonflikt zwischen Atom- undKohlekraftwerken auf der einen und erneuerbaren Ener-gien auf der anderen Seite. Ich halte es für sehr sinnvoll,wenn sich die Politik von Sachverständigen beratenlässt. Man sollte sie aber nicht nur reden lassen, und mansollte nicht beratungsresistent sein. Das, was ich in die-sem Koalitionsvertrag lese, lässt allerdings einen ande-ren Schluss zu.Zum Hauptpunkt meiner heutigen Rede, zur atoma-ren Endlagerung: Dabei haben wir einen grundlegen-den Dissens, der sich nicht einfach auflösen lässt. Derdürre Satz im Koalitionsvertrag „Die Endlager Asse IIund Morsleben sind in einem zügigen und transparentenVerfahren zu schließen“ macht deutlich, was die Koali-tion plant: Deckel drauf, Augen zu.
Es mag Sie ja wenig beeindrucken, wenn wir alsLinke sagen, dass das mit uns nicht zu machen ist. Aberich versichere Ihnen: Auch die Menschen in der Region,die Menschen in Niedersachsen werden das nicht mitsich machen lassen. Das machen sie seit 30 Jahren im-mer wieder deutlich. Ich erinnere alle, die das vielleichtnicht mehr im Kopf haben, an die Lichterkette im Fe-bruar, die von Braunschweig über Schacht Konrad zurAsse führte, oder an den Treck aus dem Wendland nachBerlin im September.
Der Widerstand lebt seit 30 Jahren. Er ist vital und wirdauch weiterhin vielfach sichtbar werden. Die Menschenin Niedersachsen und anderswo lassen sich nicht ver-schaukeln, und sie lassen sich auch nicht belügen. Davorhaben Sie Angst.Dass eine Gefahr besteht, haben Sie gestern – ich ver-mute, unfreiwillig – dokumentiert. Gestern erhielten wirdie Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner KollegenPetra Pau zu den Kosten für Asse II. Sie fragte, was dieKonzerne, die eingelagert haben, für die Einlagerung inder Asse II bezahlt haben. Aus der Antwort der Parla-mentarischen Staatssekretärin Heinen-Esser geht her-vor, dass die Konzerne genau 16 548 553,68 DM gezahlthaben, also rund 16,5 Millionen DM. Weiterhin teilt dasMinisterium mit – ich zitiere –:Eine rechtlich verpflichtende Beteiligung der Ener-gieversorgungsunternehmen an den Stilllegungs-kosten der Asse hätte vor der Ablieferung der Ab-fälle mit den Erzeugern vereinbart werden müssen.Dies ist jedoch nicht geschehen.Und dann schreiben Sie im Koalitionsvertrag, dassSie es anstreben, die Unternehmen, die Erzeuger an denKosten der Erschließung zu beteiligen. Das klingt in denOhren der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wieHohn. Sie müssen für die Milliarden einstehen, die beider Schließung der Asse – das ist absehbar – auf uns allezukommen werden.
Beides werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, dass da-nach gehandelt wird, was opportun und politisch gewolltist. Es wird darum gehen müssen, ein transparentes undoptimal sicheres Verfahren zu finden. Man muss sicher-stellen, dass die Gefahren für die Menschen heute und inder Zukunft möglichst gering sind. Dafür stehen wir.Diese Auseinandersetzung werden wir in den nächstenJahren auch von dieser Stelle aus führen.Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat nun Kollege Josef Göppel für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ver-
halten der Deutschen in der Umweltpolitik richten sich
viele andere aus. Wenn sich die Deutschen in einer Sa-
che zurückhalten, dann bleiben auch viele andere in der
Deckung. Das merken die Teilnehmer an internationalen
Umweltkonferenzen immer wieder. Deshalb brauchen
wir in der jetzigen Phase einer gewissen Stagnation in
der internationalen Klimapolitik einen neuen Anschub.
Herr Bundesminister Röttgen, wir wünschen Ihnen
Glück im neuen Amt. Ich darf Ihnen die volle Unterstüt-
zung der Umweltpolitiker und Umweltpolitikerinnen der
Union zusagen. Wir erwarten allerdings viel von Ihnen.
Die erste große Herausforderung liegt jetzt in Kopenha-
gen. Dort muss der gordische Knoten der gegenseitigen
Zurückhaltung durchschlagen und es müssen konkrete
Angebote für den internationalen Waldschutz und für die
Entwicklung klimaverträglicher Technologien in den
Entwicklungsländern auf den Tisch gelegt werden.
Ich möchte Ihnen sehr danken, dass Sie sich, was die
Ziele für Kopenhagen angeht, so klar positioniert haben.
Wir haben es auf innereuropäischer Ebene mit dem-
selben Sachverhalt zu tun. Ich nenne das Gezerre um die
sogenannten Nullenergiehäuser bei Neubauten ab 2019,
die das Europäische Parlament vorschreiben will, oder
auch um die verpflichtenden Anreize in der europäi-
schen Gebäudeeffizienzrichtlinie für die energetische
Sanierung von Altbauten. Der Europäische Rat ist nach
wie vor dagegen. Wir in Deutschland haben solche An-
reize mit den KfW-Programmen, mit dem Marktanreiz-
programm des Umweltministeriums, und ich hoffe, es
wird eines Tages auch steuerliche Anreize geben, weil
da viel Geld sinnvoll lockergemacht werden kann für
den Klimaschutz, für Energieeinsparung und für Arbeits-
plätze in Handwerk und Mittelstand.
Der Wandel von einer zentralen zu einer dezentralen
Stromerzeugung, die Abwärme vermeidet, wo Ab-
wärme also nicht ungenutzt bleibt, sondern zusammen
mit der Stromerzeugung sinnvoll genutzt werden kann,
ist ein Schlüssel für unsere technologische Wettbewerbs-
fähigkeit auf den Weltmärkten der Zukunft und natürlich
auch für den Klimaschutz.
Deswegen möchte ich an dieser Stelle auf die Verlän-
gerung von Laufzeiten eingehen. Herr Kollege Kauch
hat völlig recht. Im Vertrag steht: Wir sind bereit, Lauf-
zeiten zu verlängern. – Aber ich sage hier auch ganz
deutlich: Wenn die Begrenzung der Laufzeiten fällt,
dann müssen auch die Gegenleistungen im Ausstiegsver-
trag der damaligen rot-grünen Koalition vom Juni 2000
fallen, nämlich die steuerliche Begünstigung der Rückla-
gen, die Begrenzung der Versicherungspflicht für Reak-
toren, die bis zu zehn Jahre langen Prüfungsintervalle
und die Begünstigung – es ist da von „ungestörtem Be-
trieb“ die Rede – im Wettbewerb mit anderen Formen
der Stromerzeugung. Das zusammen schafft ein Klima,
das man entweder für Innovationen nutzen kann oder für
die Zementierung von Zuständen. Unser Nachbarland
Belgien macht übrigens im Moment vor, wie ein solcher
Energievertrag für ein ganzes Land aussehen kann.
Die Internationale Energieagentur hat gestern be-
kanntgegeben, dass die Investitionen im Energiesektor
wegen der Finanzkrise um 20 Prozent eingebrochen
sind. Die Umweltpolitik hat ein elementares Interesse an
einer wirkungsvollen Regulierung des Finanzsektors.
Das Geld, das zur Rettung von Banken ausgegeben wer-
den muss, steht nicht mehr für technische Innovationen
und für den Klimaschutz zur Verfügung.
Ich denke, dass an der Stelle eine neue kulturell-geis-
tige Diskussion angebracht ist, die das Überstülpen von
ökonomischen Kategorien auf alle Lebensvorgänge
überwindet. Da möchte ich Sie, Herr Minister Röttgen,
zitieren und unterstützen. Sie haben die ethische Veran-
kerung der Umweltpolitik angemahnt. Die aktuelle Situ-
ation hat niemand besser beschrieben als Roger de Weck
in der FAZ vom vergangenen Sonntag. In einem Artikel
hat er geschrieben:
Die derzeitige Krise … ist eine Folge … jener
Denkweise, die alles nach wirtschaftlichen Ge-
sichtspunkten beurteilt und nur wirtschaftliche Ka-
tegorien anerkennt …
Heute beherrscht der Markt die Gesellschaft, statt
ihr zu dienen.
Die Umweltpolitik der nächsten vier Jahre steht deshalb,
so denke ich, auch unter einem starken Werteanspruch.
Gehen wir an unsere Aufgaben heran im Bewusstsein
der Fülle des Lebens!
Das Wort hat nun Kollege Frank Schwabe für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist nicht ganz leicht, seiner Oppositionsrolle gerecht zuwerden, wenn gerade vorher der Kollege Göppel geredethat.
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Frank SchwabeIch finde, dass auch der Herr Bundesminister viele rich-tige Worte gefunden hat. In einigen Tagen findet die Kli-makonferenz in Kopenhagen statt. Einige von uns wer-den in Kopenhagen vor Ort sein. Wir brauchen in der Tatein substanzielles Abkommen; ich fand die Worte dazudurchaus richtig. Das ist eine historische Aufgabe. Jedesweitere Jahr ohne ein solches Abkommen wird ein inmehrfacher Hinsicht verlorenes Jahr sein. Ich finde auchrichtig – das will ich an dieser Stelle ausdrücklichsagen –, dass die Kanzlerin gestern gesagt hat, dass auchsie in Kopenhagen vor Ort sein wird und, so hoffe ich,zum Gelingen dieses Abkommens beitragen kann. HerrRöttgen, hier haben Sie unsere Unterstützung.Das waren dann aber auch schon die Gemeinsamkei-ten. Es geht nämlich um Grundsatzfragen der deutschenKlima- und Energiepolitik in den nächsten Jahren. Diezentrale Frage ist, ob man jenseits von Rhetorik und Ly-rik – auch das ist natürlich notwendig – versteht, welcheAuseinandersetzungen es eigentlich gibt und welchezentrale Herausforderung der Klimawandel an die Ver-änderungsbereitschaft von Volkswirtschaften und imHinblick auf die Veränderungsnotwendigkeiten in derEnergieversorgung stellt.All das, was Sie dazu gesagt haben, hat sich gut ange-hört. Ich bin gespannt, wie Sie sich in den nächsten Jah-ren mit Ihrer Fraktion und mit der FDP-Fraktion verstän-digen werden. Ich kann Ihnen sagen: Das ist, zumindestwas die Unionsfraktion angeht, nicht ganz leicht. DieseErfahrung haben wir in den letzten Jahren gemacht.Es geht um die Frage: Will man eine neue, zukunfts-fähige Energiepolitik betreiben, oder will man das, wasist, konservieren, den Umbau verhindern und – es tut mirleid, das sagen zu müssen – das Werk von Lobbyistenbetreiben? Im Koalitionsvertrag steht das eine oder an-dere Gute – das will ich Ihnen durchaus zugestehen; esgab in den letzten Jahren manche Lerneffekte –, aber anvielen Stellen habe ich den Eindruck: Das ist eins zu einsvon Lobbyisten übernommen worden. Ich bin mir imÜbrigen sicher: Die Wahrheit werden wir erst nach derNRW-Wahl zu hören bekommen.Wir führen in der SPD gerade eine interne Diskussiondarüber, was in den letzten elf Jahren unserer Regie-rungsbeteiligung gut war und was nicht so gut war. Dasist notwendig, und wir machen das sehr selbstbewusstund sehr eigenständig.
– Ja, das ist vernünftig.Was die Klima- und Energiepolitik angeht, will ichIhnen sagen: Wir sind alle gemeinsam sehr stolz auf das,was in den letzten Jahren erreicht wurde. Wir haben unseine internationale Führungsrolle erkämpft – sie ist unteranderem mit den Namen Hermann Scheer, MichaelMüller und sicherlich auch Sigmar Gabriel verbunden –,und wir haben es geschafft, eine nationale Strategie zumAusbau erneuerbarer Energien voranzutreiben. Ich sageIhnen: Das geht nicht ohne Weiteres, sondern das ist ge-gen massive Widerstände erkämpft worden, gegen mas-sive Widerstände der FDP, der CDU, der CSU und vonTeilen der Gesellschaft. Jetzt wollen Sie, Herr Röttgen,für eine neue Politik stehen. Ich wünsche Ihnen dabeiviel Erfolg. Aber ich sage Ihnen: Das wird nicht ganzleicht werden.Zum Atomausstieg und zu den erneuerbaren Energien.Sie versuchen, die Kernenergie als Brückentechnologiedarzustellen und den Menschen möglichst viel Sand indie Augen zu streuen. Die Börsen haben es verstanden.Einen Tag nach der Wahl konnte man beobachten, wiesich die Aktienkurse der entsprechenden Unternehmenentwickeln. Atomkraft und der Ausbau erneuerbarerEnergien passen nicht zusammen. Das hört sich immerschön an. Wenn man sich das aber unter technischen Ge-sichtspunkten ansieht, stellt man fest: Auf Dauer wird dasnicht funktionieren. Die Lobbygruppen werden in dennächsten Jahren entsprechend wirken.Meine Sorgen sind, dass die Fliehkräfte in Ihrer Ko-alition größer werden und dass auch der Druck, der aus-geübt wird, um die Rücknahme von Maßnahmen beimKlimaschutz zu erreichen, zunehmen wird. Bereits inden letzten Jahren haben wir eine Politik erlebt, in derenRahmen Europa seiner Führungsrolle nur noch bedingtgerecht geworden ist; das will ich an dieser Stelle deut-lich sagen.Frau Dött hat vorhin gesagt: Kopenhagen brauchtkeine Schaufensterreden. Herr Röttgen, Sie haben ge-sagt: Es gibt keinen Plan B. Wenn das so ist, muss mandie Ziele, die man vor Ort erreichen will, zum Beispieldie 40-prozentige Reduzierung des CO2-Ausstoßes, mitentsprechenden Maßnahmen unterlegen. Wir könneneinmal beim Kaffee darüber reden, wie das Ziel, dieEmissionen um 40 Prozent zu reduzieren, zustande ge-kommen ist bzw. an wem es, jedenfalls eine Zeit lang,gescheitert ist. Ich jedenfalls weiß das ziemlich genau.Man muss das Ziel, das man hat, wie gesagt, durchMaßnahmen glaubwürdig unterlegen. In dieser Hinsichtfehlt mir im Koalitionsvertrag einiges. Wie will mandiese 40 Prozent erreichen? Wir haben in Meseberg Pro-gramme auf den Tisch gelegt; allerdings reicht das nichtaus. Da muss nachgelegt werden, und man muss zuneuen Maßnahmen kommen.Ich glaube in der Tat, man beschädigt die Glaubwür-digkeit der deutschen Klimaschutzpolitik, wenn man denEindruck erweckt, dass man das Allermeiste über fle-xible Mechanismen, über CDM, erreichen will.
CDM ist wichtig; aber CDM kann nur ein zusätzlichesInstrument sein. Der Hauptbeitrag zum Klimaschutzmuss vor Ort, in Deutschland, in Europa, geleistet wer-den.Wenn der Minister die historische Aufgabe der Kon-ferenz in Kopenhagen beschreibt, ist darauf hinzuwei-sen, dass es notwendig ist, zu schauen, was noch getanwerden muss. Die Entwicklungsländer brauchen Fi-nanzzusagen. Sie werden ein internationales Abkommennicht mittragen, wenn man ihnen keine Finanzzusagenmacht, wie man die Schäden, die durch den Klimawan-
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Frank Schwabedel entstehen und die es schon heute gibt, eingrenzen,wie man sie ausgleichen, wie man für Technologietrans-fer sorgen, wie man den Wald schützen will. Solangeman diese Fragen nicht beantwortet, wird ein solchesAbkommen nicht funktionieren. Da hat die Bundesregie-rung beim Europäischen Rat und beim Finanzminister-treffen der G 20 gefehlt.Es gibt einen Vorschlag der Europäischen Kommis-sion, für die Entwicklungsländer jedes Jahr 15 Mil-liarden Euro zur Verfügung zu stellen. Es gibt einen Vor-schlag des Umweltausschusses des Europäischen Parla-ments, jedes Jahr Transferleistungen in Höhe von30 Milliarden Euro bereitzustellen. Irgendwo in diesemBereich muss sich das Angebot bewegen. Wenn manwill, dass die Konferenz von Kopenhagen Erfolg hat,muss die Bundesregierung massiv dazu beitragen, dassdie Europäische Union ein solches Angebot macht.Ich will zum Ende noch einmal sagen: Von dem, wasSie gesagt haben, war vieles richtig. An Vorschlägen zurUmsetzung und an Visionen mangelt es im Koalitions-vertrag jedoch. Insofern freue ich mich auf die Ausei-nandersetzung in den nächsten Jahren; sie wird span-nend.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereichliegen nicht vor.Wir kommen nun zum Themenbereich Verkehr, Bauund Stadtentwicklung.Das Wort dazu hat Bundesminister Peter Ramsauer.
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Nach vielen parlamentarischen Funktionen in den19 Jahren meiner Mitgliedschaft in diesem Hohen Hausestehe ich heute das erste Mal im Amt des Bundesminis-ters für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung am Redner-pult.Ich möchte gleich zu Beginn meiner Rede zusammen-fassend klarmachen, worum es mir geht. In meinem Res-sort befassen wir uns mit elementaren Grundbedürfnis-sen aller Menschen. Alle Menschen in Deutschlandwohnen, fahren, sind mobil. Oder es wird für sie gebaut,bzw. sie bauen selbst. Mein Ziel ist es, mit meinem Mi-nisterium diesen Grundbedürfnissen der Menschen aufdas Bestmögliche gerecht zu werden. So klar und ein-deutig und einfach ist die Zielsetzung.
Ich habe meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternbei der Vorstellung an den beiden Dienstorten – hier inBerlin ebenso wie an dem großartigen Dienstort Bonn –erklärt:
Die Menschen in Deutschland müssen spüren, dass wirin diesem Ministerium täglich für sie da sind.
Dazu sind wir gut ausgestattet: Wir haben den größtenInvestitionshaushalt aller Bundesministerien.
Mein Ministerium ist in den letzten elf Jahren mehr-mals umbenannt worden. Ich war knapp davor, dies nocheinmal zu tun; aber nicht immer sind aller guten Dingedrei. So habe ich es bei der Bezeichnung belassen.Eines muss aber natürlich klar sein: Obwohl es in derAmtsbezeichnung „und Stadtentwicklung“ heißt und esnatürlich um die Stadtentwicklung und die Entwicklungstädtischer Monopolregionen geht, muss es uns – dassage ich ebenso klar und deutlich – genauso darum ge-hen, die ländlichen Räume gut und bestmöglich zu ent-wickeln.
Ich kündige hier an, dass ich als zuständiger Minister indiesem Bereich neue Akzente setzen werde.
Wir können uns in Deutschland darüber freuen, dasswir großartige Kulturlandschaften und große, tolle länd-liche Räume vom Wattenmeer bis zu den Alpen, von derSächsischen Schweiz bis in die Eifel haben. Das sindauch hervorragende Wirtschaftsstandorte.Ich bringe es einmal auf den Punkt: Metropolregionenkönnen ohne funktionierende ländliche Räume nichtsein, und gute, funktionierende ländliche Räume könnenohne gut entwickelte, urbane Zentren nicht sein. Beidesgehört zusammen, und deswegen geht es mir in meinemHaus nicht nur um Stadtentwicklung, sondern ebensoauch um die ländlichen Räume.
– Darauf komme ich gleich noch. Wenn Sie meine Inter-views aufmerksam lesen würden, dann kämen Sie aufsolche Zwischenrufe gar nicht.Damit sind wir aber auch schon bei der Infrastruktur-politik. Hier mache ich gleich eines klar: Ich werde mitder ideologisch motivierten Bevorzugung einzelnerVerkehrsträger Schluss machen.
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Bundesminister Dr. Peter RamsauerIch werde keinen einzelnen Verkehrsträger gegenüberanderen Verkehrsträgern irgendwie benachteiligen.
– Das heißt, dass wir selbstverständlich versuchen wer-den, den Frachtverkehr und natürlich auch den Perso-nenverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern.Zur Politik gehört aber auch Realismus.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Nach der Delle, die wir zur-zeit durch die Wirtschaftskrise erleben, wird es wiederzu den entsprechenden Wachstumsraten im Frachtbe-reich kommen. Wir können schon froh sein, wenn wirdie gesamte zusätzliche Fracht auf die Schiene verlagernkönnen, sodass sie nicht auch noch auf der Straße trans-portiert wird; denn eines ist auch klar – das lehrt die jah-relange politische Erfahrung –: Wenn Sie Schienenbauen oder ausbauen wollen – und seien die Immissio-nen noch so günstig –, dann stoßen Sie überall auf dengleichen erbitterten Widerstand der anliegenden Bevöl-kerung wie dann, wenn Sie Straßen neu oder ausbauenwollen.
– Aber es lohnt sich, und deswegen werden wir uns die-sen Herausforderungen stellen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich stehen wirbei den Infrastrukturmaßnahmen in einer gesamtstaatli-chen Verantwortung. Mein Ziel ist es, dass die Infra-struktur im Norden so gut ist wie im Süden und im Ostenso gut ist wie im Westen.
In den neuen Bundesländern haben wir inzwischen ei-nen hervorragenden Ausbauzustand erreicht. Wir sindstolz darauf, dass alle 17 Verkehrsprojekte „DeutscheEinheit“ im Bau oder bereits fertiggestellt sind, dass wirbis Ende 2008 28,5 Milliarden Euro in die Verkehrs-projekte „Deutsche Einheit“ investiert haben, dass wir1 800 Kilometer Straßen neu oder ausgebaut haben unddass 95 Prozent der Straßenprojekte realisiert sind oderumgesetzt werden.Wir werden dem weiter bestehenden Bedarf in denneuen Ländern ohne Abstriche nachkommen und dienoch offenen Projekte mit allem Nachdruck verwirkli-chen. Ich nenne dazu auch einige Beispiele: die A 72von Leipzig nach Chemnitz, die A-14-NordverlängerungMagdeburg–Schwerin,
das wichtige Schienenprojekt Nürnberg–Berlin und dieSchienenausbaustrecke Berlin–Dresden–Prag. An all demwerden wir hart arbeiten.
Natürlich müssen wir auch die Balance wahren, wennwir eine gleiche Entwicklung in den alten und neuenBundesländern wollen und wenn wir es hier nicht zuneuen Brüchen kommen lassen wollen. Alle, die sich inder Debatte der letzten Tage zu Wort gemeldet haben,nicht nur aus den Reihen meiner Partei, sondern auchaus denen der Oppositionsparteien, haben klipp und klargesagt: Es war richtig, dass wir für die Investitionen inden neuen Ländern vieles zurückgestellt haben, was an-sonsten in den alten Bundesländern investiert und gebautworden wäre. – Aber alle geben auch zu, dass jetzt einNachholbedarf entstanden ist. Ich sage Ihnen klipp undklar: Ich bekenne mich ausdrücklich zu diesem Nachhol-bedarf, denn wir können es uns in Deutschland nichtleisten, auf Dauer in der Fläche Substanz auf Verschleißzu fahren.
Ich bedanke mich deshalb ausdrücklich bei meinemKollegen Arnold Vaatz, der gesagt hat: Ich bin voll da-von überzeugt, dass Peter Ramsauer damit mit keinemWort gesagt hat, dass auch nur ein Projekt infrage steht,das uns in Ostdeutschland zugesichert wurde. – LieberArnold Vaatz, genau so ist es. So viel dazu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will in diesemAmt echte operative Energie- und Umweltpolitik be-treiben. Dies passt sehr gut zu den Debatten, die wir amheutigen Vormittag in den letzten Stunden geführt haben.Wir wissen, dass wir rund ein Drittel der Energie inDeutschland für Heizen und Warmwasser verwenden.Ich setze große Hoffnungen darauf, dass wir im BereichBauen und energetische Gebäudesanierung zu gewalti-gen Energieeinsparungen kommen können.
Wir hätten es uns vor 20 Jahren nicht träumen lassen,dass wir eines Tages mit einer Entwicklung, die inzwi-schen Standard ist – ich meine das sogenannte Passiv-haus –, den Energieverbrauch beim Heizen auf rund15 Kilowattstunden pro Quadratmeter Wohnraum imJahr herunterschrauben könnten. Das sind großartigePerspektiven, die ich aus meinem Haus heraus mit allenKräften fördern werde.
Ein weiterer Bereich: Ich werde alles dafür tun, dasswir alle Potenziale der Elektromobilität ausschöpfen;auch darüber ist heute gesprochen worden. Wir bauenheute in Deutschland die besten Autos der Welt. MeinZiel ist es, dass wir in Zukunft auch die besten Elektro-autos der Welt bauen.
Ich möchte in diesem Ministerium auch in derAußenwirtschaftspolitik neue Akzente setzen. Wir wis-sen, dass Deutschland ein besonders exportorientiertesLand ist. Dem werde ich aus meinem Haus heraus we-sentlich stärker Rechnung tragen, als dies in der Vergan-
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Bundesminister Dr. Peter Ramsauergenheit der Fall war. Ich nenne einige Beispiele: Innova-tive Verkehrstechnologie, Elektromobilität, unser Know-how in der Logistik und Energieeffizienz, all das bietethervorragende Chancen, neue Märkte in aller Welt zu er-schließen. Ich jedenfalls werde die deutschen Export-interessen in diesem Bereich mit allem Nachdruck in derWelt vertreten.
Im Übrigen gilt es auch, deutschen Unternehmen aufden europäischen Märkten durch wirklichen WettbewerbChancengleichheit zu ermöglichen. Ich habe in der letz-ten Woche das Thema aufgegriffen – da gilt es, nachzu-arbeiten –, dass der Wettbewerb, beispielsweise auf derSchiene, keine Einbahnstraße sein darf, sondern dassdeutsche Unternehmen in der gleichen Weise wie andereeuropäische Anbieter bei uns die Netze in anderen Län-dern nutzen können. Dies muss auch etwa für die Deut-sche Bahn AG auf den Netzen der französischen Bahnim Bereich der Personenbeförderung möglich sein. Wett-bewerb findet immer zweiseitig statt. Die Reziprozitätmuss gewahrt werden.
Weil wir bei der Bahn sind: Eines muss auch klarsein: Netz und Infrastruktur der Bahn müssen dauerhaftin der Hand des Bundes bleiben. Ich sage klipp und klar:Privatisierung ist für mich kein Allheilmittel. Ich sageebenfalls klipp und klar: Die Bahn ist in Deutschlandkein x-beliebiges Wirtschaftsgut des Bundes, mit demman wie mit einer x-beliebigen Bundesbeteiligung ver-fahren kann.
– Ich bedanke mich, dass auch Sie das so sehen. – DieBahn hat im Bewusstsein von uns Deutschen eine ganzbesondere, herausragende Bedeutung, der ich auch ge-recht werde. Einen Börsengang der Transport- und Lo-gistiksparte werden wir unter strengster Berücksichti-gung der Lage auf den Kapitalmärkten prüfen.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, dermir als jemandem, der ein neues Ministeramt übernom-men hat, auch sehr wichtig ist. Ich habe in meinemberuflichen Leben weiß Gott schon sehr viel mit öffentli-chen Verwaltungen, öffentlichen Betrieben und öffentli-cher Wirtschaft zu tun gehabt. Daher weiß ich, dass keinöffentlicher Betrieb und keine öffentliche Verwaltungso gut organisiert ist, als dass man sie nicht noch effekti-ver und effizienter machen könnte.Ich greife einen Gedanken des Kollegen Finanzminis-ter Schäuble auf: Bei allem wirtschaftlichen und sparsa-men Handeln des Bundes müssen wir uns an vielen Stel-len die Bundesverwaltung mit all ihren Gliederungensehr genau ansehen. Ich werde mit meinem Haus einBeispiel dafür geben, wie man die Strukturen sowohl imVerwaltungsbereich als auch in den öffentlichen Betrie-ben effektiver und effizienter gestalten kann.
Mein Doktorvater, Professor Karl Oettle – er ist letzteWoche verstorben; Gott hab’ ihn selig –, hat immerschon mit aller Klarheit auf all diese Dinge hingewiesen.Ich freue mich, dass ich das anpacken kann. Bei über60 Unterbehörden gibt es zwar feste Strukturen. Ich binaber der Meinung, die Strukturen haben den Menschenzu dienen statt die Menschen den Strukturen.
Jeden Euro, den wir nicht in die Verwaltungskostenhineinpumpen, können wir investieren. Ich sehe mich inmeinem Amt weniger als Verwalter denn als Investiererin eine gute Zukunft unseres Landes.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Florian Pronold für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister, ich gratu-liere Ihnen, dass Sie nach 19 Jahren Tätigkeit im Deut-schen Bundestag jetzt dieses neue Amt innehaben. Ichhabe mich gerade an ein Buch mit dem Titel Das Peter-Prinzip erinnert. Die These dieses Buches ist: Jederkommt in seiner beruflichen Entwicklung bis zu derStelle, für die er ungeeignet ist, und dort bleibt er dann.
Ich hoffe, dass das, was in Ihrer Rede angelegt war,nicht der Beleg dafür ist, was in dem Buch steht. DennSie haben sich hier nur mit Taten gebrüstet, die sozial-demokratische Verkehrsminister zum Beispiel im Auf-bau Ost vollbracht haben.
Sie haben über Zukunftstechnologien gesprochen, dieSozialdemokraten oder die wir unter Rot-Grün auf denWeg gebracht haben. Sie haben auch etwas geschafft,das Sie von allen neu gewählten Bundesministern unter-scheidet: Sie haben es geschafft, in den ersten zwei Wo-chen kein einziges Fettnäpfchen auszulassen.
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Florian PronoldSie haben zum Tag der Deutschen Einheit eine Neidde-batte gegenüber Ostdeutschland vom Zaun gebrochen.Sie haben die Autobahnmaut für Pkws, deren Einfüh-rung angeblich nicht im Koalitionsvertrag steht, wiederzum Thema gemacht und sind gleich wieder zurückgeru-dert. Sie haben den Prozess, der – auch unter der GroßenKoalition – beim Donau-Ausbau eingeleitet wurde,durch Ihre Aussagen konterkariert. Der kürzeste Ab-stand von einem Fettnäpfchen zum nächsten wird in Zu-kunft wohl ein Ramsauer sein.
Wenn Sie in dieser Geschwindigkeit weitermachen undIhre Fähigkeit des Zuhörens weiterhin unterentwickeltbleibt, dann entsprechen Sie genau dem, was in demBuch Das Peter-Prinzip beschrieben wird.
Wir müssen uns das Ost-West-Verhältnis genau an-schauen. Ich finde, hier darf man die Solidarität auf bei-den Seiten nicht durch eine vom Zaun gebrochene Neid-debatte gegeneinander ausspielen.
Es ist richtig – das hat schon Wolfgang Tiefensee gesagt –,dass sich die Infrastrukturpolitik danach richten muss,wo der größte Bedarf besteht. Das ist nichts Neues.Wenn Sie sich anschauen, wie die Mittel in den beidenKonjunkturpaketen verteilt werden, dann werden Siefeststellen, dass der Süden im Verhältnis zum Osten überdie Maße profitiert.
Sie müssen die Fakten zur Kenntnis nehmen und solltennicht versuchen, anhand von Geglaubtem und Gefühl-tem Zwiespalt in der Gesellschaft zu säen.
Die entscheidende Frage wird sein: Was machen Siedenn, wenn nicht genügend Geld im Investitionshaushaltzur Verfügung steht? Wenn die Decke zu kurz ist, ist esegal, in welche Richtung man sie zieht. Es wird immerjemand frieren. Wenn man Steuersenkungen zugunstender Besserverdienenden vornimmt, dann wird wenigerGeld für den Straßen- und Schienenausbau und andereVerkehrsträger sowie den wichtigen Bereich Bau undStadtentwicklung zur Verfügung stehen.
– Das ist so.Es gibt noch eine weitere spannende Frage. JedesJahr, zumindest in jedem Sommerloch, wurde die Pkw-Maut vonseiten der CDU/CSU zum Thema gemacht.Herr Scheuer, der nun auf der Regierungsbank sitzt, hatin den letzten Jahren verdienstvollerweise fast jede Aus-gabe der Passauer Neuen Presse mit dem Thema Auto-bahnmaut gefüllt. Nun stellt sich die spannende Frage:Was machen Sie? Die Kanzlerin sagt Nein. Aus Ba-den-Württemberg hört man Ja. Im Koalitionsvertragsteht sicherheitshalber nichts dazu, auch nicht, dass maneine Arbeitsgruppe einsetzen will. Aber nun soll es docheine Arbeitsgruppe geben. Was wollen Sie denn? Sie vonder CSU, die Sie die Ersten waren, die die Pendlerpau-schale kürzen wollten, haben doch erlebt, welche Ergeb-nisse es zeitigt, wenn man als Raubritter Ramsauer un-terwegs ist und denen, die lange Wege zur Arbeit haben,in die Tasche langen will. Nichts anderes stellt die Auto-bahnmaut für Pkws dar, über deren Einführung Sie dis-kutieren.
Es wäre schön, wenn Sie nun klar sagten, ob Sie einePkw-Maut einführen wollen oder nicht. Das ist einewirklich spannende Frage. Hier wird deutlich, dass Geld,das man durch Steuersenkungen woanders hingibt, füreinen vernünftigen Ausbau der Infrastruktur – auch imStraßenbereich – fehlt.Schauen Sie sich an, wie unter sozialdemokratischerRegierungsbeteiligung die Investitionen im BereichStraße gerade im Süden und insbesondere in Bayern imVergleich zu dem, was vorher war, angewachsen sind.Sie sagen: Obwohl der Süden wesentlich mehr be-kommt, wird dem Osten nichts weggenommen. Daranwerden wir Sie messen. Ich bin gespannt, wie Sie dasmachen. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihre eigeneMesslatte erreichten. Wenn tatsächlich überall mehr ge-macht würde, wäre das schön. Aber ich glaube, hier ver-hält es sich wie mit Ihrer Rede: nur heiße Luft.
Es ist spannend, wenn man ab und zu einmal Lokal-zeitungen liest. Das Trostberger Tagblatt schrieb am26. Oktober dieses Jahres: „Voller Einsatz für Region“.Dazu gibt es ein hübsches Bild von dem neuen Bundes-verkehrsminister. Ich habe durchaus Verständnis für dieProbleme – ich habe schon viele bildungspolitische De-batten verfolgt –, die es in der frühkindlichen Erziehunggibt. Ich habe gesehen, dass Stoiber und Huber als Kin-der offensichtlich nie eine Eisenbahn hatten. Deswegenkamen sie auf den Gedanken mit dem Transrapid. Jetzthaben wir festgestellt, dass es dafür in Deutschlandkeine vernünftige Strecke gibt und dass der Transrapidnicht finanzierbar ist, obwohl die Technologie gut ist.Nun lese ich am 26. Oktober 2009 von Peter Ramsauer:Ich habe vor zwei Jahren bei der Beerdigung derTransrapid-Pläne schon gesagt, dass hier das letzteWort noch nicht gesprochen ist …
Ich frage mich, wie man aus diesem Haushalt auchnoch Mittel für den Transrapid bekommen soll. HerrRamsauer, ich bin wirklich überrascht, auf welche Ge-danken Sie insgesamt kommen.
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Florian Pronold– Aber das heißt noch nichts. Das ist ein guter Zwischen-ruf, aber ich befürchte, wenn ich mir den Koalitionsver-trag anschaue, ist darin nichts aufgeschrieben, was wirk-lich gemacht werden soll. Das ist ein Beispiel vonIdeenlosigkeit und hat nichts mit dem Mut zu tun, denman braucht und den Sie hier angesprochen haben, umwirklich etwas nach vorne zu bringen.In dem Kanzlerduell wurde die schwarz-gelbe Koali-tion als Tigerentenkoalition bezeichnet. Mir ist jetzt,auch wieder nach dieser Rede heute, klar geworden: Dasind welche als Tiger gestartet und als lahme Ente gelan-det.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Patrick Döring für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-schätzter Herr Bundesminister Ramsauer, zunächst ein-mal neben den Gratulationen zu dem neuen Amt nichtnur allerbeste Wünsche, sondern auch die Unterstützungder FDP-Fraktion, des Koalitionspartners. Ich persönlichund wir alle freuen uns auf die Zusammenarbeit.
Sehr geehrter, geschätzter Kollege Pronold, vielleichtwar es in Ihren Koalitionen so, dass man das, was mantun wollte, nicht in Koalitionsverträge geschrieben hat.Für uns als FDP gilt: Wir tun, was wir sagen, und wir sa-gen, was wir tun. Das gilt für den Koalitionsvertrag, unddas gilt auch für die nächsten vier Jahre.
Sie haben sich bemüht, das Prinzip von Laurence Peterund Raymond Hull hier richtig darzustellen. Wenn Siedas Buch zu Ende gelesen hätten,
dann wüssten Sie, dass es eine Fortentwicklung desPeter-Prinzips gibt, nämlich das Dilbert-Prinzip. Das be-deutet, dass der ineffizienteste Facharbeiter einer Orga-nisationseinheit immer ins Management versetzt werdenmuss, weil er da am wenigsten Schaden für die Produk-tion anrichtet. Das ist übrigens in der DDR vorzüglichpraktiziert worden. Ganz offenbar werden so auch diestellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD ausge-wählt.
Deshalb gehe ich ganz gelassen, ganz ruhig und ent-spannt zurück zu dem, was uns bei der Infrastruktur-, In-vestitions- und Verkehrspolitik der nächsten vier Jahrebewegt.Wir wollen – das hat Herr Ramsauer angesprochen,und das ist der ausdrückliche Wunsch auch der FreienDemokraten – ordnungspolitisch klare, saubere und ein-deutige Strukturen neu in die Verkehrspolitik einziehen.Deshalb ist es aus unserer Sicht notwendig, dass wir,nachdem wir seinerzeit mit einer rot-grünen Regierungund auch mit Unterstützung von Christdemokraten undFreien Demokraten im Bundesrat eine Maut für denschweren Lkw eingeführt haben, nun endlich dazu kom-men, dass die Mittel, die von diesem Gewerbe aufge-bracht werden, auch eins zu eins für die Straßeninfra-struktur zur Verfügung stehen. Das ist eine Frage derFairness, eine Frage der Klarheit.
Wir haben dieses Prinzip, geschätzter HerrBeckmeyer, genauso auf das System Schiene übertragenund wollen, dass auch hier die Trassenentgelte undBundesmittel eindeutig und ausschließlich für die Finan-zierung der Infrastruktur zur Verfügung stehen und esnicht mehr dazu kommt, dass staatliche Mittel zum Er-werb von Transportunternehmen in Rotchina zweckent-fremdet werden.
Deshalb, glaube ich, kann man, wenn man sich demThema sachlich und unemotional zuwendet, überhauptnichts dagegen haben, dass wir als Haushaltsgesetzgeberund die Bundesrepublik Deutschland als Eigentümer desUnternehmens Wert darauf legen, dass transparent nach-gewiesen wird, dass die Mittel, die der Haushaltsgesetz-geber zur Verfügung stellt, dafür ausgegeben werden,wofür wir als deutsche Verkehrspolitiker und als Eigen-tümer diese Mittel bewilligt haben. Wer etwas dagegenhat, der geht doch davon aus, dass die Mittel anders ver-wendet werden, als wir es wollen.
Diese Strukturfragen stehen im Mittelpunkt der Ver-kehrspolitik, die wir machen wollen. Am Ende bekom-men wir damit Strukturen, die klar und transparent sind,übrigens für diejenigen, für die wir das alles machen,nämlich die Nutzerinnen und Nutzer unserer Verkehrs-mittel.Lassen Sie mich sagen, dass wir natürlich nicht nurden Infrastrukturteil intensiv beraten haben. Darüber hi-naus haben wir mit diesem Koalitionsvertrag – daswerde ich hier bei anderer Gelegenheit ausführlicherdarstellen können – für den Lärmschutz an der Schieneund an der Straße mehr erreicht als Sie seit 1998 in Re-gierungsverantwortung.
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Patrick DöringWir wollen den Schienenbonus reduzieren. Wir wollenandere Lärmschutzgrenzen an der Straße. Das istschwarz-gelbe Politik. Dergleichen hat weder Rot-Grünnoch die Große Koalition je vertreten.
Das muss man anerkennen. Ich sage Ihnen: Damit be-kommen wir auch Akzeptanz für mehr Verkehr auf denVerkehrswegen.Wir haben an diesem Punkt bewiesen, dass es uns ge-meinsam möglich ist, mehr Investitionen in die Infra-struktur zu realisieren und gleichzeitig den Bedürfnissender Bürgerinnen und Bürger, die den Belastungen an die-sen Verkehrswegen ausgesetzt sind, gerecht zu werden.Das ist uns gelungen. Gemeinsam mit dem Ministeriumwerden wir in diesem Bereich hart arbeiten.
– Sehr geschätzter Kollege Hermann, ich bedanke michsehr für den Zwischenruf. Sie selbst haben Koalitions-verhandlungen schon einmal mitmachen dürfen. Koali-tionsverhandlungen mit den Grünen werden nicht mehrso oft stattfinden, aber gut. Es macht doch Sinn, dazu einparlamentarisches Verfahren, etwa Anhörungen, durch-zuführen, um zu erfahren, wie wir Entlastungen bei denBürgerinnen und Bürgern realisieren können.
Wir haben uns dazu bekannt, dass wir das machen wol-len. Sie werden sehen: Die entsprechenden Initiativenwerden kommen.Lassen Sie mich ausdrücklich die anderen Verkehrs-träger ansprechen, die ebenfalls wichtig sind: der Luft-verkehr und der gesamte Bereich Wasserstraße. Wir ha-ben beim Luftverkehr endlich deutlich gemacht – daswar uns als Freien Demokraten in dieser Koalition wich-tig –, dass die Belange des Lärmschutzes gleichgewich-tig sind mit den Belangen der wirtschaftlichen Interessender Unternehmen. Wir brauchen ein Bekenntnis zu Be-triebszeiten in der Nacht an deutschen Flughäfen. Wirsind eine exportorientierte Volkswirtschaft, und wir wer-den es nicht schaffen, die vor uns liegenden Herausfor-derungen zu meistern, wenn die deutschen Flughäfen ab22 Uhr schließen. Deshalb halte ich es für richtig, dasswir im Koalitionsvertrag klar zum Ausdruck gebrachthaben, dass wir das Gesetz an dieser Stelle ändern wol-len. So geht der von Ihnen eben erhobene Vorwurf insLeere, wir versuchten, die Leute hinters Licht zu führen.Wir haben gesagt: Wir wollen das, und wir werden dastun. Dafür kann man uns an einigen Punkten seriöser-weise kritisieren. Ich halte es aber volkswirtschaftlichund verkehrspolitisch für sinnvoll, dass wir diesenSchritt gehen.
Zum Thema Wasserstraße – da sind wir wieder beider Exportorientierung – sage ich Ihnen eindeutig: Wirwollen auf dem Gebiet Hafenhinterlandverkehre die Ef-fizienzen im Güterverkehr steigern. Die Container, die inHamburg, Bremen, Bremerhaven und alsbald auch inWilhelmshaven ankommen, sollen verstärkt über dieVerkehrsträger Schiene und Wasserstraße weiterbeför-dert werden. Wir haben mittlerweile ein Konzept ent-wickelt, auch die nichtbundeseigene Schieneninfra-struktur so zu stärken, dass wir dort zusätzlicheGüterverkehre abwickeln können. Auch das ist etwas,was wir und nicht Sie, geschätzte Kolleginnen und Kol-legen von Rot und Grün, auf den Weg bringen.
Geschätzter Herr Bundesminister, ich will für dieFreien Demokraten ganz ausdrücklich festhalten: Wirhalten es nach wie vor für lohnenswert, darüber zu dis-kutieren, ob es ordnungspolitisch und volkswirtschaft-lich vernünftig ist, dass das bundeseigene UnternehmenDB AG der größte Spediteur auf der Straße und dasgrößte Busunternehmen in Deutschland ist.
Diese Diskussion werden wir weiter führen.
Ich sage Ihnen voraus: Für den Fall, dass Eigenkapi-talbedarf im Unternehmen ist, wird wahrscheinlich nichtdie Schatulle des Bundesfinanzministers aufgehen, son-dern dann wird man darüber diskutieren müssen, wieman Unternehmensteile ertragsoptimiert im Markt plat-ziert, um die Eigenkapitalbasis des Unternehmens zustärken. Wir wollen eine starke Eisenbahn in Deutsch-land. Aber dafür brauchen wir keine Busverkehre undkeine Güterverkehre in anderen Ländern der Welt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor Siesich ereifern und vor Ihrem geistigen Auge schon die ro-ten Fahnen am Potsdamer Platz sehen, lassen Sie michsagen: Wir haben uns zum Konzernverbund und zumkonzerninternen Arbeitsmarkt bekannt. Wir als FreieDemokraten haben an der Stelle einen großen Schritt aufdie Union zu gemacht; denn wir bleiben dabei, dass Netzund Betrieb eigentlich getrennt sein müssten. Das Ver-tragsverletzungsverfahren, das die Europäische Union indieser Frage zurzeit gegen die Bundesrepublik Deutsch-land anstrengt, stellt für uns eine Herausforderung dar.Wir werden im Zuge dessen zu Entherrschungen kom-men müssen. Ich sage Ihnen voraus: All das wird so pas-sieren, dass den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern da-durch keine Nachteile entstehen werden. So einfach istdas.
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Patrick DöringLassen Sie mich zu den Bereichen Immobilienwirt-schaft, Wohnen und Stadtentwicklung kommen. Auchhier werden wir einige Akzentverschiebungen vorneh-men müssen. Ich glaube, es ist sehr vernünftig, dass wirbeim Thema energetische Sanierung – das war ja auchin der Debatte zuvor Thema – gemeinsam mit unserenKollegen aus dem Rechtsausschuss die Investitions-hemmnisse, die es in diesem Bereich insbesondere auf-grund der Regelungen im Mietrecht gibt, beseitigen, da-mit die Bürgerinnen und Bürger, die Immobilien haben,es leichter haben, im Sinne ihrer Mieter die Investitionenzu tätigen, die nötig sind, um gute bis exzellente Emis-sionswerte der Wohnungen herzustellen. Das ist etwas,was auch keine Haushaltsmittel verschlingt. Hier müs-sen wir zunächst einmal unser Recht so anpassen, dassauch die Immobilienwirtschaft ihren Herausforderungenim Klimaschutz gerecht werden kann. Das wollen wirtun. Da muss auch kein Mieter in Deutschland Sorge ha-ben, dass er benachteiligt wird. Im Gegenteil; denn amEnde kommen die geringeren Heizkosten ausschließlichden Mietern zugute. Deshalb müssen entsprechende In-vestitionen schnell und zügig auf den Weg gebracht wer-den. Dazu brauchen wir Änderungen im Mietrecht. Auchdas werden wir schnellstmöglich anpacken.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will ver-stärken, was der Bundesverkehrsminister angesprochenhat: Wir haben sehr wohl den Plan, bei der Luftverkehrs-verwaltung, aber zum Beispiel auch bei der Liegen-schaftsverwaltung des Bundes stärkere marktwirt-schaftliche Strukturen einzuziehen. Es gibt überhauptkeinen Grund, dass der Bund sein großes Immobilien-vermögen immer noch in althergebrachten Verwaltungs-strukturen verwaltet. Kein Eigentümer geht so schlechtmit seinem Eigentum um wie die BundesrepublikDeutschland mit ihrem Immobilienvermögen. Deshalbhalte ich es für richtig, hier marktwirtschaftliche Struk-turen einzuziehen.
So können wir einerseits Immobilien schnell sanieren,andererseits aber Immobilien, die wir nicht mehr benöti-gen, zugunsten des Bundeshaushaltes, am besten zu-gunsten des Einzelplans 12, verwerten. Auch das ist einwichtiges Vorhaben, das wir auf den Weg bringen wol-len.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freuemich auf die gemeinsame Arbeit im Ausschuss. Ichfreue mich auf die spannenden Diskussionen mit denKolleginnen und Kollegen auch der Opposition. DieVerkehrspolitik ist – das ist ja das Schöne – überwiegendunideologisch, wie wir gerade an der Debatte gemerkthaben.
Ich glaube, dass die wenigen Abgeordneten der Opposi-tion, die noch ein Direktmandat gewonnen haben, großesInteresse daran haben, dass auch in ihren Wahlkreisenweiterhin investiert wird.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Heidrun Bluhm für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Gäste! Vorbei sind also die Zeiten, als mehrals zwei Drittel aller Abgeordneten den Worten derKanzlerin reglos bis halbschlafend folgten – so sagte eszumindest gestern Abend der Kommentator der Tages-themen, Rainald Becker. Und in der Tat, es ist heute, wiewir merken, anders. Die Regierung muss sich warm an-ziehen;
denn sie hat es jetzt nicht nur mit einer stärkeren Opposi-tion zu tun, die ihr auf die Finger schaut, sondern wir– und damit meine ich nicht weniger als die Fraktion DieLinke – werden ihre schwarz-gelbe Politik mit Argus-augen verfolgen. Wir werden vor allem immer dann lautwerden, wenn es um den Schutz der Interessen derMehrheit der Menschen in diesem Lande geht,
zum Beispiel wenn es um den Schutz der Interessen vonMieterinnen und Mietern geht – das ist eine Kampf-ansage an Herrn Döring und seinen Vortrag von eben –,wenn es um den Einsatz von Investitionen in Straße undSchiene geht
– ich weiß, das hält er aus; das muss er auch aushalten –,wenn es um den Stadtumbau geht, und vor allen Dingendann – zu diesem Thema ist bisher noch gar nichtsgesagt worden –, wenn es um das Thema Altschulden-problematik geht.Zum Bundesverkehrswegeplan. Ja, auch die Linkewill schon seit langem die Überarbeitung dieses Planes.Im Ausschuss haben wir in der vergangenen Legislaturimmer wieder vorgeschlagen, Änderungen vorzuneh-men, aber nicht der Art, wie sie der Herr Minister heutehier vorschlägt. Natürlich sind die Investitionen falschverteilt, aber nicht falsch verteilt zwischen den neuenund den alten Bundesländern, sondern falsch verteiltzwischen Neubau und Instandhaltung.Um es ganz klar und deutlich zu sagen: Das Ungleich-gewicht liegt darin begründet, dass viel zu viele Straßen-bauprojekte Natur, Umwelt und die an den Straßenwohnenden Menschen belasten. Die Wegebeziehungenmüssen sinnvoll genutzt werden, und vor allem müssenwir ausreichende Lärmschutzmaßnahmen realisieren.
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Heidrun BluhmDer richtige Weg in die Zukunft wäre es, endlich denPersonen- und Güterverkehr auf der Schiene zu bevorzu-gen als den Straßenneubau. Die Schiene muss Vorrangvor der Straße haben.
Zum Thema „Wohnen und Miete“. Der Koalitions-vertrag ist nicht einfach eine politische Absichtserklä-rung, sondern in Wahrheit eine Kampfansage an dieMieterinnen und Mieter. Einseitig sollen die Rechte derVermieter gegenüber den Rechten der Mieter ausgebautwerden. Daraus resultiert eine zunehmende Konfronta-tion auf dem Wohnungsmarkt, und zwar nicht nur zwi-schen Mietern und Vermietern, sondern auch innerhalbder Gruppe der Vermieter, nämlich zwischen den kleine-ren Vermietern und denjenigen, die als Investitions- undImmobiliengesellschaften auf dem Markt agieren. DieseGesellschaften stehen ihren Mietern nur sehr entferntund unpersönlich gegenüber und freuen sich über jedeverbesserte Möglichkeit, Mieter schneller loszuwerdenals bisher. Das wollen Sie unterstützen.
Beweis der sich verschärfenden Auseinandersetzungenist zum Beispiel die zunehmende Zahl der Petitionen vonbetroffenen Mieterinnen und Mietern an den DeutschenBundestag, die dezidiert das Verhalten unpersönlicherVermieter erläutern.
– Genau! Herzlichen Dank, Herr Kauder, für diesesStichwort. Sie wollen mit Mietnomaden den gesamtenMietmarkt bereinigen und ihn auf Ihre Weise entspre-chend reduzieren.
38 Millionen Mietwohnungen stehen 0,02 Prozent Miet-nomaden gegenüber. Das ist doch keine Verhältnis-mäßigkeit, Herr Kauder.
Aber zu den 250 000 Wohnungslosen sagen dieserKoalitionsvertrag und die Regierung gar nichts.
Ich glaube, auch hier sind die Prioritäten völlig falschgesetzt.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die notwendigeenergetische Sanierung nicht mit den Mietern erfolgt,sondern gegen sie. Nur wenn es uns gelingt, mit denMietern gemeinsam die notwendigen Sanierungsmaß-nahmen zu organisieren, und zwar nicht durch eine Ver-änderung des Mietrechts, sondern durch Zusammen-arbeit, wird hier ein Erfolg zu erzielen sein. Nur dannkönnen wir unsere klimapolitischen Ziele umsetzen.
Die Linke fordert, statt das Mietrecht einzuschränken,das Wohnrecht als ein Menschenrecht anzusehen
und die Wohnung als das zu betrachten, was sie im Zen-trum sozialer Sicherheit und Menschenwürde ist, näm-lich kein Wirtschaftsgut, sondern ein soziales Gut. Sosieht es jedenfalls die Linke. Das werden wir mit unsererPolitik weiter befördern.
Zum Stadtumbau Ost noch eine kurze Bemerkung.Der Stadtumbau Ost soll selbstverständlich fortgesetztwerden. Auch Herr Ramsauer hat das heute hier ange-kündigt. Allerdings hängt der Gesamterfolg dieses Pro-gramms ganz entscheidend von einer klugen Lösung derAltschuldenproblematik ab.
Ich würde mir wünschen, dass uns gemeinsam etwaseinfällt, um die ostdeutsche Wohnungswirtschaft zu un-terstützen.Lieber Herr Minister, wenn Sie die Stärkung der länd-lichen Räume ankündigen, dann sind wir ganz an IhrerSeite, aber nach dem Motto: Stadt und Land Hand inHand.Danke schön.
Das Wort hat nun Kollege Winfried Hermann, Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Herr Minister hat in einem Interview ganzstolz gesagt, dass er sich freue, dass er das größte Inves-titionsministerium in dieser Regierung habe. In der Tatwerden in diesem Ministerium große Milliardensummenausgegeben. Hier wird entschieden, wo und wieDeutschland Zukunft gewinnt. Hier wird entschieden, obwir eine zukunftsfähige Infrastruktur bekommen oder obwir in Vergangenheit, in Asphalt und Beton, investieren.Das ist die entscheidende Frage.Herr Kollege Ramsauer, wenn Sie in Ihrem Ministe-rium mit Ihren feschen jungen Staatssekretären
als Kompass die Zukunftsfähigkeit im Auge haben undentsprechende Politik machen, dann haben Sie unsereUnterstützung. Wenn Sie allerdings den tollkühnen Mutzur Rolle rückwärts in die 90er-Jahre haben, von ideolo-giefreier Politik sprechen und eigentlich die Ideologie
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Winfried Hermanndes Straßenbaus meinen, dann werden wir Sie ordentlichauf Trab bringen und jung und frisch halten.
Man kann mit diesem Ministerium Zukunft gewinnenoder sie verbauen. Die Bundeskanzlerin hat gestern, wieich finde, in größerer Klarheit als im Koalitionsvertragselbst gesagt, es gebe fünf große Aufgaben, die die neueRegierung bewältigen muss. Unter anderem sind das dieBewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise, die Be-wältigung des demografischen Wandels sowie die Be-wältigung der Herausforderungen beim Ressourcen- undKlimaschutz. Diese drei von den fünf Punkten sind fürdas Verkehrsministerium relevant. In diesen Bereichenhat das Ministerium große Verantwortung und großeMöglichkeiten. Deswegen ist es angemessen, dass mansich einmal anschaut, was der Minister dazu gesagt hatund was dazu im Koalitionsvertrag steht.Nehmen wir die Herausforderung „Klimaschutz undRessourcenschutz“. Im einleitenden Abschnitt desKoalitionsvertrags beim Kapitel „Bauen und Wohnen“wird erwähnt, wie wichtig Integration, sozialer Zusam-menhalt und Ressourcenschutz sind. Wir haben heutegehört, dass der Minister ganz entzückt ist, was allesmöglich ist an Energiesparmaßnahmen im BereichHausbau. Wir haben gehört, dass er große Hoffnung hat,dass der Energieverbrauch hier deutlich reduziert wird.Aber Herr Minister, Hoffen und Freuen werden nicht rei-chen. Man braucht eine Strategie für den Klimaschutzwie Bausanierung und entsprechende Maßnahmen imBereich des Städtebaus. Das fehlt in diesem Koalitions-vertrag komplett.
In diesem Koalitionsvertrag steht viel Klein-Klein. Esbeginnt mit Klimaschutz und geht gleich weiter mitDenkmalschutz, Bauplanungsrecht, Wohnungseigentumund Bauvertragsrecht. Aber es ist keine Linie erkennbar,wie man in diesem Bereich, in dem man für den Klima-schutz wirklich viel tun kann, weiter vorankommen will.Es handelt sich um unverbindliche Zielvorgaben. AberInstrumente werden nicht genannt. Wo ist das Energie-effizienzgesetz, um Energie zu sparen? Wo ist das Ge-setz für die Weiterentwicklung der Nutzung erneuerbarerEnergien im Wärmebereich mit Blick auf den Gebäude-bestand? Damit könnte man den hohen Energiever-brauch senken. Wo ist eine ambitionierte Wärmeschutz-verordnung, um auch im Altbaubereich in den nächstenJahren Energie einzusparen? Überall Fehlanzeige!
Man kann viel über Zukunft reden, aber sie gleichzei-tig verspielen. Nehmen wir zum Beispiel den BereichVerkehr. Ein Viertel bis ein Fünftel der Treibhausgas-emissionen hat ihre Ursache in diesem Bereich. Erkommt daher direkt nach dem Energiesektor. Wenn manalso etwas für den Klimaschutz tun will, dann muss maneine Strategie haben, wie der Energieverbrauch im Ver-kehrssektor gesenkt werden kann, wie man die Energieeffizienter nutzen kann und wie man zu einer besserenVernetzung der Verkehrsträger kommen kann. Die Ver-netzung der verschiedenen Verkehrsträger ist unglaub-lich wichtig. Ich frage daher: Wo wird vernetzt? Wo sinddie Vorschläge und Konzepte für eine bessere Vernet-zung?Ich nenne in diesem Zusammenhang den kombinier-ten Verkehr, also die bessere Vernetzung von Straße undSchiene. Dazu gehört die Verlagerung des Verkehrs vonder Straße auf die Schiene. Da ist bei Ihnen Fehlanzeige!Ich nenne ein weiteres Beispiel. Die Bundeskanzlerinhat gesagt, es sei ganz wichtig, dass man auch im Ver-kehrsbereich die Ressourcen schützt. Aber warum stehtin Ihrem Koalitionsvertrag für den Verkehrsbereichnichts zum Thema Klimaschutz mit Ausnahme der Nutz-fahrzeughersteller? Da heißt es, dass Sie dafür sorgenwollen, dass die ohnehin schon gebeutelten Nutzfahr-zeughersteller durch Klimaschutzforderungen nichtüberfordert werden.
Wenn Sie überhaupt an Klimaschutz denken, danndenken Sie an den Schutz der Wirtschaft vor der Klima-schutzpolitik, an den Schutz der Autos vor den großenMaßnahmen, die Sie vor sich herschieben. So werdenSie die Zukunft nicht gewinnen.
Wenn man ambitioniert die Ressourcen schützen will,dann muss man an die Grenzwerte heran. Man muss sieabsenken, damit eine effiziente Motortechnologie geför-dert wird. Davor schrecken Sie zurück, da Sie zu nah anIhrer Klientel, der Wirtschaft, sind.
Wenn man keine zukunftsfähigen Perspektiven hat, dannmuss man so handeln wie Sie.Herr Kauder, Arbeitnehmer und Arbeitsplätze. Damitbin ich beim Leitmarkt Elektromobilität. Den bezeich-nen Sie als Zukunftsprojekt. Da haben Sie voll und ganzunsere Unterstützung.
Aber auch hier muss man sagen: Der Leitmarkt Elektro-mobilität entwickelt sich im Moment in Japan und inFrankreich. Es ist wahr, dass die Deutschen die schnells-ten Autos bauen, aber nicht mehr die besten. Wir hinkenin Sachen Elektromobilität schon hinterher. Wenn wirwollen, dass dort ein Leitmarkt entsteht, dass dort Ar-beitsplätze erhalten oder sogar neue geschaffen werden,dann muss man dafür ein Förderprogramm, ein Marktan-reizprogramm auflegen, damit es überhaupt vorangeht.Ansonsten hinken wir hinterher. Es sind nur große Flos-keln, wenn wir hier im Bundestag hören, dass dies einLeitmarkt ist. Wir werden ziemlich schnell nur noch hin-terhertraben, wenn wir da nicht mehr tun.
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Winfried HermannWir vermissen eine Gesamtkonzeption im Verkehrs-bereich. Es ist nicht damit getan, dass man ideologischgegen die Bahn schimpft nach dem Motto: immer über-fordert. Dieser umwelt- und klimafreundliche Verkehrs-träger ist vielmehr seit Jahrzehnten vernachlässigt wor-den. Man hat nicht richtig investiert. Man hat das Geldfür Großprojekte verschwendet.
Man macht damit weiter. Dies nützt dem Schienenver-kehr im ländlichen Raum nichts.
Zu den Zuwächsen auf der Schiene im Bereich desGüterverkehrs. Wir haben uns im Infrastrukturausschussdarüber verständigt, dass es in den nächsten Jahren abso-lut notwendig ist, den Hafenhinterlandverkehr zu entwi-ckeln, im Hinblick auf das Netz auf kleinere Projekte zusetzen und den Güterverkehr auf die Schiene zu verla-gern.
Wo steht in Ihrem Koalitionsvertrag und wo kommt inIhren Reden ein Konzept dazu vor? Da ist nichts, aberauch gar nichts vorhanden – Fehlanzeige.
Stattdessen versucht sich der neue Minister mitSchlagzeilen. Jetzt hat er die Kompetenz für den AufbauOst verloren. Aber, Herr Minister, es ist nicht so, dass IhrMinisterium „Aufbau Südost“ heißt. Sie sind kein Auf-bau-Südost-Minister, kein Aufbau-West-Minister undauch kein Straßenbauminister, sondern Sie sind für alleVerkehrsträger, für ein Gesamtkonzept für ganz Deutsch-land zuständig.
Das ist die Leitlinie; daran werden wir Sie messen. Dasist Ihre Aufgabe; das müssen Sie leisten.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich musszum Schluss kommen. Herr Minister und KollegenStaatssekretäre, Sie werden uns auf Ihrer Seite finden,wenn Sie wirklich um eine zukunftsfähige Infrastrukturkämpfen. Wenn Sie für den Klimaschutz und für die An-passung der Infrastrukturinvestitionen an den demografi-schen Wandel sind, dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.Wenn Sie aber meinen, Sie müssten in die 90er-, 80er-und 70er-Jahre zurück, in denen man geglaubt hat, mehrInfrastruktur und mehr Straßen würden die Verkehrspro-bleme lösen, dann sind Sie als Minister fehl am Platze.Wir werden alles tun, eine solche Politik zu bekämpfen,und werden dies zu verhindern wissen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Fischer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Leistungsfähige Infrastruktur und Mobilität sindGrundlage für unsere persönliche Freiheit und Voraus-setzung für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit unse-rer Volkswirtschaft. Die neue Regierungskoalition willsich diesen Zielen mit einer effizienten Verkehrspolitikfür heute und morgen zuwenden und dies sichern. Aberwir wissen auch, dass Mobilität für unsere Menschen imLande bezahlbar bleiben muss.Investitionsentscheidungen sollten eigentlich nachvorrangigem Bedarf, ermittelt aus einem Nutzen-Kosten-Verhältnis nachvollziehbarerer Kriterien, getroffen wer-den. Aber selbstverständlich war es auch richtig, dass diedeutsche Einheit und die Osterweiterung der EU zu ver-änderten Schwerpunkten im Infrastrukturausbau ge-führt haben. Dies muss – das hat der Bundesministerdeutlich gesagt – zu einem guten Ende geführt werden.Deswegen steht in der Koalitionsvereinbarung, dass wiruns bemühen wollen, die VDE-Projekte Straße bis 2010und die VDE-Projekte Schiene bis 2017 fertigzustellen.
Wenn diese vorrangigen Projekte abgeschlossen sind,müssen wieder normale Verhältnisse einkehren und müs-sen diejenigen, die haben zurückstehen müssen, sowohlbei Neu- und Ausbau als auch bei Unterhalt und Erneue-rung der Infrastruktur wieder besser berücksichtigt wer-den.Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sind vo-rangekommen, aber noch immer hinter dem vom Ge-setzgeber festgelegten Bedarf zurückgeblieben. Daskann auf Dauer natürlich nicht befriedigen. Wir habenkeine Probleme bei der Feststellung des prioritären Be-darfs; aber wir haben erhebliche Probleme bei der Finan-zierung und Umsetzung dessen, was der Gesetzgeber be-schlossen hat. Wir müssen uns schrittweise einer Lösungnähern, und wir wollen dazu auch die Verkehrsinfra-strukturgesellschaft weiterentwickeln. Wir wollen dieHaushaltsabhängigkeit von Verkehrsinvestitionen redu-zieren, und wir wollen eine mehrjährige Planungs- undFinanzierungssicherheit für Investitionsprojekte.
Herr Kollege Döring hat ja dazu das Notwendige ge-sagt. Wir sind davon überzeugt, dass nur verkehrsträ-gerbezogene Finanzierungskreisläufe die notwendigeTransparenz im Hinblick auf die einzelnen Kostende-ckungsgrade und damit auch die Glaubwürdigkeit einerNutzerfinanzierung schaffen. Machten wir dies nicht,
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Dirk Fischer
nähme die Glaubwürdigkeit schweren Schaden. Deswe-gen müssen wir uns dort verstärkt bemühen.Wir haben klar entschieden, dass es in dieser Legisla-turperiode eine Erhöhung der Lkw-Maut nicht gebenwird. Dies ist ein Belastungsmoratorium für das Ge-werbe, das in diesem Jahr durch die Finanz- und Wirt-schaftskrise hart gebeutelt ist und sich erst einmal wiederfreikämpfen muss, zumal es dort viele bedauerliche In-solvenzfälle gibt. Da das Transportgewerbe erst einmaldie Mauterhöhung verkraften muss, die zum 1. Januar2009 in Kraft trat, ist es, glaube ich, richtig, dass wir ander Lkw-Maut-Front jetzt Ruhe eintreten lassen.
Eine Pkw-Maut ist im Koalitionsvertrag nicht ver-einbart worden und steht daher nicht auf der Agenda die-ser Koalition. Also halte ich fest: Alle öffentliche Aufre-gung darum war völlig umsonst.
– Da der Minister nicht nur eben in der Debatte, sondernauch öffentlich in der Presse mehrfach das Gleiche ge-sagt hat, gibt es hier eine völlige Identität der Aussagendes Bundesministers, des Kollegen Döring und von mir.Nehmen Sie dies zur Kenntnis. Shakespeare würde„Much ado about nothing“ sagen, viel Lärm um nichts.
Zu einem effizienten Gesamtverkehrssystem gehörtein moderner und leistungsfähiger Schienenverkehrsträ-ger, ohne den eine erfolgreiche Verkehrspolitik völligundenkbar wäre. Deutschland braucht eine effizienteSchieneninfrastruktur und starke Unternehmen für denWettbewerb auf der Schiene. Dazu gehört natürlich ganzbesonders das Bundesunternehmen, die Deutsche BahnAktiengesellschaft, die sich nicht nur dem Wettbewerbin Deutschland stellen muss, sondern auch die Chancenim europäischen Markt nutzen soll. Dieser europäischeMarkt im Schienenverkehr beruht nach unserer Überzeu-gung auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Deswegendarf die EU-Kommission nicht weiter hinnehmen, dassDeutschland seine Schieneninfrastruktur für den euro-päischen Wettbewerb öffnet und deutsche Unternehmenin anderen Märkten auf verschlossene Türen stoßen.Hier besteht Handlungsbedarf für die Kommission.
Die 1994 begonnene Bahnreform muss weiterge-führt werden. Das heißt konkret: Wir wollen die DB AGin ihrer positiven Entwicklung begleiten. Sobald es derKapitalmarkt zulässt, werden wir eine schrittweise er-tragsoptimierte Privatisierung der Transport- und Logis-tiksparten einleiten. Die Infrastruktursparten Netz,Bahnhöfe und Energie werden nicht privatisiert; dennordnungspolitisch ist es von entscheidender Bedeutung,dass der Staat seine Infrastrukturverantwortung selbstwahrnimmt.Die Rechte des Bundes bei der Umsetzung von Eisen-bahninfrastrukturprojekten sollen gestärkt werden, damitder Wille des Gesetzgebers aus dem Bundesschienenwe-geausbaugesetz und dem anhängenden Bedarfsplan zü-gig zur Ausführung gelangt. Der konzernweite Arbeits-markt – auch wir erklären dies in aller Deutlichkeit –bleibt erhalten.Die Koalition will dafür sorgen, dass die Finanzbezie-hungen im Unternehmen und zwischen Bund undDB AG transparenter strukturiert werden. Wir wollen si-cherstellen, dass die Erlöse aus der Infrastruktursparteauch dorthin zurückfließen.
Die gesamte Infrastruktursparte muss im Sinne derEU-Richtlinie unabhängiger werden, um den Forderun-gen der EU aus dem laufenden Vertragsverletzungsver-fahren entsprechen zu können. Mit der stärkeren Unab-hängigkeit des Netzes verbessern wir auch denWettbewerb auf der Schiene. Dazu soll das Regulierungs-recht im Allgemeinen Eisenbahngesetz überarbeitet wer-den, um zum Beispiel die Trassen- und Stationspreise ei-ner Anreizregulierung zu unterwerfen.
Auch viele Jahre nach der Schaffung eines offenenEU-Binnenmarktes für den Güterverkehr ist unser Ge-werbe noch erheblichen Wettbewerbsverzerrungen imeuropäischen Markt ausgesetzt. Das wollen wir nichtdauerhaft hinnehmen, sondern mit einer offensiverenEU-Strategie angehen.Der Luftverkehr ist ein weiterer wichtiger Pfeiler un-serer Verkehrswirtschaft. In den vergangenen 20 Jahrenhat sich die Zahl der Flüge in Deutschland verdoppelt.Die Prognose für 2025 geht noch einmal von einer Ver-doppelung der Anzahl der Flüge und des Passagierauf-kommens aus. Rund 850 000 Arbeitsplätze in Deutsch-land hängen direkt oder indirekt vom Luftverkehr ab,Tendenz steigend. Das ist eine Jobmaschine. Das sehenwir sehr positiv. Wir müssen das unterstützen.
Die Koalition erkennt die große Bedeutung des Luft-verkehrs. Sie will dabei folgende Ziele erreichen: einkoordinierter Ausbau der Flughafeninfrastruktur, inter-national wettbewerbsfähige Betriebszeiten, die zügigeRealisierung des Single European Sky auf europäischerEbene, die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfä-higkeit der Deutschen Flugsicherung GmbH, insbeson-dere durch eine Befreiung von den Restriktionen des§ 65 Abs. 3 der Bundeshaushaltsordnung.Die neue Regierungskoalition will die wirtschaftli-chen Chancen, die sich aus der geografischen LageDeutschlands in der Mitte Europas ergeben, verkehrspo-litisch gezielt nutzen, dazu den Logistikstandort aus-bauen und eine mit den Ländern abgestimmte Vermark-tungsoffensive starten, um so noch stärker an derWertschöpfung in Handel und Logistik teilzuhaben.
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Dirk Fischer
Der Bürger erwartet von uns ein aktives, zielgerichte-tes Handeln, aber seine Akzeptanz für den Verkehr hängtauch von unserem erfolgreichen Bemühen ab, den Ver-kehr so sicher und umweltgerecht wie nur irgend mög-lich abzuwickeln. In diesem Sinne will die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem neuen VerkehrsministerDr. Ramsauer und dem Bundesministerium produktivzusammenarbeiten und mit den Kollegen im Ausschusslebhaft, aber sachlich um den besten Weg streiten.In diesem Sinne freuen wir uns alle in unseren Frak-tionen auf eine neue Legislaturperiode.
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Uwe Beckmeyer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, ich gratuliere Ihnen und auch Ihren Parla-mentarischen Staatssekretären zum Amt. Wir als Sozial-demokraten werden uns mit Ihnen im Stil konstruktiv, imUmgang fair, aber hart in der Sache auseinandersetzen.Damit wollen wir heute auch beginnen.Sie wollen Mobilität und Verkehrsinfrastruktur si-chern. Das ist gut so. Die Frage ist nur: Wie? Wir habengestern von der Frau Bundeskanzlerin den denk- undmerkwürdigen Satz gehört: Wir wollen Wachstum, dasan morgen denkt. Sie selbst sagen: Verkehrspolitik hatetwas mit Wirtschaftspolitik zu tun. Das ist auch richtig.Die Frage ist aber: In welchem Umfang spiegelt sich daseigentlich in ihrem Koalitionsvertrag wider? In welchemUmfang hat sich das in Ihrer Erklärung als Fachministerzu diesem Koalitionsvertrag widergespiegelt?Nehmen wir zum Beispiel die Finanzausstattung Ih-res Hauses in den vor uns liegenden Jahren. Mit circa12 Milliarden Euro haben wir zurzeit eine gute Finanz-ausstattung. Außerdem haben wir zwei Konjunkturpro-gramme, die sich wesentlich in Ihrem Haushalt nieder-schlagen. Die Jahre 2009 und 2010 laufen gut, aber dasJahr 2011 wird nicht gut laufen, weil die Konjunkturpro-gramme auslaufen werden und im Bereich der Finanz-planung ein Absinken der Linie vorgesehen ist. In einersolchen Situation wollen Sie die Verkehrsinfrastrukturausbauen. Das ist die erste große Schwachstelle. Von Ih-nen habe ich heute kein einziges Wort gehört, im Koali-tionsvertrag steht ebenfalls nichts dazu, in welcherWeise Sie dieser Aufgabe, den Wachstumsmotor in derVerkehrs- und Baupolitik ins Laufen zu bringen, über-haupt gerecht werden wollen.
Wir haben zu verzeichnen, dass im Bereich des Woh-nungsbaus aus Ihrem Programm zurzeit keine Impulsekommen. Im Bereich des Wirtschaftsbaus erleben wirzurzeit einen dramatischen Rückgang. Im Bereich desöffentlichen Baus droht – nach dem, was da steht – eben-falls eine Reduktion der Aktivitäten. Das bedeutet, dassin der prognostizierten Aufschwungphase der Bereich,der das mittragen müsste, nämlich die Binnenkonjunk-tur, eklatant geschwächt wird. Der Bundesminister sagtdazu nichts, im Koalitionsvertrag steht dazu nichts ge-schrieben. Das führt zumindest bei mir zu der Feststel-lung, dass das, was dort geschrieben steht, armselig ist.Es zeugt von Antriebslosigkeit. Ihrem Koalitionsvertragfehlt es an Geist, an Fantasie und klaren Zielen. Dasmuss man als Erstes festhalten.Das Zweite sind die Herausforderungen im Bereichnatürliche Lebensgrundlagen und Lebensqualitätkommender Generationen. Im Koalitionsvertrag stehtkein einziges Wort darüber, wie man eine nachhaltigePolitik der Entkopplung von Wirtschaftswachstum undVerkehrszuwachs organisieren will. Kein Wort! Auchhierzu findet man im Koalitionsvertrag eine Leerstelle.Ich kann nur sagen: Das ist schwach; denn die Frage,wie wir das organisieren, ist das zentrale Thema der Ver-kehrspolitik, auch in der Zukunft.Wir erleben eine Abkehr vom integrierten Verkehrs-system, was sich in Ihrer verkehrsträgerorientiertenFinanzierung ausdrückt. Das ist eigentlich ein Zurückin die 60er-Jahre.
Das ist etwas, was diese Republik nicht aushalten kann.Wenn Sie sagen: „Wir machen jetzt verkehrsträgerorien-tierte Finanzierungskreisläufe“, dann frage ich mich: Wobleibt die Wasserstraße? Die Wasserstraßen werden zur-zeit zu 50 Prozent über die Maut bezahlt. Wie sieht daszukünftig aus? Wird es keinen Wasserstraßenausbaumehr geben?
Stoppen Sie den Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals? Stop-pen Sie all diese Projekte? Ist es damit vorbei?
Ich frage Sie, Herr Döring: Was wollen Sie in dieser An-gelegenheit eigentlich? Welche Signale schicken Sienach Norddeutschland? Welche Signale schicken Sie da-mit in die Republik hinsichtlich der Finanzierung sowichtiger Infrastrukturprojekte?
Das ist nicht zu Ende gedacht. Auch hier merkt man:Ihr Programm ist ein Lückentext. Man kann das so oderso und relativ vage ausfüllen. Mal interpretiert der Mi-nister, mal Herr Döring und mal Herr Fischer. Es gehtimmer munter drauf los, aber keiner sagt, wie es wirklichgeht.Etwas zur Bahn: In Ihrem Text steht, dass Sie „Ge-winnabführungen der Infrastruktursparten an die Hol-ding“ ausgeschlossen haben möchten. Wissen Sie ei-gentlich, was in den Jahren nach 1994 passiert ist? Nichtdie Infrastruktur hat die Mobilität finanziert, sondernumgekehrt: Die Mobilität hat die Infrastruktur mit2 Milliarden Euro finanziert. Das muss man einfach wis-sen.
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Uwe Beckmeyer
Sie formulieren ein Beispiel, das völlig daneben ist.Ich kann Ihnen nur sagen: Machen Sie weiter so. WennSie diese Gedanken, die Sie aufgeschrieben haben, in dieTat umsetzen, schwächen Sie die Bahn. Sie reflektierendie Steuerproblematik innerhalb der Bahn im Grundeüberhaupt nicht. Sie schädigen die Bahn, weil das einenSteuerausfall in Höhe von ungefähr 1 Milliarde Euro be-deutet. Dann haben Sie ein weiteres Riesenproblem.
Am Ende des Tages haben Sie sich aufgerappelt und dasGanze unter einen Prüfvorbehalt gestellt. Das, was dortstand, war abgrundtief falsch. Sie wollten sich wahr-scheinlich nicht selbst blamieren. Der eigentliche Punktist: Denken Sie künftig eine Sache zu Ende, ehe Sie sieaufschreiben.
Herr Minister, ein Allerletztes zu Ihnen: Sie haben ge-merkt, welches Dilemma Dementis bedeuten.
Herr Kollege, Sie denken bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss, ja. – Ein Dementi ist immer
eine schwierige Sache. Man sagt, das sei so, als würde
man Zahnpasta in die Tube zurückdrücken wollen. Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir Ihnen die hundert Tage
geben. Wir Sozialdemokraten geben sie Ihnen. Aber
meine Bitte ist: Geben Sie sich auch selbst hundert Tage.
Denken Sie lieber einmal öfter nach, bevor Sie etwas
verkünden, was am Ende des Tages durch Dementis wie-
der eingeholt werden muss. Die Verkehrspolitik verträgt
einen solchen Zickzackkurs nicht. Wir haben es mit dem
größten Investitionshaushalt der Republik zu tun. Da
sind auch in Zukunft Souveränität, Klarheit, Perspektive
und Zielsetzung Maßstäbe für das politische Handeln.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Götz für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Entgegen derKritik aus der Opposition hat die Fachwelt der Immobi-lienwirtschaft die bau- und stadtentwicklungspoliti-schen Vorhaben der neuen Bundesregierung mit Lob undVorschusslorbeeren begleitet. So erklärt der Bundesver-band Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen –ich zitiere –:Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU undFDP enthält einige gute Nachrichten für Immobi-lieneigentümer und Investoren.Die Pressemitteilung des Bundesverbandes deutscherWohnungs- und Immobilienunternehmen, also des GdW,liest sich so:Koalitionsvertrag enthält überwiegend gute Per-spektiven für die Wohnungs- und Immobilienwirt-schaft.Die Überschrift von Haus & Grund lautet:Schwarz-Gelb hat die Weichen richtig gestellt.Das zeigt, dass die neue Koalition die Bedeutung derImmobilienwirtschaft erkennt, die Probleme ernst nimmtund aufgreift. Selbst der Deutsche Mieterbund sieht inseiner sicher kritischen Stellungnahme neben Schattenauch Licht. Derartige Bewertungen sind Ansporn, die imKoalitionsvertrag beschriebenen Vorhaben zügig anzu-packen und nach besten Kräften umzusetzen.Wir wissen: Die Erwartungen sind hoch. Wir wissenauch: Die finanziellen Spielräume sind sehr begrenztund bleiben auch auf lange Sicht begrenzt. Die Bürgerin-nen und Bürger erwarten zu Recht, dass der Staat Rah-menbedingungen schafft für eine solide, nachhaltigeStadt- und Dorfentwicklungspolitik, für ein bedarfsge-rechtes Wohnungsangebot und für die Erhaltung vonBaudenkmälern. Wir brauchen Freiraum für gute neueArchitektur und für eine gelebte Baukultur.In den letzten zehn Jahren hat die Bau- und Woh-nungspolitik einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Wirhaben regional differenzierte Wohnungsmärkte in einerBandbreite zwischen Leerstand auf der einen Seite undWohnungsmangel auf der anderen Seite. Der sozialeWohnungsbau wurde daher zu Recht in den Zuständig-keitsbereich der Länder übertragen. Bei uns ist das Bau-und Planungsrecht geblieben, das wir mit besondererSorgfalt und möglichst auch im breiten Konsens wahrenund schrittweise weiterentwickeln werden. Wir wollendas Baugesetzbuch an veränderte Entwicklungen anpas-sen, den Klimaschutz dort verankern und Genehmi-gungsverfahren weiter straffen.Zu den großen baupolitischen Herausforderungen dernächsten Jahre gehört zweifelsohne die Entwicklungder Städte und Gemeinden. Wir brauchen konkrete Lö-sungen als Antworten auf den demografischen Wandelund auf die Fragen des sozialen Zusammenhalts inWohnquartieren einschließlich der besseren Integrationvon Menschen mit Migrationshintergrund und für denSchutz bestehender Ressourcen. Der Erhalt von histori-scher Bausubstanz und von Stadtstrukturen gehört ge-
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Peter Götznauso dazu wie die Schaffung eines barrierefreienWohnumfeldes. Bei alldem muss der Mensch im Mittel-punkt stehen.Wir müssen uns um die Wieder- und Umnutzung in-nerstädtischer Industrie- und Militärbrachen kümmern.Dazu gehört ein offensiveres Immobilienmanagementbeim Verkauf bundeseigener Liegenschaften.
Das liegt im Interesse vieler Kommunen, und das sollteauch im fiskalischen Interesse des Bundes liegen.Wir wollen die Fortführung der Städtebauförderungauf bisherigem Niveau. Die Geschichte der Städte-bauförderung in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte,die international hohe Anerkennung erfährt. Wir wollensie im Sinne der Städte und Gemeinden ganz gezielt wei-terentwickeln. Ich sage aber auch: Um dies umzusetzen,brauchen wir starke Städte und Gemeinden. Die neueKoalition will deshalb ausdrücklich die Leistungskraftund Leistungsfähigkeit der Kommunen stärken. Das ge-hört genauso dazu.
– Schauen Sie nach, dann wissen Sie es.Beim Klimaschutz ist der Bau in besonderer Weisegefragt. Der Herr Minister ist in seiner Rede vorhin kurzdarauf eingegangen. Vom Gebäudesektor wird ein wich-tiger Beitrag zur Senkung des CO2-Ausstoßes erwartet.Die riesigen Potenziale, die es durch intelligente Ent-scheidungen zu wecken gilt, schlummern im Altbestand.Dafür müssen wir die Gebäudeeigentümer gewinnen unddürfen sie nicht beschimpfen. Das CO2-Gebäudesanie-rungsprogramm hilft uns dabei.Wenn wir mehr Klimaschutz im Gebäudebereich wol-len, müssen wir auch das Mietrecht anschauen. Wir wer-den deshalb das Mietrecht auf seine Ausgewogenheitüberprüfen und umwelt- und klimafreundliche Sanierun-gen von Wohngebäuden erleichtern. Denn dort liegt dieZukunftschance. Mietrecht und finanzielle Anreize sinddie Schlüssel, wenn wir den Gebäudebestand für einebessere Energieeffizienz öffnen wollen.
Lassen Sie mich noch einen Aspekt ansprechen, dermir wichtig ist. Trotz aller finanziellen Schwierigkeitensollten wir darauf achten, dass der Bund bei seinen eige-nen Bauvorhaben hinsichtlich der Baukultur und der Ar-chitektur eine Vorbildfunktion hat. Der Bund muss alsBauherr mit gutem Beispiel vorangehen und das leisten,was er von privaten Hauseigentümern und Investoren er-wartet.
Die Vorbildfunktion des Bundes kann so noch stärker indas öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Das öffent-liche Bewusstsein ist übrigens nicht auf Deutschland be-schränkt. Gerade mit seinen Auslandsbauten kannDeutschland beim Klimaschutz beispielgebend wirken.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel zu tun.Ich freue mich auf die Zusammenarbeit im Ausschussfür Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die Herausfor-derungen sind groß, die Erwartungshaltung ist riesig. Ichlade Sie alle ein, daran mitzuwirken und gemeinsam mituns zu arbeiten.Herzlichen Dank.
Nun hat das Wort die Kollegin Sabine Leidig für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Ich spreche zum Verkehrsbereich. Ichschicke vorweg, dass ich bei der Rede des Umweltminis-ters Röttgen von den warmen Worten, die ich gehörthabe, beeindruckt war. Mit Blick auf den Bereich Ver-kehrspolitik erscheinen sie mir aber extrem hohl.
Die FAZ überschreibt ihr Porträt von VerkehrsministerRamsauer mit „Der Mann der Straße“. Ein paar Zeilenweiter ist zu lesen:Das Echo auf seine Ernennung ist … nicht un-freundlich. Am größten ist die Freude in der Auto-lobby.
Nach dem Studium des Koalitionsvertrages muss mansagen: Die FAZ hat leider recht. Herr Ramsauer, es stelltsich die Frage, wessen Bedürfnisse bei Ihrem Politikan-satz tatsächlich im Mittelpunkt stehen. Mein Eindruckist: Es sind die Bedürfnisse der Fahrer großer Dienstwa-gen. Dem will ich angesichts der Kürze der Zeit nichtweiter nachgehen.Ich möchte Ihren Blick auf eine andere Seite der Ver-kehrsmedaille lenken. Die Regierung plant einen mehr-fachen Angriff auf den öffentlichen Schienenverkehr.Erstens sollen private Unternehmen im Nahverkehr Vor-rang vor kommunalen Eigenbetrieben bekommen.
Zweitens wird die unbegrenzte Zulassung von Busfernli-nien geplant.
Drittens heißt es im Koalitionsvertrag:
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Sabine LeidigSobald der Kapitalmarkt dies zulässt, werden wireine schrittweise, ertragsoptimierte Privatisierungder Transport- und Logistiksparten– der Deutschen Bahn –einleiten.
Was das alles bedeutet, kann man in unseren Nach-barländern, zum Beispiel in Großbritannien, ganz kon-kret beobachten. Dort konkurrieren Busfernverkehre mitprivatisierten Eisenbahngesellschaften und Billigflie-gern, sie liefern sich einen Dumpingwettbewerb, dieLöhne sinken, Qualität, Fahrkomfort und Sicherheit wer-den spürbar schlechter, schließlich steigen die Preise,und das Schienennetz schrumpft. Das ist die Realität, dieman dort beobachten kann.
Die Richtung, die in Ihrem Koalitionsvertrag ange-deutet wird und eingeschlagen werden soll, wird zumehr verkehrtem Verkehr führen, zu noch mehr Um-welt- und Klimabelastungen und die Tendenz, die bereitsfür die Jahre 1990 bis 2007 so zu bewerten ist, weiter-führen. Das „Menschheitsgut“, von dem der Herr Um-weltminister gesprochen hat, wird mutwillig weiter zer-stört.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Linke for-dert: Wir müssen anders, wir müssen besser verkehren!
Notwendig und übrigens auch volkswirtschaftlich sinn-voll – an dieser Stelle bitte ich die Kollegen von derFDP, ein Ohr zu öffnen – wäre ein langfristiges, umfang-reiches öffentliches Programm zum Ausbau und zurWeiterentwicklung des öffentlichen Schienenverkehrsfür Menschen und für Güter.Damit könnten wir mehrere Fliegen mit einer Klappeschlagen.Erstens. Es wäre ein wesentlicher Beitrag zur CO2-Reduktion. Denn der Verkehrsbereich ist der einzigeWirtschaftsbereich, in dem die CO2-Ausstöße steigen.Auch dies sollte in Kopenhagen in den Mittelpunkt ge-rückt werden.Zweitens. Wir könnten wirklich gute Beschäftigungs-perspektiven für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer in der Automobil- und Flugzeugindustrie schaffen.In diesen Industrien gibt es weltweit Überkapazitäten.Sie glauben ja selbst nicht, dass man alle Arbeitsplätzein der Automobilindustrie erhalten kann.Übrigens macht uns unser Nachbarland Österreichvor, wie man mit solchen Investitionsprogrammenvolkswirtschaftlich sinnvoll umgeht. In Österreich wirdgenau gerechnet: 1 Milliarde Euro Einsatz bringt 17 000neue Arbeitsplätze, und mit 1 Euro Einsatz wird eineSteigerung des Bruttoinlandsprodukts um 2 Euro er-reicht. Es macht also Sinn.
Drittens brauchen wir ein europäisches Konzept.Wir brauchen bei den Verkehrskonzepten Kooperation.Wir brauchen weder auf der Schiene noch sonst ir-gendwo Wettbewerb, sondern wir brauchen gemeinsameLösungen für sinnvolle Transporte weltweit.
Der Verkehrsbereich ist ein Bereich, in dem es um dieLebensqualität der Menschen geht. Die Art und Weise,wie man von Ort zu Ort kommen kann, ist entscheidenddafür, wie sich die Menschen bewegen. Wir brauchen ei-nen besseren öffentlichen Nahverkehr. Wir brauchenBahnhöfe, an denen man sich aufhalten kann,
in denen man sich nicht beängstigt fühlen muss, in denenman auch einmal Zuflucht findet. Wir brauchen vor allenDingen weniger Autos und weniger Lkws in den Städtenund Gemeinden. Das würde die Lebensqualität unheim-lich vieler Menschen enorm verbessern.
Schließlich ist auch der Verkehrsbereich ein Bereich,in dem es um Demokratie geht. Es geht darum, denDruck, die Macht der Automobil- und Öllobby zurück-zudrängen und die tatsächlichen Bedürfnisse der Men-schen an Mobilität in den Mittelpunkt zu stellen. Wirmüssen da mehr Demokratie wagen. Es gibt übrigenskaum ein politisches Projekt, bei dem die Mehrheit derBevölkerung so klar positioniert ist wie bei der Privati-sierung der Bahn.
78 Prozent – mehr als eine Dreiviertelmehrheit – lehneneine Privatisierung der Bahn ab und wünschen sich einegute Bahn in öffentlicher Hand. Wenn man die Meinungder Leute ernst nimmt, schaffen wir vielleicht, was sichdie Frau Bundeskanzlerin gewünscht hat: dass die Bür-gerinnen und Bürger den Staat besser finden.Es geht auch darum, den Schienenbereich weiterzu-entwickeln und ihn besser zu gestalten. Dafür brauchenwir aber keinen grünen Tisch und keine Gespräche mitLobbyistenvereinigungen, wir müssen nur zuhören, wasdie Leute wollen. Die Bürgerinnen und Bürger, die dieVerkehrsmittel benutzen, wissen genau, wie die Ver-kehrsmittel sein müssen, damit sie ihren Bedürfnissenentsprechen. Auch die in den Verkehrsbetrieben Be-schäftigten wissen ganz genau, was man verbessernkann. Das ist der Ansatzpunkt für eine demokratischeund menschengerechte Entwicklung des Verkehrssek-tors.Vielen Dank.
Frau Kollegin Leidig, das war Ihre erste Rede in die-sem Haus. Die Großzügigkeit, die wir bei der Redezeitan den Tag gelegt haben, werden wir künftig nicht ingleicher Weise an den Tag legen können.
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Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtIch gratuliere Ihnen herzlich und wünsche Ihnen für dieweitere Arbeit eine glückliche Hand.
Der nächste Redner ist der Kollege Sören Bartol fürdie SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mobilität, Stadt- und Raumentwicklung sind wichtige
Zukunftsfragen. Lieber Herr Minister Ramsauer, Sie er-
weisen diesem Anliegen gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit
einen Bärendienst. Ich hoffe wirklich, dass Sie an dieser
Stelle noch dazulernen.
Nicht nur personell, auch inhaltlich ist der Bereich
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung im Koalitionsvertrag
schlecht weggekommen. Am Koalitionsvertrag ist nicht
bemerkenswert, was in ihm steht, sondern – viel interes-
santer – was fehlt. Integrierte Verkehrspolitik? Fehlan-
zeige. Im Gegenteil: ein Minister, der ideologisch in die
Mottenkiste greift und nicht begriffen hat, welche Be-
deutung eine moderne, angepasste Verkehrspolitik hat.
Verkehrsmittelübergreifende Konzepte sucht man im
Koalitionsvertrag vergeblich, geschweige denn einen
Ansatz für eine integrierte Verkehrs- und Raumentwick-
lungspolitik. Intelligente Stadtverkehrskonzepte? Fehl-
anzeige! Anstatt klarer Prioritäten für den Umweltver-
bund, also ÖPNV, Radfahren und Zufußgehen, und einer
intelligenten Verknüpfung mit neuen Formen der Auto-
nutzung, wie zum Beispiel Carsharing, steht auf der Ko-
alitionsagenda die Beschneidung der Umweltzonen.
Diese Liste ließe sich immer weiter fortführen. Ein-
fallslosigkeit und der Verzicht auf politische Steuerungs-
möglichkeiten kennzeichnen diesen Koalitionsvertrag,
vor allen Dingen was die Zukunftsfragen im Bereich der
Mobilität anbelangt. Das ist schade für die Menschen,
die unter den Verkehrsbelastungen leiden, aber das ist
vor allen Dingen auch schade für die Umwelt und das
Klima.
Auch in der Verkehrspolitik regiert nun das Prinzip
Privat statt Staat. Was uns ins Haus steht, zeigt sich ganz
besonders deutlich beim öffentlichen Nahverkehr.
CDU und CSU haben die notwendige Novelle des Perso-
nenbeförderungsgesetzes in der letzten Legislaturperi-
ode leider blockiert, und jetzt beeilen sie sich, den Vor-
rang kommerzieller Verkehre mal eben ganz locker
flockig in den Koalitionsvertrag zu schreiben.
Die in der europäischen Verordnung angelegte Möglich-
keit der Direktvergabe wird damit vollkommen konter-
kariert, und der Handlungsspielraum, lieber Kollege
Götz, der Kommunen als Aufgabenträger wird vollkom-
men ausgehöhlt. Wenn Sie das so umsetzen, dann droht
Ihnen wirklich die Rosinenpickerei privater Unterneh-
men.
Wir haben in Brüssel doch gemeinsam dafür ge-
kämpft, dass diese deutsche Struktur mit der Vielzahl öf-
fentlicher und auch privater Unternehmen und vor allen
Dingen die kommunale Verantwortung für diese Auf-
gabe der Daseinsvorsorge erhalten bleiben. Das setzen
Sie nun aufs Spiel. Lieber Kollege Döring, ich weiß, Sie
haben nicht so viele FDP-Bürgermeister, die Sie fragen
könnten,
aber Sie von der CDU/CSU könnten Ihre CDU- und
CSU-Bürgermeister, in deren Gemeinden es kommunale
Unternehmen gibt, einmal fragen, was sie denn dazu sa-
gen.
Was verheißt denn der Koalitionsvertrag hinsichtlich
der Wohnungspolitik? Überhaupt nichts Gutes! Wenn
m
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Alle sind ausgewiesene Verkehrspoliti-ker. Daran wird klar, wohin die Reise in dieser Koalitiongeht. Mit der sozialen Verantwortung ist es nicht weither. Das erkennt man, wenn man das Kleingedruckteliest.
Sie lassen sich dafür feiern, dass Sie das Schonvermö-gen für Arbeitslosengeld-II-Bezieher erhöhen. Das ist jarichtig.
Durch die Hintertür wollen Sie aber die Kosten der Un-terkunft pauschalieren. Das bedeutet doch: Beziehernvon Arbeitslosengeld II droht, dass sie ihre Mieten baldnicht mehr zahlen können. Was hat das mit einer sozia-len Politik zu tun?
Auch das Bekenntnis zum sozialen Charakter desMietrechts ist das Papier nicht wert, auf dem es steht,wenn Sie gleichzeitig die Kündigungsfristen verkürzenwollen. Langjährigen Mietern kann dann mit einerDreimonatsfrist gekündigt werden. Ich glaube, geradefür ältere Mieter, die schon lange in ihren Wohnungenleben, ist das eine Zumutung. Ich hoffe, dagegen kommtes in diesem Land bald zum Aufstand.
Auch die Abschaffung des Mietminderungsrechtsbei der energetischen Sanierung bedeutet einfach nur,dass die Ausgewogenheit zwischen Mieterinteressen undVermieterinteressen in dieser Koalition vollkommen aufder Strecke bleibt.Den Stellenwert, den diese Koalition der Städte-bauförderung insgesamt zuerkennt, erkennt man daran,dass sie in der Rede des Ministers eigentlich überhauptnicht vorgekommen ist. Herr Minister, die Zukunft unse-rer Städte ist für die gesamte Gesellschaft von überra-
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Sören Bartolgender Bedeutung. In den Städten konzentrieren sich so-ziale und wirtschaftliche Probleme, hier liegen aber auchdie großen Chancen. Die Städte sind die Motoren für diewirtschaftliche Entwicklung, die Beschäftigung und dieInnovationen, aber auch die Kultur. Herr Minister, esgeht eben nicht darum, den städtischen Raum gegen denländlichen Raum auszuspielen, sondern darum, dieDinge intelligent miteinander zu verknüpfen. Das be-kommen Sie nicht hin, und da wird mir angst und bange.
Herr Minister, ich befürchte, die Stadtentwicklung stehtam Ende des Tages leider nur noch auf Ihrem Türschild.Das wird uns nicht reichen.Herr Minister, ich glaube, kein Minister in dieser Re-gierung hat es geschafft, öffentlich so schnell in Un-gnade zu fallen wie Sie, und das gleichzeitig bei den vonIhnen angeblich vertretenen Autofahrern, den Umwelt-verbänden und auch noch bei den Menschen in denneuen Bundesländern.Ich glaube, ein Blick auf die Schlagzeilen der vergan-genen Woche reicht; das sollte man einmal neutral tun:„Ramsauer braucht Pannenhilfe“, sorgt sich die Frank-furter Rundschau. „Auf der falschen Spur“ sieht die Fi-nancial Times Deutschland den Minister. Die taz tauftihn – wunderbar – „Ramses – der König der Westauto-bahnen“.
Kollege Fischer, nachdem die Kanzlerin – das muss manvielleicht auch einmal dazusagen – ihren Minister zu-rückgepfiffen hatte, sagte er: Ach, das alles wird mandoch wohl einmal sagen dürfen. – Dann schrieb die Bild-Zeitung: „Erst denken, dann reden!“Herr Minister, ich glaube, dem kann man sich nur an-schließen. Das sollten Sie beherzigen. Viel Glück fürIhre weitere Amtszeit!
Zu den Bereichen Verkehr, Bau und Stadtentwicklungliegen nun keine weiteren Wortmeldungen mehr vor.Wir kommen damit zu den Themenbereichen Arbeitund Soziales. Dazu rufe ich die Zusatzpunkte 2 bis 4auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten JuttaKrellmann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEFörderung der Altersteilzeit durch die Bun-desagentur für Arbeit fortführen– Drucksache 17/21 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und SozialesBeratung des Antrags der Abgeordneten SabineZimmermann, Klaus Ernst, Matthias W.Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEFolgen der Krise für Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer abmildern – ALG I befristet auf24 Monate verlängern– Drucksache 17/22 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und SozialesBeratung des Antrags der Abgeordneten DianaGolze, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAnhebung und bedarfsgerechte Ermittlungder Kinderregelsätze– Drucksache 17/23 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussAls erstem Redner zu diesem Themenbereich erteileich für die Bundesregierung Herrn BundesministerDr. Franz Josef Jung das Wort.
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister für Arbeitund Soziales:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Chancenfür Arbeit schaffen und den Zusammenhalt in Deutsch-land stärken, das sind die Ziele der Arbeitsmarkt- undSozialpolitik dieser neuen Bundesregierung.
Der soziale Frieden, die Partnerschaft von Arbeitgebernund Arbeitnehmern sind mit die tragenden Säulen unse-rer sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehört auch die Ta-rifautonomie. Wir brauchen in Zukunft noch mehr diegesellschaftliche Verantwortung unserer Unternehmen,auch im Interesse der Arbeitsplätze in Deutschland.
Für mehr Arbeit in Deutschland müssen wir Hürdenfür Beschäftigung abbauen, muss sich der Staat auf dieBereiche beschränken, in denen er Verantwortung über-nehmen muss. Wir brauchen einen Arbeitsmarkt, dernicht Fesseln anlegt, sondern Freiraum für Arbeitschafft. Deshalb werden wir mit dem Abbau von Büro-kratie einen Aufbau von Beschäftigung bewirken.Sozial ist, was Arbeit schafft.
Mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit, dasstärkt zugleich die Grundlage für die soziale Sicherungaller. Ein Blick auf die Zahlen macht deutlich: 100 000Arbeitslose weniger bedeuten eine Entlastung von rund2 Milliarden Euro im Haushalt und in den Sozialkassen.
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Bundesminister Dr. Franz Josef JungEin Arbeitsmarkt, der Impulse für mehr Beschäftigungsetzt, ist ein Pfeiler der solidarischen Leistungsgesell-schaft, in der sich jeder nach seinen Fähigkeiten entfal-ten können muss.Gerade in der größten Wirtschaftskrise, die wir seit demZweiten Weltkrieg durchleben, sind Wachstumsimpulseund Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger die richti-gen Signale für mehr Beschäftigung. Deshalb leisten dasWachstumsbeschleunigungsgesetz und die Entlastungenvon circa 22 Milliarden Euro, die am 1. Januar 2010 inKraft treten, einen entscheidenden Beitrag zu mehr Arbeitund Beschäftigung.
Wir haben in der letzten Woche am Arbeitsmarkt durch-aus positive Zahlen im Vergleich zu den Prognosen vonAnfang dieses Jahres zur Kenntnis nehmen können.
Die Zahlen machen Mut, aber sie stellen noch keineTrendwende dar.Die Entscheidung, die die Bundesregierung bei derKurzarbeit getroffen hat, ist eine richtige Entscheidunggewesen und hat dem Arbeitsmarkt geholfen. Deshalbist es auch aus meiner Sicht notwendig, dass wir Rege-lungen zur Kurzarbeit noch in diesem Jahr verlängern,um hier eine Perspektive für Arbeit in Deutschland zuschaffen.
Wir wollen für die Unternehmen mit einem Mehr anMöglichkeiten zu befristeten Beschäftigungsverhältnis-sen die Voraussetzungen schaffen, flexibel zu reagierenund damit ebenfalls Arbeitsplätze zu generieren.
Ferner wollen wir die neuen elektronischen Möglich-keiten nutzen, um einen Beitrag zur Entbürokratisierungzu leisten und die Betriebe bei den Pflichten aus der So-zialversicherung zu entlasten. Auch im Hinblick auf dieFrage der Partnerschaft von Arbeitnehmern und Arbeit-gebern ist es ein richtiges Signal, wenn wir beabsichti-gen, die Mitarbeiterbeteiligung in den Unternehmenauszuweiten.
Auch wollen wir dafür sorgen, dass Lohndumping ver-hindert wird. Deshalb wollen wir die Rechtsprechungzum Verbot sittenwidrig niedriger Löhne gesetzlich fest-schreiben.
In der Krise hat die Bundesagentur für Arbeit durch-aus ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Ichmöchte deshalb dem Chef der Agentur, Herrn Weise,und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herzlich fürihren Beitrag danken, den sie zur Vermittlung in Arbeitin Deutschland geleistet haben.
Wir wollen die Agentur im Interesse der arbeitsu-chenden Menschen in Zukunft noch effektiver gestalten.
Auch werden wir das durch die Krise entstehende Defizitfür 2010 aus Mitteln des Bundes ausgleichen, damit derBeitragssatz in der Perspektive grundsätzlich stabil bleibenkann. Dies ist auch ein wichtiges Momentum, wenn ichüber Arbeitsplätze in Deutschland spreche.
Auch bei der Betreuung und Vermittlung von längereZeit Arbeit Suchenden werden wir nach der Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts die Handlungsfä-higkeit herstellen.
Wir wollen die Erfahrungen der Kommunen und derAgentur in getrennter Verantwortung – so schreibt es dasGericht vor – auf der Basis der freiwilligen Zusammen-arbeit nutzen und die Optionskommunen entfristen.Diesbezüglich werden wir einen Mustervertrag vorle-gen.
Wir werden im Rahmen von Hartz IV, also demSozialgesetzbuch II, Regelungen beseitigen, die die Bür-gerinnen und Bürger zu Recht als ungerecht empfinden.Wir werden deshalb das erarbeitete Vermögen bis zu750 Euro pro Lebensjahr vor dem Zugriff verschonen.Bisher waren es 250 Euro. Dies ist auch im Interesse derprivaten Altersvorsorge richtig. Deshalb werden wir diesim Interesse der Bürger umsetzen.
In diesem Zusammenhang werden wir auch die selbstge-nutzte Immobilie umfassend schützen.
Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nichtarbeitet.
Deshalb werden wir auch die Hinzuverdienstregelun-gen entsprechend fortentwickeln, um zusätzliche An-reize für die Arbeitsaufnahme zu schaffen.
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Bundesminister Dr. Franz Josef JungDazu gehören auch Komponenten, die im Zusammen-hang mit der Weiterbildung bzw. einer Weiterbildungsal-lianz erforderlich sind. Deshalb halte ich es für richtig,dass wir die Förderung berufsbezogener Sprachkennt-nisse in die Weiterbildung miteinbeziehen, weil diesauch eine Chance für zukünftige Arbeit bedeutet.
Ich will ein Wort auch zu der aktuellen Debatte überdie Rentensituation sagen. Ich denke, eines ist eindeutig:Konkrete Aussagen über die Rentensituation ab 1. Julinächsten Jahres werden erst im März des nächsten Jahresmöglich sein, wenn nämlich die konkreten Zahlen vor-liegen.
Es muss aber auch klar sein: Die Rente ist Alterslohn fürLebensleistung. Sie ist grundsätzlich an die Lohnent-wicklung angepasst.
Man kann heute aber auch sagen: Auch bei einer negati-ven Lohnentwicklung werden die Renten nicht sinken.Dies haben wir mit der Rentengarantie so beschlossen.Dies ist, wie ich finde, eine richtige und wichtige Bot-schaft für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland.
Außerdem weise ich darauf hin, dass in Zukunft der Bei-tragssatz in der Rentenversicherung stabil bleiben soll.Das ist ebenfalls ein wichtiger Tatbestand, der dazu bei-trägt, dass die Lohnnebenkosten nicht weiter steigen unddamit zu einer zusätzlichen Belastung für die Arbeits-situation in Deutschland führen würden.
In dieser Legislaturperiode wollen wir ein einheitli-ches Rentensystem in Ost und West schaffen. Ich ladealle Fraktionen dazu ein, sich intensiv an der Diskussionund der Entscheidung darüber zu beteiligen; denn es isteine Herausforderung, 20 Jahre nach dem Fall der Mauerein einheitliches Rentensystem im Osten und WestenDeutschlands zu schaffen.
Im Hinblick auf mehr Arbeit wollen wir zudem dieAnreize zur Frühverrentung beseitigen und die Beteili-gung am Erwerbsleben erhöhen. Auch dies gehört zu un-serem Programm, wenn es darum geht, in Zukunft mehrMenschen in Arbeit zu bringen.Lassen Sie mich noch einen Satz zu einem anderenThemenbereich aus meinem Aufgabenfeld sagen. Dabeigeht es um das Thema Menschen mit Behinderung. Ei-nes muss klar sein: Menschen mit Behinderung habenunsere menschliche Unterstützung verdient. Wir wollendie Rahmenbedingungen für diese Menschen positiv ge-stalten und einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinde-rung entwickeln. Hilfe zur Selbsthilfe, das ist auch indiesem Zusammenhang die richtige Politik.
Deutschlands Stärke gründet auf dem Fleiß und derVerantwortungsbereitschaft der Menschen. Sie gründetauf der Leistungsbereitschaft der Unternehmer und derArbeitnehmer. Sie gründet auf dem sozialen Frieden.Diesem Fleiß und dieser Verantwortungsbereitschaftmehr Raum zum Wachsen zu geben, fördert Arbeit undden Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Der Menschist uns wichtiger als die Sache. In diesem Sinn machenwir eine wertorientierte Politik für die Menschen inDeutschland, für Arbeit und für den sozialen Frieden.Besten Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Hubertus Heil.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Nach gutem parlamentarischen Brauch möchteich Ihnen, Herr Minister Jung, zur Ernennung in diesesAmt ganz herzlich gratulieren und alles Gute wünschen.Sie übernehmen mit diesem Bundesministerium ein ge-ordnetes, ein gutes Haus.
Sie müssen aber auch in große Fußstapfen treten. Sie tre-ten die Nachfolge von Franz Müntefering und OlafScholz an. Ich will an dieser Stelle sagen: Wir Sozial-demokraten sind stolz auf die Arbeit dieser Minister, vorallen Dingen auf die Arbeit von Olaf Scholz in den letz-ten Monaten, der in der Krise mit aktiver Arbeitsmarkt-politik, insbesondere mit den geänderten Regeln zurKurzarbeit, mitgeholfen hat, dass Hunderttausende Men-schen in Deutschland an Bord, in Beschäftigung, bleibenkonnten. Das haben wir gemacht. Es ist gut, wenn Siezumindest daran anknüpfen.
Herr Minister, wenn ich mir allerdings den Koali-tionsvertrag anschaue und mir Ihre Rede vor Augen führe,dann vermisse ich im Wesentlichen die Beantwortung fol-gender großer Fragen: Wo sieht eigentlich der Bundesmi-nister für Arbeit und Soziales die Zukunft der Arbeit inunserem Land? Was tut diese Bundesregierung konkret,damit Arbeit in diesem Land eine gute Zukunft hat? Dannhöre ich mir Ihre Rede an und höre diesen alten, aber nichtbesonders intelligenten Satz, diese Formel: Sozial ist, wasArbeit schafft. – Herr Minister, ich will Sie zumindestnachdenklich machen und es zuspitzen: „Sozial ist, wasArbeit schafft.“
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Heißt dieser Satz eigentlich auch, dass Sklavenarbeit so-zial ist? Überspitzt gesagt, wäre das die Tatsache.
Wir sagen: Sozial ist, was anständige Arbeit schafft, vonder Menschen auch leben können. – Das ist der Unter-schied zu Ihnen.
Wenn ich mir den Koalitionsvertrag und das, was Sieeben gesagt haben, anschaue, dann muss ich feststellen,dass sich das, was Sie vorhaben – atypische Arbeit, unsi-chere Arbeit, prekäre Arbeit – in diesem Land ausbreitenwird. Das betrifft vor allen Dingen den Einstieg in dieAushöhlung des Kündigungsschutzes. Sie sagen zwarim Koalitionsvertrag – eben war das nicht so sehr zu hö-ren, aber gestern von Frau Merkel –, Sie stünden zumKündigungsschutz, um dann nonchalant die sachgrund-lose Befristung auszuweiten. Das ist nichts anderes alseine Aushöhlung des Kündigungsschutzes in Deutsch-land, und das wird auf unseren massiven Widerstandtreffen.
Vor allen Dingen wollen und werden Sie den Niedrig-lohnsektor in diesem Land nicht zurückdrängen, son-dern ausweiten. Da hilft es überhaupt nichts, die Men-schen mit irgendwelchen Placebos ruhigstellen zu wol-len. Bei dem Verbot sittenwidriger Löhne – das ist jetztdas neue, große Konzept und Projekt der schwarz-gelbenBundesregierung – muss man sich, ganz unabhängig da-von, dass das schon in diesem Lande Rechtsprechung ist,eines vor Augen halten. Was heißt das eigentlich, HerrMinister, ganz konkret für die betroffenen Menschen imNiedriglohnsektor? Es heißt nichts anderes, als dass Sieverfestigen, dass zukünftig bis zu einem Drittel nicht nurvom Tarifvertrag abgewichen werden kann, sondernauch von ortüblichen Löhnen, also – auf Deutsch –Löhne von 3 Euro, 4 Euro um ein Drittel unterschrittenwerden können. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wer dieZukunft der Arbeit in Deutschland vor allem im Niedrig-lohnsektor sieht, der hat weder von Wirtschaftspolitiknoch von sozialer Marktwirtschaft oder von den Bedürf-nissen der Menschen in diesem Land irgendeine Vorstel-lung.
Sie sagen: Leistung muss sich wieder lohnen. – Was sa-gen Sie eigentlich den Menschen in den Branchen, in de-nen Sie Mindestlöhne verhindert haben, wie sich Leis-tung wieder lohnen soll? Wenn es nach Ihnen geht, dannsollen die zukünftig alle zum Amt gehen und sich ergän-zendes Arbeitslosengeld II abholen, also Aufstockersein.
Das hat mit Ordnungspolitik nichts zu tun, das ist nichtsanderes als ein staatlich subventionierter Billigjobsektor,und Sie verfestigen den.
Übrigens, zu dem lauten Herrn Kolb von der FDP:
Herr Kolb, mit den Zuverdienstmöglichkeiten, die Sieerweitern, machen Sie nichts anderes, als das Geld derSteuerzahler zu nehmen, um die Löhne in Billigjobs imInteresse der Arbeitgeber, die nicht bereit sind, einen an-ständigen Lohn zu zahlen, aufzustocken. Nichts anderesist das. Mit sozialer Marktwirtschaft hat das nichts zutun.
– Herr Kolb, Sie sind nachher noch dran.Ich will Ihnen an dieser Stelle deutlich sagen, dass wirdem ein Gegenkonzept entgegenstellen werden. Ichglaube, es ist wichtig, dass wir über gute, über ordentli-che Arbeit in diesem Land reden. Wenn Sie, Herr Minis-ter, mit den Gewerkschaften in Deutschland sprechen, istes wichtig, dass Sie das nicht in Form warmer Gruß-worte tun. Die Gewerkschaften werden darauf schauen,ob Sie konkret handeln. Sie sollten auf Ihrem Weg um-kehren und dafür sorgen, dass wir in diesem Land or-dentliche Arbeitsplätze haben, damit sich Leistung fürdie Menschen wirklich lohnt, die morgens aufstehen, indie Fabriken und in die Verwaltung gehen oder als Fri-seurin arbeiten. Alle die sprechen Sie mit Ihren warmenWorten an, aber Sie tun nichts Konkretes. Im Gegenteil:Sie nehmen diesen Menschen nicht nur einen anständi-gen Lohn, indem Sie Mindestlöhne verweigern, Sie neh-men ihnen auch ein Stück der Würde ihrer Arbeit. Dasist etwas, was wir in diesem Land nicht durchgehen las-sen dürfen.
Wir wollen Sie, was die Arbeitsmarktpolitik betrifft,unterstützen, wenn Sie die Zeit der Kurzarbeit verlän-gern wollen. Auch da haben Sie ein gut bestelltes Hausübernommen. Ich stelle mir das so vor: Olaf Scholz, flei-ßig, wie er ist, hat den Entwurf einer Verordnung vorbe-reitet, und Sie mussten nur noch unterschreiben.
Wie gesagt, in der Sache ist das richtig. Wir unterstützendas, es hilft der Wirtschaft, es hilft den Unternehmen,aber es hilft auch den Beschäftigten, an Bord zu bleiben.Ich würde mir nur eines wünschen, nämlich dass Sie andieser Stelle noch einen draufsetzen und mithelfen, dassauch die geförderte Altersteilzeit nicht zum 1. Januarnächsten Jahres ausläuft. Auch das ist wichtig für dieBetriebe und für die Beschäftigten.
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Da geht es nicht um Frühverrentung; da geht es um Be-schäftigungsbrücken.
Denn in dieser Krise sind viele Menschen in Arbeit ge-blieben. Es gibt zwei Gruppen, die besonders betroffensind: die über 50-Jährigen und die unter 25-Jährigen.Wer Angst hat, dass das zur Frühverrentung führt undnicht zur Beschäftigungsbrücke werden kann, der solltesich das bei der Salzgitter AG in meiner Heimat einmalanschauen: Dort hat man dieses Instrument genutzt undjungen Menschen nach der Ausbildung konsequent ei-nen Einstieg ins Erwerbsleben ermöglicht. Hinzu kamenflexible Übergänge in den Ruhestand. Mir geht es vor al-lem um dieses arbeitsmarktpolitische Instrument. Wirwerden nicht zulassen, dass Sie die Geltungsdauer diesesInstrumentes tatenlos auslaufen lassen. Deshalb werdenwir nicht nur einen Antrag, sondern einen Gesetzentwurfin diesen Deutschen Bundestag einbringen. Dann wer-den wir sehen, wie Sie sich an dieser Stelle verhalten.
Sie haben etwas zum Thema Arbeitsverwaltung ge-sagt, Herr Jung. Dazu kann ich nur sagen:
Die Art und Weise, wie Sie in einer Phase, in der die Ar-beitslosigkeit zu steigen droht, die Arbeitsverwaltung indiesem Land chaotisieren, geht nicht nur zulasten derKommunen, der Arbeitsverwaltung und der Beschäftig-ten in der Arbeitsverwaltung; vor allen Dingen ist dasPolitik auf dem Buckel der arbeitslosen Menschen indiesem Land, und das ist etwas, wofür man sich wirklichschämen muss.
Die alte Bundesregierung, der auch Sie angehörten,hatte einen Konsens mit 16 Bundesländern. Er ist vonder CDU/CSU-Bundestagsfraktion torpediert und ka-puttgemacht worden. Jetzt verwenden Sie den schönenBegriff der getrennten Aufgabenwahrnehmung und be-haupten, das sei eine Konsequenz des Urteils, was recht-licher Quatsch ist; das ist Blödsinn an dieser Stelle. Esführt vor allen Dingen dazu, dass mit den Arbeitslosenwieder Pingpong zwischen zwei Verwaltungen gespieltwird. Es wird mehr Bürokratie geben. Es wird mehrMenschen geben, die dafür arbeiten müssen, und es wirdweniger geben, die sich um die Vermittlung der Men-schen in Arbeit tatsächlich kümmern können. Das ist dasErgebnis dieser undurchdachten Politik, für die Sie hierantreten.
Herr Minister, Sie werden es mit der sozialdemokrati-schen Opposition zu tun bekommen, wenn es um daswichtigste Thema in diesem Land geht, nämlich um dieArbeit der Menschen. Es wird die Frage zu beantwortensein: Wer hat eigentlich einen Draht zu Menschen, diehart arbeiten und von ihrer Arbeit auch leben könnenwollen? Ich sage sehr deutlich: Manchmal habe ich denEindruck, dass einige bei Schwarz-Gelb ein gebrochenesVerhältnis zu anständiger Erwerbsarbeit haben.
Wenn ich mir die Vorschläge anschaue, für die Siehier stehen, dann muss ich an dieser Stelle sagen: GehenSie in Ihre Wahlkreise! Reden Sie mit Menschen, vor al-len Dingen in den Dienstleistungsberufen, die jeden Tagmehrere Jobs ausüben müssen, um über die Rundenkommen zu können! Diesen Menschen verweigern Siedie Mindestlöhne. Für diese Menschen haben Sie wederHerz noch Verstand. Sie haben den Draht zu diesenMenschen verloren.
Ich will Ihnen zum Schluss eines sagen, Herr Minister:Sich Art. 20 des Grundgesetzes für die BundesrepublikDeutschland zu vergegenwärtigen, müsste eigentlich alleverbinden, gerade im 60. Jahr der Bundesrepublik Deutsch-land. Deutschland soll ein sozialer und demokratischer Bun-desstaat sein. Es geht um den sozialen Rechtsstaat. Sie wol-len in der Sozialpolitik einen Paradigmenwechsel, weg vomsozialen Rechtsstaat, weg von sozialen Bürgerrechten, hinzu Almosen.
Das ist nicht in Ordnung. Es widerspricht dem Geist un-serer Verfassung. Es wäre eigentlich vernünftig, sich da-ranzumachen, den Geist der Verfassung mit neuem Le-ben zu erwecken.
Gerade in einer Situation, in der sich die Arbeitswelt än-dert, dürfen Sie kein gestörtes Verhältnis zur Arbeit inDeutschland bekommen. Wir werden Alternativen auf-zeigen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Heil, ich habe heute schon Ihre zweiteRede gehört,
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184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. November 2009
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Dr. Heinrich L. Kolbund ich stelle fest, dass Sie nichts, aber auch wirklichüberhaupt nichts aus Ihrer Wahlniederlage gelernt haben.
Sie haben den Versuch einer Gleichsetzung von Schwarz-Gelb und sozialer Kälte mitzuverantworten. Das war dieentscheidende Fehlkalkulation in der Schlussphase desWahlkampfs. Sie haben geglaubt, Sie könnten die Men-schen verunsichern, und Sie haben gehofft, Sie könntenvon dieser Verunsicherung profitieren. Aber die Men-schen haben sich mehrheitlich für Schwarz-Gelb ent-schieden,
weil sie uns zugetraut haben, besser mit den Folgen derKrise fertigzuwerden. Laut sprechen allein, Herr Heil,genügt hier nicht.
Sie sollten die Menschen nicht unterschätzen. DieMenschen ahnen sehr wohl, dass die schwierigen Zeiten,in denen wir leben, nicht mit den Rezepten von gesternzu bewältigen sind.
Das Rezept von Olaf Scholz, zum Beispiel zur Bewälti-gung der Rentenprobleme, war, mit Geld, das er nichthatte – bildlich gesprochen: mit einem Wechsel auf dieZukunft –, Zeit bis zum Wahltag zu gewinnen, sich überden Wahltermin zu retten. Seriös, Herr Heil, war das ausmeiner Sicht nicht.
Wenn dieses Wechselgeschäft jetzt platzen sollte, wer-den wir nicht zögern, den Verantwortlichen zu benennen.Das gilt besonders für die Rentenpolitik, die am heutigenTag ja wieder einmal die Schlagzeilen bestimmt.
Ich kenne Karl Valentin: Das Schwierige an der Prog-nose ist die Vorhersage des Künftigen. – Das bestreiteich nicht. Deswegen rate ich wie der Minister dazu – daswar auch guter Brauch in der Vergangenheit –, abzuwar-ten, bis die maßgeblichen Zahlen vorliegen. Das wird imMärz kommenden Jahres der Fall sein.
Aber dass die Rahmenbedingungen für positive Ren-tenanpassungen in den nächsten Jahren eher schwierigergeworden sind, das, Herr Heil, kann man heute schonfeststellen. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen,müssen und können wir aus der Krise auch lernen:
Rentner und Erwerbstätige sitzen in einem Boot.
– Ja, da lachen Sie. Das ist eigentlich beschämend fürSie.
Die Renten können sich in einem umlagefinanziertenSystem auf Dauer nur im Gleichklang mit den Löhnenund Gehältern entwickeln. Jeder Versuch, diesen Zusam-menhang aufzuheben, ist eine schwere Belastung für dieNachhaltigkeit der Rentenfinanzierung. Deswegen warund bleibt – ich sage das nach der Wahl so deutlich wievorher – die Rentengarantie der Großen Koalition einAkt des Populismus. Das muss man hier sehr deutlich sobenennen.
Damals wurde diese Garantie, Herr Heil, noch mit dembeschwichtigenden Hinweis verbunden, sie werde ja niegreifen.
Wenn es nun anders kommen sollte und die Garantiegreift, gilt das, worauf wir immer hingewiesen haben,dass nämlich die Rentengarantie der Großen Koalitionein vergiftetes Geschenk gewesen ist, ein Geschenk, dasdie Beschenkten am Ende selber bezahlen müssen. DieRentner, da bin ich mir sicher, werden sich am Ende beidenen zu bedanken wissen, die ihnen genau das einge-brockt haben.
Aber nicht nur Erwerbstätige und Rentner sitzen in ei-nem Boot, auch Schülerinnen und Schüler, Studenten,Arbeitslose, Langzeitarbeitslose, Kinder und behinderteMenschen. Letztlich sind alle Gruppen unserer Gesell-schaft auf eine starke Wirtschaft angewiesen, weil nurverteilt werden kann, was zuvor erwirtschaftet wurde.
Deswegen ist nach meiner festen Überzeugung einstrikter Wachstumskurs ohne jede Alternative. Wir müs-sen versuchen, die Lücke, die durch den stärksten Rück-gang des Buttoinlandsproduktes in der Geschichte derBundesrepublik entstanden ist, möglichst schnell wiederzu schließen und darüber hinaus zu gehen.
Wir haben in den letzten Jahren gesehen: Die Finan-zierung der gesellschaftlichen Aufgaben und die Stabili-sierung der sozialen Sicherungssysteme gelingt am bes-ten, wenn wir ein hohes Maß an Beschäftigung haben,wenn möglichst viele Menschen Steuern zahlen und So-zialversicherungsbeiträge leisten.
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Dr. Heinrich L. KolbDeswegen müssen wir alle Anstrengungen unternehmen,damit in der Krise möglichst viele Arbeitsplätze erhal-ten bleiben und nach der Krise – das ist entscheidend,Frau Pothmer – der Aufbau neuer Beschäftigung mög-lichst früh einsetzt und sich auch möglichst stark entwi-ckeln kann.
Ein erster Baustein dazu ist das Wachstumsbeschleu-nigungsgesetz, das in dieser Woche im Deutschen Bun-destag eingebracht wurde. Weitere Schritte werden fol-gen.
Einige davon sind im Koalitionsvertrag bereits benannt;aber auch manches, was keine Aufnahme in den Koali-tionsvertrag gefunden hat, wird uns in den nächsten Jah-ren beschäftigen, beschäftigen müssen.
Alles, was die Koalition unternimmt, muss sich an derZielsetzung einer möglichst hohen Beschäftigung aus-richten. Das gilt umso mehr, als ich die Einschätzung derBundeskanzlerin teile, dass am Arbeitsmarkt der schwie-rige Teil der Wegstrecke noch vor uns liegt. Wir dürfenuns dabei nichts vormachen, Herr Heil. Sicher, dieKurzarbeit hatte und hat eine stabilisierende Wirkung.Wunder vollbringen kann sie nicht.
Denn die Kurzarbeit kostet ja nicht nur die Bundesagen-tur viel Geld, sie belastet eben auch die Finanzen und dieEigenkapitaldecke der Unternehmen. Die Entlastung derUnternehmen bei den Lohnkosten im Wege der Kurzar-beit ist ja nur ein Teil der gesamten Sicht.
Wir dürfen uns außerdem nicht darüber täuschen, dassdie Unternehmen auch weiterhin Leasingraten, Pachtzin-sen, Abschreibungen und andere Dinge für die Bereit-haltung von Kapazitäten zu bilanzieren haben, was sichrapide und nachhaltig auf die Erträge der Unternehmenauswirkt.
Deswegen wird es im gewissen Umfang auch unver-meidlich sein, dass Anpassungsmaßnahmen erfolgen.Aber gerade, weil das auf uns zukommt, ist es wichtig,dass wir jetzt in der Krise den Druck zur Beschäftigungs-anpassung nicht noch durch prozyklische Maßnahmen er-höhen, wozu sicherlich Beitragserhöhungen gehörenwürden. Deswegen habe ich Verständnis für Überlegun-gen, wie sie der Minister hier auch vorgetragen hat, diekrisenbedingten Kosten der Sozialversicherung mit Steu-ermitteln zu finanzieren.
Ich glaube aber auch, dass in den Fällen, in denen sichdie Inanspruchnahme von Beitragsmitteln nicht rechtfer-tigen lässt, jetzt ein klarer Strich gezogen werden muss.Deswegen begrüße ich das im Koalitionsvertrag verein-barte Auslaufen der staatlich geförderten Altersteilzeit.Altersteilzeit war und bleibt ein Irrweg.
Dadurch sind in vielen Fällen Ältere mit mehr oder we-niger sanftem Druck aus dem Erwerbsleben und aus denBetrieben hinausgedrängt worden. Es ist höchste Zeit,dass der Beitragszahler aus der Haftung entlassen wird.Es kann auch künftig Altersteilzeit geben, aber dannbitte auf Kosten der Firmen, die diese wollen.Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass es in die-sem Zusammenhang auch aus meiner Sicht ein neuesAngebot an die Versicherten für die Gestaltung desÜbergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand gebenmuss. Die FDP hat ihren Vorschlag dazu schon einge-bracht. Ich würde mir wünschen, dass sich, nachdem dieBundeskanzlerin hier gestern gefordert hat, es müsseSchluss sein mit reflexhaften Reaktionen, alle Fraktio-nen dieses Hauses, gerne auch unser Koalitionspartner,diesen Vorschlag einmal unvoreingenommen ansehen.Es geht darum, Entscheidungsfreiheit zu schaffen unddie Verantwortung des Einzelnen zu stärken – nichtmehr, aber auch nicht weniger. Für mich ist klar: Gibt esein solches Angebot nicht, wird der Druck auf die Er-werbsminderungsrente dramatisch zunehmen.
Das ist eine Entwicklung, die angesichts der bereits jetztangespannten Rentenfinanzen niemand wirklich wollenkann.
Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente müssen ge-strafft werden. Das hatte die Große Koalition angekün-digt, aber nicht wirklich in Angriff genommen. Die Zahlder Instrumente kann und muss verringert und die Effi-zienz gesteigert werden. Letztendlich geht es darum, dieChancen für Arbeitslose und Langzeitarbeitslose aufeine Rückkehr in das Erwerbsleben möglichst optimalauszugestalten.Zum Schluss: Ich begrüße es, dass im Koalitionsver-trag eine Verständigung darüber herbeigeführt wordenist, dass es keinen gesetzlichen Mindestlohn gebenwird,
und dass die Möglichkeit, branchenbezogene Mindest-löhne einzuführen, eingedämmt wurde.
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Dr. Heinrich L. KolbMindestlöhne vernichten Arbeitsplätze. Das wird – dabin ich mir sicher – auch die Evaluation zeigen.
Mindestlöhne schaden dem Wettbewerb. Sie vernichtenauch Wohlstand in einer Volkswirtschaft, Herr Heil.
Wir sollten sehen: Der Normalfall ist immer noch, dassderjenige, der Arbeit hat, auch davon leben kann. Wennder Verdienst nicht in jedem Fall reicht, bedeutet das ausmeiner Sicht keine Bankrotterklärung unseres Sozial-staates, sondern ist gerade Nachweis seiner Leistungsfä-higkeit, da wir den nicht ausreichenden Verdienst aufsto-cken.
Meine Damen und Herren, ich bin am Ende meinerRedezeit. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ih-nen, Herr Jung, mit Ihren Mitarbeitern und mit den altenund neuen Kollegen im Ausschuss. Ich bin gespannt aufden neuen Vorsitz, den erstmals die Linke stellen wird.Wir werden in der kommenden Legislaturperiode wich-tige Aufgaben zu lösen haben, und ich bin sicher: BeiOffenheit und gegenseitigem Verständnis werden wirgute Lösungen erarbeiten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Minister, ich habe ja Verständnis dafür,dass Sie sich noch einarbeiten müssen. Aber Sie müssendeshalb nicht jeden unsinnigen Satz wiederholen: Sozialist, was Arbeit schafft. Was heißt das? Auch im altenRom, bei den Ägyptern und bei den Griechen gab es Ar-beit. Das war Sklavenarbeit. Wenn der Satz „Sozial ist,was Arbeit schafft“ stimmen würde, dann wäre das alteRom ein Sozialstaat gewesen. Das werden Sie aber dochnicht behaupten wollen.
Wenn Sie nicht begreifen, dass Sie nicht nur für dieMenge an Arbeit, sondern auch für die Qualität der Ar-beit verantwortlich sind, dann verstehen Sie Ihren Jobfalsch.
Sittenwidrige Löhne stehen im Widerspruch zu demSatz „Wohlstand für alle“ in Ihrer Koalitionsvereinba-rung und zu der Aussage „Leistung muss sich lohnen“.Eine Floristin in Sachsen-Anhalt verdient 4,35 Euro inder Stunde. Ist das gerecht? Lohnt sich deren Leistung?
Ein Kfz-Handwerker in Schleswig-Holstein verdient7,01 Euro in der Stunde. Lohnt sich dessen Arbeit? Istdessen Leistung vernünftig bezahlt? Ein im WachdienstBeschäftigter in Thüringen verdient 4,15 Euro in derStunde. Ist das gerecht?
Sie haben einen Eid geschworen, dass Sie jedermannGerechtigkeit widerfahren lassen. Auch die Niedriglöh-ner müssen in diesen Eid einbezogen sein, Herr Minister.
– Sie, Herr Kolb, wissen ganz genau – so schlau sindSie; Sie können aber gerne eine Zwischenfrage stellen,um meine Redezeit zu verlängern –, dass es Bereichegibt, in denen Gewerkschaften nicht die Möglichkeit ha-ben, einen vernünftigen Lohn auszuhandeln. Wenn Siedas nicht begreifen, informiere ich Sie gerne über dieBereiche, in denen das der Fall ist.
Jetzt sage ich noch etwas zur Sittenwidrigkeit. Sitten-widrig ist es, dass Sie akzeptieren, dass die Floristin statt4,35 nur 2,90 Euro, der Kfz-Handwerker statt 7,01 nur4,68 Euro und der Beschäftigte im Separatwachdienststatt 4,19 letztendlich 2,77 Euro in der Stunde verdient.Das ist Ihre Gerechtigkeit, Herr Jung. Ich halte es für ei-nen Skandal, dass diese Regierung dazu beiträgt, dasNiedriglohnniveau in diesem Land weiter zu senken.
Zu Ihrem Vorschlag zum Kündigungsschutz.
Es ist schon bemerkenswert: Da sagte die Kanzlerin inihrer gestrigen Regierungserklärung:Wir werden auch die Schutzwirkung des Kündi-gungsschutzes nicht mindern. Das schafft Vertrauenund hat auch etwas damit zu tun, das Verhältnis derBürger zu ihrem Staat zu verbessern.
Richtig! Aber ein paar Sätze zuvor sagte sie:Ebenso werden wir befristete Beschäftigungsver-hältnisse erleichtern.Glauben Sie, die Leute sind doof und merken nicht,was Sie da machen? Wenn Sie das umsetzen, was Sievorhaben, dann kommen die Leute noch nicht einmal inden Genuss des bestehenden Kündigungsschutzes. Den
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Klaus Ernstbrauchen Sie also gar nicht zu verschlechtern. Herr Jung,ein befristet Beschäftigter muss nicht entlassen werden.Er fliegt einfach raus. Es sind im Übrigen diejenigen be-troffen, die schon in der Krise rausgeflogen sind. Dahergibt es trotz der Kurzarbeit eine Steigerung der Arbeits-losenzahl. Ich sage Ihnen: Wenn Sie bei Ihrer Haltungbleiben, die Befristung weiter zu öffnen, dann erhöhenSie die Arbeitslosigkeit. Auch das ist denkbar ungerecht.Zur Leiharbeit lese ich in Ihrer Regierungserklärungüberhaupt nichts, Herr Jung. Leiharbeit ist ungerecht.Bei gleicher Arbeit weniger Geld zu verdienen, ist einSkandal.
Sie unternehmen aber nichts dagegen. Der neue Arbeits-minister schweigt zu diesem Thema.
– Sie können gerne weiter grölen! Ich bin trotzdem ir-gendwann einmal fertig.Ich möchte noch eine Bemerkung zur Rente machen.Es ist ja lustig: Da weiß die rechte Hand nicht, was dielinke macht. Wie ist es denn mit der Rente mit 60, HerrKolb? Darüber habe ich nichts gehört.
Ich habe gedacht, Sie wollen jetzt eine Rente mit 60 ein-führen. Sie verschweigen, dass die von Ihnen ange-strebte Rente mit 60 dazu führt, dass die Betroffenenletztendlich 25 Prozent Abschläge in Kauf nehmen müs-sen, wenn sie die Rente mit 60 in Anspruch nehmen.
Selbst die eigenen Leute in der Koalition sagen, dassdies Unfug ist. Herr Dobrindt von der CSU sagt: Was dieFDP hier als flexible Frühverrentung tarnt, ist in Wahr-heit ein gigantisches Entlassungsprogramm auf Kostender Steuerzahler. – Ich habe mir nicht träumen lassen,dass ich einmal den Kollegen Dobrindt zitieren muss.Aber mir bleibt gar nichts anderes übrig.
Was Sie hier verbreiten, ist soziale Kälte. Ich hättevon dem Minister gern eine klare Antwort auf die Frage:Gilt nun in Bezug auf die Rentengarantie das, was derKoalitionspartner sagt, oder gilt das, was Sie vereinbarthaben?
– Herr Kolb, Sie laufen bei dieser Frage rückwärtsschneller, als Sie vorwärts gucken können. Das ist dochIhr Problem.
Ich würde trotzdem gerne erleben, dass der Minister die-sen Punkt klarstellt.
Zum Schluss. Sie sagen: Leistung muss sich lohnen.Wenn Sie für diese Koalitionsvereinbarung nach Leis-tung bezahlt werden würden, dann müssten Sie ein Jah-resgehalt abgeben. So ist die Realität.Ich danke fürs Zuhören.
Das Wort hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer für
die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! InDeutschland fehlen 5 Millionen Arbeitsplätze. Das Defi-zit der Bundesagentur für Arbeit ist riesig. 20 Jahre nachdem Mauerfall ist die Arbeitslosenquote im Osten immernoch doppelt so hoch wie im Westen. Die Lohnscheregeht immer weiter auseinander.
Geringverdiener bekommen inzwischen nur noch53 Prozent eines Durchschnittsgehalts. Schlechter, wasdiese Lohnschere angeht, sind inzwischen nur nochPolen und Südkorea.Immer mehr Menschen, vor allem Kinder, leiden un-ter Armut in all ihren Erscheinungsformen. Mit anderenWorten: Die Herausforderungen in der Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik sind wirklich gigantisch. Wenn ich inIhren Koalitionsvertrag schaue und mir Ihre Rede heuteanhöre, Herr Jung, dann kann ich nur sagen: Ihre Ant-worten sind mickrig, völlig ohne Ehrgeiz, völlig ohneAnspruch.
Ich muss wirklich sagen: Ich fürchte, dass das Schick-sal der Ausgegrenzten, der Arbeitslosen und der Gering-verdiener bei Schwarz-Gelb in schlechten Händen ist.Sie handeln nicht nach dem Sozialstaatsprinzip, das daheißt: Starke Schultern sollen mehr tragen, wie es FrauMerkel noch gestern in ihrer Regierungserklärung betonthat. Sie handeln nach dem Prinzip: Wer hat, dem wirdgegeben. Das ist unchristlich.
Die Arbeitsmarktpolitik ist ganz offensichtlich das Stief-kind dieser Regierung.Schaut man sich einmal an, wie Sie, Herr Jung, zu Ih-rem Posten gekommen sind, zu dem wir Ihnen nichts-destotrotz herzlich gratulieren, dann kann man dazu nursagen: Das war der Titel, der noch auf der Resterampe zuhaben war.
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Brigitte PothmerAlle anderen waren schon weg. Da gab es dann nochdieses Ressort. Das war der Restposten. Das haben dieArbeitslosen und diejenigen, die Unterstützung brau-chen, wirklich nicht verdient.
Herr Jung, Sie selber werden es wahrscheinlich nichtbestreiten: Bisher hatten Sie mit diesem Themenbereichnichts, aber auch gar nichts am Hut. Aber ich wäre eineschlechte Sozialpolitikerin, wenn ich Ihnen nicht sagenwürde: Jeder bekommt eine Chance. Ich will Ihnen aberauch sagen: Nutzen Sie diese Chance; ansonsten geht esIhnen nicht gut.
Weiterhin sage ich Ihnen: Ein bisschen mehr Engage-ment, als Sie heute in Ihrer Rede an den Tag gelegt ha-ben, müssen Sie schon zeigen, damit Sie in dieser Fragebestehen. Ich wünsche Ihnen im Sinne der Arbeitslosenund derjenigen, die soziale Unterstützung brauchen, vielErfolg. Die Herausforderungen sind groß. Sie brauchenda mehr Engagement, als Sie bis jetzt gezeigt haben.
– Mühe geben ist das Gegenteil von Kunst. Genau, dasreicht nicht.Ich komme zum Koalitionsvertrag. Als ich den Titelgelesen habe, habe ich gedacht: Immerhin kommt derBegriff „Zusammenhalt“ vor. Ich muss ganz ehrlich sa-gen: Das hat mich hoffnungsfroh gestimmt; denn wir ha-ben es mit einer immer tieferen Spaltung in der Gesell-schaft zu tun. Als ich den Vertrag aber gelesen habe, hatsich bei mir – es wird Sie nicht wundern – Ernüchterungbreitgemacht. Denn wenn ich mir allein Ihre Steuer- undKindergeldpläne anschaue, komme ich zu dem Ergebnis:Sie marschieren haargenau in die entgegengesetzte Rich-tung von dem, was für mehr Zusammenhalt nötig gewe-sen wäre.
Sie zementieren mit Ihren Plänen eine Dreiklassenge-sellschaft in der Kinderpolitik. Die Kinder von Besser-verdienenden sind Ihnen 443 Euro pro Jahr wert. Kindervon Eltern mit geringen und mittleren Einkommen sindIhnen nur noch 240 Euro wert. Aber diejenigen, die esam allerdringendsten brauchen, bekommen null, zero,Herr Jung. Das können Sie uns nicht als gerecht verkau-fen. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Das istnach dem Motto: Wer hat, dem wird gegeben.
Wenn Sie wirklich etwas gegen die soziale Spaltungtun wollen, dann müssen Sie als Erstes die Regelsätzefür Erwachsene anheben. Zudem müssen Regelsätze er-rechnet werden, die dem tatsächlichen Bedarf von Kin-dern und Jugendlichen entsprechen.
Unterhalb von 420 Euro für Erwachsene und unterhalbvon 280 Euro für Kinder und 330 Euro für Jugendlichewird es nicht gehen. Zu dieser Frage ist in Ihrem Koali-tionsvertrag nichts zu finden. Da bewegen Sie sich kei-nen einzigen Millimeter.
Bei dieser Regierung, Herr Kolb, ist es doch so: Siemüssen zur sozialen Politik regelrecht verurteilt werden.
Ich kann Ihnen nur sagen: Von Ihnen haben die Betroffe-nen nichts, aber auch gar nichts zu erwarten. Die einzigeChance, die sie bei dieser Regierung haben, ist das Bun-desverfassungsgericht. Das ist doch ein Armutszeugnis,Herr Kolb.
– Jetzt kommen Sie mir nicht mit Ihren Wählerinnen undWählern. 3 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die Siegewählt haben, bereuen das doch schon heute schmerz-lich.
Herr Jung, der Lackmustest im Kampf gegen Armutund für Gerechtigkeit ist nicht das Schonvermögen. DerLackmustest ist die Anhebung der Regelsätze.
Noch nicht einmal 1 Prozent aller Betroffenen profitiertüberhaupt vom Schonvermögen. Das ist doch reineSymbolpolitik, und damit kommen Sie bei uns und beiden Betroffenen nicht durch.
Wenn Sie wirklich etwas gegen die soziale Spaltungbei den Einkommen tun wollen, dann müssen Sie end-lich flächendeckende Mindestlöhne einführen.
6,5 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland für ge-ringe Löhne, und von ihnen verdienen 2 Millionen weni-ger als 5 Euro pro Stunde, Herr Jung. Ihre Antwortdarauf, jetzt sittenwidrige Löhne einzuführen, ist dochein Hohn.
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Brigitte Pothmer
Wissen Sie, dass Ihre sittenwidrigen Löhne zum Beispielerst bei Leuten in Sachsen-Anhalt greifen, die 4 Euro proStunde verdienen? Bei 2,80 Euro greifen Ihre sittenwid-rigen Löhne. Was hat das eigentlich damit zu tun, wennSie sagen: „Arbeit soll sich wieder lohnen“? Diese Men-schen jedenfalls haben Sie nicht gemeint.
Wenn Sie dann noch sagen: „Sozial ist, was Arbeitschafft“,
Herr Jung, betrifft das dann auch diese Menschen?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth?
Ja.
Bitte sehr.
Ich stelle den eigenen Kolleginnen und Kollegen übli-
cherweise keine Zwischenfrage. Aber da Sie, Kollegin
Pothmer, sich danach erkundigt haben, was „Leistung
soll sich wieder lohnen“ heißen solle, frage ich Sie: Hal-
ten Sie es für möglich, dass die FDP diese Worte so ver-
steht, dass diejenigen, die etwas leisten, und diejenigen,
für die es sich lohnen soll, womöglich nicht dieselben
Leute sind?
Dass die FDP zu Leistung und zu Löhnen ein gespal-
tenes Verhältnis hat, kann ich an dieser Stelle nur bestäti-
gen. Daher kann ich Ihrer Interpretation folgen. – Danke.
Herr Jung, bei den Jobcentern handeln Sie nach dem
Motto „Vorwärts, Kameraden, wir marschieren zurück“.
Mitten in der tiefsten Krise der Geschichte der Bundes-
republik, im Jahr 2010, in dem wir alle ein extremes An-
wachsen der Arbeitslosigkeit zu erwarten haben, machen
Sie die Jobcenter zu Großbaustellen. Im nächsten Jahr
werden sich die Beschäftigten mit der Umstrukturierung
ihrer eigenen Einrichtung und nicht etwa mit denjenigen
beschäftigen, die Arbeit und Unterstützung brauchen.
– Wir hätten eine Verfassungsänderung durchführen
können. Aber Sie haben dagegen gestimmt. Sie werden
auch dafür verantwortlich gemacht, wenn in dieser
Situation die Unterstützung für Arbeitslose nicht erfol-
gen kann.
Es ist doch ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass
gerade die FDP, die die Bundesagentur für Arbeit wie
Exorzisten verfolgt hat, und die CDU, die immer gesagt
hat, die einzig Kompetenten in diesem Bereich seien die
Kommunen, dafür sorgen, dass die Kommunen an den
Katzentisch kommen und die Bundesagentur für Arbeit
so stark wird, wie sie nie war. Das wird bei Ihrer Politik
herauskommen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Das ist auch notwendig.
Wir brauchen einen Aufbruch in Deutschland für Ar-
beit und Gerechtigkeit. Das, was Sie hier vorgestellt ha-
ben, Herr Jung, ist es wahrlich nicht. Ich kann Ihnen nur
eins versprechen: Wir werden dafür sorgen, dass Sie in
die Strümpfe kommen.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Karl Schiewerling
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! „Wachstum – Bildung – Zu-sammenhalt“, der Koalitionsvertrag von Union und FDPzeigt schon im Titel, dass sich die neue Koalition dergroßen Herausforderungen auch und gerade im Bereichder Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik verantwortungs-voll annimmt.Programmatisch konzipiert und pragmatisch umge-setzt, so wird unser Handeln sein – für mehr Arbeit, fürmehr und sichere Arbeitsplätze, für mehr Krisenfestig-
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Karl Schiewerlingkeit durch Förderung und Qualifizierung und – das istzentral – auch für den nötigen Zusammenhalt, für dasgegenseitige solidarische Einstehen durch unsere Sozial-systeme für diejenigen, die der Hilfe und der Unterstüt-zung bedürfen.Vor vier Jahren hatten wir eine andere Situation. Gottsei Dank haben wir in dieser schwersten Wirtschafts-krise nicht mehr 5 Millionen Arbeitslose, sondern – lei-der – etwas mehr als 3 Millionen. Die Zahl der Arbeits-losen lag schon einmal unter 3 Millionen. Wir wissen,dass jeder Arbeitslose ein Arbeitsloser zu viel ist; aberdie Ausgangslage ist für die Menschen heute ungleichbesser als die, die wir noch vor 2005 hatten.
Ich nenne Ihnen einen zweiten wichtigen Unter-schied: Der Unterschied ist der, dass in der Zeit vor 2005viele Unternehmen Mitarbeiter entlassen wollten, weilsie ihre Struktur in Ordnung bringen wollten. Derzeit ha-ben wir die Situation, dass viele Unternehmen ihre Mit-arbeiter halten wollen, weil sie genau wissen, sie sindauf die Facharbeiter angewiesen, wenn der Aufschwungkommt. Genau dafür haben wir das Kurzarbeitergeldeingeführt.
Deswegen führen wir das Kurzarbeitergeld fort. OlafScholz war damals der verantwortliche Minister. Aber erhätte ohne die CDU/CSU nichts machen können.
Die Menschen brauchen Sicherheit. Wir müssen Ar-beitsplätze sichern und neue, zukunftsfähige Arbeits-plätze schaffen. Natürlich schafft nicht der Staat die Ar-beitsplätze, sondern die Wirtschaft, aber die Politik mussfür die richtigen Rahmenbedingungen sorgen. Wir müs-sen uns auch den Fragen stellen: Was passiert mit denMenschen, deren Qualifikation am Arbeitsmarkt nichtgefragt ist? Was passiert mit den Menschen, die gesund-heitliche Einschränkungen haben, aber dennoch ihrenAnteil am Arbeitsleben einbringen wollen und auch ein-bringen können?Diesen Herausforderungen werden wir uns stellen,denn sie sind wichtig für eine solidarische Gesellschaft.Die Menschen brauchen Sicherheit, und zwar echte undkeine falsche Sicherheit. Mich treibt die Frage um: Wasnutzt den Menschen bei Quelle der Kündigungsschutz,wenn die Firma in die Insolvenz geht?
Daher stellt sich für uns die Frage der Sicherheit neu undauch anders. Kündigungsschutz und Mitbestimmungsind nicht nur ein Wesenskern von Arbeitnehmerrechten,sie sind auch Strukturen betrieblicher Partnerschaft. Ausdiesem Grunde stehen sie für unsere Fraktion nicht zurDisposition; die Bundeskanzlerin hat dies eindrucksvollunterstrichen.
Was bringen uns flächendeckende Mindestlöhne,wenn als deren Folge andere Jobs vernichtet werden?
Ich weiß, über die Auswirkungen streiten die Volkswirt-schaftler und die Wissenschaftler kräftig; sie fragen sich,ob das so kommt.
Deswegen bleibe ich bei den Grundprinzipien unseresStaates. In unserem Lande werden Löhne ausgehandeltund nicht verordnet.
Die Tarifautonomie der Tarifpartner ist ein wichtigerTeil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung un-seres Landes.
Herr Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Heil?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege, ich habe Ihrer Biografie entnommen,dass Sie, genau wie ich, ein Christenmensch sind. Siehaben, glaube ich, sogar einen beruflichen Hintergrundin diesem Bereich. Wir sind nur unterschiedlicher Kon-fession; ich bin evangelischer Christ.Was sagen Sie eigentlich dazu, dass auch Seine Hei-ligkeit der Papst für Mindestlöhne ist? Hat er keinenökonomischen Sachverstand?
Das wäre eine Frage, die mich interessiert.Im Übrigen gibt es in 20 Ländern in Europa einen ge-setzlichen Mindestlohn. Ich weiß nicht, wie es im Vati-kanstaat ist.
Es ist nicht bekannt, dass er Arbeitsplätze vernichtethätte. – Können Sie mir das beantworten?
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Gerne. – Der Heilige Vater, Papst Benedikt XVI., hatsich deutlich für Mindestlöhne ausgesprochen, aber erhat nicht gesagt, in welcher Form die Mindestlöhne zu-stande kommen.
Er hat nichts von gesetzlichen Mindestlöhnen gesagt.Vielmehr hat er gesagt, Menschen brauchen ein Min-desteinkommen.
Da hat der Heilige Vater völlig recht. Das deckt sich vollmit den Positionen unserer Fraktion.
– Nein, Frau Kollegin Ferner, das hat mit Zynismusüberhaupt nichts zu tun. Man muss sich mit den Textender katholischen Soziallehre auskennen, übrigens auchmit der letzten Sozialenzyklika. Wenn man die Enzy-klika bis zum Ende liest, erkennt man die Zusammen-hänge, und die sind etwas weiter als der Blickwinkel vonHerrn Heil.
Die Tarifautonomie der Tarifpartner ist ein wichtigerTeil unserer demokratischen Grundordnung; das habeich gerade gesagt. Wir brauchen, um sie umsetzen zukönnen, starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeber-verbände. Sie sind zentral für das Funktionieren der so-zialen Marktwirtschaft.Teilhabegerechtigkeit und Chancengerechtigkeit sinddie beiden Faktoren, die die Menschen in unserer Gesell-schaft insgesamt und nicht zuletzt unsere Wirtschaftnach vorne bringen und zukunftssicher machen. Geradeals Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker sage ich: Ja, wirbrauchen eine prosperierende Wirtschaft. Ohne prospe-rierende Wirtschaft haben wir keine Perspektiven.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer erwirtschaften ge-meinsam das, was Voraussetzung für die Gewährleistungsozialer Sicherheit ist, auch für die Menschen, dieselbst nicht oder nicht mehr im Erwerbsprozess stehen.Ich füge an dieser Stelle hinzu: Die Wirtschaft, der Staatund auch die Sozialsysteme leben von Voraussetzungen,die sie selbst nicht schaffen können. Eine ist, dass genü-gend Kinder geboren und so erzogen werden, dass sietüchtig und lebensfähig sind und voller Begeisterungund Zukunftsmut unsere Gesellschaft mittragen.
Das, was wir auf den Tisch gelegt haben, ist kein Aus-druck von sozialer Kälte, sondern von verantwortungs-bewusstem Handeln für die Menschen. Mit dem Schlag-wort „soziale Kälte“ haben die Oppositionsparteienversucht, die Wähler zu verunsichern. Das hat nichtfunktioniert. Herr Heil, ich erlaube mir den Hinweis: InNordrhein-Westfalen haben mehr Arbeitnehmer dieCDU gewählt als die SPD.
Wenn Sie jetzt gemeinsam mit Ihren Oppositionskolle-gen im Deutschen Bundestag glauben, diese Koalitionals einen Popanz darstellen zu können, auf den Sie einScheibenschießen veranstalten können, dann werden Siesich wundern. Das hat mit der Wirklichkeit, mit dem,was im Koalitionsvertrag steht, nichts, aber auch garnichts zu tun.
Teilhabegerechtigkeit und Chancengerechtigkeit ste-hen eben nicht für unsoziale Härte, sondern sind Maß-stäbe für soziale Gerechtigkeit auf der Basis christlicherWertvorstellungen. Auf diesen Maßstäben und Wertenbaut unsere Gesellschaft auf. Das sind Werte, für die dieMenschen in den neuen Ländern vor 20 Jahren auf dieStraße gegangen sind.
Teilhabegerechtigkeit und Chancengerechtigkeit zuverwirklichen sowie die Verantwortung eines jeden, zu-nächst nach seinen Möglichkeiten für sich selbst zu sor-gen, das steht bei uns im Vordergrund. Erst dann, wennder Einzelne nicht in der Lage ist, für sich selbst undseine Familie zu sorgen, stehen ihm unsere Sozialsys-teme solidarisch zur Seite. Dann allerdings müssen diesozialen Netze auch tragfähig sein.
Die unserer Verfassung zugrunde liegenden Prinzi-pien der christlichen Soziallehre, nämlich Personalität,Solidarität und Subsidiarität, sichern die Entfaltung derEigenverantwortung und die Freiheit. Das gehört zurWürde der Menschen. In der Sozialversicherung werdenFreiheit und Verantwortung unter anderem dadurch deut-lich, dass wir dort eine Selbstverwaltung haben. Ich sagedas, weil im Jahr 2011 die Sozialwahlen anstehen, undmit Blick auf aktuelle Entwicklungen im Bereich der Be-rufsgenossenschaften, die gerade dabei sind, die Dingeselbst zu regeln. Die soziale Selbstverwaltung ist ein Teilunserer freiheitlichen Ordnung. Diktaturen haben sie ab-geschafft, Konrad Adenauer hat sie folgerichtig wiedereingeführt.
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Karl Schiewerling
Wachstum, mehr und sichere Jobs, soziale Sicherheit,Teilhabe- und Chancengerechtigkeit sowie – lassen Siemich das hinzufügen – Generationengerechtigkeit, zumBeispiel hinsichtlich der Verlässlichkeit unseres Renten-systems, das sind die großen Herausforderungen, vor de-nen die Union und die Koalition unter Leitung unsererBundeskanzlerin Angela Merkel stehen und für die sieeinen klaren Kurs haben. Uns alle treibt um, dass wir esspätestens ab dem Jahr 2020 oder 2022 in massiverWeise mit Altersarmut zu tun haben werden. Ich haltees für notwendig, dass wir in dieser Koalition in denkommenden Jahren gemeinsam die Weichen dafür stel-len, dass dies so nicht eintritt.
Einige Sätze zur Neuorganisation des SGB II: DieKoalitionspartner haben sich darauf verständigt, dieAufgabenwahrnehmung im Bereich des SGB II ohneÄnderung des Grundgesetzes neu zu regeln. Wir wollendabei dem Ziel, Hilfe aus einer Hand zu geben, mög-lichst nahekommen. Die 69 Optionskommunen sollenweiterbestehen; hier ist Hilfe aus einer Hand eindeutiggeregelt. Wir werden das mit allen Beteiligten, Ländern,Kommunen, Arbeitnehmervertretern und Bundesagenturfür Arbeit, klären, um eine sachgerechte Lösung zu fin-den.
Dabei muss das Prinzip des Förderns und Forderns unbe-dingt Bestand haben.
Dieses Prinzip hat sich bewährt und wird im Übrigenvon vielen Menschen gelebt, und zwar auch von denjeni-gen, die es geschafft haben, aus der Langzeitarbeitslosig-keit herauszukommen und für sich selbst und ihre Fami-lien zu sorgen.Es ist gut, dass die arbeitsmarktpolitischen Instru-mente flexibilisiert und konzentriert werden, regionaleEntscheidungen erleichtert und mit einem neuen Con-trollingverfahren effizienter gemacht werden. Ich freuemich auf die kommenden Jahre. Ich wünsche dem neuenBundesarbeitsminister Dr. Franz Josef Jung viel Erfolgund eine gute Hand bei seiner Arbeit. Wir freuen uns aufdie Zusammenarbeit. Uns allen hier im Hohen Haus inder jeweils unterschiedlichen Rolle wünsche ich, dasswir gut zusammenarbeiten – zum Wohle der Menschen.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Sehr geehrter Herr Minister, auch von meiner Seite nocheinmal alles Gute für Ihr Amt, auch wenn ich angesichtsIhres Koalitionsvertrages nicht die Hoffnung habe, dassam Ende etwas Gutes herauskommt. Herr Schiewerlinghat eben vollmundig verschiedene Dinge erklärt, die zu-mindest ich im Koalitionsvertrag nicht gefunden habe.Ich glaube, man kann sich den Koalitionsvertrag auchgesundbeten; aber das wird Ihnen nicht helfen.Wir haben es jetzt, 20 Jahre nach dem Mauerfall, wie-der mit einer Regierung zu tun, die 1998 abgewählt wor-den ist und die Sozialversicherungsbeiträge durch diefalsche Finanzierung der Deutschen Einheit in nie wie-der erreichte Höhen getrieben hatte.
Sie sagen, Sie nähmen sich vor, die paritätisch finanzier-ten Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent zu halten. Damuss man einmal schauen, welche Lohnzusatzkostendas betrifft, und auf das Wörtchen „paritätisch“ achten.Das bedeutet – das sehen wir in der Gesundheits- und inder Pflegepolitik –, dass die nichtparitätisch finanziertenBestandteile durchaus in die Höhe gehen können, wennes nach Ihnen geht. Das heißt, Sie versuchen, die Lohn-zusatzkosten für die Arbeitgeber zu begrenzen, und beiden Versicherten ist es egal; da wird auch noch politischdraufgepackt.
Wir haben auch im Bereich Soziales eine ganze Reihevon Prüfaufträgen und, wie könnte es anders sein, eineRegierungskommission. Ich komme nachher noch da-rauf zu sprechen. Sie haben außer diesem einen Satz, mitdem Sie die Regierungskommission beauftragen, keineeinzige Silbe im Koalitionsvertrag zum Thema Alters-armut. Sie haben nichts dazu geschrieben, dass Alters-armut am besten dann verhindert wird, wenn die Be-schäftigten in der Erwerbsphase für gute Arbeit auchfaire Löhne bekommen.
Im Gegenteil: Sie lehnen Mindestlöhne sogar ab.
In Ihrem Vertrag steht nichts dazu, dass Altersarmut ambesten verhindert wird, wenn Frauen genauso wie Män-ner einer existenzsichernden sozialversicherungspflichti-gen Arbeit nachgehen können, gleiche Aufstiegschancenund auch eine möglichst ununterbrochene Erwerbsbio-grafie haben. Im Vertrag steht nichts dazu, dass Alters-armut am besten verhindert wird, wenn Eltern und insbe-sondere Alleinerziehende die Vereinbarkeit von Familieund Beruf wirklich leben können. Nein, im Gegenteil:Mit einer Herdprämie wollen Sie die tradierten Rollen-muster verfestigen und die Kinder auch noch aus denBildungseinrichtungen heraushalten.
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Elke FernerIch finde in Ihrem Koalitionsvertrag nichts dazu, dassangesichts vielfältiger werdender Erwerbsverläufe eineandere Alterssicherung betrieben werden muss, nämlicham besten in einem Sozialversicherungssystem und nichtin vielen, die zudem auch nicht zueinander passen. Auchzum Thema Erwerbstätigenversicherung, über das vonHerrn Laumann vor der Wahl diskutiert worden ist, fin-det man null. Ursachenbekämpfung ist bei Ihnen Fehlan-zeige. Sie setzen lieber darauf, dass alles durchNiedrigstlöhne gerichtet wird.Eben hat jemand – ich glaube, es war sogar HerrKolb – gesagt: Die Rente ist das Spiegelbild dessen, wasim Arbeitsleben an Einkommen erzielt worden ist. – Dasist richtig. Wenn das so ist, muss man aber dafür sorgen,dass die Menschen heute so viel verdienen, dass sie inZukunft eine armutsfeste Rente bekommen.
Dann darf man doch nicht Niedrigstlöhnen das Wort re-den, und dann darf man auch nicht sittenwidrige Löhnesalonfähig machen. Das ist aber genau das, was Sie mitIhrer Maßnahme machen.
– Nein, das ist nicht wahr.
Wenn man ein knappes Drittel unterhalb dessen bleibt,was ortsüblich ist, dann wäre das, wenn es nach Ihnenginge, auch noch sozusagen gesetzlich sanktioniert.
Die Politik, die Sie hier machen, ist absolut falsch.
Sie leisten der Lohndrückerei Vorschub, und Sie brin-gen auch die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen, die or-dentliche Löhne zahlen, in Bedrängnis. Denn auch siewerden in diese Abwärtsspirale mit hineingezogen, ge-nauso wie die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
Ich finde in Ihrem Koalitionsvertrag kein Wort zu denLangzeitarbeitslosen, die zum großen Teil ebenfallslange Erwerbszeiten hinter sich haben, und kein Wort zueiner möglichen Verbesserung der Regelungen zur An-rechnung von Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit.
– Unsere Vorschläge sind in unserem Regierungspro-gramm enthalten; das können Sie gerne nachlesen.
Im Übrigen, Herr Kolb, können Sie mir auch gerne eineZwischenfrage stellen, wenn Sie Näheres wissen möch-ten. – Ich wiederhole: Zu der Gruppe der Langzeit-arbeitslosen mit langen Beschäftigungszeiten findet manin Ihrem Koalitionsvertrag kein Wort. Wir haben dazuVorschläge gemacht.Nichts zu lesen ist auch vom Instrument der Rentenach Mindesteinkommen, von dem die Möchtegern-Arbeiterführer Rüttgers und Laumann vor der Wahl im-mer gerne gesprochen haben. Jetzt schweigen sie. DiesesThema wird vor der NRW-Wahl wahrscheinlich wiederhochkommen. Dass sich die beiden Herren ab und zugerne ein soziales Tarnmäntelchen umhängen, wird sichauf die konkrete Regierungsarbeit sicherlich nicht aus-wirken.Sie haben es versäumt, Wege aus dem Niedriglohnaufzuzeigen. Im Gegenteil, durch die Erhöhung der Zu-verdienstgrenzen wird sich die Zahl derer, die auf zu-sätzliche Transferleistungen angewiesen sind, erhöhen.
Ich frage mich wirklich: Wenn der Spruch „Leistung sollsich wieder lohnen“ stimmt, was ist dann mit der Hotel-angestellten, deren Chef von seinen Gästen jetzt nurnoch 7 Prozent Mehrwertsteuer zu erheben braucht, derseiner Reinigungskraft, die die Zimmer saubermacht,aber nicht einmal 1 Cent mehr auf ihren ohnehin niedri-gen Lohn draufpacken muss?
Was ist mit der Verkäuferin? Was ist mit der Friseurin?Lohnen sich deren Leistungen nicht, nur weil sie zu ge-ringe Stundenlöhne bekommen? Dieses Leistungsver-ständnis ist menschenverachtend.
Auch was das Thema Alterssicherung betrifft, ist Ab-tauchen Ihr Motto; denn außer blumigen Prüfaufträgensteht dazu in Ihrem Koalitionsvertrag nicht viel. Ichhätte mit Ihnen gerne auch über konkrete Vorschläge derSPD diskutiert; aber Sie sind nicht sprachfähig.
Wenn ich Sie frage: „Was ist mit der Fortführung der ge-förderten Altersteilzeit?“,
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Elke Fernerdann sagen Sie gemeinsam Nein.
Das ist ein Fehler.
Wenn ich Sie frage: „Was ist mit einer Verbesserung derMöglichkeiten bei der Teilrente?“, dann funkt es aus Ih-rer Richtung allerdings schon unterschiedlich. An dieserStelle muss ich Ihnen sagen: Dass der Vorschlag derFDP, der Abschläge in Höhe von 25,2 Prozent vorsieht,wenn man mit 60 Jahren in Rente geht, umgesetzt wird,können sich selbst die meisten FDP-Wähler nicht leis-ten.
Was wird – diese Frage sollte uns eigentlich alle be-schäftigen – aus den Menschen, die älter und leistungs-gemindert sind? Wie können wir diesen Menschen zueiner Arbeit verhelfen, die es ihnen ermöglicht, im Ar-beitsprozess zu bleiben und die Regelaltersgrenze nichtaus der Arbeitslosigkeit heraus zu erreichen? Dazu fin-det man in Ihrem Koalitionsvertrag kein Wort.Ich muss sagen: Die Prüfaufträge, die Sie formulierthaben, sind wirklich „klasse“. Als Beispiel nenne ich dasThema Erwerbsminderungsschutz.
– Nein, das ist kein Klein-Klein, sondern das zeigt, wesGeistes Kind Sie sind, Herr Kolb.
Bei der Erwerbsminderungsrente soll geprüft werden,ob der Kreis ein Quadrat ist: Das Erwerbsminderungs-risiko soll kostenneutral in der privaten Altersvorsorgeabgesichert werden. Jeder weiß: Wenn man mehr Risikoabsichern will, muss man entweder den Input vorne er-höhen oder das, was hinten herauskommt, kleiner ma-chen; anders geht das nicht. Dazu trauen Sie sich nichtszu sagen.
Sie haben keine Lösungen, auch nicht für Menschenmit Behinderungen. Sie erklären zwar, Sie wollen einenAktionsplan machen; aber wie ich Sie kenne, wird er au-ßer lauen Absichtserklärungen, unverbindlichen Emp-fehlungen und billigen Appellen an wen auch immernichts beinhalten. Ich hätte mich gefreut, wenn im Koali-tionsvertrag Konkretes gestanden hätte.
Ihre Sozialpolitik kann man nicht mehr als voraus-schauend und aktiv bezeichnen. Sie haben sich von einervorausschauenden und aktiven Sozialpolitik verabschie-det. Sie spalten unsere Gesellschaft, anstatt sie zu-sammenzuführen. Von Zusammenhalt kann bei Ihrer So-zialpolitik keine Rede sein. Sie legen die Axt an einSozialsystem, um das uns viele auf der Welt beneiden.
Wenn Sie nicht in letzter Minute zur Vernunft kommen– bei Ihnen, Herr Kolb, habe ich wenig Hoffnung –, wirdeine sozialpolitische Eiszeit in unserem Land Einzughalten.
Wir werden kritisch sein. Sie können versichert sein,dass wir unsere Alternativen deutlich machen werden.Viele werden noch vor dem ersten Gesetzgebungsver-fahren der Koalition bereuen, eine dieser drei Parteiengewählt zu haben.
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Bundeskanzlerin hat gestern gesagt: Wirmüssen zunächst analysieren; erst dann können wir ei-nen Lösungsweg aufzeigen.
Das ist natürlich grundsätzlich richtig.Schauen wir uns an, was das für den Bereich Arbeitund Soziales heißt. Wir stehen vor drei Herausforderun-gen: Erstens ist da die Wirtschaftskrise mit all ihren Aus-wirkungen, zweitens sind da die Belastungen, die durchden demografischen Wandel auf die Sozialsysteme zu-kommen, und drittens ist festzuhalten, dass der Sozial-staat heute oft unfair zu den Betroffenen ist. Allen dreiHerausforderungen wird sich diese Regierung stellen.
Schauen wir uns an, was die Koalition vorhat. Wirwollen Wachstum durch Steuererleichterungen. Ei-nen Schwerpunkt wollen wir auf Bildung setzen. Dasschafft Arbeitsplätze und wird den Menschen wiederPerspektiven auf dem Arbeitsmarkt geben.
Wir müssen die sozialen Sicherungssysteme moderni-sieren und sie zukunftsfähig machen, indem wir denWeg der Kapitaldeckung, der bei der Rente eingeschla-
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Johannes Vogel
gen worden ist, fortsetzen und endlich auch bei derPflege damit beginnen, auf Kapitaldeckung umzustellenund damit einen historischen Irrtum zu korrigieren. ImBereich der Krankenversicherung wollen wir endlichWettbewerb schaffen, damit die Menschen auch in Zu-kunft gegen die sozialen Risiken abgesichert sind.
Beides – das sage ich als Vertreter der jüngeren Gene-ration – ist auch für die Jüngeren in unserem Land genaudas Richtige. Denn wir, die Jungen, sind diejenigen, diedie Unternehmen in der Wirtschaftskrise als Erste entlas-sen. Darüber hinaus sind die Jungen besonders daraufangewiesen, dass die sozialen Sicherungssysteme auchin den nächsten Jahrzehnten noch funktionieren. Genaudarauf gibt diese Regierung eine Antwort.
Schauen wir uns nun an, was wir im Bereich der Ge-rechtigkeit tun wollen. Es geht um Gerechtigkeit für die-jenigen, die auf die Solidargemeinschaft angewiesensind. Eben wurde gesagt, die Erhöhung des Schonver-mögens von Hartz-IV-Empfängern betreffe nur einigewenige.
Man muss aber auch einmal sehen, welche Ethik dahin-tersteht: Es geht darum, dass in Deutschland derjenige,der eigenverantwortlich für das Alter vorgesorgt hat,endlich nicht mehr bestraft, sondern belohnt wird. Dasist eine der zentralen Fragen im Bereich der sozialen Si-cherung. Die bisherige Regelung war unfair.
Schauen wir uns nun an, was wir im Bereich des Zu-verdienstes machen wollen. Es wird immer so getan, alswäre die Erhöhung des Schonvermögens von Hartz-IV-Empfängern das Einzige, was diese Regierung im Be-reich der Solidarität vorhat.
Als Vertreter der FDP sage ich mit Stolz, dass wir hierein wesentliches Element des Bürgergeldes, das die Li-beralen vorschlagen, einführen werden.
Es geht darum, dass jemand, der auf die Unterstützungder Solidargemeinschaft angewiesen ist und sich etwasdazuverdienen möchte, nicht mehr vor der Situationsteht, dass er – in meinen Augen eine der größten Unge-rechtigkeiten, die wir in Deutschland haben – dann nichtmehr hat, als wenn er es nicht täte. Das ist unfair, und esist ein Fehlanreiz. Es ist gut, dass wir das endlich korri-gieren.
Wenn ich mir einmal anschaue, was die Oppositionim Laufe des Tages zum Koalitionsvertrag gesagt hat,dann finde ich eine Reaktion von Ihnen, Herr Heil, be-sonders spannend. Das haben Sie eben nicht so klar ge-sagt, aber heute Morgen in der Debatte zum BereichWirtschaftspolitik. Dort haben Sie nämlich die Leistun-gen aufgrund der Agenda 2010 der rot-grünen Regierunggelobt. Es ging um die Leistungen im Bereich des Ar-beitsmarktes und die Reaktionen auf die Krise. HerrHeil, das Problem ist doch, dass Sie sich jetzt gar nichtmehr konsequent dazu bekennen, dass Sie den Sozial-staat modernisieren wollen.
Was wir machen, ist: Wir führen zum Beispiel denrichtigen Gedanken im Bereich der Rentenversicherung,wo Sie eine größere Kapitaldeckung einführen wollten,fort und übertragen ihn auf den Bereich der Pflege.Gleichzeitig korrigieren wir die Ungerechtigkeiten, dieSie im Bereich Hartz IV eingebaut haben.
Zum Schluss will ich noch eines dazu sagen, was dieKollegin der Grünen eben ausgeführt hat – auch die Kol-legin Ferner hat es eben anklingen lassen –, nämlich unswürden die Wähler davonlaufen: Ich möchte Sie nurganz entspannt auf die heutige Forsa-Umfrage hinwei-sen. Bei Forsa wird die SPD, wie ich weiß, immer einbisschen nervös, aber bei der Bundestagswahl war das jaein ganz gutes Institut; es hat das Ergebnis ganz gut vor-hergesagt. Schauen Sie auf die heutige Forsa-Umfrage.Danach hat die FDP 1 Prozent zugelegt, und die Regie-rung hat 2 Prozent mehr Unterstützung als am 27. Sep-tember 2009.
Ich kann feststellen: Die Menschen begreifen, dasswir ihnen Perspektiven geben und den Sozialstaat fairermachen, und das werden Sie am Ende der Legislatur-periode auch erleben.Vielen Dank.
Herr Kollege Vogel, das war Ihre erste Rede hier imParlament.
Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und wünsche Ih-nen weiterhin so viel Tatkraft und Schwung, wie Sie siegerade in dieser Rede zum Ausdruck gebracht haben,eine glückliche Hand und viel Erfolg.
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Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtNächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping fürdie Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nochkurz vor den Wahlen forderten die Unionsländer recht öf-fentlichkeitswirksam mehr Geld für Kinder in Hartz IV.Sucht man im Koalitionsvertrag jetzt nach höherenHartz-IV-Regelsätzen für Kinder, so muss man sagen:Fehlanzeige!Nun mögen Sie einwenden, dafür gebe es eineKindergelderhöhung. Diese Kindergelderhöhung siehtaber wie folgt aus: Ein Ehepaar mit einem Kind, das einJahreseinkommen von einer halben Million Euro hat,profitiert davon mit über 400 Euro, während ein Ehepaarmit einem Kind, das ein Jahreseinkommen von nur20 000 Euro hat, nur rund die Hälfte davon bekommt.Dass Alleinerziehende, die auf Hartz IV angewiesensind, davon mit 0 Euro profitieren, wurde bereits ange-sprochen. Das ist keine Familienförderung. Ich nennedas Reichtumsförderung.
Um es mit anderen Worten zu sagen: Die schwarz-gelbe Koalition, die gerne auch einmal als Tigerenten-koalition bezeichnet wird, hat vielleicht versucht, inpuncto Familienförderung als Tiger zu starten, sie istaber als Bettvorleger für das Klientel der Vermögendenund Reichen gelandet.Die Linke hat einen anderen Ansatz. Wir sagen: Wirbrauchen eine eigenständige Kindergrundsicherung. –Deswegen legen wir Ihnen auch einen Antrag vor, indem ganz klar vorgesehen ist: Der Kinderregelsatz musseigenständig berechnet werden; denn ein Kind ist mehrals einfach nur ein halber Erwachsener.
Im Koalitionsvertrag heißt es:Wir wollen das Prinzip „gleicher Lohn für gleicheArbeit“ für Frauen und Männer …So weit, so gut. Schaut man aber wieder nach konkretenMaßnahmen, so stellt man fest, dass es lediglich beihalbherzigen Appellen an die Wirtschaft bleibt. Solangedie Politik gegenüber der Wirtschaft nur in der demüti-gen Pose des Bittstellers auftritt, wird diese grundle-gende Gerechtigkeitslücke nicht geschlossen. Wir alsLinke sagen: Wir brauchen verbindliche Vorgaben, da-mit endlich wirklich „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“gilt;
denn es ist nicht hinnehmbar, dass Frauen im Durch-schnitt immer noch ein Viertel weniger verdienen alsMänner.Im Koalitionsvertrag wird auch das Bürgergeld er-wähnt – zum Glück nur als Prüfauftrag. Nun gibt es jagelegentlich Irritationen darüber, was damit überhauptgemeint ist. Ich finde, an dieser Stelle sollte man einmalklar darstellen, was mit dem Bürgergeld à la FDP ge-meint ist. Es bedeutet 662 Euro, mit denen man allesbezahlen muss, nicht nur die Miete und die Lebenshal-tungskosten, sondern auch die Krankenversicherungs-beiträge.
– Sie brauchen nicht zu widersprechen. Mir liegen IhreParteitagsbeschlüsse vor.
Das Bürgergeld à la FDP heißt auch schärfere Sank-tionen. Im Klartext: Das Bürgergeld der FDP bedeutetHartz IV XXL. Anstatt Hartz IV XXL meinen wir alsLinke: Wir brauchen vielmehr eine sanktionsfreie Min-destsicherung.
Wir als Linke fordern deswegen eine Erhöhung der Re-gelsätze auf 500 Euro, die Streichung des Sanktionspara-grafen 31 SGB II und die Abschaffung der Bedarfsge-meinschaft.Im Koalitionsvertrag heißt es auch: ZweckgebundeneTransferleistungen müssen den Vermieter erreichen. –Im Klartext heißt das, dass die Kosten für die Unterkunftfür Hartz-IV-Beziehende, so steht es zumindest zu be-fürchten, zukünftig direkt vom Amt an den Vermietergezahlt werden. Dann hätten die Mieter, die auf Hartz IVangewiesen sind, kaum mehr die Möglichkeit, gegen-über dem Vermieter ihre Rechte wahrzunehmen.Stellen wir uns einmal eine Wohnung vor, in die es hi-neinregnet und in der die Fenster nicht mehr ordentlichschließen, aber bei der der Vermieter nichts unternimmt.Normalerweise könnte dann ein Mieter eine Mietminde-rung geltend machen. Aber wenn die Regelung in IhremKoalitionsvertrag greift, wird das in Zukunft nicht mehrmöglich sein. Insofern kritisiert der Mieterbund dieseRegelung mit gutem Recht. 4 Millionen Haushalte wer-den durch Schwarz-Gelb quasi entmündigt. Die Linkesteht in dieser Frage ganz klar an der Seite des Mieter-bundes.
Um es zusammenzufassen: Schwarz-Gelb verfolgtden Kurs der Entsolidarisierung. Wir meinen jedoch:Nötig wäre ein ganz anderer Kurs, und zwar ein Kurs inRichtung Teilhabegerechtigkeit. Nötig wäre ein Auf-bruch in eine Gesellschaft, in der niemand unter die Rä-der kommt. Doch dafür steht Schwarz-Gelb nun wahr-lich nicht.Danke.
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Das Wort hat der Kollege Max Straubinger von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts dieser Debatte hat man den Eindruck, der
Wahlkampf wird von den Oppositionsparteien fortge-
führt, von links bis grün. Es wird ein Zerrbild der sozia-
len Situation der Menschen in Deutschland und unseres
Sozialstaates insgesamt gezeichnet.
Es ist viel besser, darzustellen – der Herr Bundes-
minister Franz Josef Jung hat das sehr eindrucksvoll ge-
tan –, dass vor allen Dingen die Arbeits- und Sozialpoli-
tik in dieser Bundesregierung einen hohen Stellenwert
hat. Natürlich hat dies gestern die Frau Bundeskanzlerin
Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung ebenfalls
dargestellt. Sozialpolitik wird bürgerlich-liberal und zu-
kunftsfest gestaltet.
Die Befürchtungen der Opposition, in Deutschland
würde die soziale Kälte ausbrechen, sind völlig unbe-
gründet. Vor allen Dingen das Bild, das die Frau Kolle-
gin Pothmer gezeichnet hat, wird der Wirklichkeit nicht
gerecht.
– Frau Pothmer, alle Leistungen des Sozialstaats in
Deutschland haben ein Volumen von insgesamt
750 Milliarden Euro. Dieses Geld stammt aus den Bei-
trägen der Versicherten und aus Steuergeldern. Das ist
alles erwirtschaftetes Geld zur sozialen Unterstützung
der vielen Menschen, die dieser Unterstützung bedürfen
und diese benötigen. Angesichts dessen sollte man nicht
ein so verzerrtes Bild zeichnen, wie Sie es heute getan
haben, Frau Pothmer.
Auch wenn das der Kollege Ernst infrage gestellt hat:
Der Abbau der Arbeitslosigkeit hat in dieser Bundes-
regierung Vorrang. Das ist beste Sozialpolitik für die
Menschen.
Jeder, der sich durch seiner eigenen Hände Arbeit seinen
Lebensunterhalt verdienen kann, ist damit natürlich auch
sozial gut abgesichert. Diese Errungenschaft wollen wir
in der Bundesregierung beibehalten. Auch ich möchte
noch einmal das feststellen, was auch der Kollege Karl
Schiewerling schon gesagt hat: Am Anfang der Regie-
rungstätigkeit der Union gemeinsam mit der SPD nach
Ablösung von Rot-Grün hatten wir 5 Millionen Arbeits-
lose. Jetzt sind es 3,2 Millionen.
Wir werden trotz dieser Schwierigkeiten, die mit der
Weltwirtschaft, der Finanzkrise und den daraus resultie-
renden wirtschaftlichen Folgen verbunden sind, mit
einer bürgerlich-liberalen Regierung weiterhin dafür sor-
gen, dass die Menschen in Arbeit kommen und dement-
sprechend selbst Zukunftschancen erarbeiten können.
Es gilt auch zum Ausdruck zu bringen, dass die Men-
schen besonders im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit
gesichert sind und dass wir eine vorbildliche Renten-
politik mit weiterführen. Ich glaube, dass die Renten-
garantie, die wir im vergangenen Jahr mitbeschlossen
haben, wichtig und richtig ist. Sie ist auch Ausdruck un-
seres Sozialstaatswesens, und wir sollten sie im Sinne
der Bürgerinnen und Bürger und der Rentnerinnen und
Rentner beibehalten. Dies entspricht meines Erachtens
auch der Kontinuität in der Rentenpolitik.
Es ist auch wichtig, Menschen mit körperlichen Ein-
schränkungen oder Behinderungen ebenfalls Teilhabe
am Erwerbsleben zu ermöglichen. Wir werden mit dem
Aktionsplan eine neue Grundlage dafür schaffen. Beson-
ders entscheidend ist, dass wir auch Menschen, die aus
irgendwelchen Gründen keiner Erwerbstätigkeit nachge-
hen können, soziale Unterstützung gewähren.
Ich glaube, diese Bundesregierung hat mit dem Koali-
tionsvertrag, der in den kommenden vier Jahren abgear-
beitet wird, bereits die Grundlagen dafür geschaffen.
Aber zusätzlich ist es mitentscheidend, dass die Wirt-
schaft in Gang gesetzt wird. Mit dem Gesetz zur
Beschleunigung des Wirtschaftswachstums legen wir
die Grundlagen dafür, dass es Wirtschaftswachstum gibt,
um damit auch mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu
schaffen. Das war der Erfolg der vergangenen Regie-
rung. Die Senkung der Lohnnebenkosten – ich erin-
nere daran, dass sie am Ende von Rot-Grün bei 42 Pro-
zent lagen; danach sanken sie unter 40 Prozent – zeigt
sehr deutlich die Handschrift der Union in diesem Be-
reich.
Das hat zu einem Arbeitsplatzaufbau in Deutschland ge-
führt. Diesen werden wir mit einer Senkung der Kosten
in den Betrieben zusätzlich verstärken.
Herr Kollege Straubinger.
Moment, Herr Präsident. – Damit werden wir die Ar-beitslosigkeit verringern und mehr Arbeitsplätze in unse-rem Land schaffen. – Jetzt, Herr Präsident.
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Ja, sehr gerne. Herr Kollege Straubinger, würden Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf zulassen?
Dem geschätzten Kollegen Schaaf kann ich das nicht
verwehren.
Bitte schön, Herr Schaaf.
Geschätzter Herr Kollege Straubinger, ich kenne Sie
als engagierten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker. Sie
haben sich eben ausdrücklich für die Unionsfraktion zu
der Rentengarantie bekannt. Wenn Sie der Opposition
vorwerfen, sie mache heute im Plenum permanent Wahl-
kampf, dann kann ich umgekehrt feststellen, dass Sie
mitten in den Koalitionsverhandlungen sind. Ihr Kollege
Kolb hat eben gesagt, die Rentengarantie sei ein Kardi-
nalfehler gewesen.
Sie sagten gerade, die Rentengarantie habe Bestand. Ich
und sicherlich auch die interessierte Öffentlichkeit – ins-
besondere die Rentnerinnen und Rentner – würden gerne
wissen, was gilt.
Wird diese Koalition eine Initiative ergreifen, die von
uns eingeführte Rentengarantie wieder abzuschaffen?
Darauf hätten ich und sicherlich auch das geneigte Publi-
kum gerne eine Antwort.
Das war der erste Punkt.
Zweiter Punkt. Ich habe wirklich den Eindruck, Sie
sind noch in den Koalitionsverhandlungen. Herr Kolb
hat klipp und klar noch einmal das liberale Konzept der
Rente ab 60 mit den bekannten Folgen von 25 Prozent
Abzügen dargestellt,
sodass sich das ein normaler Arbeitnehmer oder eine
normale Arbeitnehmerin nie leisten könnte. Mich inte-
ressiert, ob es Ihrerseits in dieser Legislaturperiode eine
Initiative zu diesem Thema geben wird.
Herr Kollege Straubinger, ich kenne Sie als engagier-
ten Kollegen. Wenn Sie Ihre Koalitionsverhandlungen,
die Sie gerade hier führen, ein bisschen erläutern kön-
nen, wäre ich sehr dankbar.
Herr Kollege Schaaf, ich bin Ihnen sehr dankbar für
diese beiden Fragen.
Erstens. Der Kollege Kolb hat ausgeführt – ich habe
das ausdrücklich mitgeschrieben –, dass die Renten-
garantie ein Akt des Populismus gewesen ist. Das ist
aber eine Bewertung der Vergangenheit. Der Kollege
Kolb steht genauso wie die gesamte Koalition zur Ren-
tengarantie.
Das ist auch im Koalitionsvertrag letztendlich sichtbar.
Zweitens. Im Koalitionsvertrag steht nichts davon,
dass wir ein neues Rentenmodell kreieren wollen. Wir
stehen auf den Grundlagen der Rente mit 67 – ich hoffe,
dass auch die SPD-Kollegen das zukünftig weiterhin
tun –, weil es unter dem Gesichtspunkt der Generatio-
nengerechtigkeit richtig war, die Rente mit 67 einzufüh-
ren. Die ehemaligen Bundesminister Franz Müntefering
und Olaf Scholz stehen für die Rente mit 67. Auch Sie,
Herr Kollege Schaaf, haben sie vertreten. Unter dem Ge-
sichtspunkt der Generationengerechtigkeit und ange-
sichts der Chance, Gott sei Dank eine höhere Lebenser-
wartung zu haben, ist eine längere Lebensarbeitszeit
notwendig. – Herr Schaaf, bitte setzen Sie sich nicht. Ich
bin noch nicht ganz fertig.
Wenn im Jahr 2027 das Renteneintrittsalter bei 67
liegt, dann hat die Lebenserwartung in Deutschland um
drei Jahre zugenommen. Das bedeutet, dass wir bereits
in der Vergangenheit eine generationengerechte Renten-
politik betrieben haben. Das wird auch in der Zukunft so
sein. – Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Zwischen-
frage, Herr Schaaf.
Herr Kollege Straubinger, diese Frage hat beim Kolle-
gen Kolb den Wunsch ausgelöst, auch eine Zwischen-
frage zu stellen.
Er ist mindestens genauso geschätzt.
Bitte schön, Herr Kolb.
Das hoffe ich doch, Herr Kollege Straubinger. – EineVorbemerkung: Natürlich steht die FDP auf dem Bodendes geltenden Rechts. Damit ist klar: Alles, was im Bun-desgesetzblatt steht, ist Ausgangspunkt des Regierungs-handelns dieser bürgerlichen Koalition. Ungeachtet des-
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Dr. Heinrich L. Kolbsen werden wir natürlich immer wieder mit gutenVorschlägen die Arbeit in der Koalition beleben.Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, HerrStraubinger, ob Sie genauso wie ich – mit dieser Intonie-rung will ich das in die Debatte einbringen – Handlungs-bedarf beim Übergang vom Erwerbsleben in denRuhestand und die Notwendigkeit sehen, nach der ge-meinsam gewollten Abschaffung der Altersteilzeit einInstrument zu finden, mit dem sich dieser Übergangüberbrücken lässt.Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das,was Frau Ferner und Herr Schaaf gesagt haben, falschist, nämlich dass das FDP-Modell zwangsläufig mit hö-heren Abschlägen verbunden ist? Natürlich ist die Rentemit 60 nur ein Angebot. Die Menschen entscheidenselbst. Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen,dass es für uns wichtig ist, dass die Entscheidungsfrei-heit und der Wille des Versicherten berücksichtigt wer-den, was letztendlich dazu führt, dass die Menschen län-ger im Erwerbsleben bleiben? Wir wissen – das treibtuns um –, dass die Menschen, wenn sie länger leben,auch länger arbeiten müssen. Es geht darum, die Voraus-setzungen dafür zu schaffen. Eine freie Entscheidung istbesser als eine starre Regelaltersgrenze. Wir schlagendaher vor, den Übergang flexibel zu gestalten. Dafürwerden wir bei den Kollegen von der Union werben.Herr Straubinger, Sie räumen mir sicherlich ein, dass dieUnion für Vorschläge auf jeden Fall offen ist und sichguten Vorschlägen am Ende nicht verschließen wird.
Herr Kollege Kolb, es gibt bereits das Instrument der
Teilverrentung. Wir können sicherlich darüber nachden-
ken, ob es verbessert werden kann. Dieses Instrument
kann den geordneten Übergang vom Erwerbsleben in die
Altersrente erleichtern. Aber grundsätzlich gilt natürlich,
dass die Menschen bei einer höheren Lebenserwartung
länger arbeiten müssen. Das ist generationengerecht.
Das Umlageverfahren, an dem wir festhalten, ist nichts
anderes als ein Generationenvertrag. Wir müssen eine
gute Lösung für beide Generationen, sowohl für die äl-
tere als auch für die jüngere, im Erwerbsleben stehende
Generation finden. Darüber können wir uns noch frucht-
bar austauschen.
Jetzt, Herr Kollege Straubinger, hat auch der Kollege
Beck vom Bündnis 90/Die Grünen den Wunsch, eine
Frage zu stellen.
Das ist heute eine Ehre.
Herr Kollege Straubinger, angesichts der großen Dif-
ferenzen innerhalb der Koalition wollte ich Sie fragen,
ob Sie vielleicht daran gedacht haben, in der Koalition
so etwas wie gemeinsame Arbeitsgruppen einzurichten,
um Ihre gemeinsame Politik dort zu besprechen, sodass
die deutsche Öffentlichkeit in solchen Debatten über die
Regierungserklärung vielleicht erfährt, was die Politik
dieser Koalition ist, und nicht, was die unterschiedlichen
Standpunkte dieser Koalition sind; denn die Verhandlun-
gen waren schon, jetzt könnte es auch einmal zur Politik
kommen.
Herr Kollege Beck, wenn Sie vorhin dem Kollegen
Kolb aufmerksam zugehört hätten, dann wüssten Sie,
dass Herr Kollege Kolb auf den Grundlagen des Koali-
tionsvertrages steht. Ansonsten gibt es zusätzlich in der
FDP noch weitere Diskussionen.
– Nein, die Koalition hat einen schönen Koalitionsver-
trag gemacht.
Ich glaube, dass es entscheidend und wichtig ist – da-
mit will ich an meine letzten Ausführungen anschließen –,
die Arbeitsplätze in unserem Land zu stärken. Das ist na-
türlich mit wirtschaftlichem Aufschwung verbunden.
Wir werden die entsprechenden Weichenstellungen vor-
nehmen. Kurzarbeit und Mindestlöhne wurden heute
schon von meinen Vorrednern angesprochen. Ich glaube,
entscheidend ist, dass wir die Vermittlung auf Arbeits-
plätze verbessern und noch schneller gestalten. Wenn
wir wie derzeit 480 000 freie Stellen haben, dann müs-
sen wir alles daran setzen, dass die Vermittlungen
schnell stattfinden.
Was für mich bemerkenswert ist – darüber wird nicht
mehr gesprochen –, ist, dass wir, auf ganz Deutschland
bezogen, mehr Lehrstellen als Lehrstellenbewerber ha-
ben. Erinnern wir uns an die Instrumente der SPD, die
immer eine Ausbildungsplatzabgabe gefordert hat. Es
zeigt sich sehr deutlich, dass diese nicht notwendig ist.
Auch in diesem Bereich muss Flexibilität herrschen, da-
mit auch die letzten Ausbildungswilligen in Lehrstellen
vermittelt werden können. Das werden wir mit einer
effizienten Arbeitsverwaltung – hier danke ich aus-
drücklich Herrn Weise und den Mitarbeitern der Bun-
desagentur für Arbeit für ihren Einsatz – erreichen. Wir
werden die Bundesagentur mit unserem Programm in die
Lage versetzen, die Menschen noch schneller in Arbeit
zu bringen. Dafür stehen unsere Bundeskanzlerin und
unser Bundesminister.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereichliegen nicht vor.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/21, 17/22 und 17/23 an die in der
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun den Themenbereich Innen auf.Das Wort als erster Redner hat der BundesministerDr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In-nern:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Als neuer Bundesminister des In-nern sage ich Ihnen allen meine Bereitschaft zu sehr gu-ter, offener Zusammenarbeit zu, zuvörderst in und mitmeiner Fraktion, aber genauso mit unserem verehrtenKoalitionspartner,
aber auch mit der Opposition, jedenfalls solange die Op-position dies wünscht.
Mein Verständnis ist, dass der Bundesminister des In-nern für die innere Verfasstheit, für den inneren Zusam-menhalt unseres Landes zuständig ist, jedenfalls soweitder Staat überhaupt zuständig ist; denn die Hauptverant-wortlichen für den Zusammenhalt unserer Gesell-schaft sind die freien Bürger, ist die Zivilgesellschaft,die sich um das öffentliche Gut, um das Gemeinwesen,die – um einen althergebrachten Ausdruck zu verwenden –Res publica, kümmert. Für ein gutes Miteinander brau-chen wir gemeinsamen Gestaltungswillen in Verantwor-tung und eine Gesellschaft, die verhindert, dass dieDurchsetzung von Eigeninteressen auf Kosten des Zu-sammenhalts aller geht.Wichtige Kraftquellen für das Zusammenleben, fürdas, was unser Land im Innersten zusammenhält, sindnatürlich zuvörderst die Religionen, aber auch das Eh-renamt, der Sport, die Bindekräfte, die in den Kommu-nen entstehen. In all diesen Bereichen wird das Bun-desinnenministerium seinen Auftrag wahrnehmen, alsPartner, als Fürsprecher, als Gestalter.Heute denke ich – ich hoffe, ich tue es in Ihrem Na-men – in besonderer Weise an die Familie von RobertEnke. Ich wünsche ihr von dieser Stelle aus Trost, Kraftund Gottes Segen. Dieser tragische Tod soll uns Mah-nung sein, dass äußerer Erfolg und Glanz nicht alles sindim Leben. Manchmal lösen sie vielleicht einen Druckaus, der übermenschlich ist.Zum Zusammenhalt der Gesellschaft gehört auch eineleistungsfähige Verwaltung, die das Funktionieren un-serer arbeitsteiligen Gesellschaft gewährleistet. Wirbrauchen eine Verwaltung mit tüchtigen Mitarbeitern,die zügig entscheiden, die klug abwägen, die ihr Ermes-sen ausüben und die immer daran denken, dass es bei derGesetzesanwendung um Menschen geht.
Ich kann und will nun nicht den ganzen Zuständig-keitsbereich meines schönen großen und – ich sage mitStolz – klassischen Ministeriums durchgehen, sondernich will mich auf vier Punkte beschränken:Erstens. Ein gutes Miteinander, der Zusammenhaltder Gesellschaft funktionieren nicht ohne Sicherheit.Wer sich nicht sicher fühlt, baut Mauern um sich herumund schottet sich ab. Sicherheit ist ein öffentliches Gutund keine Privatsache.
Innere Sicherheit des Einzelnen ist eigentlich nichts, wasman gemeinhin mit Polizeiarbeit und Ähnlichem verbin-det. Innere Sicherheit ist etwas, was Menschen ausstrah-len können und worum sie sich bemühen. Eine solcheinnere Sicherheit des Einzelnen entsteht auch durch öf-fentliche Sicherheit.Es ist eine Kernaufgabe des demokratischen Staates,vielleicht seine ursprünglichste Aufgabe, den Ord-nungsrahmen für die Entfaltung von Freiheit zuschaffen und zu sichern, Sicherheit in Freiheit zu garan-tieren. Die Rechtfertigung für das Gewaltmonopol desStaates beruht gerade darauf, dass sich die Bürger daraufverlassen können, dass der Staat die Sicherheit für allegarantiert.
Wer frei in Verantwortung handelt, soll sich um seineSicherheit nicht sorgen müssen. Öffentliche Sicherheitist eine Bedingung für die Entfaltung von Freiheit, undumgekehrt ist Freiheitssicherung der eigentliche Kernder staatlichen Zuständigkeit für öffentliche Sicherheit.In diesem Sinne setzen wir auf unsere bewährte föderaleSicherheitsarchitektur und werden prüfen, wo Bund undLänder, wo auch die Sicherheitsbehörden des Bundesuntereinander ihre Zusammenarbeit verbessern können.Das Bundeskriminalamt behält die erforderlichen Befug-nisse im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.Den Bevölkerungsschutz, der gut aufgestellt ist, wollenwir weiterentwickeln.Die Bedrohung durch den internationalen Terroris-mus ist da. Sie zeigt sich auch in den Terrorbotschaften, diean uns gerichtet sind. Wir werden weiterhin besonnen undentschlossen reagieren. Wir bleiben wachsam, aber wirfürchten uns nicht. Dass wir uns fürchten, ist nämlich das,was die Terroristen beabsichtigen.Für die Gewährleistung der Sicherheit der Bürger tra-gen wir alle, die Bundesregierung, der Gesetzgeber einegemeinsame Verantwortung; vor allem aber die Polizis-tinnen und Polizisten sowie die Mitarbeiter der anderenSicherheitsbehörden. Ich freue mich auf eine gute undfaire Zusammenarbeit mit ihnen und danke ihnen allenfür ihre Arbeit.
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Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de MaizièreWenn es nötig ist, sollten wir neue Gesetze für mehrSicherheit erarbeiten. Wenn es nicht nötig ist, sollten wires lassen.
Gefahrenabwehr ist zuallererst die Abwehr von Gefah-ren, und Strafverfolgung ist zuallererst die Verfolgungvon Straftaten und Straftätern, nicht zuallererst der Er-lass von Gesetzen.Meine Damen und Herren, Deutschland ist eines dersichersten Länder der Welt: Die Aufklärungszahlen sindhoch; die Kriminalitätsentwicklung ist seit Jahren leichtrückläufig.
Trotzdem haben viele Menschen den Eindruck, dass dieBedrohung durch Kriminalität zugenommen hat. Wo-ran liegt das? Nun, es gibt in unserer Gesellschaft Ent-wicklungen, die neben zusätzlichen Freiheitsspielräu-men zugleich auch Unübersichtlichkeiten schaffen: einhohes Maß an Mobilität, Flexibilisierung, Anonymität inden großen Städten. Diese Faktoren tragen dazu bei, dassviele Menschen in ihrem gewohnten Umfeld wenigermiteinander vertraut sind und zum Teil ihre eigenenNachbarn nicht mehr richtig kennen. In der Folge fühlensich viele Menschen auch im öffentlichen Raum unsi-cher.Hier kommen wir mit klassischen innenpolitischenAnsätzen allein nicht weiter. Vielmehr müssen wirStrukturen stärken, die helfen, dass Menschen sich nichtzurückziehen, sondern die sie ermutigen, sich in einemüberschaubaren Rahmen zusammen für etwas einzuset-zen. Wir sollten unsere öffentlichen Räume, unserePlätze, unsere Bahnhöfe, unsere Waggons nicht nochmehr entmenschlichen. Kameras sind gut und notwen-dig, Menschen sind allemal besser.
Das ist eine ebenenübergreifende Aufgabe. Gemein-sam mit den kommunalen Spitzenverbänden wollen wirdie Kommunen entlasten, kommunale Handlungsspiel-räume erweitern und mit den Ländern an der Stärkungder kommunalen Selbstverwaltung arbeiten. Wir wollenzivilgesellschaftliche Kräfte überall ermutigen und eh-renamtliche Strukturen weiter stärken. In diesem Sinnewerde ich sehr bald die kommunalen Spitzenverbändeeinladen und mit ihnen über diese Themen sprechen.Zweitens. Eine große Herausforderung für unser Zu-sammenleben sind die rasanten Entwicklungen in derInformations- und Kommunikationstechnologie. DasInternet kann zu mehr Teilhabe und sogar zu neuen For-men gemeinschaftlichen Handelns führen. Das fördertdie Bundesregierung selbst nach Kräften. Auch mit derGewährleistung sicherer Abläufe und der Erhaltung derFunktionsfähigkeit unserer IT-Infrastruktur müssen wiruns weiter befassen. Es geht zunehmend nicht mehr umdie alte Debatte, ob der Staat hier in Freiheitsrechte zustark eingreift. Auf private Daten wird heute nicht vorallem vom demokratischen Staat zugegriffen,
sondern eher von anderen Privaten, auch wegen manch-mal eigener Leichtfertigkeit und auch wegen der Unaus-löschlichkeit der Spuren der Internetnutzung. Da brau-chen wir neue Antworten und nicht alte Frontstellungen.
Immer wichtiger wird deshalb die Informations-sicherheit. Die Gewährleistung sicherer Kommunika-tion ist für mich eine neue staatliche Aufgabe. Daherwird der Datenschutz – ich glaube, wir sollten lieber vonDatensicherheit sprechen – ein Schwerpunkt der Arbeitin dieser Legislaturperiode sein. Gesetzlicher Rege-lungsbedarf besteht zum Beispiel beim Arbeitnehmer-datenschutz. Ich werde im nächsten Jahr einen Gesetz-entwurf im Rahmen des Bundesdatenschutzgesetzes fürein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vorlegen.Drittens. Zum Zusammenhalt unseres Landes gehörtauch – das meine ich jetzt so wörtlich, wie man es nurnehmen kann –, dass Menschen einander verstehen, mit-einander sprechen können und sich als je andere akzep-tieren. Angesichts weltweiter Migrationsbewegungenund zunehmender Vielfalt ist Integration eine Schlüs-selaufgabe für uns alle. Bei der Integration von Zuwan-derern haben wir bereits viel erreicht. Es hat sich aberauch gezeigt, dass große Anstrengungen weiterhin not-wendig sind. Voraussetzung für alle Bemühungen ist dieBereitschaft von Aufnahmegesellschaft und Zuwande-rern, sich aufeinander zuzubewegen. Vielfalt ja, aber inder Achtung unserer Kultur- und Rechtsordnung – dasist für mich Maßstab und Auftrag.
Mit der Deutschen Islam-Konferenz ist ein maßgeb-liches Forum entstanden, das eine Annäherung zwischenMuslimen und dem deutschen Staat befördert. Wir wer-den den Dialog in den nächsten Jahren weiter vertiefenund die Islam-Konferenz fortsetzen. Meine Damen undHerren, der Islam als Religion ist in Deutschland herz-lich willkommen, Islamismus als Extremismus nicht.
Es wäre aber zu kurz gegriffen, Integration nur im Zu-sammenhang mit Zuwanderern zum Thema der Innenpo-litik zu machen. Integration in einem umfassenden Sinnebedeutet, diejenigen Menschen mitzunehmen und in dieMitte der Gesellschaft zu führen, die am Rand der Ge-sellschaft stehen. Parallelgesellschaften, ob zwischenAusländern oder zwischen Deutschen, zerstören den Zu-sammenhalt einer Gesellschaft. Das wollen wir nicht.
Viertens. Wir haben vorgestern den 20. Jahrestag desMauerfalls gefeiert. Der 9. November 1989 ist einer der
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Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizièreglücklichsten und schönsten Tage unserer Geschichte.Darauf können wir stolz sein. Der 9. November war aberder revolutionäre Beginn, nicht schon die Vollendungdes politischen Vereinigungsprozesses.Mein Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble hat danachden Einigungsvertrag maßgeblich mit ausgehandelt unddamit vor 20 Jahren die Weichen für das innere Zusam-menwachsen unseres Landes gestellt. Dass nun die Zu-ständigkeit für die deutsche Einheit – in unserer National-hymne steht übrigens „Einigkeit“ und nicht „Einheit“;das finde ich sehr interessant, und ich werde später nocheinmal darauf zurückkommen, aber nicht heute –
wieder zum Innenministerium gekommen ist, freut michpersönlich besonders. Es ist eine glückliche Fügung.
Ich selbst bin nicht in der DDR aufgewachsen wieArnold Vaatz, der gestern eine bemerkenswerte Rede ge-halten hat. Der 9. November ist aber für mich ein tieferEinschnitt. Seit diesem Tag ist mein ganzes politisches– und ich füge hinzu: auch mein persönliches – Lebenaufs Engste mit dem deutschen Einigungsprozess ver-bunden und davon geprägt, und das wird es auch blei-ben.Ich bin zuversichtlich, meine Damen und Herren,dass wir bis 2019 gleichwertige Lebensverhältnisse inOst und West schaffen können. Der Solidarpakt gilt. DerBundesverkehrswegeplan und die Verkehrsprojekte„Deutsche Einheit“ stehen nicht zur Disposition. Das hatauch mein Kollege Peter Ramsauer heute gesagt.Der Osten Deutschlands beteiligt sich nach Kräftenan den Kosten der Einheit, und auch der Westen profi-tiert von den Infrastrukturmaßnahmen, zum Beispiel dengroßen Bauprojekten für Verkehrsverbindungen zwi-schen West und Ost. Der Begriff „Aufbau Ost“ trifft esnicht mehr vollständig. Ein Begriff „Aufbau West“ träfees erst recht nicht. Es geht um eine gemeinsame Ent-wicklung in und für Deutschland und unsere Zukunft,und das unter Achtung unserer jeweiligen Biografien.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutsch-land ist stark und frei. Deutschland ist in seiner Vielfaltund Offenheit ein lebenswertes Land. Wir wollen dieChancen der Informationsgesellschaft nutzen. Wir wol-len in Freiheit und Sicherheit leben, geeint und miteinan-der. Wir wollen ein Land sein, das etwas auf sich hält.Wir wollen ein Land sein, das zusammenhält. Dafür willich arbeiten, und dafür bitte ich um Ihre Unterstützung.
Herr Minister de Maizière, bei Ministern ist es nicht
üblich, zur ersten Rede zu gratulieren. Aber Sie sind
auch neugewähltes Mitglied dieses Hauses. Deswegen
will ich es so formulieren: Wenn Sie als Abgeordneter
gesprochen hätten, hätte ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede
in diesem Hause gerne gratuliert.
Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz für die SPD-
Fraktion.
Herr Minister, zunächst einmal von mir alles Gute fürIhr neues Amt. Wir haben in der Vergangenheit in ande-ren Funktionen gut zusammengearbeitet, und das wer-den wir auch in Zukunft schaffen, wenn auch in eineranderen Rollenverteilung: als Regierung und als Opposi-tion. Aber auch da ist ja Zusammenarbeit erforderlich.Meine Damen und Herren! Wenn man sich den Koali-tionsvertrag anschaut und sich bemüht, eine Linie in derkünftigen Innenpolitik zu entdecken, gelingt einem dasnicht.
Auch wer soeben die Rede verfolgt hat, ist nicht schlauergeworden, was die zukünftige Linie der Koalitionsfrak-tionen in der Innenpolitik sein soll.Der Koalitionsvertrag ist eine eigenwillige Konstruk-tion mit vielen Details, bei denen man sich fragt: Warumgehört dies in einen Koalitionsvertrag, warum hat dieskein Verwaltungsbeamter als Vorlage für den Amtschefaufgeschrieben? Aufgrund welchen persönlichen Ste-ckenpferds es als würdig erachtet wurde, die Zuverläs-sigkeitsprüfung für Privatpiloten zu einer öffentlichenAufgabe zu machen, hat sich mir bis heute nicht er-schlossen.
Ich will gerne noch ergänzen. Da kommen Union undFDP nun zusammen. Die FDP hat in den letzten elf Jah-ren vieles an den Innenministern der SPD und der CDUkritisiert. Was kommt nun aber heraus?
Wenn man sich den Koalitionsvertrag anschaut, dannwird man unversehens an das berühmte Buch vonGiuseppe Tomasi di Lampedusa Der Leopard erinnert.Da unterhält sich der Fürst mit seinem Neffen, der beiGaribaldi mitmacht, und fragt, was das alles soll. DieAntwort lautet: Es muss sich alles ändern, damit allesbleibt, wie es ist. – Genau das ist das Ergebnis desKoalitionsvertrages. Wir sind nicht beeindruckt.
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Olaf ScholzEs wird evaluiert, ausgewertet, abgewartet und über-prüft. Dann kommen noch ein paar Scheinaktionenhinzu, die die öffentliche Debatte möglicherweise be-gleiten sollen. Man fragt sich nur, wieso. Was beispiels-weise vorher Richter an anderen Gerichten gemacht ha-ben, soll jetzt ein BGH-Richter tun. Das kann manmachen, das kann man auch lassen. Es ändert gar nichts.Es ist vielleicht das Kennzeichen dieses Koalitionsver-trages: An dieser Stelle hat sich nichts weiterentwickelt.Es lohnt weder, sich aufzuregen, noch eine spezifischeDebatte zu führen, was man alles da hineingeheimnissenkann. Es ist keine Fortentwicklung erkennbar. Elf JahreOpposition der FDP waren jedenfalls in dieser Hinsichtvergeblich.
Da gibt es noch etwas, was zwar in dem Koalitions-vertrag nicht sehr sorgfältig ausformuliert wird, was hieraber angesprochen werden muss. Es gibt Entscheidun-gen in Bezug auf die innere Sicherheit in unseremLande. Diese stehen aber nicht in erster Linie im Kapitelüber die innere Sicherheit. Denn die 24 Milliarden Euro,die im Zuge der Steuerentlastung dem Bund, den Län-dern und den Gemeinden fehlen, werden sich massiv aufdie innere Sicherheit auswirken. Niemand soll sagen, essei nicht die Schuld dieser Regierung gewesen, wenn inden Bundesländern demnächst bei der Polizei gespartwird. Das waren Sie. Was Sie machen, ist falsch.
Es findet sich auch eine Passage über den Extremis-mus, der bekämpft werden muss. Das ist gut, vernünftigund richtig. Was die Bekämpfung des Rechtsextremis-mus angeht, wurden unter der letzten Regierung undauch davor gute Programme entwickelt. Ich nenne bei-spielsweise „Vielfalt tut gut“, „Xenos“ und „Kompetentfür Demokratie“. Das sind gute und wichtige Pro-gramme gewesen. Warum diese spezielle Form der Ex-tremismusbekämpfung – sie ist ausgerichtet auf die Be-kämpfung einer Variante des Extremismus – nun auf alleVarianten des Extremismus ausgedehnt werden soll,ohne dass die Mittel aufgestockt werden, ist mir nichtbegreiflich. Man muss befürchten, dass die Mittel für diebestehenden Projekte gekürzt werden zugunsten anderer.Richtig wäre es, alle Projekte zu unterstützen. Das habenSie versäumt.
Es gibt in dem Koalitionsvertrag noch Punkte, bei de-nen man sich fragt, wie sie da hineingekommen sind undob man nicht etwas länger hätte nachdenken können. Ichmeine zum Beispiel den Vorschlag, die Pflicht zum Er-scheinen vor der Polizei neu zu regeln. Niemand brauchtdiese Neuregelung. Es gibt schwerwiegende verfas-sungsrechtliche Bedenken.
Hätten Sie nicht etwas länger nachdenken können, bevorSie diese wenigen Sätze in den Koalitionsvertrag hinein-geschrieben haben?
Ein großes Thema der Innenpolitik – auch das habenSie eben gesagt; damit bin ich sehr einverstanden – mussdie weitere Auseinandersetzung mit dem Thema Migra-tion und Zuwanderung sein. Da liegen noch viele uner-ledigte Aufgaben vor uns. Deshalb müssen wir in diesemBereich etwas zustande bringen, damit viele Migrantenin unserem Lande ihre Potenziale und Fähigkeiten ent-falten können. Ich bin froh, dass es uns zumindest gelun-gen ist, eine Diskussion über die Frage zu beginnen, obes über die Fachkräftezuwanderung hinaus, die wir ge-rade in der letzten Zeit ausgeweitet haben, noch eine zu-sätzliche Potenzialzuwanderung geben soll.
Aber belassen Sie es in den nächsten Jahren nicht beiden verschämten Formulierungen. Es muss etwas Kon-kretes dabei herauskommen.
Was wir dringend brauchen, um die vielen Menschen,die in diesem Lande ihre Talente entfalten wollen, zustärken und zu unterstützen, ist ein Anerkennungsgesetz,mit dem es einen Rechtsanspruch darauf gibt, die Quali-fikationen, die man irgendwo auf der Welt erworben hat,auch in diesem Lande einsetzen zu können.
Die Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Ich bin froh,dass die Vorschläge des sozialdemokratischen Arbeits-ministers der letzten Legislaturperiode nun im Koali-tionsvertrag ihren Widerhall gefunden haben. Dennanders als bisher geht es jetzt tatsächlich um ein Aner-kennungsgesetz mit einem Rechtsanspruch, um ein Bun-desgesetz. Das ist nämlich zulässig. All das, was darun-terbleibt, ist zu wenig. Wir werden Sie daran messen, obSie so gut sind, wie Sie es angekündigt haben.
Es ist richtig, etwas beim Bleiberecht derjenigen zutun, die jetzt, am 31.12., gerade wegen der Wirtschafts-krise nicht in der Lage sind, die Voraussetzung zu erfül-len, um ihren Aufenthaltsstatus zu sichern. Wir brauchenjetzt schnell eine Regelung. Machen Sie das, schiebenSie es nicht auf! Schade, dass wir nicht schon fertig sind.Denn alle Bemühungen der SPD-Fraktion und der so-zialdemokratischen Minister wurden von der Union aufdie Zeit nach der Wahl verschoben. Jetzt ist nur nochkurze Zeit; aber es geht noch. Werden Sie noch vor demJahresende damit fertig!
Ich bin froh, dass es endlich möglich ist, darüber zudiskutieren, dass wir ein Rückkehrrecht für diejenigenbrauchen, die als Opfer von Zwangsheirat in eineschwierige Lage gekommen sind. Das war bisher nicht
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Olaf Scholzmöglich. Wir werden Sie dabei unterstützen, wenn es et-was wird. Aber beschließen Sie bitte nicht nur eineÜberschrift, sondern tatsächlich etwas, was die Lebens-lage der betroffenen Frauen verbessert!
Wir brauchen eine Verbesserung der Situation derje-nigen, die illegal in diesem Lande leben. Wir brauchensie nicht deswegen, weil wir die Illegalität für richtighalten, und nicht deswegen, weil es richtig ist, dass ille-gale Zuwanderung nach Deutschland stattfindet – dasind wir uns alle einig –, sondern deswegen, weil esnicht sein kann, dass jemand, der eine Schule besuchensoll, dadurch in eine schwierige Lage kommt und derSchulbesuch deshalb unterbleibt. Es ist richtig, dass hierdie Übermittlungspflichten neu geregelt werden. Aberwir sollten dies nicht nur auf die Schule beschränken. Esgeht zum Beispiel auch um die Besuche von Ärzten.
Meine Damen und Herren, wir müssen beim Staats-angehörigkeitsrecht etwas voranbringen. Wir müssendie Situation derjenigen verbessern, die in den letztenJahren wegen der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtsdurch die rot-grüne Regierung zwei Staatsbürgerschaf-ten hatten. Diese Regelung hatte einen kleinen Haken,den wir wegen der damaligen Mehrheitsverhältnisse ak-zeptieren mussten, nämlich die Situation, dass man op-tieren muss.
Diese Sache muss geändert werden.
Diese Optionsregelung muss endlich abgeschafft wer-den. Wir wollen, dass die jungen Leute, die deutscheStaatsbürger sind, ihre deutsche Staatsbürgerschaft ohneWenn und Aber behalten können und nicht in eineschwierige Lage gebracht werden.
Alles zusammen: Es gibt viele Aufgaben, die wir inAngriff nehmen müssen. Ich finde, es wäre interessantgewesen, mehr zu tun als das, was im Koalitionsvertragsteht. Letztendlich ist nicht sehr viel Konkretes geregeltworden. Konkrete Aufgaben liegen aber vor uns.Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Scholz, vielleicht liegt – Sie brauchen nicht mit mirzu reden; das können wir in den nächsten vier Jahrenauch anders machen –
Ihre Aussage, dass Sie im Koalitionsvertrag keine klareLinie in der Innenpolitik gefunden haben, daran, dassSie ein Neuling in der Innenpolitik sind. Ganz ehrlich– ich darf das Kompliment zurückgeben –, auch ich habein Ihrer Rede keine klare Linie der SPD zur Innenpolitikerkennen können.
Sie haben davon gesprochen, dass zum Beispiel beider Polizei gekürzt worden ist. Dazu kann ich Ihnen nureines sagen: Dort, wo die FDP in Deutschland mitre-giert, ist ganz im Gegenteil Geld investiert worden, sindneue Polizisten eingestellt worden. Schauen Sie in dievon Ihnen regierten Länder. Beim nächsten Mal könnenwir gerne darüber reden.
– Das stimmt natürlich. Die Verantwortung in den Län-dern ist gering. Aber dort, wo die FDP mitregiert, versu-chen wir, neue Polizisten einzustellen.
Das sollten Sie sich einmal anschauen.
Das, was Sie hier gemacht haben, ist einfach unredlich.
Elf lange Jahre – das meine ich heute, am11. November, überhaupt nicht karnevalistisch; ich binim Rheinland geboren – stand im Mittelpunkt der Innen-politik in diesem Hohen Hause vor allen Dingen eines:neue Befugnisse für die Behörden und das Sammelnvon immer mehr Daten von Bürgerinnen und Bürgern.
Abschaffung des Bankgeheimnisses, Einführung derSteuer-ID, Vorratsdatenspeicherung, Fluggastdatenüber-mittlung, Luftsicherheitsgesetz, Ausweitung der DNA-Speicherung – das alles, Herr Wieland, haben Sie mit zuverantworten. Das alles ist aus Ihrer Zeit.
In der letzten Legislaturperiode sind auch das BKA-Ge-setz mit heimlichen Onlinedurchsuchungen, das BSI-Gesetz, das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz,Internetsperren und die Bundesabhörzentrale beschlos-sen worden. Das haben Sie, die Kolleginnen und Kolle-gen von SPD, Grünen und CDU schon eingeführt, allesohne uns, gegen unsere Stimmen.
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Gisela PiltzDas alles und noch viel mehr ist das Erbe, das wirvorgefunden haben. Nun könnte man jetzt natürlich sa-gen, dass man ein Erbe ausschlagen könne, wenn esüberschuldet ist. Genau diese Überschuldung zulastender Bürgerrechte ist in den letzten Jahren erfolgt.
Aber wir sehen es als unsere Pflicht an, nicht nur zu tö-nen, sondern auch den Auftrag unserer Wählerinnen undWähler anzunehmen und dieses Erbe anzutreten.
Frau Kollegin Piltz, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hartmann?
Nein, ich möchte jetzt erst einmal weiterreden.Wir tun dies, weil vor allen Dingen eines klar ist: Wirwollen so nicht weitermachen, und wir werden so auchnicht weitermachen. Dies bedeutet, dass wir Stück fürStück die Schulden abbauen müssen, die Sie uns hinter-lassen haben.Die vorhin nur unvollständig aufgeführte Liste derBürgerrechtseinschränkungen werden wir nicht verlän-gern.
Im gesamten Koalitionsvertrag werden Sie keine Plänefür weitere Einschränkungen der Bürgerrechte fin-den. Ich muss ganz ehrlich sagen: Dass Sie als Grünesich überhaupt trauen, hier so den Mund aufzumachen,während Sie mit den Otto-Katalogen angefangen haben,ist schon erstaunlich.
– Sie haben sie alle unterstützt. Sie sollten sich an die ei-gene Nase fassen, bevor Sie hier die FDP angreifen. Dasmuss ich Ihnen wirklich einmal sagen.
Im Koalitionsvertrag finden Sie ein ganz klares Be-kenntnis zu einer Politik, die im Bereich der Bürger-rechte die Entschuldung in diesem Sinne angeht. Das istund bleibt eine Herausforderung; das ist klar. Die im Ko-alitionsvertrag zur Innenpolitik geschlossenen Vereinba-rungen stellen sicherlich keine Durchschlagung des Gor-dischen Knotens dar; das will ich gerne zugeben. Aberwir fangen an, die Fäden zu entwirren. Das ist der Unter-schied zu Ihnen allen, die Sie zusammen immer neueKnoten gemacht haben. Wir versuchen, sie zu entwirren,und das ist ein erster Schritt, den Sie alle zusammennicht geschafft haben.
Wir werden das BKA-Gesetz überarbeiten. Es istkein Geheimnis, dass wir dieses Gesetz nicht wollten.Aber wir arbeiten an der absoluten Mehrheit, kann ichdazu nur sagen.
Deshalb ist es schon einmal gut, dass wir beim BKA-Ge-setz die rechtsstaatlichen Sicherungen verbessern. DasBundesverfassungsgericht hat die Grundrechte in diesemZusammenhang immer besonders betont. Künftig wirdein Richter beim BGH – das haben Sie richtig erkannt –über die Anordnung verdeckter Überwachungsmaßnah-men befinden müssen. Die Anordnung muss zudem überdie Generalbundesanwaltschaft laufen. Das ist ein richti-ger Schritt zur Absicherung der Grundrechte.Es ist im Übrigen auch gut, dass die Generalbundes-anwältin so in das laufende Verfahren eingebunden ist.
– Da haben Sie vielleicht nicht genau hingeschaut. Dennmit der steten Vorverlagerung der Strafbarkeit in das Ge-fahrenvorfeld, wie es die SPD-Justizministerin Zyprisimmer gemacht hat, ist die Abgrenzung von Gefahrenab-wehr und Strafverfolgung immer weiter verwischt wor-den.
Der Schutz des unantastbaren Kernbereichs privaterLebensgestaltung wird weiter gestärkt werden. Wir wer-den dafür sorgen, dass solche Daten gar nicht mehr erho-ben werden.Ein weiteres zentrales Projekt der schwarz-gelbenKoalition wird es sein, dass Datenschutzrecht künftigzukunftsfest und technikneutral zu gestalten. Das ist eineKernaufgabe – darauf hat der Minister schon hingewie-sen – für diese Koalition, damit wir nicht jeder technolo-gischen Entwicklung hinterherlaufen und für alles, ob esnun RFID oder Scoring ist, einen neuen Absatz schaffenmüssen. Vielmehr muss es uns gelingen, dies anders zugestalten.Das nächste Reformprojekt – dazu hätte ich schongerne einmal etwas von Ihnen gehört, Herr Scholz – be-trifft den Arbeitnehmerdatenschutz. Dazu muss ich Ih-nen ganz ehrlich sagen: Elf Jahre war die SPD an derRegierung; sie hat ununterbrochen den Arbeitsministergestellt: Riester, Clement, Müntefering und Sie selbst.Sie haben es nicht geschafft, den Arbeitnehmerdaten-schutz hier im Haus durchzusetzen. Sie haben sogar dreiWochen vor der Wahl noch einen Gesetzentwurf vorge-legt. Das ist, ehrlich gesagt, nichts; denn zu diesem Zeit-punkt wussten Sie genau, dass er – –
– Nein, ich möchte auch diese Frage nicht beantworten.Sie wussten genau, dass Ihr Gesetzentwurf nichtmehr – –
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Gisela Piltz– Ja, bitte, dann lasse ich sie zu.
Herr Kollege Scholz, Frau Piltz lässt die Zwischen-
frage zu. – Bitte schön.
Schönen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.
– Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie sich schon darauf
freuen, dass Sie noch in diesem Jahr einen vollständigen
Gesetzentwurf der SPD zum Arbeitnehmerdatenschutz
bejubeln können.
Wenn es derselbe Gesetzentwurf ist, den Sie bereits
einbrachten, dann kann ich ihn nicht bejubeln, weil er
nicht gut war. Ich möchte aber sogar Ihnen eine gewisse
Lernfähigkeit unterstellen. Ich freue mich darauf, dass
Sie in der Lage sind, in der Opposition etwas zu schaf-
fen, was Sie als Regierungsfraktion nicht geschafft ha-
ben.
Aber ich muss Ihnen trotzdem sagen: Wer es in elf
Jahren nicht geschafft hat, ein Arbeitnehmerdatenschutz-
recht vorzulegen und sich dann in der Opposition damit
brüstet, hat für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in
Deutschland gar nichts getan, sondern mit Zitronen ge-
handelt. Das ist Ihre Verantwortung und nicht unsere.
Wir werden einen guten Gesetzentwurf vorlegen. Ich bin
sicher, er wird besser als das, was Sie vorlegen.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Frage der Infor-
mationsgesellschaft. Wir haben im Koalitionsvertrag
vereinbart, dass die Internetsperren zunächst für ein Jahr
ausgesetzt werden. Wir werden nach dem Motto „Lö-
schen statt Sperren“ verfahren. Es wird keine geheimen
und unkontrollierten Sperrlisten geben. Sie werden nicht
geführt. Es wird nichts weitergegeben, und es wird kei-
nen Aufbau von Sperrinfrastruktur geben.
Das ist ein Fortschritt. Das kann keiner bestreiten.
Mein letzter Punkt – ich komme sofort zum Schluss –:
Wir wollen das Internet auch für die demokratische
Teilhabe nutzen. Deshalb werden wir das Petitionsrecht
zu einer Art virtuellen Volksinitiative ausbauen. Das ist
übrigens mehr als das, was in den letzten elf Jahren unter
Ihrer Regierung in diesem Bereich passiert ist. Mir ist in
diesem Bereich eine Entwicklung in kleinen Schritten
lieber als ein erneuter Prüfauftrag; wie Sie das zu diesem
Thema immer so gerne in Ihren Koalitionsverträgen ge-
macht haben.
Ansonsten freue ich mich auf eine vertrauensvolle Zu-
sammenarbeit für die Bürgerrechte mit Ihnen allen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal Herrn Schäuble
zitieren – das verzeihen Sie mir bitte –, er hat nämlich
vor vier Jahren, als er sein Amt angetreten hat, gesagt:
Ich vertraue jedem bis zum Beweis des Gegenteils.
In diesem Sinne ist die Koalitionsvereinbarung eine gute
Arbeitsbasis. Ich freue mich auf die nächsten vier Jahre.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jan Korte von der Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! AlsErstes muss ich feststellen: Im Gegensatz zu Ihrem Vor-gänger verbreiten Sie, Herr de Maizière, keine Weltun-tergangsstimmung, und Sie halten keine so markigenReden. Wir werden überprüfen, wie sich das im Koali-tionsvertrag niederschlägt oder eben auch nicht.Die FDP hat richtigerweise festgestellt, dass die letzteLegislaturperiode eine einzige Katastrophe für die Bür-gerrechte – Onlinedurchsuchung, Vorratsdatenspeiche-rung usw. – war. Es ist im Übrigen niemals nachgewie-sen worden, dass all diese Maßnahmen ein Mehr anSicherheit gebracht haben. Es war also schlecht. Daskönnen wir, glaube ich, so festhalten.Allerdings gab es in dieser Gesellschaft auch neuenWiderstand. Es gab viele Demonstrationen mit Zehntau-senden von Teilnehmern unter dem Motto „Freiheit stattAngst“. Auf diesen Demonstrationen gab es geradezuein Fahnenmeer von FDP und Linken. Das war gut. Dasmuss man so festhalten. Reden wir darüber – die FDPwird wahrscheinlich nicht mehr demonstrieren –, wasSie im Koalitionsvertrag durchgesetzt haben.Mein erster Punkt ist das Arbeitnehmerdaten-schutzgesetz. Alle Fraktionen wollten das in den letztenJahren immer wieder auf den Weg bringen. So weit, sogut. Passiert ist nichts, obwohl die Skandale immer grö-ßer wurden. Im Koalitionsvertrag steht dazu Folgendes:Hierzu werden wir den Arbeitnehmerdatenschutz ineinem eigenen Kapitel im Bundesdatenschutzgesetzausgestalten.Das ist immerhin ein Fortschritt, das muss man sagen.Das hat die SPD in der Tat nicht hinbekommen. Aberdas, was Datenschützer immer gefordert haben, nämlichein eigenes, detailliertes Arbeitnehmerdatenschutzge-setz, wollen auch Sie nicht. Das kritisieren wir massiv;
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Jan Kortedenn der Datenschutz und die Bürgerrechte enden nichtam Werkstor. Daran werden Sie nichts ändern.
Die Onlinedurchsuchung bleibt, die Vorratsdatenspei-cherung bleibt. Ich habe mir die Koalitionsvereinbarunggenau durchgelesen. Im Innenpolitikteil, in den Zeilen4 471 bis 4 932, habe ich nachlesen können, inwieweitdie Entwicklung entscheidungsfreudig vorangebrachtwird. Dort findet man allein zwölfmal die Begriffe„überprüfen“, „evaluieren“ und, was ich besonders lustigfinde, „sorgfältig beobachten“, immerhin „sorgfältig“.Nur eine Entscheidung findet man dort nicht, zu gar kei-nem Thema. Deshalb ist das, was Sie, liebe KolleginPiltz, eben gesagt haben, nicht mit der Realität kompati-bel. Das muss man leider feststellen. Auch wir hättenuns mehr gewünscht von Ihnen.
Wie kann man das Ganze politisch bewerten? Mankann es so bewerten: Im Ton moderat, aber an der hartenLaw-and-Order-Politik der CDU, die den Bürgerrechtenentgegensteht, ändert sich überhaupt nichts. Das kannman festhalten.
Eine besonders schlimme Entwicklung, die Aufwei-chung der Trennung von Polizei und Geheimdiensten,die es bereits gibt, wird nicht zurückgedrängt. Daranwird nichts geändert. Auch das bleibt.
Was sagt nun die Linke? Was sollten wir tun? Statt zuüberprüfen, zu evaluieren und sonst etwas zu tun,brauchten wir eine grundlegende Umkehr in der Innen-politik. Wir brauchten eine Belebung der Demokratie,wozu übrigens auch Elemente der direkten Demokra-tie gehören. Dazu hört man von Ihnen nichts, überhauptgar nichts. Direkte Demokratie, das wäre die richtigeAntwort.
Eines wird sich verschlimmern: In den letzten zweiLegislaturperioden und auch davor wurde parallel zumAbriss des Sozialstaates in der Innenpolitik hochgerüs-tet. Auf diesem Gebiet ist ganz Schlimmes zu erwarten.Der Abriss des Sozialstaates wird weitergehen, und da-rauf werden Sie mit einer Aufrüstung in der Innenpolitikantworten. Auch das muss endlich beendet werden.
Ich will noch einen Punkt ansprechen, über den ges-tern und heute viel diskutiert worden ist: die Steuerpoli-tik. Wozu führt diese Steuerpolitik? Ich möchte Ihnen zubedenken geben, wozu sie im Bereich der inneren Si-cherheit führen wird – das ist eben schon angesprochenworden –: Wenn ich in meinem Wahlkreis bin, beispiels-weise auf dem Markt in Bitterfeld, dann stelle ich fest,dass der Kontaktbereichsbeamte – so heißt er heute –,der Streife geht, der vor Ort ansprechbar ist, wichtig ist,wenn es um öffentliche Sicherheit und das subjektive Si-cherheitsgefühl geht. Die Stellen dieser Kontaktbe-reichsbeamten werden die ersten Stellen sein, die weg-fallen, wenn die Länder aufgrund Ihrer Steuerpolitikkein Geld mehr in der Tasche haben.
Das wird die Folge sein. Diese Politik ist völlig verfehlt.Wir brauchen Dezentralisierung und nicht Zentralisie-rung.
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte: Wennin diesem Koalitionsvertrag wirklich, wie von der FDPgroß angekündigt wurde, ein Neuanfang vereinbartwurde, dann könnten Sie, Herr Minister de Maizière,und die neue Regierungskoalition doch ein durch unddurch demokratisches Zeichen setzen und endlich dieunsägliche, antidemokratische Beobachtung der Links-partei durch den Verfassungsschutz beenden. Das wäreein echtes Zeichen für eine Kehrtwende in der Innenpoli-tik.Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zugege-ben, es ist auch für mich gewöhnungsbedürftig, hier eineinnenpolitische Debatte zu führen, an der der Taktgeberder vergangenen vier Jahre, Wolfgang Schäuble, nichtteilnimmt – Frau Kollegin Piltz, Sie haben ihn erwähnt –:Kein Stakkato mehr, wie wir es gewöhnt waren bei De-batten über den Bundeswehreinsatz im Innern, über denAbschuss von Passagierflugzeugen oder über die Liqui-dierung von Terrorverdächtigen. Das alles fand heuteschönerweise nicht mehr statt. Herr de Maizière hat so-gar gesagt, er reiche der Opposition die Hand, wenn siemitarbeiten wolle, solle sie mitarbeiten. Wir haben nochnie eine ausgestreckte Hand ausgeschlagen. Wir werdensehen, ob es hier nur um die Form des Politikmachensgeht, ob es nur um eine andere Herangehensweise gehtoder ob sich auch der Inhalt der Politik ändert. Nur zusagen: „Gesetze machen, wenn sie nötig sind“, ist ein-fach – das klingt immer gut –, aber der Streit beginnt,wenn es darum geht, wann was nötig ist.Liebe Kollegin Piltz, ich sage Ihnen auch: Wenn manuns den Fehdehandschuh hinwirft, wie Sie es getan ha-ben, dann nehmen wir ihn auf.
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Wolfgang WielandDeswegen sage ich Ihnen ganz direkt: Eine Partei, dieauf ihren Parteitagen mit Bändern mit der Aufschrift„Freiheitskämpfer“ auftritt, deren Vormann, GuidoWesterwelle, sich zur Freiheitsstatue erklärt hat und inderen Wahlprogramm so schöne Sätze wie – ich zitiere –„Die Verfassung selbst muss Freiheit schaffen, bilden,hüten, verteidigen und lehren. Der Zweck der Verfas-sung ist gerade auch Schutz der Freiheit. Die FDP nimmtdie Werteentscheidungen des Grundgesetzes ernst. Siesind ein zentraler Maßstab liberalen Handelns“ stehen,
die muss sich fragen lassen: Wo ist dieser Maßstab ge-blieben? Ist die fällige und von Ihnen auch immer gefor-derte Neujustierung der Innenpolitik hin zum Primat derFreiheit in dieser Koalitionsvereinbarung irgendwo fest-geschrieben worden? Die Antwort ist: Nein. Diese Ant-wort ist enttäuschend; das können wir Ihnen nicht erspa-ren.
– Ich werde Beispiele nennen, Herr Lindner, freuen Siesich nicht zu früh. Sie sind Neumitglied hier. Herzlichwillkommen!Sie haben in Ihrem Wahlprogramm die sprichwörtli-chen Berge von Gold versprochen. Jetzt stehen wir voreiner Geröllhalde, und von Gold ist weit und breit keineSpur. Das ist die herbe Enttäuschung, die Sie bereiten.
Das war Beispiel eins.Im Wahlprogramm steht:Die FDP fordert die Wiederherstellung des Bankge-heimnisses– alles dreht sich um das Bankgeheimnis –
durch die Abschaffung der Vorratsdatenspeicherungund den Verzicht auf heimliche Online-Durchsu-chungen privater Computer.Was ist daraus geworden? Daraus ist geworden, dassjetzt nicht mehr der Richter am Amtsgericht in Wiesba-den die Onlinedurchsuchung anordnet, sondern einRichter am Bundesgerichtshof – Sie amüsieren sich zuRecht, Herr Binninger –, auf Vermittlung des General-bundesanwaltes.
Staatsanwälte können bisher bei uns eine Menge ma-chen, vermitteln allerdings nicht. Das ist offenbar die li-berale Wende.
Demnächst heißt es nicht mehr: „Ich beantrage einenHaftbefehl“, sondern: „Ich bitte um Vermittlung einesHaftplatzes für den hier Angeklagten“. Dahinter stecktein harter Kern: Sie haben den Generalbundesanwaltbeim BKA-Gesetz vollständig außen vor gelassen undnun soll er auch durch diese Konstruktion nicht herein-kommen. Er soll keine Akten bekommen. Er soll wie einEhevermittler tätig werden. Das ist hanebüchen.Zur Vorratsdatenspeicherung steht im Koalitions-vertrag: Die Entscheidung des Bundesverfassungsge-richtes wird abgewartet und eingearbeitet.
Es bleibt Ihnen ja auch nichts anderes übrig. Bis dahinwird sie aber nicht ausgesetzt. Nein, polizeirechtlich sollsie weiter durchgeführt werden. Am 15. Dezember die-ses Jahres werden wir eine Premiere erleben. FrauLeutheusser-Schnarrenberger wird sie uns bieten. Es warja bisher schon die Spezialität der FDP, bei der Online-durchsuchung sowohl als Kläger als auch als Beklagtervor dem Bundesverfassungsgericht aufzutreten.
Da konnte man nur gewinnen. Da klagte man gegen deneigenen NRW-Innenminister. Nun wird Frau Leutheusser-Schnarrenberger in Person sowohl als Klägerin als auchals Mitglied der Bundesregierung als Beklagte in Karls-ruhe auftauchen.
Das ist eine Art Pendeldiplomatie, Herr KollegeWiefelspütz. Das ist die Krönung der liberalen Wendig-keit; nur, mit Glaubwürdigkeit hat es gar nichts zu tun.
– Ja, hätten Sie Ihr Wahlversprechen – weg mit der Vor-ratsdatenspeicherung! – durchgesetzt, dann hätten wiralle diesen Rechtsstreit für erledigt erklären können. Wa-rum haben Sie das nicht getan?
Sie haben von einem Schuldenkonto gesprochen; dasmachen Sie ja gerne: Hundert Gesetze seit Rot-Grünhabe es gegeben. Das habe ich immer wieder von Ihnengehört, liebe Kollegin Piltz. Kein einziges Gesetz habenSie wegverhandelt.Zum BKA-Gesetz waren Ihre Worte: Das ist einWorst of – nicht Best of – aus allen Polizeigesetzen. Vonden Buchstaben a bis x haben Sie keinen einzigen he-rausverhandelt. Das ist ein Armutszeugnis, was Sie hiervorgelegt haben.Sprichwörtlich sagt man – das ist ein Sprichwort; dassage ich, damit Sie sich nicht wieder aufregen –: Wer mitdem Teufel essen will, muss einen langen Löffel haben.
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Wolfgang WielandDie FDP ist mit dem Teelöffel angekommen, und sosieht das Ergebnis auch aus.
Herr Kollege Wieland, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Wiefelspütz?
Weil wir jetzt in der Opposition vereint sind, will ich
da nicht so kleinlich sein. Bitte schön, Herr Kollege.
Ich möchte mit Ihnen auf gar keinen Fall vereint sein,
lieber Herr Kollege Wieland. Gleichwohl stelle ich die
Frage: Haben Sie, Herr Kollege Wieland, denn ernsthaft
geglaubt, dass die FDP ihre Wahlversprechungen im Be-
reich der Innenpolitik erfüllt, oder was haben Sie ge-
dacht?
Lieber Herr Kollege Wiefelspütz, ich war natürlich
hinreichend skeptisch; das muss ich Ihnen sagen. Ich
habe auch einmal gelesen, dass man bei Wahlverspre-
chen zwischen „die FDP will“ und „die FDP wird“ un-
terscheiden muss, dass das eine die Richtung, den politi-
schen Willen betrifft und dass das andere das ist, was
man tun wird. Zum Datenschutz beispielsweise liest
man bei Ihnen folgenden Satz: Die FDP wird die Weiter-
gabe der Meldedaten an die Gebühreneinzugszentrale
verbieten. – Als ich diesen Satz las, dachte ich: Dann
sollen sie das doch verbieten. Nachdem ich Ihre Koali-
tionsvereinbarung gelesen habe, musste ich allerdings
feststellen: Nichts davon taucht darin auf.
Außerdem sagen Sie: Das Bankgeheimnis ist uns hei-
lig. – Als ich dann aber gelesen habe, was Sie zu SWIFT
vereinbart haben, musste ich feststellen: Das ist eine
lange Wischiwaschi-Vereinbarung.
– Bleiben Sie stehen, Herr Kollege!
Auch wenn wir uns nicht vereinigen wollen, lege ich
Wert darauf, dass Sie stehen bleiben, schon damit man
Ihre neue Frisur gebührend würdigen kann.
Notfalls sollte der Herr Präsident das durchsetzen. – Na
gut, ich gebe die Antwort dennoch: Was SWIFT angeht,
erfahren wir heute, dass diese Regierung, einen Tag be-
vor der Vertrag von Lissabon in Kraft treten wird, offen-
bar auf exekutiver Ebene Fakten schaffen, das Europa-
parlament brüskieren und den USA den Zugriff auf die
Bankdaten ermöglichen will,
und das von der höchsten Hüterin des Bankgeheimnis-
ses. Das muss man sich einmal vorstellen!
Lieber Kollege Wiefelspütz, selbst ich, der ich geringe
Erwartungen hatte, bin von diesem mickrigen Ergebnis
enttäuscht.
Herr Kollege Wieland, das löste beim Kollegen Wolff
das Bedürfnis nach einer Frage aus. Erlauben Sie das?
Ja.
Bitte schön.
Wir sind ja nicht mehr in der Opposition vereint. Der
Kollege Wolff wird mir, wie ich ihn kenne, sicherlich
eine Frage zum Waffenrecht stellen.
Hartfrid Wolff (FDP):
Lieber Herr Kollege Wieland, vereint waren wir auch
in der Opposition nicht wirklich. Das wird sich jetzt
auch nicht weiterentwickeln, vor allem, weil Sie gerade
zwei Fragen provoziert haben.
Mich würde erstens interessieren, wann das Thema
Fluggastdatenspeicherung aufgekommen ist. War das
nicht zufällig in der Zeit, als Sie gerade an der Regierung
beteiligt waren?
Die zweite Frage, die mich interessieren würde, ist:
Wann ist die Onlinedurchsuchung Ihrer Kenntnis nach
zum ersten Mal sogar ohne gesetzliche Grundlage durch-
geführt worden? Nach meiner Kenntnis war auch das in
einer Zeit, in der die FDP nicht an der Regierung betei-
ligt war.
Herr Kollege Wolff, auf Ihre letzte Frage eine klareAuskunft: Die Onlinedurchsuchung wurde das erste Malohne gesetzliche Grundlage unter Rot-Grün durchge-führt,
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Wolfgang Wielandallerdings ohne dass wir davon Kenntnis hatten
und ohne dass dies überhaupt mitgeteilt wurde.
Auch Sie hatten davon keine Kenntnis. Wir wolltenHerrn Diwell dazu anhören, aber – Sie werden sich erin-nern, Herr Uhl – er ist nicht gekommen. Wir jedenfallshaben als Koalitionspartner nichts davon gewusst.
Als es herauskam, haben wir, damals noch mit Ihnen zu-sammen, auf Aufklärung gedrängt. Dann wurde die On-linedurchsuchung beendet, bis Ihr Innenminister sie erst-mals in das Gesetz aufgenommen hat.Zum Thema Fluggastdaten haben Sie in Ihrem Wahl-programm den wunderbaren Satz geschrieben: Die FDPwill keine Speicherung, und die FDP will keine Weiter-gabe. – Vergleichen Sie einmal selbst, welch ein mickri-ges Ergebnis im Vergleich zu diesen hehren Zielen he-rausgekommen ist.
Sie werden weiterhin gespeichert und weitergegeben.Auch hier haben Sie leider versagt, Herr Kollege.
Jetzt komme ich zur Integrationspolitik. Es wurdeschon zu Recht gesagt, dass das eine gesamtgesellschaft-liche Aufgabe ist. Dieses Thema lässt sich nicht auf denBereich Inneres beschränken. Damit ist es wirklich nichtgetan; denn Integration umfasst viele Bereiche, von derBildung bis zur Religion. Im Bereich Inneres werden al-lerdings die Rahmenbedingungen gesetzt; im BereichInneres sind Hürden errichtet worden. Der KollegeScholz hat schon gesagt: Der Optionszwang muss zuerstfallen. – Er stellt die jungen Ausländer nämlich vor eineAlternative, vor eine Frage, die sie nicht beantwortenkönnen und wollen. Es ist an der Zeit, den Optionszwangnicht nur zu überprüfen, sondern fallen zu lassen.
Auch bei der Einbürgerung muss es endlich Erleichte-rungen geben. Es darf nicht mehr heißen: Der jungeMann, der seit 20 Jahren hier lebt, wird nicht eingebür-gert, weil sein Vater Hartz-IV-Empfänger ist. Das mussaufhören. Hier muss es zu einer Gleichbehandlung kom-men, und hier brauchen wir Erleichterungen. Vor allenDingen darf man keine neuen Hürden aufbauen. WennSie zum Beispiel formulieren, Sie werden prüfen – dasist einer Ihrer x Prüfaufträge –, ob man mit Blick aufeine geprügelte, misshandelte Ehefrau eine Verlänge-rung der Ehebestandszeit vornehmen wird, dann kannich Ihnen sagen: Diese Passagen tragen, genauso wie dieVisa-Warndatei, keine liberale Handschrift. Sie tragendie Handschrift Ihrer beiden Nachbarn, von Herrn Uhlund von Herrn Grindel; er bekennt sich auch dazu.
Das ist eine schwarze Handschrift, mit tiefschwarzerTinte. Auch hier haben Sie leider versagt.
Abschließend zum Waffenrecht – das will ich Ihnenauch noch sagen –: Was ist denn Ihre Antwort auf diewirklich drängenden Fragen, Aggressivität unter Ju-gendlichen, Amokläufe? Sogar der Bund Deutscher Kri-minalbeamter fordert jetzt, dass Waffen aus Wohnungenverbannt werden, und spricht sich gegen Waffen in pri-vater Hand aus. Was machen Sie? Sie wollen – das stehtin Ihrer Koalitionsvereinbarung – die Waffenbestimmun-gen wieder lockern. Das ist verhängnisvoll. Sie habennicht nur keine Antworten auf die drängenden Fragen,
Sie geben an entscheidenden Stellen auch noch die fal-sche Antwort.
Das ist sehr schade.Schließlich und endlich: Minister de Maizière hat ge-sagt, man solle an die Res publica denken, man solle andas denken, was unser Gemeinwesen zusammenhält.Das hätte man ja einmal tun sollen! Dann hätte man sichfragen müssen, ob nicht eine Wende hin zu einer Politik,die den Bürger nicht unter Generalverdacht stellt, die ihnnicht als Sicherheitsrisiko sieht, die ihn als mündigenMenschen sieht, die ihn mitnimmt, die ihm vertraut, not-wendig wäre. Von so etwas ist in Ihrer Koalitionsverein-barung leider in keiner Weise die Rede.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Ich glaube, das Thema innere Sicherheit unddie Frage, welche Sicherheitsgesetze wir brauchen, umin Deutschland Schaden von der Bevölkerung abzuwen-den, ist zu wichtig und sollte uns allen zu ernst sein, um
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Dr. Hans-Peter Uhlso lärmige Reden zu halten, wie Sie es wieder getan ha-ben.
Die Sicherheitsgesetze der vergangenen drei Legisla-turperioden tragen die Handschrift der RegierungsparteiSPD. Zwei davon tragen auch die Handschrift der Grü-nen. Nur die der letzten Periode tragen auch die unsere.Jetzt kann man natürlich Oppositionsreden halten. Siewaren sehr viel leiser, Herr Scholz, vielen Dank!Auch wir, meine Damen und Herren von der FDP, sindder Meinung, dass die Sicherheitsgesetze zum Teil ge-setzgeberische Versuche waren, die durchaus einer Eva-luierung bedürfen. Nach einem Jahr oder nach zwei Jah-ren werden wir sehen – darin sehe ich keine Schande –,ob unsere gesetzgeberischen Versuche tauglich waren, obsie – was Sie befürchtet haben, als Sie in der Oppositionwaren – einen übermäßigen Eingriff in den Kernbereichder Privatsphäre unserer Bürger darstellen oder ob wir sie– was wir befürchten, vor allem ich als alter Praktiker desVollzugs von Gesetzen – aus lauter Sorge, die wir uns umden Schutz des Kernbereichs der Privatsphäre der Bürgergemacht haben, praxisuntauglich formuliert haben. Auchdies kann bei der Evaluierung herauskommen. Dannmüssen wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir dieGesetze so nachbessern, dass sie für unser Land einen Si-cherheitsgewinn bringen. Wir wollen also gemeinsamevaluieren und dann ganz leise, ganz sachlich, ganz ruhigdarüber reden, Herr Wieland.
Wir werden in Zeiten angespannter Haushaltslageauch im Sicherheitsbereich nicht mit weiteren Planstel-len in Hunderterzahl rechnen können. Deswegen werdenwir uns Gedanken machen müssen, wie man die vorhan-denen Kräfte bündeln kann. Bei der Bundeszollverwal-tung zum Beispiel sind viele Tausend Beamte. Die Fi-nanzkontrolle Schwarzarbeit und andere wollen in denBereich der Sicherheitsbehörden, in den Bereich des In-nenministeriums überwechseln. Darüber wird zu verhan-deln sein mit dem Bundesfinanzminister, der Ihnen ja alsehemaliger Innenminister bekannt ist.Im Bereich der nationalen Küstenwache sind dieKompetenzen auf fünf Bundesministerien sowie aufLandesministerien verteilt. Wir werden darüber zu redenhaben, wie wir das effizienter gestalten, ohne neue Plan-stellen zu schaffen; denn das Geld dafür haben wir nicht.Wir werden uns auch die Kompetenzen der Bundespoli-zei, vor allem bei Einsätzen im Ausland, genau an-schauen.Bundesinnenminister de Maizière hat schon ange-sprochen, dass wir – das halte ich für sehr wichtig – dieZeichen der Zeit erkannt haben. Unsere Sicherheit wirdheute völlig anders bedroht als noch vor einigen Jahr-zehnten. Mussten wir zur Zeit des Kalten Krieges be-fürchten, dass Panzer über die Elbe kommen, ist in unse-rer Zeit das Aufmarschgebiet feindlicher Kräfte dasInternet: Unsere Kommunikation als Privatperson wirdbedroht durch organisierte Kriminalität. Die Kommuni-kation unserer Wirtschaft wird bedroht durch Wirt-schaftsspionage aus dem Ausland wie aus dem Inland.Unsere Kommunikation in den Behörden wird durch dasAusspionieren durch ausländische Mächte bedroht.Das sind die neuen Herausforderungen unserer Zeit.Hier gilt es, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Des-wegen sind wir froh darüber, dass wir das Bundesamt fürSicherheit in der Informationstechnik haben. Wir wollendiese Fähigkeiten ausbauen und uns Gedanken darübermachen, wie wir uns hier besser aufstellen können. DasAusland, etwa Amerika, Frankreich und andere Länder– auch England –, ist hier schon sehr viel weiter als wir.Bitte denken Sie hier gemeinsam mit.Durch den elektronischen Personalausweis wird eszu einer Revolution für den Bürger kommen, indem erihn nutzen kann, wenn er Behördengänge machen muss.Er wird vieles von zu Hause aus erledigen können.Durch den Personalausweis mit elektronischer Signaturwird es zu einer Revolution auf der Anwenderseite kom-men, zum Beispiel im privaten Rechtsverkehr, indem Sievon zu Hause aus unter Einsatz dieses Mediums Verträgeschließen können. Dies alles sind Neuerungen von epo-chaler Bedeutung.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der mir sehrwichtig ist. Es geht um das Thema Datenschutz, dasschon hinreichend diskutiert wurde. Auch wir legen gro-ßen Wert darauf, dass der Arbeitnehmerdatenschutzendlich verwirklicht wird. Ich bin froh darüber, dass jetztdas Bundesinnenministerium dafür zuständig ist. Hierwird in Kürze ein Gesetzentwurf vorgelegt werden, mitdem wir auf diesem Gebiet weiterkommen. Es kannnicht angehen, dass privateste Daten von Arbeitnehmern– von Gesundheitsdaten bis hin zu Daten über das außer-dienstliche Verhalten –, die den Arbeitgeber nichts ange-hen, bei diesem gespeichert und missbräuchlich verwen-det werden können. Das muss ein Ende haben.
Mitten in dieser vierjährigen Legislaturperiode – ge-nauer gesagt: am 6. Juli 2011 – wird eine Entscheidunggetroffen, die für uns von großer Bedeutung ist. Es gehtdarum, ob Deutschland das Vertrauen der internationalenSportgemeinschaft erhält, die Winterolympiade 2018auszutragen. Das ist ein nationales und nicht nur einbayerisches oder ein Münchener Vorhaben.
Diese Frage, ob wir die Olympischen Spiele in Deutsch-land ausrichten können, wird im Jahre 2011 entschieden.Ich meine, wir alle sollten uns gemeinsam anstrengen,dass es gelingt, den Zuschlag zu bekommen.
Die Olympischen Spiele sind viel mehr als ein Sport-fest; sie verbinden die Menschen. Die olympischenRinge sind das bekannteste Symbol in dieser Welt;
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Dr. Hans-Peter UhlMilliarden von Menschen kennen und bewundern es.Deswegen meine ich, dass wir alles tun und dafür sorgenmüssen – auch hier im Bundestag –, dass wir den Zu-schlag bekommen.Alles in allem: Herr Scholz, ich verstehe ja, dass esnach elf Jahren Regierung nicht einfach ist, den Weg indie Opposition zu gehen. Erklären Sie aber bitte nichtalle Sicherheitsgesetze für falsch, die Sie mit uns und zu-vor mit den Grünen verabschiedet haben.Ich verstehe, dass Herr Wieland, seinem Naturell ge-recht werdend, hier so aufgetreten ist, wie er es immertut.
Behalten aber bitte auch Sie die Contenance. Sie könnennicht alle Sicherheitsgesetze, die Sie unter Schily ge-meinsam beschlossen haben, für falsch erklären.Ich möchte auch an die FDP eine Bitte richten. AlsOppositionspolitiker redet man natürlich anders, alswenn man in der Regierungsverantwortung ist.
Das ist ganz normal; das haben wir auch getan. WennSie aber in der Regierungsverantwortung sind und Ihnendie Fachleute sagen, dass Sie Gefahren für die Bevölke-rung abwenden könnten, wenn Sie zum Beispiel das In-strument der Onlinedurchsuchung, der Telefonüberwa-chung, der Vorratsdatenspeicherung oder anderes mehrhätten, dann müssen Sie Ihrer Verantwortung bitte auchgerecht werden.
Wenn Sie dann auch wieder Nein sagen, wie in der Op-position, dann laden Sie Schuld auf sich, und das könnenSie nicht tun.
Ich bitte also darum, dass wir die Sache gemeinsamangehen. Es geht um die Sicherheit unserer Mitmen-schen. Dafür sollten wir tunlichst an einem Strang zie-hen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben hier erste Anzeichen für eine offenbar wunderbareKoalition kennengelernt.
Offenbar handelt es sich um eine tief empfundene,wechselseitige Freundschaft. Ich bin sehr gespannt aufdie Zusammenarbeit.Herr Minister de Maizière, insgesamt haben Sie eineganz ordentliche Rede gehalten, die Rede eines liberalenKonservativen. Ich habe es nicht anders erwartet.Gleichwohl – jetzt wird es ganz ernst und vielleicht auchein bisschen bitter – bin ich über die ersten Tage IhrerAmtstätigkeit tief enttäuscht. Sie haben Ihre Arbeit miteiner schweren Hypothek belastet. Lassen Sie mich dasin aller Ernsthaftigkeit ausführen.Ihr Amtsvorgänger, Dr. Wolfgang Schäuble, warzweimal Innenminister. Ich habe ihn in den letzten vierJahren begleiten können. Dieser Mann hat, wie es bei In-nenministern der Fall ist, viele Entscheidungen treffenmüssen, weniger wichtige, wichtige und auch sehr wich-tige. Am wichtigsten und qualifiziertesten war die vonihm persönlich getroffene Entscheidung, den Präsiden-ten des Bundesnachrichtendienstes, Herrn Dr. AugustHanning, zum beamteten Staatssekretär zu machen.Diesen Menschen haben Sie, Herr Minister, unter nachmeiner persönlichen Überzeugung unwürdigen Umstän-den vorzeitig aus dem Amt entlassen. Ich halte das vonder Sache her für indiskutabel und falsch; menschlichhalte ich das für unterirdisch. Ich muss Ihnen das hier inaller Ernsthaftigkeit sagen.Ich habe den Eindruck, dass es in Ihrem Hausebrennt. Durch diese, wie ich finde, falsche Entscheidunglaufen Sie Gefahr, das Vertrauen Ihrer engsten Mitarbei-ter zu verlieren. Ich bin darüber überhaupt nicht glück-lich. Bei den Kollegen von der Koalition herrscht hierzubetretenes Schweigen. Sie wissen sehr genau, worum esgeht, und wissen, dass ich an dieser Stelle recht habe.
Ich akzeptiere natürlich, dass Sie Ihr persönlichesUmfeld selber bestimmen.
Der frühere Staatssekretär August Hanning hat aber indiesem Amt im Innenministerium Außerordentliches fürunser Land geleistet. Er hat es nicht verdient, ein Jahrvor der Altersgrenze auf diese Weise vorzeitig in denRuhestand geschickt zu werden.Noch einmal: Ich bedauere das sehr. Ich betone: Dasist eine schwere Hypothek, mit der Sie Ihre Amtszeit amAnfang belasten. Herr de Maizière, es ist ein Fehler, derleider nicht korrigierbar ist; er wird Ihnen bleiben.
Nehmen Sie es bitte so, wie ich es sage! Ich bin keines-wegs besonders glücklich darüber, dass ich das an dieserStelle sagen muss. Eigentlich wäre ich eher geneigt ge-wesen, mich etwas freundlicher mit Ihnen auseinander-zusetzen.
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Dr. Dieter Wiefelspütz– Dr. Uhl, was ist denn eigentlich mehr zur Sache alssolch ein Thema! Das ist keine Petitesse. Es ist von er-heblicher Bedeutung, wie man miteinander umgeht undwelche Sachentscheidungen man trifft.
Die Tatsache, dass Sie so aufgeregt reagieren, machtdoch deutlich, wie sehr der Hieb sitzt.
Kollege Scholz hat die etwas flache Koalitionsver-einbarung angesprochen. Auch ich habe mir überlegt,wie man das werten kann. Ich komme zu folgendem Er-gebnis: Man hatte keine neuen Ideen, weder positivenoch negative, weil wir in der Kontinuität elfjähriger Re-gierungsmitverantwortung der SPD im Bereich der In-nenpolitik ein Ergebnis erzielt haben, das offenbar einbestimmtes Niveau erreicht hat, von dem niemand he-runter will oder kann. Deswegen fällt dieser Koalitiondazu nichts Entscheidendes ein. Alles, was in den ver-gangenen Jahren auf den Oppositionsbänken massiv kri-tisiert worden ist, ist im Kern von vorne bis hinten erhal-ten geblieben. Da sind Papiertiger durch die Gegendgelaufen. Das Ergebnis ist: Das BKA-Gesetz, nach mei-ner festen Überzeugung das beste Polizeigesetz, das wirin Deutschland haben,
ist im Kern unverändert geblieben. Ich bin sehr ge-spannt, wie diese Klagen aussehen.
So gesehen ist nach elf Jahren Regierungsverantwor-tung der SPD in Deutschland immerhin ein Niveau er-reicht worden, das von Ihnen nicht in Zweifel gezogenwird. Unter anderem deswegen ist Ihre Koalitionsverein-barung so unendlich matt.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von derFDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habegestern mit Freude die Aussagen des CDU/CSU-Frak-tionschefs Volker Kauder gehört. Er sagte, wir wollenPolitik machen, die ideologiefrei und vorurteilsfrei ist.Genau diese Politik wird die neue Bundesregierung ma-chen.
Die Abwägung zwischen Freiheitsrechten und Si-cherheit ist meines Erachtens nicht auf die Frage nachSchuld und Unschuld zu reduzieren. Verfassungsrechthat mit dieser einfachen Frage nach Schuld und Un-schuld wenig zu tun, gerade wenn es darum geht, Men-schenrechte und Bürgerrechte zu stärken.
Deutschland verändert sich, und die neue Bundesre-gierung wird diese Veränderungen gestalten. Einigekrabbeln langsam wieder in die Schützengräben, anderekommen heraus.
Das ist gut so. Insbesondere im Bereich der Migrations-und Integrationspolitik macht es sehr viel Sinn, sich die-ser Herausforderung zu stellen; sie bietet auch neueChancen.Die Koalition hat sich auf eine konsequente Steue-rung der Zuwanderung nach Deutschland und eine ak-tive Integrationspolitik geeinigt. Wir wollen die Attrakti-vität Deutschlands für Hochqualifizierte steigern undbürokratische Hindernisse für qualifizierte Arbeitnehmerabbauen. Denn die Zuwanderung von Hochqualifiziertenund Fachkräften schafft neue Arbeitsplätze auch inDeutschland und stärkt den Standort Deutschland.Der Zugang von ausländischen Hochqualifizierten undFachkräften muss – ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag –„systematisch an den Bedürfnissen des deutschen Ar-beitsmarkts ausgerichtet und nach zusammenhängenden,klaren, transparenten und gewichteten Kriterien wie bei-spielsweise Bedarf, Qualifizierung und Integrationsfä-higkeiten gestaltet werden.“ Herr Koschyk wird sich gutan diese Formulierung erinnern. Das ist eine sehr schöneund gute Darstellung von dem, was wir in Zukunft ma-chen wollen.Die Integration von Menschen mit Migrationshinter-grund ist für Deutschland eine Schlüsselaufgabe. Wirwollen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus Zuwanderer-familien alle Chancen eines weltoffenen Landes eröff-nen und ihre gesellschaftliche, wirtschaftliche und kultu-relle Teilhabe ermöglichen. Das erfordert umgekehrtaber auch die entsprechende Integrationsbereitschaft derZuwanderer. Das Beherrschen der deutschen Sprache istGrundvoraussetzung für Bildung und Ausbildung, fürIntegration in den Beruf, für Partizipation und sozialenAufstieg. Dazu werden wir die Integrationskurse quanti-tativ und qualitativ aufwerten.Lieber Herr Scholz, bei der Ankündigung eines Aner-kennungsgesetzes wollen wir es eben nicht belassen. Siewaren sehr gut darin, kurz vor Ende der Legislaturperio-de das eine oder andere anzukündigen. Wir wollen esumsetzen, und wir werden es auch machen. Die Aner-kennung von ausländischen Abschlüssen ist einer der
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Hartfrid Wolff
wichtigsten Bereiche. Damit können wir für eine ver-nünftige Integrationspolitik sorgen.
Auch in einem anderen Punkt ist der neuen Koalitioneine lang überfällige Einigung gelungen. Wenn bei langegeduldeten, gut integrierten Ausländern ohne festenAufenthaltsstatus eine Abschiebung nicht mehr vertret-bar ist, muss dem durch eine vernünftige und unbürokra-tische Regelung auf Bundesebene Rechnung getragenwerden. Hier gilt es zunächst, die zum Jahresende aus-laufende Regelung zeitgerecht so anzupassen, dass wirdie notwendige Zeit gewinnen, eine tragfähige gesetzli-che Grundlage für ein Bleiberecht zu schaffen, um nach-haltig den nicht mehr verständlichen Zustand anzuge-hen, den wir derzeit in einigen Bereichen haben.Ein humanitärer Fortschritt ist es auch, dass wir dieaufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicherStellen ändern, um den Schulbesuch von Kindern zu ge-währleisten.
Das ist ein humanitäres Muss.
Ideologiefreie, sachorientierte Politik wird ein Mar-kenzeichen der neuen Koalition: ideologiefrei in derAusländer- und Integrationspolitik, mit Augenmaß in derSicherheits- und Datenschutzpolitik, an Lösungen stattan aktuellen Stimmungsschwankungen ausgerichtet,auch in Bereichen wie dem Waffenrecht und dem Bevöl-kerungsschutz. Das wird die Zukunft der Innenpolitiksein. Sie wird vernünftig werden, Herr Kollege Wieland.Sie werden es merken.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieneue Bundesregierung ist angetreten und will sofort dienotwendigen Programme gegen Rechtsextremismusschwächen und ausdünnen. Sie sollen irgendwie – wohl-gemerkt: irgendwie – auf jede Form des Extremismusausgedehnt werden. Ich sage Ihnen ganz klar: Wer sol-che Pläne umsetzen will und den bisherigen Konsensgegen rechts aufkündigt, riskiert bewusst, dass NazisOberwasser gewinnen. Das sagen auch renommierteProfessoren, deren Stellungnahme heute den Medien zuentnehmen ist. Zum Beispiel sagen sie, dass die Gleich-setzung der unterschiedlichen Extremismusformen den„Denkschablonen des Kalten Krieges“ entspricht. MeineDamen und Herren, Sie können doch nicht ernsthaft dieAugen davor verschließen, dass Neonazis seit 1990141 Menschen ermordet haben. Es sind Nazis – undnicht Linke –, die mit ihrem Terror ganze Regionen do-minieren und Menschen, die ihnen als nicht deutsch oderals Andersdenkende erscheinen, täglich mit Gewalt undMisshandlung drohen.
Die Nazi-NPD hat eine Stammwählerschaft, wie wirin Sachsen sehen. Statt aber diese Herausforderung an-zunehmen, führt die Regierung ein Schattenboxen auf.Ihre schärfste Waffe im Kampf gegen Extremismus sollsein, die Verklärung der DDR-Vergangenheit zu verhin-dern, wie es im Koalitionsvertrag heißt.
– Dieser abseitige Zusammenhang gefällt mir in der Tatnicht. – Ich bin der Meinung: Wer den Kampf gegen denRechtsextremismus verwässert und schwächt, handeltbrandgefährlich. So heißt es in der heute veröffentlichtenStellungnahme der Professoren: Man kann davon ausge-hen, dass die Naziszene diese Schwerpunktverlagerung„geradezu als mutmachende Geste begrüßt“. – Das wäreeine fatale Entwicklung. Diese lehnt die Linke auf jedenFall ab.
Ich will noch einen anderen Bereich ansprechen, dieAsyl-, Migrations- und Integrationspolitik. Die Folgender wirtschaftlichen Krise werden vor allen Dingen Mi-granten und Flüchtlinge zu spüren bekommen. Zehntau-senden Menschen droht möglicherweise ein Durchfallenbei der Bleiberechtsregelung, weil sie keinen Job ha-ben, der ihre Familien ausreichend ernährt. Was steht imKoalitionsvertrag dazu? – Nichts, kein Wort!
Die FDP hat sich gerade dies und meiner Meinung nachnoch einige andere Punkte auf die Fahnen geschrieben.Ich nenne als Beispiel die vielfältigen Schikanen fürAsylsuchende. Wo wollen Sie die Residenzpflicht ab-schaffen? Die Beschränkungen für Flüchtlinge bei denSozialleistungen bleiben bestehen.Auch in der Integrationspolitik wurde nichts Sub-stanzielles vereinbart.
Beim Staatsangehörigkeitsrecht bleibt alles beim Alten.Die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Dritt-staatsangehörige hat es noch nicht einmal zu einem Prüf-auftrag geschafft. Es bleibt weiterhin beim Arbeitsverbotfür Asylbewerber. Ich halte es für einen ziemlichenSkandal, dass hier noch nicht einmal ein Millimeter-schritt gemacht worden ist.
Unser Fazit lautet: Die neue Bundesregierungschwankt zwischen ideologischen Rückfällen in alte Zei-ten und einem billigen Weiter-so. Sie können sich darauf
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Ulla Jelpkeverlassen: Die Linke wird zusammen mit Flüchtlings-organisationen, Menschenrechtsorganisationen, Kirchenund Wohlfahrtsverbänden entschiedenen Widerstand da-gegen leisten, dass Sie hierzu nichts im Koalitionsver-trag festgeschrieben haben.Danke.
Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Jelpke, Sie haben die Neuorientierung unsererExtremismusprogramme angesprochen, und Herr Kortekritisiert, dass die Linke, zumindest in Teilen, vom Ver-fassungsschutz beobachtet wird.
Heute hat die Leiterin des Berliner Verfassungsschutzesdarauf hingewiesen, dass die Tendenzen bei Ihrer Parteizunehmen, mit militanten linken Gruppierungen ge-meinsame Sache zu machen.
Ich verweise darauf, dass Ihre Abgeordnete HögerBrandanschläge auf Bundeswehrfahrzeuge in Berlin ge-rechtfertigt und dafür Verständnis geäußert hat.
Wer so etwas Unmögliches tut, der darf sich nicht wun-dern, wenn der Verfassungsschutz genau hinschaut.
Herr Scholz und Frau Kollegin Ziegler – Sie habendie Gelegenheit, nach mir zu sprechen –, es ist das SPD-geführte Innenressort hier in Berlin, das diese Sorgen ge-äußert hat. Es sind Ihre Koalitionspartner, mit denen Siejetzt in Berlin und Brandenburg gemeinsame Sache ma-chen, die mit militanten Gruppen gemeinsame Aktionendurchführen. Auch daran muss man bei so einer Gele-genheit erinnern.
Insofern bleibt es dabei: Für uns kommt es auf denKampf gegen jede Form von Extremismus an, gegenRechts- und Linksextremismus, Antisemitismus und Is-lamismus. Das ist unsere Linie, die wir in den kommen-den vier Jahren vertreten werden.
Herr Kollege Wiefelspütz, Sie haben das Niveau derSPD-Innenpolitik und der SPD-Innenminister angespro-chen. Der Kollege Scholz kritisiert, dass wir uns beimThema Onlinedurchsuchung darauf verständigt haben,dass der BGH-Richter zuständig ist. Ich muss den Hin-weis des Kollegen Wolff aufgreifen. Sie haben nochnicht einmal eine Rechtsgrundlage gehabt, Sie haben nurein Dekret des Bundesinnenministers Schily und seinesStaatssekretärs Diwell gehabt. Damit haben Sie Online-durchsuchungen durchgeführt. Sie sind nun wirklich derAllerletzte, der irgendwelche kritischen Anmerkungenbei diesem Thema machen kann, was Rechtsstaatlichkeitangeht.
Zu Recht ist in unserem Koalitionsvertrag sehr vielvon Integrationspolitik die Rede. Wir brauchen verant-wortungsbewusste Integration. Das bedeutet, jeder, derfür das Gelingen der Integration verantwortlich ist, musssich auch der Verantwortung stellen. Der Bund tut dasmit einer weiteren Verbesserung der Integrationskurseund der Eingliederung von Migranten in den Arbeits-markt. Das betrifft natürlich auch die Aufnahmegesell-schaft, vor allem die Kommunen. Hier ist vor allen Din-gen die Verbesserung der frühkindlichen Erziehung vonzentraler Bedeutung. Aber das betrifft eben auch die Mi-granten selber. Es gibt viele junge Migranten, die Abiturmachen und studieren. Es gibt vielfältige Integrations-erfolge. Wenn man sich diese gelungenen Integrations-karrieren anschaut, dann stellt man fest, dass in aller Re-gel die Eltern mit dazu beigetragen haben, weil sie aufSpracherwerb Wert gelegt und ihren Kindern eine Bil-dungsperspektive gegeben haben. Deshalb heißt unsereKonsequenz, die sich auch sehr präzise im Koalitions-vertrag wiederfindet: Ja, wir müssen noch mehr tun, aberunsere Integrationsangebote müssen auch angenommenwerden. Angebot und Annahme durch die Migranten– Eltern und Kinder gehören zusammen –, Fördern undFordern, das ist unser Leitmotiv, das sich sehr präzise imKoalitionsvertrag wiederfindet. Das ist auch richtig so.
Es bleibt beim verbindlichen Sprachnachweis vordem Ehegattennachzug, weil wir gerade damit die Fami-lien, die eher abgeschottet, eher integrationsfern in unse-rem Land leben, darauf aufmerksam machen wollen,dass es ohne Deutsch nicht geht, erst recht nicht für dieKinder. Sie haben völlig zu Recht angesprochen: Waswir dringend in Angriff nehmen müssen, ist, die Qualifi-kationsschätze von vielen Migranten zu heben, die seitvielen Jahren bei uns leben. Deshalb wollen wir einengesetzlichen Anspruch auf schnelle Verfahren zur Aner-kennung von ausländischen Bildungsabschlüssen. Taxi-fahrer haben wir genug in unserem Land. Wir brauchenÄrzte und Ingenieure. Die haben wir reichlich im Land.Mit entsprechenden Qualifizierungen und Anerkennun-gen wollen wir erreichen, dass diese hochkompetentenMigranten in ihrem angestammten Beruf bei uns arbei-ten und zu unserem Wohlstand beitragen können.
Lieber Herr Kollege Scholz, Sie haben die Frage einerweiteren Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte aufden deutschen Arbeitsmarkt angesprochen. Ich ratedazu, die Arbeitsmarktentwicklung in unserem Land undvor allen Dingen die Auswirkungen der Freizügigkeitabzuwarten, die wir nach 2011 für alle Arbeitnehmer in-
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Reinhard Grindelnerhalb der Europäischen Union haben werden. DieGrenzen fallen. Ich sage in aller Deutlichkeit: Wir wol-len an der Vorrangprüfung festhalten. Sie muss unbüro-kratisch ausgestaltet werden – okay, Herr Kollege Wolff.Wir wollen, dass jeder Mittelständler, jeder Unterneh-mer, der sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt keine Ar-beitskraft verschaffen kann, die Chance hat, ausländi-sche Arbeitskräfte ins Land zu holen. Aber wir wollenkeine ungesteuerte Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt,um billige und willige Arbeitskräfte ins Land zu holen.Es wundert mich, dass Sie als ehemaliger Arbeitsminis-ter einer solchen Politik das Wort reden, Herr Scholz.
Im Kern geht es auch beim Thema Bleiberechtsrege-lung darum, Qualifikationsschätze zu heben und einekluge Integrationspolitik zu betreiben. Wir, die Koali-tion, gehen davon aus, dass die Innenministerkonferenzim Dezember eine Verlängerung der Bleiberechtsrege-lung vereinbaren wird. Ich finde, dass wir darüber hinauszu einer grundlegenden Lösung für Familien kommensollten, die sich lange in Deutschland aufhalten und de-ren Kinder hier erfolgreich zur Schule gehen. Wir solltendiesen Familien ein Bleiberecht geben, damit ihre Kin-der in Ruhe einen Schulabschluss und eine Ausbildungmachen können. Wir wollen den Erfolg aller Kinder,auch solcher, deren Aufenthalt bisher geduldet wordenist und für die Deutschland mittlerweile eine neue Hei-mat geworden ist. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam,der Bundesinnenminister, die Koalitionsfraktionen unddie Länder, an einer solchen Lösung arbeiten. MeineFraktion ist dazu ausdrücklich bereit, vor allen Dingenim Interesse der Kinder, für die unser Land Heimat ge-worden ist.
Wir haben gehört, dass der Bundesinnenminister dennotwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt ange-sprochen hat. In Zeiten, in denen man immer öfter hört„Was bringt mir das? Was habe ich davon?“, ist es wohl-tuend, zu sehen, wie viel ehrenamtliches Engagementwir in unserem Land haben. Wir sollten hier über Sonn-tagsreden hinauskommen. Wir sollten im Alltag vielenEhrenamtlichen ganz praktisch, unbürokratisch und mitder Unterstützung, die wir im Rahmen des finanziellMöglichen geben können, helfen, ihre Arbeit zu beför-dern. Das heißt für unseren Bereich, vor allen Dingen diefreiwilligen Feuerwehren und das Technische Hilfswerkzu unterstützen. Ich benenne in diesem Zusammenhangeinen ganz konkreten Punkt: Wir müssen zum Beispielmit den Verkehrspolitikern darüber diskutieren, wie esgelingt, eine unbürokratische feuerwehrinterne Lösunghinsichtlich der Führerscheine von Feuerwehrleuten zufinden. Es hat etwas mit Sicherheit, mit Schutz unsererMitbürger und mit Unterstützung ehrenamtlichen Enga-gements zu tun, dass wir in diesem konkreten Fall unse-ren freiwilligen Feuerwehren zur Seite stehen.
CDU, CSU und FDP haben die Koalitionsverhand-lungen in den Bereichen Inneres und Justiz zügig abge-schlossen. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,wir haben uns in unserer Verhandlungsgruppe geeinigt.Wir haben gesagt: Wir brauchen nichts an die großeRunde abzugeben; das schaffen wir alles selber. Wir ha-ben diese Verhandlungen in einem guten Geist geführt.Ich bin ganz sicher, dass wir im Interesse der Menschenin unserem Land und zum Wohle der Sicherheit unseresLandes gute vier Jahre miteinander haben werden.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Ziegler von
der SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrter Herr de Maizière, auch vonmir herzlichen Glückwunsch und viel Erfolg bei IhrerAmtsführung. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie sichmit Ostdeutschland so verbunden fühlen. Mir als gebür-tiger Ostdeutschen, die nach der Wende zunächst als eh-renamtliche Bürgermeisterin in die Politik gekommenist, als Abgeordnete und Ministerin in Brandenburg tätigwar, liegt dieses Thema natürlich besonders am Herzen.Wir haben vor zwei Tagen den Fall der Mauer gefei-ert, und wir haben uns an den 9. November 1989 mitRespekt vor den Menschen in Ostdeutschland erinnert.Wir haben in Ost und West nicht ohne Stolz auf das zu-rückgeblickt, was wir in den letzten zwei Jahrzehnten fürdie soziale Einheit Deutschlands gemeinsam erreicht ha-ben.Klar ist: Der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte.Klar ist aber auch, dass immer noch tiefgreifende struk-turelle Probleme in Ostdeutschland bestehen, die weiter-hin große Anstrengungen und besondere Hilfen für denOsten notwendig machen.
Es liegt im gesamtdeutschen Interesse, gleichwertigeLebensverhältnisse in Ost und West zu verwirklichen.Das heißt konkret, erstens die Wirtschafts- und Innova-tionskraft zu erhöhen, zweitens die sozialen Spannungenabzubauen und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und,drittens, die demografischen Herausforderungen zumeistern und eine gute öffentliche Daseinsvorsorge zugewährleisten.Das alles ist aber kein Selbstläufer. Dafür ist politi-sches Handeln gefragt. Der Koalitionsvertrag von Unionund FDP ist jedoch in dieser Hinsicht eine herbe Enttäu-schung. Die neue Bundesregierung hat kein politischesGesamtkonzept für Ostdeutschland, keinen Fahrplan,keine neuen Ideen und offensichtlich auch gar keinenEhrgeiz.
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Dagmar ZieglerStattdessen gibt es eine weitere Expertenkommission,sozusagen als Ausdruck der eigenen Einfallslosigkeit.Wer den Koalitionsvertrag aus dem Blickwinkel Ost-deutschlands liest, stellt aber noch etwas fest: DieseBundesregierung gefährdet mit ihrer Politik der sozialenSpaltung das Ziel der sozialen Einheit unseres Landes.
Ich nenne Ihnen drei Beispiele, die in Ost und West wir-ken, aber im Osten um ein Vielfaches negativer.Erstes Beispiel: die Steuerpolitik. Um die soziale Ein-heit Deutschlands zu vollenden, müssen wir die Wirt-schafts- und Innovationskraft Ostdeutschlands stärken.Dafür brauchen wir Investitionen in Bildung, in For-schung, in Infrastruktur. Die Voraussetzung dafür sindaber handlungsfähige Länder und handlungsfähige Kom-munen. Mit Ihren Steuerplänen setzen Sie die notwendigeHandlungsfähigkeit der öffentlichen Hand jedoch fahr-lässig aufs Spiel. Damit schaffen Sie eben nicht Ihr hoch-gepriesenes Wachstum. Sie gefährden es,
und Sie gefährden Beschäftigung und eine gute Daseins-vorsorge. Gerade für den Osten wäre das fatal.Zweites Beispiel: die Arbeitsmarktpolitik. Wir brau-chen gute Arbeit und faire Löhne. Wir brauchen mehrsozialversicherungspflichtige Beschäftigung, gleicheLöhne in Ost und West und einen allgemeinen gesetzli-chen Mindestlohn.
Wir müssen auch die Arbeitslosigkeit weiter bekämpfen,gerade auch die Langzeitarbeitslosigkeit, die im Ostennach wie vor doppelt so hoch ist wie im Westen. Dafürbrauchen wir gerade in der Krise eine aktive und voraus-schauende Arbeitsmarktpolitik. Wir haben die Stich-worte Kurzarbeit und Qualifizierung bereits gehört. Ichdenke aber auch an den Kommunalkombi für Langzeit-arbeitslose. Was aber macht Schwarz-Gelb? Sie wollendie Arbeitsmarktinstrumente deutlich reduzieren undstellen die aktive Arbeitsmarktpolitik gänzlich infrage.Das Gleiche beim Thema Mindestlohn. Sie lehnen denallgemeinen gesetzlichen Mindestlohn ab und stellenschon beschlossene Mindestlöhne wieder infrage.
Damit machen Sie Billiglöhne im Osten zum Programm.Dabei unterstelle ich Ihnen gar keine Blauäugigkeit; dasist pure Absicht. Sie handeln zwar nicht blauäugig, aberSie verdienen da zwei blaue Augen.
Drittes Thema: die Gesundheitspolitik. Zu den not-wendigen Antworten auf die demografischen Herausfor-derungen in den neuen Bundesländern gehört ein solida-risches und gerechtes Gesundheitssystem. Sie aberplanen die Entsolidarisierung des Gesundheitswesensund die Regionalisierung der Krankenversicherung, undzwar insbesondere zulasten der Menschen in den neuenLändern. Ihre Politik bedeutet im Konkreten: höhereBeitragsbelastung bei weniger Leistung. Da das Lohn-niveau im Osten leider immer noch niedriger ist als imWesten, trifft Ihre Politik die Beitragszahlerinnen undBeitragszahler im Osten besonders hart.Auch mit den geplanten Veränderungen beim Risiko-strukturausgleich benachteiligen Sie vor allem die Kran-kenkassen in den neuen Ländern.Das wird logischerweise zu höheren Zusatzbeiträgenim Osten führen müssen. Gestern habe ich aus den Rei-hen der CDU gehört, dass es da auch Bauchschmerzengibt. Aber hier hilft nicht der Rat des Arztes oder Apo-thekers, da hilft ganz einfach ein Abführmittel. FührenSie einfach diese Pläne dorthin ab, wohin sie gehören,und spülen Sie kräftig nach!
Die SPD erwartet von Ihnen, Herr Minister, ganz kon-kret, dass Sie Ihrer Verantwortung als Beauftragter fürOstdeutschland nachkommen und sich in der Regierunggegen eine solche Politik der Spaltung einsetzen. Dazugehört im Übrigen auch, dass endlich die Pläne zur An-gleichung der Ostrenten verwirklicht werden.
Wenn Kollegen Ihrer Regierung anfangen, Ost und Westgegeneinander auszuspielen, so wie es Herr Ramsauerschon einmal versucht hat, erwarten wir von Ihnen, dassSie ihm mit klaren Worten Paroli bieten und nicht dazuschweigen.Ich erwarte, dass wir spätestens zum 30. Jahrestagsdes Mauerfalls gemeinsam sagen können, dass wir diesoziale Einheit unseres Landes auch tatsächlich verwirk-licht haben. Viel Glück dabei!
Frau Kollegin Ziegler, ich gratuliere auch Ihnen zuIhrer ersten Rede hier im Deutschen Bundestag. Ichhoffe, dass Sie noch viele Reden halten werden.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereichliegen nicht vor.Wir kommen nun zu dem Bereich Recht. Als ersteRednerin hat die Bundesministerin der Justiz, FrauSabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! 20 Jahre nach dem Sieg der friedlichen Revolutionin der DDR über den Überwachungsstaat gilt der mate-rielle Rechtsstaat in ganz Deutschland. Wir haben dieAufgabe, ihn ständig bestmöglich auszurichten. Wirmüssen den Bürgern Rechtssicherheit geben. Aber diesmuss immer so geschehen, dass die Privatsphäre des
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerEinzelnen geschützt ist und der Bürger Vertrauen in denRechtsstaat haben kann. Seit dem 11. September 2001haben viele Gesetze Bürgerrechte eingeschränkt undstaatliche Überwachungsbefugnisse ausgeweitet. Dashat mit dazu geführt, dass manche Menschen nicht mehrdas nötige Vertrauen in den Rechtsstaat haben, sondernihm mit Misstrauen gegenüberstehen.Unser Grundsatz, niedergelegt in der Koalitionsver-einbarung, ist: kein Weiter-so mit dem Stakkato immerneuer Gesetze in der Sicherheitspolitik.
In Zukunft haben die konsequente Anwendung der be-stehenden Gesetze und die Beseitigung von Vollzugs-defiziten immer Vorrang vor der Schaffung neuer Ein-griffsbefugnisse für den Staat. In diesem Sinne werdenwir die rechtsstaatlichen Korrekturen und Gesetzesent-schärfungen vornehmen, die in der Abwägung von Frei-heit und Sicherheit verantwortbar sind und den Bürgerstärken.
Dazu haben wir sehr konkrete Vereinbarungen getrof-fen. Wir werden den Schutz der Berufsgeheimnis-träger verbessern, indem wir die falsche Aufspaltungdes Berufes der Anwaltschaft in Anwälte und Strafver-teidiger wieder aufheben.
Wir werden die entsprechenden Regelungen ändern undschnellstmöglich einen Gesetzentwurf dazu vorlegen.
– Herr Wieland, natürlich haben Sie nie genug.
Wir haben in diesen Punkt des Koalitionsvertrages aus-drücklich hineingeschrieben, dass wir in Bezug auf eineweitere Ausdehnung des Berufsgeheimnisträgerschut-zes prüfen werden – möglicherweise nach dem Vorbilddes § 100 c Abs. 6 StPO –, inwieweit das mit der Durch-setzung des Strafverfolgungsanspruches vereinbar ist.Wir ändern, und wir prüfen. Wir sind auf dem richtigenWeg und machen das, was wir angekündigt haben.
Konkret vereinbart haben wir auch die Änderung derKronzeugenregelung. Diese Regelung muss rechts-staatlich wieder richtig ausgerichtet werden; das heißt,eine Berücksichtigung der Aussage bei der Strafzumes-sung darf nur dann erfolgen, wenn ein Bezug zur vorge-worfenen Tat hergestellt werden kann.
Wir werden – auch das ist konkret vereinbart – diePressefreiheit stärken. Journalisten werden in Zukunftbesser vor Beschlagnahmungen geschützt. Wir werdensicherstellen, dass sich kein Journalist der Beihilfe straf-bar macht, wenn er lediglich Material veröffentlicht, dasihm zugespielt worden ist. Damit schließen wir das Ein-fallstor, das unter anderem zu der Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts im Fall „Cicero“ geführt hat. Dasgeschieht sofort.
Wir werden dem Internet, dem wir eine riesigeChance für die Kommunikation und die Teilhabe desEinzelnen zumessen, in den nächsten vier Jahren einengroßen Stellenwert geben. Auch hier spielt Vertraueneine große Rolle. Deshalb werden wir auf der Grundlagedes geltenden Rechts kinderpornografische Inhalte imNetz löschen; denn das ist die wirkungsvollste Vorge-hensweise.
Deshalb werden wir ein Jahr lang keine Sperrung vor-nehmen und keine Infrastruktur in Bezug auf Internet-sperren aufbauen. Wir werden sehen, wie erfolgreich wirdamit sind. Das ist im Einklang mit dem Gesetz mög-lich. Das zeigt: Wir nehmen die Befürchtungen und dieSorgen der Menschen vor einer möglichen Zensur ernst.Aber wir verschließen nicht die Augen vor der Tatsache,dass das Internet kein rechtsfreier Raum sein darf unddass es in ihm Inhalte gibt – unter anderem kinderporno-grafischer Art –, die aus dem Netz genommen werdenmüssen. Diesem Punkt werden wir unsere Aufmerksam-keit und unsere ganze Tatkraft widmen.
Nach einem Jahr wird sich zeigen, was geht und wasnicht geht. Daran lassen wir uns messen.Im Zusammenhang mit dem Internet wird natürlichauch das Urheberrecht eine herausragende Rolle spie-len. Weil das Internet kein rechtsfreier Raum ist, müssenwir das Urheberrecht durchsetzen.
Da stehen wir vor neuen Herausforderungen. Das sehenwir an den Beratungen der Europäischen Union in denletzten Tagen. Wir haben aber eines klargemacht: Wirwollen keine gesetzlichen Internetsperren im Zusam-menhang mit der Durchsetzung des Urheberrechts. Dassteht konkret in der Koalitionsvereinbarung. Da wirdnicht geprüft, nicht abgewogen und nicht evaluiert. Dasmachen wir in den Bereichen, in denen es notwendig undverantwortbar ist. Aber das können wir teilweise nicht so-fort tun. Bevor wir uns beispielsweise mit den Strafbe-stimmungen zu den Terrorcamps befassen können, brau-chen wir eine gewisse Zeit, um erst einmal Erfahrungenhinsichtlich der Anwendung dieser Bestimmungen zu
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenbergersammeln. Dann werden wir uns genau ansehen – dieseGesetzgebung war eine Gratwanderung –,
ob sie sich in der Praxis bewährt haben.Wir haben uns nicht nur auf diesen Bereich konzen-triert. Die Rechtspolitik muss natürlich auch die richti-gen Lehren aus der Finanzmarktkrise ziehen. Deshalbstehen für uns das Insolvenzrecht, Reorganisationsver-fahren für Kreditinstitute und eine Verbesserung des In-solvenzplanverfahrens an vorderster Stelle. Wir werdenIhnen unter Federführung des Justizministeriums ge-meinsam mit den anderen Ressorts gute Vorschläge un-terbreiten, die Instrumente zum Gegenstand haben, diegerade dann, wenn die Gefahr einer Pleite droht, in derZukunft helfen sollen, diese zu verhindern und die be-troffenen Unternehmen einfacher und effektiver zu sa-nieren.Wir haben uns in der Gesellschaftspolitik viel vorge-nommen. Das betrifft unter anderem die EingetrageneLebenspartnerschaft. Da sage ich ganz deutlich: Nachvier Jahren Stillstand wird es hier Verbesserungengeben – im öffentlichen Dienstrecht und im Steuerrecht.Das ist in der Koalitionsvereinbarung konkret festgelegt.
Ich komme zum Schluss. Wir werden der Rechts- undJustizpolitik unter Berücksichtigung der europäischenEntwicklungen eine große Bedeutung beimessen; dennmit dem Vertrag von Lissabon habe ich als Bundesjus-tizministerin die große Verantwortung, Sie als Parlamen-tarier so früh wie möglich in alle Überlegungen und Be-ratungen einzubeziehen. Ich begrüße, dass die Rechtedes Parlaments gestärkt wurden.
– Herr Montag, ich sage Ihnen, SWIFT wird im Momentverhandelt.
– Nein. – Wir haben unsere Bedenken deutlich gemacht.Heute tagen Gruppen, und nächste Woche tagen Grup-pen. Warten Sie einmal ab, was am 30. November pas-siert!
Wir wollen mit Rücksicht auf das Europäische Parla-ment nicht präjudizieren.
Deshalb müssen Sie sich noch ein paar Tage gedulden.Dann werden wir Ihnen sagen können, dass wir hier un-sere Position sehr erfolgreich eingebracht haben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz von der SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Ministerin, auch Ihnen wünsche ichzunächst einmal alles Gute für Ihr neues Amt ganz imInteresse unseres Landes.
Es gibt ein paar Fragen in der Rechtspolitik, die wirbesprechen müssen. Manche Fragen haben wir eben inder Debatte über die Innenpolitik schon besprochen. Ichfand interessant, wie man malerisch die Tatsache be-schreiben kann, dass nichts geschieht. Es wurde darge-stellt, dass kleine Änderungen überdacht und Prüfauf-träge abgearbeitet werden sollen.Aber jeder, der sich mit der Materie auskennt, weiß:Reale Bewegung, reale Veränderung kann man nichtwahrnehmen.
Das Markenzeichen der Regierung wird vielleicht sein,dass zwar alles groß inszeniert wird, aber das, was dannan realer Bewegung zu beobachten ist, dieses nicht wertist.
Lassen Sie mich deshalb über ein paar reale Problemereden, die mich sehr besorgt machen und die jeden, deram Rechtsstaat unseres Landes interessiert ist, besorgenmüssen, zum Beispiel über die Veränderung, die Sie beider Prozesskostenhilfe planen. Da steht zwar jetzt ganzharmlos, dass Sie mal schauen wollen, ob das alles unterden Gesichtspunkten der finanziellen Umstände ver-nünftig ist. Aber in Wahrheit ist dies doch die Ankündi-gung, dass die Prozesskostenhilfe für Leute verschlech-tert wird, die wenig Einkommen haben.
Das ist keine gute Botschaft für den Rechtsstaat inDeutschland. Er muss jeden schützen und nicht nur die-jenigen mit dickem Geldbeutel.
Es gibt im Übrigen überhaupt keinen Evaluationsbe-darf. Das, was dort diskutiert wird, ist schlichtweg Spar-politik, aus den Länderverwaltungen in die Koalitions-verhandlungen gebracht. Es hätte genügt, sich dagegenaufzustellen.Das Gleiche gilt für das, was Sie mit dem Rechts-standort Bundesrepublik Deutschland anstellen wollen.Über Wirtschaftspolitik wird zwar viel gesprochen; aber
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Olaf Scholzdass die Qualität des Rechts in Deutschland sehr hoch istund dass man sich auf die Rechtspflege hierzulande or-dentlich verlassen kann, das ist für viele weltweit vongroßer Bedeutung. Deshalb fuhrwerkt man darin nichteinfach herum.Ich will Ihnen ausdrücklich vorhalten, dass die Eröff-nung der Möglichkeit der Zusammenlegung von So-zial- und Verwaltungsgerichten mit der Folge, dass esin einigen Ländern so und in anderen Ländern so ist,eine Verschlechterung der Qualität der rechtlichen Orga-nisationen in Deutschland ist. Wir lehnen das ab. Siesollten von diesem Vorhaben ganz lassen.
Dann haben Sie sich vorgenommen, dass jetzt somanche Privatisierung stattfinden soll. Die Aufgabendes Nachlassgerichts sollen teilweise bei den Notarenlanden. Das Gerichtsvollzieherwesen wollen Sie privati-sieren – und das wollen Parteien, die ständig die Wirt-schaftsförderung in den Vordergrund stellen. Hier solleine Veränderung durchgeführt werden, die die Kosten,die bei der Zwangsvollstreckung anfallen, auf alle Fällegewaltig steigern und die die Qualität der Rechtspflegeverschlechtern wird.
Wir lehnen beide Privatisierungsschritte ab.
Eines der Vorhaben, das ebenfalls Anlass zu vielenNachfragen und Sorge geben muss, sind die Veränderun-gen, die Sie beim Mietrecht vorhaben. Warum eigent-lich, fragt man sich. Man kann heute sagen, dass es keineBehinderung vernünftiger Investitionen in Wohnge-bäude gibt, die sich durch das heutige Mietrecht erklärenlässt. Wer saniert, hat am Ende, früher oder später, etwasdavon. Ohnehin wird dadurch sowieso nur die Substanzder Mietsache, der Wohnung erhalten. Es gibt keinenAnlass, nach juristischen Regeln zu suchen, die letztend-lich dazu führen, dass Mieter Dinge bezahlen müssen,die eigentlich zur normalen Bestandspflege und zur Wei-terentwicklung von Wohnungen seitens der Vermietergehören.
Und es sind zwei Ankündigungen dabei, die michsehr bedenklich stimmen. Zum Beispiel wollen Sie fürdas Eintreiben von Mietschulden neue Möglichkeitenschaffen.
Da fragt man sich, weil das alles sehr kryptisch ist, wassich dahinter eigentlich verbirgt. Ich habe die Sorge,dass Sie zum Beispiel ermöglichen wollen, dass man miteinem Titel gegen den Hauptmieter eine Zwangsräu-mung durchführen kann und die weiteren in der Woh-nung berechtigt Lebenden die Wohnung gleich mit räu-men müssen. Das wäre eine Verschlechterung. Falls dasgemeint ist, können Sie mit unserem entschiedenen Wi-derstand rechnen.
Ich ergänze das um die Frage der Kündigungsfristen.Heute ist die Politiksprache so, dass sie meistens harm-los daherkommt. Alles klingt so, als ob es zum Besserenfür alle wird. In Wahrheit wird es für manche zum Teilganz schön schlecht.
Dass Sie im Rahmen Ihrer Vorhaben sagen: „Die Kündi-gungsfristen für Vermieter und Mieter sollen angegli-chen werden“, ist doch nur eine nette Formulierung fürdie Ankündigung, dass die Kündigungsfristen für Mieterverschlechtert werden sollen. Das ist keine richtige Ent-scheidung.
Sagen Sie offen, dass Sie der Vermieterlobby und derenjahrelanger Arbeit in Richtung Politik nachgeben,
und tun Sie nicht so, als ob Sie irgendjemandem sonst et-was Gutes tun. Es ist eine Verschlechterung der Situation
der Mieter in diesem Land, die Sie planen.Meine Damen und Herren, im Koalitionsvertrag stehtzur Rechtspolitik eine Formulierung, die die großen An-kündigungen andernorts infrage stellt.Ich nenne eine Ankündigung zum Gesellschafts-recht. Sie wollen die Europäische Gesellschaft im Sinnedes Mittelstandes entwickeln. Das Gesellschaftsrecht isteine Sache des Justizministeriums. Aber es geht um dieMitbestimmung. Das, was Sie hier in den Koalitionsver-trag geschrieben haben, ist der Bruch eines Wahlverspre-chens. Sie haben nämlich gesagt, an der Mitbestimmungin Deutschland werde nichts verschlechtert. Ja, mankann in Deutschland die Mitbestimmung abschaffen,ohne ein einziges Gesetz zu ändern, indem man ein Lochin den Eimer bohrt, durch das das ganze Wasser der Mit-bestimmung fließt. Wenn Sie auf die Art und Weise, wiees heute in Europa geplant ist, eine solche EuropäischeGesellschaft schaffen, dann wird es mit der Mitbestim-mung in Deutschland bald vorbei sein, selbst wenn dieGesetze als Relikte noch vorhanden sind. Das muss ver-hindert werden, meine Damen und Herren.
Es besteht Anlass zu dieser Sorge; denn es hat in derbisherigen Koalition in dieser Frage keine Einigkeit zwi-schen dem Arbeitsministerium, dem Wirtschaftsministe-
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Olaf Scholzrium und dem Kanzleramt gegeben. Dort war derWunsch, es so zu machen, dass die Mitbestimmungdurch die Schaffung solcher Gesellschaften abgeschafftwerden kann, so vehement, dass es nicht möglich war,eine gemeinsame Linie der Bundesregierung in dieserFrage gegenüber der Europäischen Union zu entwickeln.Deshalb sage ich: Das, was Sie hier hineingeschriebenhaben, ist das Gegenteil dessen, was in der Regierungs-erklärung gesagt worden ist. Die Mitbestimmung ist da-mit in Gefahr. Dies muss jeder wissen.
Frau Ministerin, das Selbstlob, das Sie sich in derFrage der Weiterentwicklung des Rechts gleichge-schlechtlicher Lebensgemeinschaften und eingetrage-ner Partnerschaften ausgesprochen haben, ist völligunberechtigt. Letztendlich haben Sie es gerade einmalgeschafft, das, was die Rechtsprechung erzwingt, Gesetzwerden zu lassen. Das darf man ja wohl mindestens er-warten. Aber Fortschritt ist Ihnen nicht gelungen, aufden Sie aber mit Ihrer politischen Tradition und den An-sagen, die Sie in den letzten Jahren gemacht haben, hät-ten dringen müssen. Dabei hätten Sie auch mit unsererUnterstützung rechnen können. Es gibt bei der Union et-was, das ich einmal als „Bis-hierhin-und-nicht-weiter-Liberalismus“ bezeichne. Er geht so: Man ist immer da-gegen. Das gesamte Recht, das wir zu den eingetragenenLebenspartnerschaften entwickelt haben, ist auf ent-schiedenen Widerstand der Union gestoßen. Als wir esendlich so weit hatten, konnte man sich irgendwanndazu durchringen, dass es so bleiben könne, wie es ge-worden ist; es dürfe nur nichts mehr dazukommen. Die-ses „Nichts-mehr-darf-dazukommen“ hat die Unionauch in dieser Frage letztlich erfolgreich gegen Sie ver-teidigt. Ich bedaure dies; denn Fortschritt wäre hier dasRichtige gewesen.
Meine Damen und Herren, es ist über den Datenschutzschon diskutiert worden. Er spielt in der Innenpolitik, derJustizpolitik, der Wirtschaftspolitik und selbstverständ-lich im Bereich der Rechte von Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern eine Rolle. Deshalb will ich an dieserStelle noch einmal etwas zum Arbeitnehmerdatenschutzsagen, weil mich bei diesem Thema in den letzten JahrenFolgendes sehr aufgeregt hat:
Bei jedem großen Skandal sagen alle, sie wollten etwasmachen und seien sofort für das, was die gute Überschrift„Arbeitnehmerdatenschutz“ hat. Aber wenn es dann kon-kret zur Sache geht, sind alle einzelnen Regelungen nichtgewollt. Die Überschrift will man noch hinnehmen, aberdie konkreten Regelungen, die den Datenschutz der Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessern, werdendann gar nicht mehr akzeptiert. Deshalb waren die Ver-handlungen zu dieser Frage in den letzten Monaten unddem letzten Jahr schon eine ganz interessante Erfahrung.
Es war interessant, zu sehen, dass man öffentlich immereiner Meinung ist, in der Fachfrage aber in keinem rele-vanten Detail.Deshalb gibt es auch einen Entwurf zum Arbeitneh-merdatenschutz, und deshalb werden wir ein solches Ge-setz in diesem Hause beraten. Ich bin dagegen, es ir-gendwo im Datenschutzgesetz unterzubringen.
Erstens ist es schon ganz schwierig gewesen, bei der Ge-neralklausel zu einer vernünftigen Regelung zu kom-men. Zweitens brauchen die Arbeitnehmer mehr Schutz,weil sonst der Missbrauch weiterhin stattfinden wird.Wenn ein neuer Missbrauch bekannt wird, erklärt jederPolitiker, er halte dies jetzt für so schlimm, dass man einGesetz brauche. Das reicht nicht. Wir sollten ein Gesetzschaffen, das diesen Namen verdient. Das ist dann auchgute Rechtspolitik, meine Damen und Herren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Krings für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Mit den heutigen Debatten zur Innen-und Rechtspolitik sprechen wir am heutigen Nachmittagüber die Kernaufgaben des Staates. Die Bundeskanzlerinhat gestern sehr treffend in ihrer Regierungserklärungbetont, dass Freiheit und Sicherheit untrennbar zusam-mengehören.Freiheit ohne Sicherheit wäre wertlos, sie verkäme zueiner einseitigen Freiheit des Starken. Wollten wir aberSicherheit ohne Freiheit, hätten wir in Deutschland auszwei Diktaturen nichts gelernt. Heute, zwei Tage nachdem 20. Jahrestag des Mauerfalls, wird besonders deut-lich, dass die innere Sicherheit unseres Landes und einestabile Rechtsordnung eben keine Selbstzwecke sind,sondern dass Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit imDienste der Freiheit der Menschen stehen. Genau daswar den Menschen in der DDR in den Tagen des No-vembers vor 20 Jahren klarer. Und wir sollten es auchnicht vergessen.
Weil Freiheit und Sicherheit zwei Seiten der gleichenMedaille sind, ist die Überschrift des Kapitels im Koali-tionsvertrag sehr treffend gewählt worden: „Freiheit undSicherheit – Durch Bürgerrechte und starken Staat.“ Dasist zugleich das Leitkonzept der christlich-liberalen
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222 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. November 2009
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Dr. Günter KringsRechtspolitik und der neuen Bundesregierung in dieserWahlperiode. Genauso wie Freiheit Sicherheit voraus-setzt, so brauchen Bürgerrechte einen starken Staat, derdiese Freiheitsrechte, diese Bürgerrechte auch durchset-zen kann.Es ist keine Lösung, den Staat dort großmachen zuwollen, wo es um Bürokratie und Umverteilungsappa-rate geht, sondern der Staat muss gerade auch dort starksein, wo seine Ordnungshüter und Gerichte die Grund-bedürfnisse der Menschen nach Freiheit und Sicherheitbefriedigen. Wir dürfen den starken Staat nicht mit demvoluminösen Staat verwechseln. Deshalb ist es richtig,dass wir in dieser Wahlperiode unter anderem auch beimBürokratieabbau deutlich voranschreiten.Viele hatten vorausgesagt, dass es in den Koalitions-verhandlungen gerade in den Bereichen Recht und In-nenpolitik besonders schwierig und kontrovers werdenwürde. Soweit ich die Koalitionsverhandlungen begleitethabe, konnte ich mich davon überzeugen, dass wir in ei-ner guten, sachlichen, konstruktiven Atmosphäre disku-tiert haben. Am Ende waren wir im Bereich von Innen-und Rechtspolitik eine von drei Arbeitsgruppen, dieschon in der ersten Runde einen vollständigen Konsenserzielt haben.
Das ist sicher gut, weil wir schon in der letzten Wahl-periode festgestellt haben, dass rechtspolitische Fragenmöglichst von Fachleuten diskutiert werden sollen, umzu einer sachdienlichen Lösung zu kommen. Wenn daszu vorgerückter Stunde in Koalitionsausschüssen statt-fand, dann kam dabei nicht immer das beste Paket he-raus.Im Bereich der Innen- und Rechtspolitik ist dank derumsichtigen Verhandlungsführung – das will ich an die-ser Stelle betonen – des aus der Funktion des Innenminis-ters ausgeschiedenen Wolfgang Schäuble und der neuenJustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eingutes Ergebnis erzielt worden.
Ich möchte mich bei beiden – Frau Leutheusser-Schnarrenberger ist anwesend – noch einmal sehr herz-lich für diese Verhandlungen und für diese Atmosphärebedanken.
Ich wünsche Ihnen, Frau Ministerin, an der Spitze desJustizministeriums alles Gute und viel Erfolg für dieseArbeit. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und darfden Staatssekretär Herrn Stadler ausdrücklich in denWunsch einschließen. Sie nehmen eine für Sie nichtganz neue Position ein. Ich bin mir sicher, dass Sie dieZusammenarbeit mit den beiden Koalitionsfraktionen er-folgreich durchführen werden.Im Zuge dieser Bereitschaft zu einem konstruktivenDialog, der natürlich auch innerhalb der Koalitionsfrak-tionen stattfinden wird, will ich den Oppositionsfraktionen– ich darf namentlich die SPD und das Bündnis 90/DieGrünen erwähnen – ausdrücklich anbieten, mit uns zu-sammenzuarbeiten.
Wahr ist, dass wir in der Großen Koalition mit der SPDdurchaus einen Vorrat an gemeinsamen Themen, an ge-meinsamen Grundüberzeugungen hatten und dass wir imBereich der Rechtspolitik den Koalitionsvertrag der letz-ten Wahlperiode zu einem ganz großen Teil, zu fast100 Prozent, umgesetzt haben.
Ich kann nur hoffen, dass Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD, diesen Grundkonsens in vielenFragen der Rechtspolitik nicht nur deshalb aufkündigen,weil Sie jetzt eine andere Rolle spielen. Die Versuchung,in der Opposition einen Rollenwechsel zu vollziehen, istgroß; das weiß ich. Ich bin deshalb rückblickend froh,dass ich während der drei Jahre als Oppositionspolitikerim Rechtsausschuss hier im Hause dieser Versuchungwiderstanden habe.
Ich kann mich zum Beispiel sehr gut an die Verhandlun-gen zum Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz An-fang 2005 erinnern, Herr Scholz. Das haben wir damals,als wir noch in der Opposition waren, gemeinsam hinbe-kommen. Ich fand die Verhandlungen sehr sachorien-tiert. Ich habe bei Ihren beiden Reden zur Innen- undRechtspolitik ein bisschen den Eindruck gewonnen, dassder Effekt der Oppositionszugehörigkeit Sie eingeholthat. Ich darf daher der Hoffnung Ausdruck verleihen,dass wir weiter sachorientiert miteinander kommunizie-ren werden. Ich hoffe auch, dass Sie in Ihrer neuenRolle, in der Opposition, nicht die Augen vor den wah-ren Problemen dieses Landes verschließen.
Ich darf einen Punkt nennen: Sie haben eben dasThema Mietrecht angesprochen. Ich glaube, wir müssenuns davor hüten, zu glauben, auf der einen Seite seiendie reichen Vermieter und auf der anderen Seite die ar-men Mieter unterwegs. Ich bin in meiner Heimatstadtsehr oft von Menschen angesprochen worden, die sichzum Zwecke der Altersvorsorge ein oder zwei Mietwoh-nungen zugelegt haben und jetzt unter Mietnomaden lei-den. Sie leiden darunter, dass sie ihre Miete nicht eintrei-ben können und ihre Alterssicherung gefährdet ist. Wersagt: „Da machen wir keine Änderungen mit“, der gibtdiesen Menschen Steine statt Brot. Diese Menschen ha-ben Hilfe verdient. Diese Hilfe bekommen sie von dieserKoalition.
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Dr. Günter KringsDa sich die Kollegen von den Grünen gerade so nettzu Wort melden, darf ich ihnen sagen: Ich glaube, auchdie Debatten zwischen uns werden weiterhin spannendbleiben. Das werden sicherlich Diskussionen auf Augen-höhe sein und hoffentlich keine Diskussionen, in denensich die eine Seite als Gralshüter des Rechtsstaates sieht.Hoffentlich wird die Diskussion von der Erkenntnis aus-gehen, dass nur ein starker Staat die Bürgerrechte gutschützen kann.Der Koalitionsvertrag umfasst eine Fülle von Aussa-gen aus dem sehr vielschichtigen Bereich der Rechtspo-litik. Für die Rechtspolitik ist es übrigens besonderswichtig, dass alle, die mitreden wollen, die circa130 Seiten wirklich aufmerksam lesen; denn viele Aus-sagen zur Rechtspolitik finden sich gar nicht in dem spe-ziellen Teil zur Rechts- und Innenpolitik, sondern an vie-len anderen Stellen, zum Beispiel zur Wirtschafts- undUmweltpolitik. Das macht mehrere Dinge deutlich:Erstens. Wir denken nicht in Schubladen, sondern inthematischen Zusammenhängen, die die Bürger verste-hen.
Zweitens. Rechtspolitik ist eine echte Querschnitts-aufgabe, die in nahezu alle Sachbereiche der Politik hin-einspielt.Drittens. Rechtspolitik ist auch Gesellschaftspolitik,die den Veränderungen in der Gesellschaft folgt, sie aberauch steuert, beschleunigt oder, wenn nötig, zügelt. MitRechtspolitik kann in bester konservativer Tradition Be-währtes erhalten werden und schädlichen, gefährlichenEntwicklungen gegengesteuert werden.Gerade wegen dieser Vielfalt und dieser Steuerungs-funktionen ist die Rechtspolitik eines der spannendstenThemenfelder, über die in diesem Hause debattiert wird,und der Rechtsausschuss einer der interessantesten Aus-schüsse dieses Hauses. Ich beglückwünsche daher alleKollegen, die neu in diesem Ausschuss sind. Aufgrunddes Wahlergebnisses kommen viele erstmalig in diesenAusschuss. Ich bin mir sehr sicher, dass Sie die Ent-scheidung für diesen Ausschuss nicht bereuen werden,sondern dass Sie im Gegenteil die Arbeit im Bereich derRechtspolitik sehr schätzen werden.Die öffentlichkeitswirksamsten Teile der Rechtspoli-tik sind die strafrechtlichen und die strafprozessualenThemen. Ich will ein paar Punkte aufgreifen. Natürlichgab es hierbei im Vorfeld nicht nur identische Positionenbei FDP und Union. Umso positiver ist es aber, dass wirsagen können, dass wir in vielen Punkten einen gutenKonsens gefunden, sehr gute Kompromisse erzielt undletztlich gerade für die Opfer von Straftaten wesentlicheVerbesserungen erreicht haben.Ich will erwähnen, dass wir zum Ersten die Zwangs-verheiratung als eigenständiges Delikt in das Strafge-setzbuch hineinschreiben wollen.
Das ist ein klares und wichtiges Signal, diesen Straftat-bestand noch einmal klarer und deutlicher zu fassen. Dasist ein klares und wichtiges Signal für viele Frauen, dieaus anderen Kulturkreisen hierherkommen, das zeigt,dass der deutsche Rechtsstaat sie nicht allein lässt. Diejetzige Regelung ist eben nicht deutlich genug gefasst.Das werden wir verbessern.
Zum Zweiten setzen wir uns für das strafrechtlicheVerbot einer gewerblichen Sterbehilfe ein. An der Tö-tung auch eines leidenden Menschen darf in Deutschlandkein Geld verdient werden.
Wir wollen Polizisten besser schützen. Die Polizistenriskieren täglich für unseren Rechtsstaat, für unsere Sicher-heit Leib und Leben. Es ist sehr fragwürdig, dass nach demStrafgesetzbuch für die Beschädigung eines Polizeiautosein höherer Strafrahmen vorgesehen ist – der KollegeBosbach hat in den letzten Wochen sehr oft zu Recht daraufhingewiesen – als für die Verletzung eines Polizisten. Es istdaher richtig und notwendig, dass wir für den Widerstandgegen Vollstreckungsbeamte, jedenfalls in besondersschweren Fällen, ein höheres Strafmaß vorsehen.
Das Problem von Widersprüchen im Strafrecht stelltsich auch im Bereich des Jugendstrafrechts. Deshalbhaben wir hier vereinbart, dass wir die Höchststrafe fürdas abscheuliche Verbrechen des Mordes heraufsetzenwerden. Gerade weil die allermeisten jungen Erwachse-nen heute nach Jugendstrafrecht – das ja für Jugendlicheund Heranwachsende gilt – behandelt werden,
ist es nicht nur für Laien, sondern auch für viele Juristenschwer verständlich, wenn in manchen Fällen der 22-jäh-rige Nebentäter eine doppelt so hohe Gefängnisstrafe wieder 20-jährige Haupttäter bekommt.Im Jugendstrafrecht halte ich eine weitere Änderungfür noch viel dringlicher, nämliche die Einführung einessogenannten Warnschussarrestes.
Nicht erst der tragische Fall des mutigen Geschäfts-manns Dominik Brunner, der in München-Solln im Sep-tember von zwei Jugendlichen zu Tode geprügelt wurde,weil er vier Kindern helfen wollte, zeigt, dass wir viel
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Dr. Günter Kringsfrühzeitiger und konsequenter auf Jugendliche einwirkenmüssen, die in die Kriminalität abzurutschen drohen.
– Passen Sie auf: Ich spreche gerade vom Warnschussar-rest. Herr Kollege Wieland, Sie sollten schon aufpassen,wovon ich spreche. Dann haben Sie auch etwas davon.Jugendliche Intensivtäter geben oft selber an, dass siedie Botschaft des Rechtsstaates zu lange nicht wirklichverstanden haben, weil sie Verwarnungen von Gerichtennicht ernst genommen haben oder die Verurteilung zuSozialstunden und Bewährungsstrafen als faktischenFreispruch gewertet haben. Sie brauchen, wie sie zumTeil selber sagen – ich selbst habe solche Gespräche ge-führt –, einen wirksamen frühzeitigen Schuss vor denBug, und zwar zu dem Zeitpunkt, wo man kriminelleKarrieren noch stoppen kann.
Dieser Schuss vor den Bug kann eben auch eine Teilver-büßung einer im Übrigen zur Bewährung ausgesetztenFreiheitsstrafe sein. Nichts macht wohl einen so dauer-haften Eindruck auf einen jungen Menschen wie der Ver-lust der Freiheit für einige Wochen.
ihm macht!)Diese sicherlich harte Maßnahme ist bei manchen Ju-gendlichen und jungen erwachsenen Straftätern nötig,um ihnen den Respekt vor unserem Rechtsstaat zu leh-ren. Auch insoweit brauchen wir keinen weichen, allesentschuldigenden, sondern einen starken Staat.Wir werden ferner Schutzlücken im Recht der Siche-rungsverwahrung schließen.
Dieses besonders scharfe Schwert des Rechtsstaates darfnur wohlüberlegt eingesetzt werden. Es wird deshalb eineHarmonisierung mit einer in sich stimmigen Gesamtlö-sung dieses Themenbereiches geben. Es gibt – zum Glücknur wenige – hochgefährliche Täter, vor denen wir dieAllgemeinheit schützen müssen. Es kann aber nicht sein,dass eine Sicherungsverwahrung etwa daran scheitert,dass ein schon vom ersten Hafttag an extrem gefährlicherTäter seine Gefährlichkeit eben gar nicht mehr steigernkann. Hier gibt es Handlungsbedarf; darauf werden wirreagieren.Wahr ist: In der Öffentlichkeit ist, wie ich gesagthabe, der sichtbarste Teil der Rechtspolitik das Straf-recht. Es ist auch wahr: Über Spezialfragen, zum Bei-spiel der freiwilligen Gerichtsbarkeit, liest man nur sel-ten etwas auf den Titelseiten der Boulevardpresse.Dennoch umfasst die Rechtspolitik sehr viel mehr alsMord und Totschlag, zum Beispiel auch viele Bereichedes Zivilrechts, die viele Menschen täglich betreffen,und viele Bereiche des Wirtschaftsrechts. Rechtspolitikist eben eine umfassende Gestaltungsaufgabe. Gerade imWirtschaftsrecht bestehen für die neue christlich-liberaleRegierung eine Reihe von sinnvollen und pragmatischenGestaltungsmöglichkeiten.
Eines der wenigen Themen, das wir in der vorherigenKoalition nicht abgearbeitet haben, war die dringend nö-tige Reform des Insolvenzrechts. Ein wesentlicherGrund war, dass die Leitung des BMJ spätestens zurMitte der letzten Wahlperiode offenbar das Interesse andiesem Thema verloren hatte. Ich habe daher nicht ver-standen, warum Ende 2008, Anfang 2009, auf dem Hö-hepunkt der Finanzmarktkrise, auf einmal an der Spitzedes BMJ Krokodilstränen darüber vergossen wurden,dass das Wirtschaftsministerium unter Führung vonHerrn Kollegen Guttenberg nun dieses Vakuum schlie-ßen wollte.
Es ist gut, dass wir jetzt das Thema unter der Federfüh-rung der Rechtspolitik wieder anpacken. Wichtig ist,dass wir das Insolvenzrecht modernisieren, es zu einemechten Restrukturierungsrecht ausbauen und dabei vorallem dafür sorgen, dass Insolvenzverfahren eines Unter-nehmens in der Regel nicht zur Abwicklung führen, son-dern dazu, dass ein Unternehmen wieder auf ein solidesFundament gestellt wird. Das Insolvenzplanverfahrenwird hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.Lassen Sie mich zu einem letzten wirtschaftsrechtli-chen Sachthema kommen. Sie alle wissen, dass mir derSchutz des geistigen Eigentums besonders am Herzenliegt. Einige im Hause hat das Wahlergebnis der Piraten-partei offenbar etwas nervös gemacht. Man hatte bei ei-nigen Äußerungen fast den Eindruck, dass sich der eineoder andere selbst gern eine Totenkopfflagge ans Reversheften möchte.
Es ist richtig: Die Modernisierung des Urheberrechtsund seine Anpassung an die Herausforderungen der digi-talen Welt bleiben eine fortwährende Aufgabe für dieRechtspolitik. Richtig ist aber auch: Der Wohlstand un-seres Landes basiert maßgeblich auf der Kreativität vonUnternehmern und Arbeitnehmern, von Künstlern, Er-findern und Autoren. Die Ergebnisse dieser Arbeit müs-sen geschützt werden. Es geht hier um eine wichtigeSchutzpflicht des Staates. Es ist deshalb richtig und ganzentscheidend, dass die rechtlichen Maßstäbe in der digi-talen Welt die gleichen sind wie in der analogen Welt.
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Dr. Günter KringsWas allgemein verboten ist, kann nicht plötzlich deshalberlaubt sein, weil es im Internet geschieht. Von diesemKompass werden wir uns in dieser Frage leiten lassen.Dabei werden wir auch die beteiligten Wirtschaftsver-bände, Unternehmen und Internetnutzer in die Pflichtnehmen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kommezum Schluss. Die Garantie der Freiheits- und Eigen-tumsrechte bleibt das Kernanliegen der christlich-libe-ralen Rechtspolitik. Sicherlich werden wir über viele In-strumente und Wege mit der Opposition streiten. Ichgehe aber davon aus, dass wir bei den Fundamenten die-ses Rechtsstaats und den grundsätzlichen Zielen weiter-hin eine weitgehende Einigkeit erzielen können. Ichhoffe auch, dass wir weiterhin spannende Debatten überdie verschiedenen Wege führen werden, möglichst auchdes Öfteren einmal in der Kernzeit des Parlaments.
Vor allen Dingen in der vorgegebenen Zeit.
Ich freue mich auf diese rechtspolitischen Debatten,
die wir gemeinsam führen werden, hoffentlich auch
dann wieder unter der charmanten Leitung der amtieren-
den Vizepräsidentin.
Vielen Dank.
Der Kollege Raju Sharma hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Wir wollen Freiheit und Sicherheit für unsere Bür-gerinnen und Bürger.So steht es in der Präambel des Koalitionsvertrages. Au-ßerdem heißt es dort:Wir wollen ein ausgewogenes Verhältnis von Frei-heit und Sicherheit.Und schließlich:Wir setzen auf die Freiheit des Einzelnen und ste-hen für die Sicherheit aller ein.Das sind schöne Worte. Sie sind zwar nicht besondersoriginell, aber all das sind Aussagen, denen sich vermut-lich die Mehrheit aller Fraktionen des Deutschen Bun-destages bedenkenlos anschließen könnte.
Das gilt auch für die Mehrheit aller anderen Fraktionenin jedem Parlament in jedem anderen beliebigen Landder Welt.Genau das ist das Problem. Auch in der Rechtspolitikist der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP ge-prägt von Allgemeinplätzen, die so beliebig und unver-bindlich sind, dass sie glatt der vom Kollegen Lammertso geschmähten Fernsehserie Bianca – Wege zum Glückentstammen könnten.
Leider führt der Koalitionsvertrag auch in der Rechts-politik nicht zum Glück. Wer sich die Mühe macht, tiefereinzusteigen, wird schnell feststellen, dass auch in diesemBereich hinter den warmen Worten zumeist nichts anderesals schnöde, kalte Interessenpolitik steckt, die die Sinn-haftigkeit sozialer Transferleistungen und Schutzvor-schriften grundsätzlich infrage stellt.Der Kollege Scholz hat bereits darauf hingewiesen – ichfreue mich ausdrücklich darüber, dass die Sozialdemokra-ten in diesem Punkt unsere Auffassung teilen –: Die Forde-rung nach einer Vereinheitlichung der Kündigungsfristenfür Mieter und Vermieter mag unverdächtig und irgend-wie ausgewogen klingen. Faktisch geht es hierbei aberschlicht und ergreifend um den Abbau von Mieterrechten.
es doch erst einmal ab!)Wenn die Koalition verlangt, mietrechtliche Ansprü-che müssten auch wirksam vollstreckt werden können,geht es natürlich um die Ansprüche der Vermieter. Ihnensoll nicht länger zugemutet werden, sich mit dem lästi-gen Mieterschutz auseinandersetzen zu müssen. Hierzusagt die Linke ganz klar: Nein, das wollen wir nicht.
Rousseau hat es richtig erkannt: Zwischen dem Star-ken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unter-drückt, und das Recht, das befreit. Für die Linke hatRechtspolitik deshalb immer auch eine soziale Dimen-sion. Das Sozialstaatsprinzip ist zu Recht eine der tra-genden Säulen unserer Verfassung. Wer ein ausgewoge-nes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit will, darf diesoziale Sicherheit nicht aus dem Blick verlieren.Noch ein Wort an die Justizministerin. FrauLeutheusser-Schnarrenberger, Sie haben viel Mut bewie-sen, in dieser Konstellation und mit diesem Koalitions-vertrag in die Bundesregierung einzutreten. Ich wünscheIhnen, dass Sie mehr sein werden als das liberale Feigen-blatt einer wenig freiheitlichen Rechtspolitik. Wenn esum die Verteidigung bürgerlicher Freiheitsrechte geht,finden sich außerhalb der Koalition womöglich mehrBündnispartner als innerhalb. Wer gerade den Ausfüh-rungen des Kollegen Dr. Krings zugehört hat, der weiß,wovon ich rede.Vielen Dank.
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226 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. November 2009
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Herr Sharma, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Wir beglückwünschen Sie dazu herzlich und
wünschen eine erfolgreiche Arbeit.
Jerzy Montag spricht jetzt für das Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir re-den heute den zweiten Tag über die Regierungserklärungder Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ich will an dieserStelle an das Bild erinnern, das unser Fraktionsvorsit-zender, Jürgen Trittin, gestern für den Koalitionsvertraggeprägt hat. Er sprach von einem Zug: In den erstenWaggons des Zuges, in der ersten Klasse, werden Cock-tails serviert. In den hinteren Waggons, in der Holz-klasse, gibt es nichts. Einige der Waggons werden abge-hängt. Leider ist es so, dass die Waggons mit derAufschrift „Rechtsstaat/Bürgerrechte“ zu den hinterengehören. Ich befürchte, dass sie zu den gehören, die ab-gehängt werden.
Wie vor vier Jahren habe ich in der Regierungserklä-rung der Bundeskanzlerin kein einziges Wort zu der Be-deutung gehört, die die Grund- und Bürgerrechte füreine freiheitliche Gesellschaft haben, kein Wort zurRechtsstaatlichkeit und Grundrechtsbindung allen staat-lichen Handelns, kein Wort dazu, dass eine Rechtspolitikihren Namen nur dann verdient, wenn sie verdeutlicht,welche Bedeutung die Unabhängigkeit der Justiz hat.Wie vor vier Jahren muss ich dies kritisieren.Deswegen stimmt auch das zweite Bild, das JürgenTrittin verwendet hat: Diese Koalitionsvereinbarung unddiese Regierungserklärung sind kein Aufbruch, sondernein Aufguss, von dem wir uns in der Rechtspolitik nichtsversprechen dürfen.
Als Rechtspolitiker habe ich an zwei Stellen aufge-merkt. Die erste Stelle war, als die Bundeskanzlerinsagte: „Sittenwidrige Löhne werden wir verbieten.“ DieBürgerinnen und Bürger müssen sich verwirrt fragen:Was soll das heißen? Sind sittenwidrige Verträge bei unsnoch nicht verboten? Muss man sie jetzt verbieten? EinBlick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. In§ 130 BGB heißt es:Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten ver-stößt, ist nichtig.Strafrechtlich ist das bereits unter Strafe gestellt.
Meine Damen und Herren, der Satz: „SittenwidrigeLöhne werden wir verbieten“, ist arbeitsmarktpolitischein Offenbarungseid.
Es kommt nicht darauf an, sittenwidrige Löhne zu ver-bieten, sondern darauf, sie abzuschaffen. Wie kann mansie abschaffen? Durch intelligente Mindestlöhne; solcheMindestlöhne müssen eingeführt werden.
Rechtspolitisch ist dieser Satz eine Nullnummer; denn erbesagt überhaupt nichts. Ich bin sehr gespannt, wie dieKoalition zu einem Verbot der Sittenwidrigkeit kommenwill.Der zweite Satz der Bundeskanzlerin, bei dem ichaufgemerkt habe, war: „Wir wollen das Verhältnis derBürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat verbessern.“ DasVerhältnis der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staatverbessern? Was für ein Verhältnis haben die Bürgerin-nen und Bürger denn heute zu ihrem Staat? Im Bereichdes Strafrechts und der Strafverfolgung galt bisher derGrundsatz: Jeder rechtschaffene und gesetzestreue Bür-ger hat das Recht, dass sich der Staat auch und besondersin Form der Polizei von ihm fernhält und ihn nicht be-helligt. Es gibt eine staatsbürgerliche Pflicht, Zeuge zusein. Die Pflicht zum Erscheinen und zur wahrheitsge-mäßen Aussage gibt es aber bisher nur gegenüber derunabhängigen Justiz. Sie wollen die Bürgerinnen undBürger dazu verpflichten, auf Vorladung auch vor derPolizei zu erscheinen und auszusagen.
Bisher galt: Der Staat ist für die Menschen da undnicht die Menschen für den Staat.
Bisher war der aufrechte Gang der Bürgerinnen und Bür-ger grundrechtlich geschützt. Nach Ihrer Denkart sollendie Bürgerinnen und Bürger jetzt wieder die Hacken zu-sammenschlagen, und man hat gesenkten Hauptes vorder Obrigkeit zu erscheinen. Das meint die Kanzlerin,wenn sie sagt, dass sie das Verhältnis der Bürgerinnenund Bürger zu ihrem Staat verbessern will.In der Sache ist das ein Prozess der Verpolizeilichungdes strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Die Polizeiwird mit dieser Neuerung aus der Rolle des Hilfsbeam-ten der Staatsanwaltschaft befreit. Sie wird das, was sieschon immer werden wollte: Sie wird selbstständig. DieStaatsanwaltschaft wird weiter entmachtet.Wir haben im Sommer dieses Jahres vom Bundesjus-tizministerium ein vom Bundesjustizministerium in Auf-trag gegebenes dickes Gutachten zugeschickt bekom-men. Das Gutachten des Deutschen Richterbundes trägtden Titel „Das Verhältnis von Gericht, Staatsanwalt-schaft und Polizei im Ermittlungsverfahren, strafprozes-
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Mit Erlaubnis der Präsidentin will ich aus einem Bun-destagswahlprogramm einige Sätze zitieren:Wir brauchen eine Neuausrichtung der Rechtspoli-tik. Die Rechtspolitik darf sich nicht darauf be-schränken, europäische Vorgaben umzusetzen oderinnenpolitische Initiativen rechtsstaatlich zu schär-fen.Rechtspolitik muss gestalten und dem Wandel inder Gesellschaft ein Gesicht geben. Von der Rechts-politik müssen entscheidende Impulse ausgehen füreine moderne und aufgeklärte Bürgergesellschaft.Ich frage Sie: Welche der Fraktionen dieses HohenHauses hat diesen Text in ihr Wahlprogramm geschrie-ben?
Die Linke war es nicht;
denn darin stand nichts über Hartz IV oder über völker-rechtswidrige Angriffskriege.
Von uns stammt es auch nicht; Herr Stadler, Sie habenrecht. Es hätte von uns stammen können. Wir haben dasGleiche mit anderen und besseren Worten geschrieben. –Jawohl, es stammt von der FDP.
Es ist das Wahlprogramm der FDP.
Angesichts dieser starken Worte, die Sie benutzt ha-ben, sage ich Ihnen:
Für mich ist diese Bürgerpflicht, auf Vorladung vorder Polizei erscheinen und aussagen zu müssen, diegrößte rechtspolitische Fehlentwicklung und Enttäu-schung, die Sie in diese Koalition hineintragen.
Viele andere Punkte sind angesprochen worden. Ichhabe nicht die Zeit, sie hier im Einzelnen aufzuführen.
Wir Grünen werden, wie auch die anderen Kolleginnenund Kollegen aus der Opposition, im Rechtsausschussauf alle diese Punkte zu sprechen kommen.
– Ich hoffe, dass Sie das tun.Zum Schluss würde ich ganz gerne noch eines sagen:Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger, HerrStaatssekretär Stadler, wir werden Ihnen eine konse-quente, eine sachliche und eine konstruktive Oppositionsein. Wir werden Ihnen nichts durchgehen lassen, wennSie sich Ihrer bürgerrechtlichen und rechtsstaatlichenKleider entledigen,
und wir werden Ihnen konkrete Alternativen dafür vor-schlagen, wie man die Justiz stärken und die Grund-rechte, Bürgerrechte und Menschenrechte heute undmorgen in Deutschland schützen kann.
Ich will von diesem Pult nicht wegtreten, ohne Sie,Frau Ministerin, und Sie, Herr Staatssekretär, zu Ihrenneuen Ämtern zu beglückwünschen. Ich denke, dass wirtrotz der Differenzen, die wir miteinander haben, einegute Zusammenarbeit im Rechtsausschuss haben wer-den.
Der Kollege Christian Ahrendt hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Lassen Sie mich für meine Fraktion eines vorne-weg feststellen: Die Rechtspolitik hat ihren Kompass zu-rück. Der Rechtsstaat wird durch den Koalitionsvertraggestärkt.
– Das sage ich Ihnen gleich.Wir stellen den Menschen und die Freiheitsrechte inden Mittelpunkt. Wir haben hier eine klare Kursbestim-mung von der Ministerin erhalten, und für diese klareKursbestimmung darf ich mich bei Ihnen, FrauLeutheusser-Schnarrenberger, ganz herzlich bedanken.
Herr Wieland, da Sie hier so schön dazwischenrufenund Herr Montag die Grundrechte predigt, sage ich Ih-nen von dieser Stelle aus: Sie haben mit der SPD zusam-men das Luftsicherheitsgesetz gemacht. Sie sind dortmitgeflogen, und Sie sind dort auch mit abgestürzt.
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Christian Ahrendt– Das ist schön; aber der Lernprozess hat sich nicht fort-gesetzt, wenigstens nicht bis hierher.Im Grunde genommen zeigt sich hier in der Debattedas Problem: Die Opposition ist in der Rechtspolitikohne klare Kursbestimmung. Sie haben im Wahlkampfgepredigt: Wenn Schwarz-Gelb gewählt wird, geht dasAbendland unter.
Die Menschen haben unser konkretes Politikangebot ge-wählt. Wir sind in der Regierung, Sie sind in der Opposi-tion, und das ist auch gut so.
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt eingehen.Wir haben die Skandale um die Überwachung derArbeitnehmer bei Lidl und bei der Bahn verfolgt. DasThema war schon aktuell, als Herr Scholz noch Ministerwar; aber erst kurz vor Ende des Wahlkampfes ist einGesetz vorgelegt worden.
Es wäre vorher genug Zeit gewesen, um die Arbeitneh-merrechte und den Datenschutz zu verbessern. Dennochwurde es erst kurz vor Ultimo in Angriff genommen. Alsman Verantwortung trug, wurde die Gelegenheit nichtgenutzt.
Es ist zu wenig, wenn man Rechtspolitik erst dann be-treibt, wenn es im Wahlkampf nützlich ist.
Ich möchte ein zweites Beispiel für die Irrungen derRechtspolitik anführen. Am 24. September hat diesesHaus das Gesetz zur Erleichterung der Sanierung vonUnternehmen verabschiedet. Damit wurde der Über-schuldungsbegriff geändert. Kurz zur Rechtsge-schichte: 1999 wurde ein neues Insolvenzrecht mit ei-nem neuen Überschuldungsbegriff eingeführt. In derKrise wurde dieser außer Kraft gesetzt. Seitdem kann einUnternehmen fortgeführt werden, wenn es eine positiveFortbestehensprognose gibt. Dadurch sollen Sanierun-gen erleichtert werden. Allerdings wurde für diese Rege-lung nur ein Zeitfenster bis 2014 geöffnet. Was ist dasfür eine Rechtspolitik? Bis 2014 kann ein Unternehmenleichter saniert werden; ab 2015 können Unternehmen,die in eine Notlage geraten, wieder schlechter saniertwerden. Das offenbart das Problem, das wir in derRechtspolitik haben: Sie sind ohne Orientierung unter-wegs.
– Es ist ein Kernstück der Rechtspolitik. – Das Beispielzeigt, wie wirr zuletzt agiert wurde. Wir werden das än-dern.
– Das müssen Sie Herrn Krings fragen.
Wir machen Ihnen das Angebot, in den Ausschüssenkreativ mitzuarbeiten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Christine Lambrecht
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, auchich darf Ihnen an dieser Stelle recht herzlich zur Ernen-nung gratulieren und wünsche Ihnen eine glücklicheHand bei der Amtsausübung. Ich habe Sie in den letztenJahren im Rechtsausschuss als eine streitbare, aber sehrfaire Kollegin kennengelernt. Von daher setze ich großeHoffnungen in die Zusammenarbeit.Sie haben in der Öffentlichkeit erklärt, dass dieserKoalitionsvertrag eine liberale Handschrift trägt. Ichfreue mich, dass es gelungen ist, wenigstens das, was dasBundesverfassungsgericht in Bezug auf gleichge-schlechtliche Lebensgemeinschaften vorgegeben hat,in den Koalitionsvertrag aufzunehmen.
Ich weiß, wie schwierig es in den letzten Jahren war: Wirsind immer wieder an die ideologischen Scheuklappender CDU/CSU gestoßen, wenn wir in diesem Bereichauch nur die kleinsten Veränderungen vornehmen woll-ten, selbst wenn es Vorgaben des Bundesverfassungsge-richts gab und klar war, dass sich etwas tun muss. Ichlese den Koalitionsvertrag; aber bevor ich mich tatsäch-lich – insbesondere für die betroffenen Menschen – überVerbesserungen freue, warte ich Ihre Taten ab. Wenn dierichtigen Vorschläge kommen – Herr Stadler kündigt dasan; wir nehmen Sie beim Wort –, werden Sie uns auf je-den Fall als konstruktive Mitstreiter an Ihrer Seite haben.Lassen Sie uns den Koalitionsvertrag in einigenPunkten überprüfen. Sie haben gesagt, hier sei insbeson-dere der Gedanke des liberalen Rechtsstaats zu spüren.Bei einigen Punkten kommen allerdings Zweifel auf.
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Christine LambrechtKollege Scholz und andere haben es schon angespro-chen. Die Überlastung der Gerichte wird völlig zu Rechtzum Thema gemacht. Rechtswege dauern lange, Richterund auch alle anderen, die in diesem Bereich beschäftigtsind, haben viel zu tun. Aber wenn dann vorgeschlagenwird, die Prozesskosten- und Beratungshilfe auf denPrüfstand zu stellen – das heißt nichts anderes, als dasssie gekürzt werden soll –, dann hat das, glaube ich, mitdem Rechtstaatsbegriff nichts zu tun.
Denn was heißt das konkret? Es heißt doch, dass denje-nigen, die finanziell schwach sind und sich weder einenAnwalt noch die entsprechenden Gebühren leisten kön-nen, der Rechtsweg verschlossen bleibt, aber all diejeni-gen, die dieses Privileg in Anspruch nehmen können, dasRecht haben, zu klagen. Bei allen anderen ist es einMissbrauch. Wenn man Geld hat und klagt, dann ist esvöllig in Ordnung. Dabei werden Sie allerdings auf denerbittertsten Widerstand der SPD-Fraktion stoßen, undzwar nicht erst, seitdem wir in der Oppositionsrolle sind.Das war eine ganz klare Position, die wir schon immervertreten haben, und dabei werden wir auch bleiben.
Ähnlich ist es mit der Privatisierung des Gerichts-vollzieherwesens. Abgesehen davon, dass ich es rechts-staatlich für höchst bedenklich halte, wenn Sie ein sol-ches Vorhaben umsetzen, verführt es auch automatischdazu, dass Sie den Menschen eine Erhöhung der Gebüh-ren klarmachen müssen. Die Erhöhung der Gebührenwird sich auf ungefähr 200 Prozent belaufen, weil ge-genwärtig die eingenommenen Gerichtsvollziehergebüh-ren nicht ausreichen, um die Kosten zu decken. Sie wer-den vielmehr zurzeit in einer Größenordnung von345 Millionen Euro subventioniert. Zumindest diese345 Millionen Euro müssen dann irgendwo eingetriebenwerden.
Dazu kommt, dass ein privater Gerichtsvollzieher auchetwas verdienen will. Das bedeutet einen ordentlichenAufschlag für diejenigen, die sowieso schon nichts oderwenig haben. Sie werden sich darauf einstellen müssen,dass auch das mit uns nicht zu machen ist.
Lassen Sie uns einen weiteren Punkt ansprechen, derunter das Thema Populismus fällt. Dazu gehört dasThema Zwangsheirat. Sie wollen die Zwangsheirat ver-bieten. Sie ist aber schon längst verboten. Alles, was Siejetzt in den Koalitionsvertrag hineinschreiben, ist einezusätzliche Überschrift. Damit haben Sie völlig recht.Aber subsumieren kann man sie, wenn man es einiger-maßen beherrscht, bereits heute unter den Fall der be-sonders schweren Nötigung. Man muss sich nur Mühegeben.
Es ist also keineswegs so, dass wir eine Rechtslücke hät-ten, die jetzt endlich geschlossen werden muss. Nein,hier wird nur Kosmetik betrieben und einfach ein Wortmit hineingeschrieben. Wenn das Ihr Verständnis derPolitik eines liberalen Rechtsstaats ist, dann bin ich sehrskeptisch.
Ebenso geht es im Jugendstrafrecht weiter. Dazu ha-ben Sie die Erhöhung der Höchststrafe im Jugendstraf-recht von zehn auf 15 Jahre vereinbart.
Jetzt lassen Sie uns einmal hören, was Sie gesagt haben,als Sie noch in der Opposition waren. Mit Genehmigungder Präsidentin zitiere ich die Kollegin Dyckmans, dieheute anwesend ist, aus der Debatte am 16. Januar 2008.Wir erinnern uns: Es war wieder einmal Landtagswahl inHessen, und Herr Koch hat versucht, mit genau diesemThema auf Stimmenfang zu gehen. Die KolleginDyckmans – damals noch in der Opposition – hat erklärt:Wir haben kein Problem mit dem geltenden Recht.Wir haben vielmehr ein Problem mit der Umset-zung des geltenden Rechts.Gegen Ende ihres Beitrags heißt es:… das alles zeigt, dass wir bereits heute nach demgeltenden Recht handeln können und handeln müs-sen. Wir brauchen keine neuen Gesetze.Recht haben Sie. Es ist nur schade, dass Sie sich dann,wenn Sie in der Regierungsverantwortung sind, an dieseSätze nicht mehr erinnern, sondern offensichtlich kleinbeigeben, dem Populismus unterfallen und jetzt dieHöchststrafe anheben wollen. Dazu kann ich nur sagen:Sie haben Ihre Wähler getäuscht.
Das Gleiche gilt für den Warnschussarrest. Jeder inder Praxis erklärt Ihnen, dass es grober Unfug ist, dassJugendliche, die genau diese Maßnahme erleiden, nichtsanderes erfahren als alle weiteren Möglichkeiten, wieman richtig kriminell wird.
Bei einer so bescheuerten Idee knicken Sie jetzt ein.Diese Position haben Sie auch vertreten, solange Sienoch in der Opposition waren. Aber auch dabei habenSie sich offensichtlich eines Besseren belehren lassen.So ist es eben, wenn man in die Regierung kommen und
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Christine Lambrechtmitspielen will. Ich sage in Ihre Richtung nur: Verspro-chen – gebrochen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.Das wahre Gesicht zeigt die Koalition – darin sind Siesich wieder sehr einig –, wenn es um Klientelpolitikgeht. Dazu gehört das Thema Mietrecht – das ist schonangesprochen worden –, insbesondere die Verkürzungder Kündigungsfristen.Ich will aber noch ein weiteres Beispiel von Klientel-politik anbringen. Sie wollen prüfen, ob Grundstücke,die nach 1945 in der SBZ enteignet wurden, kosten-günstig an die ehemaligen Eigentümer abgegeben wer-den können, wenn sie jetzt in öffentlicher Hand sind.
Darüber kann ich nur lachen. Es gibt ein Entschädi-gungs- und Ausgleichsleistungsgesetz. Vor langen Jah-ren ist ein Kompromiss zu einem solchen Ausgleich ge-funden worden. Den haben Sie damals nochbeschlossen. Diesen Kompromiss wollen Sie jetzt zu-gunsten Ihrer eigenen Klientel wieder aufheben und da-mit sehr viel Unfrieden in die neuen Länder bringen.Dazu kann ich meinem Vorredner nur sagen: Vielleichtkönnten Sie da einmal aufräumen, damit so etwas nichtin die Tat umgesetzt wird.
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie sind nicht zum ers-ten Mal Justizministerin. Ich muss schon sagen: Ihr da-maliger Rücktritt und Ihre Tränen darüber haben Ge-schichte gemacht und mich als junge Juristin sehrbeeindruckt. Der Grund für Ihren Rücktritt war dergroße Lauschangriff. Er ist heute noch in Kraft.
– Akustische Wohnraumüberwachung. Vielen Dank fürdie präzise Formulierung. – Mittlerweile sind das Gesetzüber die Vorratsdatenspeicherung und das BKA-Ge-setz hinzugekommen. Daher verwundert es, dass Siejetzt, wo sich vieles in eine Richtung verändert hat, dieSie ursprünglich nicht mittragen konnten, den Mut ha-ben, in dieses Amt zurückzukehren.Was mich in negativem Sinn besonders beeindruckt,ist, dass Sie momentan Justizministerin sind und gegeneines der Gesetze klagen, die in Kraft sind, nämlich dieVorratsdatenspeicherung. Sie selbst klagen gegen einGesetz.
– Da haben Sie gut aufgepasst. Aber sie klagt trotzdemdagegen. – Ich glaube, das ist ein einmaliger Vorgang inDeutschland.
– Kein Wunder, dass Sie sich so aufregen. Bei einem sol-chen Vorgang wäre auch ich aufgebracht.Wenn die Frau Justizministerin darauf angesprochenwird, erklärt sie: Ich warte ab, was das Bundesverfas-sungsgericht sagt. Da kann ich nur sagen: Was ist dennmit dem Gestaltungsauftrag der Politik? Sie sind die am-tierende Justizministerin. Sie haben die Mehrheit in die-sem Hause. Ändern Sie das Gesetz doch! Sie haben ur-sprünglich erwartet, dass wir entgegen alleneuropäischen Vorgaben
dieses Gesetz zurückhalten. Sie haben jetzt die Möglich-keit, Ihren Worten Taten folgen zu lassen. Aber das Seinbestimmt das Bewusstsein. Es ist leichter, so etwas inder Opposition zu fordern, als dann, wenn man in derRegierung ist. Ich hoffe, dass dies der einzige Fall ist, indem Sie Ihre Überzeugung so leichtfertig über Bord wer-fen, und dass Sie in Zukunft weiter für Ihre liberalenGrundüberzeugungen kämpfen werden.Meine Damen und Herren von der Koalition, wir wer-den Ihre Arbeit begleiten und immer darauf hinweisen,wenn Sie wie in den vielen aufgezeigten Fällen IhreWahlversprechen brechen oder Überzeugungen überBord werfen. In diesem Sinn sind wir eine verlässlicheOpposition. Wir kündigen Ihnen aber auch eine kon-struktive Zusammenarbeit dort an, wo es in die richtigeRichtung geht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Michael Grosse-Brömer
von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Lobund Zuspruch ein Mensch ertragen kann, bevor es ihmunangenehm wird. Auch ich kann Ihnen das nicht erspa-ren, Frau Justizministerin. Ich wünsche Ihnen alles Gutein Ihrem neuen Amt. Sie machen das in der Tat zumzweiten Mal. Sie kennen das Haus und werden sehr er-folgreich sein, wahrscheinlich auch deshalb, weil Ihnendie Rechtspolitiker der CDU/CSU zur Seite stehen.
– Der Kollege Wieland wird wieder unruhig, weil erspürt, dass die Union einen vernünftigen Aufschlagmacht. Ich komme gleich darauf zurück.
In der Rechtspolitik können wir als CDU/CSU-Frak-tion nahtlos an eine erfolgreiche Arbeit der vergangenenJahre anknüpfen – das ist unser gnadenloser Vorteil –,wenn auch unter den Bedingungen einer veränderten po-litischen Mehrheit. Es gibt – das ist spannend – viele
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Michael Grosse-Brömerneue Kollegen. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit,insbesondere mit den Kollegen in unseren Reihen. Wirwerden aber auch die neuen Gesichter in der Oppositionund neue Argumente kennenlernen. Sicherlich werdenwir ein neues Miteinander finden. Leider gibt es auch einpaar Kollegen, die wir vermissen werden. Ich glaube,wir hatten mit Andreas Schmidt – er gehört nicht mehrdem Deutschen Bundestag an – einen ganz tollen Aus-schussvorsitzenden. Es gibt noch einen anderen Kolle-gen, der – ich muss jetzt Herrn Wieland zitieren – unver-gessen ist, nämlich Jürgen Gehb, der rechtspolitischerSprecher meiner Fraktion war.
Es ist schön, dass wir trotz der vielen neuen Gesichteralte vermissen, weil sie so gut waren. Mich freut es ganzbesonders, dass es sich dabei um Mitglieder der Unions-fraktion handelt.Wir, die christlich-liberalen Partner, haben in den be-reits permanent diskutierten Koalitionsvertrag die gutenSachen aufgenommen und die schlechten weggelassen.Deswegen wäre es klug, wenn die Opposition der Emp-fehlung der charmanten Kollegin Lambrecht von derSPD folgen und abwarten würde.Es gibt natürlich noch einige Sachen, die auf uns zu-kommen. Wir haben nicht alles in diesem Koalitionsver-trag geregelt.
Das sieht man an dem Punkt, den sie angesprochen hat,nämlich die Prozesskostenhilfe. Wir ahnen die Reaktionder Opposition. Wer PKH auch nur anfasst, kommtgleich in den Geruch, die armen Leute daran zu hindern,den Rechtsstaat in Anspruch zu nehmen. Darum ging esbei der Prozesskostenhilfe in der letzten Legislatur-periode nicht,
darum wird es auch in dieser Legislaturperiode nicht ge-hen; denn es geht nur darum, die Möglichkeit zu be-schränken, dass man die Prozesskostenhilfe ausnützt,weil man sich arm rechnet, und zwar durchaus in Part-nerschaften, die wohlhabend sind. Es geht darum, in ei-nem solchen Fall nicht weiter Prozesskostenhilfe in An-spruch nehmen zu können. Das ist ein Punkt, den wiransprechen müssen, weil er von Ihnen in die Debatte ge-bracht wurde.Wir werden auch weiterhin mit der Überregulierungkämpfen und gleichzeitig den Schutz der Bevölkerungim Auge haben müssen. In diesem Spannungsfeld wer-den wir sicherlich spannende Debatten haben, ichglaube, auch in der Koalition. Wir werden weiterhin dasRechtsempfinden der Menschen beachten müssen. Wirhaben in der letzten Legislaturperiode gespürt, dass dieManagergehälter im Vergleich zu dem, was geleistetwurde, nicht immer angemessen waren. Deswegen hatman auch rechtspolitisch darauf reagiert. Ich glaube, wirmüssen auch in Zukunft nahe beim Menschen bleibenund zusehen, dass wir die Akzeptanz des Rechtsstaatsbei den Menschen stärken.Die Kanzlerin kündigte gestern zu Recht an, Deutsch-land zu neuer Stärke zu führen. Eine der großen StärkenDeutschlands ist die Rechtsordnung. Wir müssen dieVorteile dieser Rechtsordnung, nämlich leistungsfähigeGesetze, leistungsfähige Justiz, national bewahren undinternational herausstellen und stärken. Stichwort isthier: Bündnis für das Recht. „Law – Made in Germany“,das ist eine vorbildliche Arbeit der Politik und der be-rufsständischen Vertretungen gewesen. Ich nenne hierdie Bundesrechtsanwaltskammer, den Deutschen An-waltsverein, die Bundesnotarkammer, den DeutschenNotarverein und den Deutschen Richterbund. Da ist einesehr gute Arbeit im Sinne des deutschen Rechtsstaatsund des deutschen Rechts geleistet worden. Wir pflegenein exzellentes Miteinander – das finde ich gut – zwi-schen Politik und berufsständischen Vertretungen. Dazuzählen beispielsweise auch die Rechtspfleger oder diePatentanwälte. Ich glaube, es wird weiterhin so seinmüssen, dass wir als Rechtspolitiker hier im DeutschenBundestag Wert auf diese praktischen Erfahrungen le-gen, dass wir die Erfahrungen berücksichtigen, unser gu-tes Verhältnis weiter intensivieren und diese Kontaktepflegen.Ich will noch kurz darauf hinweisen, dass nach meinerÜberzeugung die deutsche Rechtsordnung gravierendeVorteile gegenüber dem angelsächsischen Recht hat. Wirhaben das bei der internationalen Finanzmarktkrise ge-spürt. Es wäre manches Mal besser gewesen, wenn wirdeutsche Rechtssätze, deutsche Bilanzierungsvorschrif-ten hätten zur Anwendung bringen können und nicht an-dere. Bei diesem Punkt werden wir sicherlich insgesamtnoch nacharbeiten müssen. Es geht auch in den nächstenvier Jahren um Deregulierung. Aus Unionssicht geht esdabei immer erstens um weniger und zweitens um bessereGesetze. Da gilt der alte Satz, der von dieser Stelle schonmehrfach, auch von unterschiedlichen Parteien, zitiertwurde: Wo es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen,ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen. –
Ich glaube, daran sollte man sich zwischendurch einmalerinnern, im Übrigen auch, weil ich jetzt den Parlamen-tarischen Staatssekretär Otto sehe, der nicht mehr imKulturausschuss mit mir permanent über Staatszielbe-stimmungen diskutieren wird. Vielleicht täte demGrundgesetz eine kleine Ruhepause gut.
Wir haben manches geändert, aber vielleicht können wirauch einmal nicht dem Wunsch jeder Kollegin und jedesKollegen nachkommen, sein Lieblingspolitikziel schnellin die Verfassung zu schreiben, weil es da so gut aufge-hoben ist und weil man dann einen Erfolg zu Hause ver-künden kann. Aber Sie, Herr Kollege, haben eine ganzwichtige Aufgabe, und ich bin froh, dass Sie sich jetzt
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Michael Grosse-Brömerim Wirtschaftsministerium mit schwierigen Fällen be-schäftigen müssen.Wir werden Gesetze nach wie vor systematisch nach-vollziehbar und auch verständlich machen müssen.Ein Punkt, den ich zum Schluss ansprechen will, istaus meiner Sicht sehr wichtig. Es gibt vieles, was nichtmehr rein national zu regeln ist. Das ist unstreitig. Eu-ropa und die Bundesrepublik Deutschland sind wechsel-seitig voneinander abhängig. Wir werden die europäi-sche Integration nicht als Bedrohung verstehen, son-dern als Gelegenheit, auf globaler Ebene nationaleInteressen durchzusetzen. Wir haben die Begleitgesetzeneu gestaltet. Wir müssen jetzt, gerade im Rechtsaus-schuss, noch eines tun: Wir müssen die erweitertenBefugnisse dieses Parlaments, die erweiterten Mitwir-kungs- und Mitbestimmungsrechte jetzt auch in An-spruch nehmen. Nur Gesetze machen reicht nicht, geradedann nicht, wenn sie uns persönlich betreffen. Daranmüssen wir in den nächsten vier Jahren arbeiten. Das istein ganz wichtiger Punkt.
Ich bin mir sicher: Letztlich können wir auf den Un-terausschuss Europarecht nicht verzichten. Da werdenviele Kollegen mitarbeiten müssen. Wie ich gehört habe,gibt es viele, die von diesem Bereich etwas verstehen.Sie können ihre Kenntnisse sicherlich sinnvoll einbrin-gen. Wir werden europarechtlich intensiver, besser ar-beiten müssen.
Zum Schluss will ich sagen: In der Rechtspolitik hatsich diese Koalition viel vorgenommen. Wir sind näm-lich sicher, dass vieles möglich ist. Frau Ministerin, be-vor Ihnen Herr Otto irgendetwas über die Kulturstaats-zielbestimmung erzählt, will ich noch schnell sagen,dass dieses Koalitionsbündnis – so haben Sie es im Welt-Interview gesagt – keine Zwangsbeglückung sei, son-dern eine von Empathie und dem Willen zur Zusammen-arbeit getragene Partnerschaft. Diese Einschätzung teileich voll und ganz. Besonders freut uns, dass Sie damitvorweggenommen haben, dass ohne partnerschaftlicheBeteiligung der Rechtspolitiker der Union in dieserKoalition wohl keine erfolgreiche Rechtspolitik möglichist. In diesem Sinne herzlichen Dank Ihnen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Jens Petermann hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Ministerin, in Sachen Rechtspolitik hat dieKoalition, wie im Koalitionsvertrag nachzulesen ist, ihreHausaufgaben nur unzureichend erledigt. Diesen Vor-wurf kann ich Ihnen leider nicht ersparen. Ich möchtedas an zwei Punkten festmachen.Erstens. Sie haben es, wie zuvor in schöner Regel-mäßigkeit alle Regierungen seit 1990, versäumt, die Ver-pflichtungen aus dem Einigungsvertrag vom 3. Oktober1990 zu erfüllen und ein Gesetz zur Regelung derArbeitsverhältnisse vorzulegen. In Art. 30 Abs. 1 Eini-gungsvertrag heißt es:Es ist die Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzge-bers, das Arbeitsvertragsrecht … einheitlich neu zukodifizieren …Die jüngere deutsche Rechtsgeschichte zeigt mit demDDR-Arbeitsgesetzbuch von 1976, dass sich die Ar-beitsbeziehungen handhabbar regeln lassen und dassRechtssicherheit für die Beteiligten an Arbeitsrechtsver-hältnissen erzeugt werden kann.
– Beruhigen Sie sich doch mal. Hören Sie doch erst ein-mal in Ruhe zu.Von diesen Erfahrungen hat sich die Verhandlungs-gruppe der DDR-Regierung leiten lassen und die obenzitierte Regelung in Art. 30 Einigungsvertrag erreicht.
Die Linksfraktion wird dieses Thema in der vor unsliegenden Legislatur aufgreifen und einen Entwurf fürein zeitgemäßes Arbeitsgesetzbuch vorlegen. Dabei wirdein gesetzlicher existenzsichernder Mindestlohn in Höhevon zumindest 8,50 Euro festzuschreiben sein.
Wir bieten allen Fraktionen an, sich an der Erarbeitungzielführend zu beteiligen und damit gerade im zeitlichenKontext des 20. Jahrestages der Grenzöffnung ein Zei-chen zu setzen. Auch das ist ein Beweis dafür, dass dieHerstellung der deutschen Einheit im Sinne des Eini-gungsvertrages über Sonntagsreden hinaus ernst gemeintist.
Zweitens. Der preußische Justizminister Leonhardterklärte einst:Solange ich über die Beförderungen bestimme, binich gern bereit, den Richtern ihre sogenannte Unab-hängigkeit zu konzedieren.Dieses Zitat stammt aus dem 19. Jahrhundert, also auseiner Zeit, in der unser Justizsystem seine Wurzeln hat.
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Jens PetermannWas in einem Rechtsstaat nach dem Prinzip der Gewal-tenteilung selbstverständlich ist, nämlich eine unabhän-gige selbstverwaltete dritte Gewalt, ist in Deutschland inder Form nicht vorhanden. Hier bestimmt nach wie vordie Exekutive, wer Richter wird und wer als Richter be-fördert wird. Ein Rechtsstaat verdient diesen Namen al-lerdings nur insoweit, als er strukturell die Unabhängig-keit der Rechtsprechung gewährleistet.
Die Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz isteine zentrale Forderung, der sich auch das höchste deut-sche Parlament immer wieder stellen muss. Das Grund-gesetz hat die rechtsprechende Gewalt den Richterinnenund Richtern anvertraut; tatsächlich aber werden die Ge-richte durch die hierarchisch gegliederten Justizbehör-den geleitet. Diesem in Europa nur noch in Österreich,Tschechien und Deutschland anzutreffenden obrigkeits-staatlichen Konzept ist ein hierarchiefreies Modell ent-gegenzustellen. Die von Verfassungs wegen zu verlan-gende Autonomie der Justiz erfordert schließlich eineunabhängige selbstverwaltete Justiz. Letztendlich lehnenwir die Schaffung einer zusätzlichen Militärjustiz, wiesie gerade diskutiert wird, ab. Wir fordern: Friedens-diplomaten statt Militärrichter.Danke, meine Damen und Herren.
Herr Petermann, auch für Sie war das Ihre erste Rede
hier im Hohen Hause. Sie haben sofort die Lebendigkeit
des Parlaments herausgefordert. Wir wünschen Ihnen
hier weiter alles Gute.
Daniela Raab ist die nächste Abgeordnete, die für die
Fraktion der CDU/CSU spricht.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Zunächst auch von meiner Seite und aus ganz per-sönlicher Überzeugung meine herzlichsten Glückwün-sche an Sie, Frau Ministerin, aber natürlich auch an Sie,Herr Staatssekretär Stadler. Wir beide kennen uns seitden letzten beiden Legislaturperioden sehr gut aus demRechtsausschuss. Ich denke, es wird eine sehr konstruk-tive und gute Zusammenarbeit, wenn wir uns das zumBeispiel nehmen, was wir während der Koalitionsver-handlungen über viele Tage und Abende praktiziert ha-ben. Es sind schon stichwortartig sehr viele Punkte, aufdie wir uns haben einigen können, genannt worden.Ich verhehle nicht, dass es an der einen oder anderenStelle bei der Abwägung von Freiheit und Sicherheit– das hat uns in den letzten Jahren beschäftigt; das wirduns in den nächsten Jahren weiter beschäftigen – somanche harte Nuss zu knacken gab. Wir haben uns aber,wie ich finde, durchaus sehr erfolgreich bei manchmalsehr weit auseinanderliegenden Vorstellungen in einerguten und durchaus vertretbaren Mitte treffen können.Damit meine ich das BKA-Gesetz; damit meine ich auchdie Vorratsdatenspeicherung. Bei diesen beiden Punktensind wir, wie ich glaube, von am weitesten auseinander-liegenden Positionen aufeinander zugegangen. Das warauch sicherlich richtig. An der einen oder anderen Stellewarten wir die Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts ab, wodurch dann vielleicht die jeweiligen Mög-lichkeiten eingeschränkt werden.Ich verhehle auch nicht, dass es manchmal schwierigwar; das gebe ich zu. Ich denke aber, wer will, dass dieseKoalition eine erfolgreiche Rechtspolitik macht, dermuss auch in der Lage sein, Grenzen zu akzeptieren undKompromisse zu schließen. Ich glaube, gerade an denbeiden genannten Punkten, BKA-Gesetz und Vorrats-datenspeicherung, ist uns das sehr gut gelungen.Wir haben natürlich auch Dinge durchsetzen können,die gerade meiner Partei und meiner Fraktion ausgespro-chen wichtig waren. Der Warnschussarrest ist schon er-wähnt worden. Wir erhöhen auch – dieses Stichwort istheute, wie ich glaube, noch nicht gefallen – die Höchst-strafe für Mord im Jugendstrafrecht von 10 auf 15 Jahre.
Auch das war uns ganz besonders wichtig.
Ich danke für Ihre Kooperationsbereitschaft an dieserStelle.Wichtig war uns auch – das möchte ich ansprechen,obwohl wir es nicht durchgesetzt haben –, ein Fahrver-bot als Hauptstrafe für Jugendliche durchzusetzen. Eswäre mein ganz persönlicher Wunsch, aber auch dermeiner Kollegen gewesen, dies durchzusetzen. Wir müs-sen doch schauen, was bei Jugendlichen wirkt. GuteWorte wirken ja meist nicht so gut. Bewährungsstrafenwerden häufig gern als Freispruch empfunden. Ganz be-sonders wirkt aber die Einschränkung der Freiheit, undfür viele Jugendliche ist die höchste Form der Freiheitdas freie Sich-Fortbewegen-Können in Form von Auto-fahren. Ich hätte mir durchaus vorstellen können, dassman sich hier vonseiten der FDP ein bisschen mehr be-wegt hätte. Auf diese Weise hätte man sicherlich erhebli-che erzieherische Wirkung erzielen können. Ich sprechedas noch einmal an, weil ich denke, dass in dieser Fragenoch nicht aller Tage Abend ist, und gebe dies als Merk-posten den Kollegen an die Hand, die künftig dieRechtspolitik begleiten werden.Bei der Sicherungsverwahrung haben wir uns dage-gen auf eine Lückenschließung geeinigt. Das war drin-gend erforderlich; denn das wurde von vielen Bürgern,aber auch von vielen Opfern ständig angemahnt. Dieses
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Daniela RaabVorhaben müssen wir jetzt zügig angehen; denn bewussteine Lücke hinzunehmen, die auf Kosten der Sicherheitgeht, ist für einen Rechtsstaat nicht akzeptabel.Bei den Internetsperren ist eine Lösung gefundenworden, die wir als Rechtspolitiker sehr gut mittragenkönnen, nämlich Löschen statt Sperren. Wir hatten vonAnfang an gerade bei diesem Gesetz ein ganz kleinwenig Bauchschmerzen. Diese Bauchschmerzen sinddurchaus etwas weniger grummelig geworden.
– Ich teile nicht immer meine persönlichen Befindlich-keiten mit, aber gerade eben habe ich es getan.
Es ist mir auch lieber, so etwas mit Kollegen zu machen,die mir etwas näherstehen.Vorhin wurde schon gesagt, dass Zwangsverheira-tung von Frauen, die in unserer Mitte leben, ein Zei-chen von Menschenverachtung und ein Zeichen vonMissachtung unseres Grundgesetzes ist. Man kann na-türlich sagen, wir haben mit dem Straftatbestand der Nö-tigung eine Regelung, die, wenn man sie entsprechendauslegt und richtig liest, die Zwangsverheiratung verbie-tet. Ich denke aber, in diesem Bereich ist ein entspre-chender Fingerzeig ganz wichtig. Ich gehöre zwar nichtzu denjenigen, die glauben, vom Strafrecht müsse Sym-bolkraft ausgehen. Ich denke aber, dass es an dieserStelle wichtig ist, dass wir festhalten, dass Zwangsver-heiratung mit unserer Wertevorstellung zu keinem Zeit-punkt vereinbar ist, und dass wir deswegen, weil wir denFrauen helfen wollen, gerade diesen Straftatbestand ganzbewusst ins Strafrecht mit aufnehmen sollten.
Bezüglich der Vorhaben im Mietrecht war die Aufre-gung ganz besonders groß. Da wird immer gleich davongeredet, dass man ideologisch handele bzw. Scheuklap-pen aufhabe, wenn man eine andere Meinung vertritt.Das ist sehr interessant. Natürlich geht es beim Miet-recht um Mieterrechte. Sie sind bei uns richtig gut aus-geprägt. Es geht aber auch um die Vermieterrechte, unddiese haben auch ein ganz klein wenig mit Eigentums-schutz zu tun. Das sollten wir an dieser Stelle nicht ver-gessen.Wenn Vermieter, deren vermietete Wohnung einenTeil ihrer Altersversorgung darstellt, durch Mietnoma-den in einer Weise geschädigt werden, die einen kom-plett fassungslos hinterlässt, dann ist es unsere ver-dammte Pflicht und Schuldigkeit, hier einzuschreiten.Genau das tun wir. Das heißt, Mietrecht für Mieter, fürVermieter und zum Schutz des Eigentums. Das muss andieser Stelle deutlich erwähnt werden. Deswegen halteich es für sehr richtig, dass wir uns hier Verbesserungen– ich betone: Verbesserungen – vorgenommen haben.Diese werden wir dringend angehen müssen.
Ein Punkt, der mir persönlich wichtig war, ist die ver-trauliche Geburt. Ich möchte dieses Thema anspre-chen, auch wenn ich weiß, dass es hochumstritten ist.Wir haben uns darauf geeinigt, zu prüfen, welcheRechtsgrundlage es für Frauen in einer problematischenSchwangerschaft geben kann, die ihr Kind eigentlichgerne zur Welt bringen möchten, aber ihre Daten nichtpreisgeben wollen. Hier müssen wir – ich weiß, wieschwierig das ist – zwischen dem Recht des Kindes aufKenntnis in Bezug auf die Abstammung und dem Rechtdes Kindes auf Leben abwägen. Vielleicht gelingt es uns,in dieser Legislaturperiode eine Lösung in der Richtungzu finden, dass zunächst zumindest die Hürde für dieGeburt etwas gesenkt werden kann, was eine Rettungdes Kindes bedeuten würde. Anschließend müssen wirim Personenstandsgesetz eine vernünftige Regelung ver-ankern. Mir wäre das sehr wichtig.Zum Schluss möchte ich zur Einmischung auffordern.Der Kollege Grosse-Brömer hat das Thema schon ange-sprochen. Wir werden in den nächsten Monaten sicher-lich sehr viel über Rechtspolitik im Zusammenhang mitder Wirtschaftskrise zu sprechen haben. Ich nenne alsSchlagworte das Gesellschaftsrecht, wo wir schon vielRichtiges getan haben, und das Bilanzrechtsmodernisie-rungsgesetz, das sicherlich eines der wichtigsten Gesetzeder letzten Legislaturperiode ist. Wir müssen uns aberauch um Themen wie das der europäischen Finanzricht-linien und das der Standards bei Finanzdienstleistungenkümmern, bei denen wir auf europäischer oder vielleichtsogar auf internationaler Ebene zu Regelungen kommenmüssen. Wir können als Rechtspolitiker nicht einfachdarauf vertrauen, dass die Finanzpolitiker das schon gutmachen werden.Ich denke, dass wir uns da in ganz erheblicher Weiseeinmischen müssen, Frau Ministerin. Denn Rechtspolitikist immer eine Querschnittsaufgabe; sie ist zum Teil im-mer auch Wirtschaftspolitik. Deswegen haben wir hiereine große Verpflichtung, gerade was die europäischenRegelungen in Bezug auf die Finanzkrise und die not-wendigen Konsequenzen daraus angeht. Ich wünschemir, dass wir dieses Thema bewusst aufnehmen und unsmit den vernünftigen Grundsätzen der Rechtspolitik ein-mischen.Vielen herzlichen Dank.
Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Diese Bundesregierung möchte, so hat sie esverkündet, das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürgerzum Staat verbessern. Mir scheint, da hat die Bundesre-
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Halina Wawzyniakgierung das Grundgesetz nicht wirklich gelesen. Denn inArt. 20 Abs. 2 steht:Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Vielleicht wäre es angesichts dessen besser, das Verhält-nis des Staates zum Bürger zu verbessern.Derzeit wird die Staatsgewalt allein durch Wahlenausgeübt. Ich komme gleich auch noch auf das Wahlge-setz zu sprechen. Doch der Koalitionsvertrag selbstdeckt den Mantel des Schweigens über die Frage direk-ter Demokratie und mehr Beteiligungsmöglichkeitenfür Bürgerinnen und Bürger.
Noch in der vergangenen Legislaturperiode lagen die-sem Haus drei Gesetzentwürfe für mehr direkte Demo-kratie vor: einer von Bündnis 90/Die Grünen, einer vonder Linken und einer von der FDP. Lesen Sie in Druck-sache 16/474 nach. Darin heißt es:Der Wunsch und die Bereitschaft der Bevölkerung,Verantwortung für eine aktive Bürgergesellschaftzu übernehmen und an ihrer Ausgestaltung mitzu-wirken, gebieten es, die parlamentarisch-repräsen-tative Demokratie um direkte Beteiligungsrechtefür Bürgerinnen und Bürger zu ergänzen.Das Gebot, die parlamentarisch-repräsentative Demo-kratie um direkte Beteiligungsrechte zu ergänzen, istwohl den Bremsern der CDU/CSU in der Frage direkterDemokratie geopfert worden. Die Haltung der CDU/CSU ist nicht wirklich verwunderlich. Sie setzt die Poli-tik der CDU/CSU aus der vergangenen Legislaturperi-ode fort.
Aber, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,seien Sie doch nicht so hasenfüßig. Ihr CDU-Landesver-band in Berlin hat mit dazu beigetragen, dass die vonRot-Rot vorgeschlagene Verfassungsänderung für mehrDemokratie in Berlin verabschiedet werden konnte.
Berlin steht jetzt weit oben auf der Liste der Länder, diemehr Demokratie ermöglichen. Reden Sie mit Ihren Par-teifreunden aus Berlin! Herr Krings, zeigen Sie, dass Siewirklich nicht in Schubladen denken! Geben Sie sich ei-nen Ruck! Die Bürgerinnen und Bürger werden es Ihnendanken.
Der Koalitionsvertrag sagt auch nichts zur Verände-rung des Wahlrechts aus. Das ist ausgesprochen interes-sant. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht demHohen Haus einen Arbeitsauftrag aufgegeben.
Wer Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt, der sollteendlich darangehen, das Wahlrecht auch all jenen zu ge-ben, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.
Bei dieser Gelegenheit denken Sie doch auch nocheinmal über das Staatsbürgerschaftsrecht nach. Werwirklich mündige Bürgerinnen und Bürger will, der gibtihnen auch die Möglichkeit, mit zu entscheiden, und derändert das Wahlrecht auch für Menschen, die schon län-ger hier leben.Danke.
Frau Wawzyniak, auch für Sie war es die erste Redeim Plenum. Wir beglückwünschen Sie dazu und wün-schen Ihnen alles Gute.
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Punkt.Wir kommen nun zu den Themenbereichen Bildungund Forschung. Hierzu ist verabredet, eineinviertelStunden zu debattieren.Ich gebe das Wort der Bundesministerin Dr. AnnetteSchavan.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der Koalitionsvertrag sendetstarke Signale an die junge Generation.
Gute Bildung und leistungsstarke Forschung sollen dieBildungsrepublik Deutschland prägen. Die Grundidee,also die ganz konkrete Entfaltung dessen, was gemeintist, steht in dem Vertrag der christlich-liberalen Koali-tion.
Was meinen wir im Grundsatz, wenn wir sagen: „Bil-dungsrepublik Deutschland ist das Ziel, ist das Zukunfts-bild, das wir vor Augen haben“? Wir meinen viererlei:Erstens. Kein Kind darf verloren gehen.
Zweitens. Niemand darf um die Entfaltung seiner Ta-lente gebracht werden.Drittens. Bildung und Forschung werden als inspirie-rende Kräfte und Quellen künftigen Wohlstands aner-kannt.Viertens. Bildung und Forschung müssen – das ist un-sere Aufgabe in Parlament und Regierung hier in Berlin,aber auch in den 16 Ländern sowie in den Städten und
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Bundesministerin Dr. Annette SchavanGemeinden – in den nächsten Jahren mehr denn je politi-sche Priorität haben.
Wir beginnen nicht am Punkt null. Auch für den Be-reich von Bildung und Forschung gilt: Da gibt es man-ches, auf das wir aufbauen können. Da gibt es gute Initia-tiven in einzelnen Städten und in den Ländern. Aber dasFundament muss noch stabiler werden. Wir wollen einesder besten Bildungssysteme der Welt. Wir wollen, dassDeutschland im internationalen Vergleich einer der attrak-tivsten Wissenschafts- und Forschungsstandorte ist.Der Koalitionsvertrag enthält die starke Zusage desBundes, in den kommenden vier Jahren zusätzlich12 Milliarden Euro in Bildung und Forschung zu inves-tieren. Damit erhöhen wir den Anteil des Bundes für Bil-dung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlands-produkts: 7 Prozent für Bildung, 3 Prozent für Forschung.Auch das ist ein starkes Signal und zeigt, welche Prioritätdiese christlich-liberale Koalition der Bildung und For-schung beimisst.
Wir haben dies in der Zeit der schwersten Wirtschafts-krise in Deutschland beschlossen, weil wir davon über-zeugt sind, dass Bildung ein Bürgerrecht ist und dassgute Bildung und starke Forschung Quellen für künfti-gen Wohlstand sind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundeskanzle-rin hat gestern Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung inDeutschland genannt. Bis zum Jahre 2020 ist mit einemRückgang der Zahl der unter 25-Jährigen zu rechnen.Das setzt sich in einem etwa 20-prozentigen Rückgangder Zahl der Schülerinnen und Schüler in Deutschlandfort. Das bedeutet: Eine Gesellschaft mit weniger Kin-dern und Jugendlichen muss noch mehr tun, um jedemKind und jedem Jugendlichen Chancen durch Bildungzu eröffnen und sie zu Bildung, Ausbildung und Stu-dium zu ermutigen.Ich füge hinzu: Das ist nicht allein eine Aufgabe desStaates. Das ist die Aufgabe der ganzen Gesellschaft.Kinder und Jugendliche brauchen auch die Ermutigungdurch ihre Eltern. Deshalb sage ich: BildungsrepublikDeutschland meint mehr als ein gut finanziertes Bil-dungs- und Wissenschaftssystem, meint auch – diesmuss noch stärker eingefordert werden – Leidenschaftund Begeisterung für Lernen und Forschen als die bestenSeiten des Menschen.
Ich sage das auch deshalb, weil sich da niemand Illu-sionen machen soll. Allein mehr Geld und das Verspre-chen an die Bürgerinnen und Bürger, dass Bildung nichtskostet, führen noch nicht zu besserer Bildung und starkerForschung.
– Maulen Sie doch nicht so herum. Sie haben doch ge-rade Schiffbruch damit erlitten, dass Sie im Wahlkampfzur Bildungspolitik nichts anderes gesagt haben, als dassvon der Kita bis zur Uni alles kostenfrei sein sollte. Dashat Ihnen keiner geglaubt.
Große Versprechen – und wie viel Prozent haben Sie da-für bekommen?
Deshalb sage ich: Die Bürgerinnen und Bürger wollenmehr. Sie erwarten kreative Konzepte. Sie verlangen,dass endlich die Vergleichbarkeit der Bildungsinhalteund Schulabschlüsse möglich wird.
– Liebe Frau Kumpf, Sie regieren doch noch in ein paarLändern. Sie können jetzt zu all dem beitragen, was dieBürgerinnen und Bürger zu Recht von uns erwarten.
Die Lehrerinnen und Lehrer erwarten eine verlässli-che Partnerschaft mit den Eltern, um ihre Aufgabe in derSchule gut wahrnehmen zu können. Die Öffentlichkeiterwartet, dass wir endlich geeignete Wege finden, umdie Bildungsarmut in einem wohlhabenden Land zuüberwinden. Ich sage Ihnen: Das Wichtigste in dieserLegislaturperiode ist, dass es allen politischen Akteurengelingt, dass Bildungsarmut in diesem Land keinen Platzmehr hat.
Gute Bildung und die Teilhabe aller Kinder an einemleistungsfähigen Bildungssystem beginnen mit der früh-kindlichen Bildung. Deshalb werden wir die Weiterbil-dung der Erzieherinnen voranbringen, den Bildungs-auftrag der Kindergärten stärken und sie zu Häusern derkleinen Forscher weiterentwickeln. Außerdem sorgenwir – gestern haben schon einige Redner darauf hinge-wiesen – gemeinsam mit den Ländern dafür, dass jedesKind vor dem Schulbeginn eine Sprachförderung erhält,wenn seine Sprachentwicklung dies erfordert. Das ist einSchritt zur Integration; darin liegt für Kinder und ihre El-tern der Schlüssel für gute Bildung: früh beginnen, Spra-che lernen.
Wir werden ein Konzept für Bildungspartnerschaf-ten von Bund, Ländern und Kommunen entwickeln. Wirschaffen im Hochschulpakt 275 000 neue Studienplätze.Wir bauen gemeinsam mit den Ländern ein nationalesStipendienprogramm für 10 Prozent der Studierendenauf. Wir sichern das BAföG und entwickeln es weiter.
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Bundesministerin Dr. Annette SchavanSollte jemand von Ihnen schon ein Manuskript haben, indem steht, dass es abgebaut wird, dann streichen Siebitte diesen Satz.
Wir schaffen Anreize für das Bildungssparen, bauen dieAufstiegsstipendien aus und werden das Büchergeld fürdie Stipendiatinnen und Stipendiaten der zwölf Begab-tenförderungswerke auf monatlich 300 Euro erhöhen.Wir tun nicht so, als koste Bildung nichts. Wir geben at-traktive Impulse und Anreize für die Finanzierung vonBildung und Studium.
Gemeinsam mit den Sozialpartnern, den Ländern, derBundesagentur für Arbeit und den Weiterbildungsver-bänden werden wir eine Weiterbildungsallianz schmie-den. Wir werden zügig die Anerkennung von ausländi-schen Bildungs- und Berufsabschlüssen voranbringenund unsere Maßnahmen zur Integration von Jugendli-chen durch Bildung und Ausbildung verstärken.Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte – wir wis-sen das – sind besonders häufig in der Gefahr, keinenSchulabschluss zu erreichen. Wir haben gute Vorarbeitaus den letzten Jahren in diesem Bereich, vor allen Din-gen was das Engagement in der beruflichen Bildung an-geht. Nachdem es erste Fortschritte gibt, müssen wirjetzt aber den Ehrgeiz haben, zu sagen: Im nächstenJahrzehnt muss es in Deutschland gelingen, dass kein Ju-gendlicher mehr ohne Schulabschluss ins Leben geht.
Auch an diesem Punkt gilt, liebe Kolleginnen undKollegen: Eine ausreichende Finanzierung ist das eine,wirksame Konzepte sind das Zweite, aber das Dritte ist,dass Kinder und Jugendliche eben auch Erwachsenebrauchen, die sie ermutigen, die Chancen wahrzuneh-men, die Bildung bietet. Dies betrifft die Mentalität indieser Gesellschaft. Deshalb bedarf es mehr Zustim-mung zur Bildung nicht nur in Rede und Theorie, son-dern vor allem im alltäglichen Leben. Da brauchen Kin-der und Jugendliche Ermutigung.
Wir werden den Ausbildungspakt zum Qualitätspaktweiterentwickeln.
– Der war ziemlich erfolgreich, total erfolgreich.
Jetzt geht es um die Frage, wie wir Qualität und Ausbil-dungsreife so weiterentwickeln, dass wirklich jeder eineAusbildung antreten kann.Deutschland ist Teil des europäischen Bildungsrau-mes. Wir werden den deutschen Qualifikationsrahmenanalog zum europäischen Qualifikationsrahmen erarbei-ten, das Übergangssystem neu strukturieren und effizien-ter gestalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirwerden auch gerade mit dem Flaggschiff unseres Bil-dungssystem, der beruflichen Bildung, noch stärker in-ternational präsent sein.Gemeinsam mit den Ländern und den Hochschulenwerden wir ein Bologna-Qualitäts- und -Mobilitätspaketschnüren, das die Studienreform voranbringt. Sie istrichtig; aber sie verlangt Korrekturen, was die Gestal-tung der Studiengänge und die Verbesserung der Lehre,die bessere Betreuung und Beratung der Studierendenangeht. In den nächsten Monaten können seitens derLänder und da, wo wir helfen können, auch von unsererSeite deutliche Signale an die Studierenden gegebenwerden.Wir werden bereits ab dem Wintersemester 2011 inDeutschland das modernste Konzept der Studienplatz-vergabe haben. Auch das ist nach den Erfahrungen derletzten Jahre ein wichtiger Schritt für die Studierenden.Mit steuerlichen Anreizen für Investitionen in For-schung und Entwicklung in den Unternehmen stärkenwir die Innovationskraft unseres Landes. Wir wollen esso gestalten, dass neue Arbeitsplätze für Forscherinnenund Forscher geschaffen werden können.Wir werden die Hightech-Strategie weiterentwickelnals ein europäisches Konzept mit den Flaggschiffen imBereich der Gesundheitsforschung und der Energie- undKlimaschutzforschung. Wir werden ein integriertesEnergieforschungsprogramm vorlegen. Wir werden wei-tere Spitzenforscher aus aller Welt unter anderem mitden Alexander-von-Humboldt-Professuren nach Deutsch-land holen.Die Elektromobilität erweist sich als Querschnitts-thema. Ich glaube, sie wurde in drei Reden angespro-chen; auch ich könnte sie jetzt noch einmal nennen.Wenn ich mir die Kompetenz und die Kompetenznetze,die wir in Deutschland geschaffen haben, ansehe, dannbin ich davon überzeugt, dass das ein Renner wird.Die christlich-liberale Koalition wird mit dem Paktfür Forschung und Innovation und einem jährlichen Zu-wachs von 5 Prozent ein verlässlicher Partner unsererForschungsorganisationen sein und die Exzellenzinitia-tive in eine zweite Runde bringen.Schließlich: Auch in der Forschungspolitik gilt: DieTransparenz und die Akzeptanz der Chancen und die Ri-siken der Forschung sind so bedeutsam wie ihre Finan-zierung. Deshalb werde ich für den 2. Dezember zumnächsten Runden Tisch zur Grünen Gentechnik einla-den. Das ist ein Element dessen, was wir in den nächstenJahren verstärken werden: Dialogplattformen, Stärkungder Forschungsmuseen, Gründung eines Hauses der Zu-kunft, um den Diskurs über Zukunftstechnologien in un-serer Gesellschaft zu befördern.Der Blick in die 16 Bundesländer zeigt, dass nahezualle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien bil-dungspolitische Verantwortung tragen. Das kann manbedauern, je nachdem.
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Bundesministerin Dr. Annette SchavanAber man kann es auch als Chance sehen. Es ist eineChance – ich sage das ganz ernst – zum Konsens überParteigrenzen hinweg. Dazu lade ich Sie ein. Lassen Sieuns bei allen Meinungsverschiedenheiten und allemWettbewerb gemeinsam daran arbeiten, durch gute Bil-dung und starke Forschung Kinder und Jugendliche zuermutigen und unser Land voranzubringen.Vielen Dank.
Dagmar Ziegler hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte FrauSchavan! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Koali-tionsvertrag von Union und FDP ist leider eine bildungs-politische Mogelpackung. Es steht zwar „Bildung“ da-rauf, sie ist aber leider nicht drin.In der Bildungspolitik stehen wir vor enormen He-rausforderungen. Die bildungspolitischen Megathemensind Chancengleichheit und Bildungsqualität. Die gro-ßen Fragen lauten: Wie schaffen wir es, dass Bildungnicht mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängt? Wieschaffen wir es, dass alle Kinder früher und besser indi-viduell gefördert werden können? Wie schaffen wir bes-sere Integration in und durch Bildung? Wie schaffen wires, dass kein junger Mensch mehr ohne Schulabschlussund ohne Ausbildung in sein Leben starten muss? Wieschaffen wir einen echten Qualitätssprung zu bessererBildung? Das sind die zentralen Fragen, die die Men-schen bewegen und die eine gute Bildungspolitik beant-worten muss.
Aber, sehr geehrte Frau Schavan, in Ihrem Koalitions-vertrag finden wir auf keine dieser Fragen eine Antwort.Gerade mal fünf von insgesamt 132 Seiten widmenSie der Bildungspolitik. Es ist zudem schon erstaunlich,dass es Ihnen gelungen ist, auf weniger als fünf Seitennoch weniger konkrete Maßnahmen aufzuschreiben.
Und die wenigen konkreten Maßnahmen, die Sie ankün-digen, deuten darauf hin, dass Sie auch noch den fal-schen Weg einschlagen.Diese Koalition verabschiedet sich von dem Gedan-ken, dass Chancengleichheit das Ziel und gute Bildungfür alle eine öffentliche Aufgabe sein muss, die der Staatkostenlos zur Verfügung stellt. Die schwarz-gelbe Linielautet: mehr Gebühren, mehr Kosten für die Familien,mehr Auslese, weniger Chancengleichheit.
Sie treiben die soziale Spaltung auch im Bildungssystemvoran.Ich möchte das gerne an drei Beispielen erläutern.Erstens. Statt alle Kinder besser zu fördern, verschlech-tern Sie mit dem Betreuungsgeld die Bildungschancenvon benachteiligten Kindern. Sie wissen, dass das Be-treuungsgeld eine Bildungsverhinderungsprämie ist, dassdas Betreuungsgeld eben nicht dafür sorgt, dass insbe-sondere Kinder aus sozial schwächeren Familien syste-matisch an die frühkindlichen Bildungs- und Betreu-ungseinrichtungen herangeführt werden.
Damit bekämpfen Sie die Bildungsarmut gerade nicht,sondern verstärken sie.
Zweitens. Geld ist nicht alles, Frau Ministerin – damithaben Sie völlig recht –, aber gute Bildung darf auchnicht am Geld scheitern.
Dafür brauchen wir zwei Dinge: kostenlose Bildungsan-gebote von der Kita bis zur Hochschule und eine finan-zielle Bildungsförderung für diejenigen, die nicht genugGeld in der Tasche haben.
Frau Schavan, Sie und Herr Pinkwart machen aber dasGegenteil: Erst verteuern Sie Bildung durch Gebührenimmer weiter, und dann wollen Sie mit dem Bildungs-sparen denjenigen Geld zurückgeben, die genug haben,um etwas auf die Seite zu legen.
Das genau ist unser Punkt: Bildung ist keine Bauspar-kasse. Sozial gerecht wäre etwas anderes, nämlich Ge-bührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule.Drittens. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, fürmehr Stipendien zu sorgen. Das haben wir in der Gro-ßen Koalition ja auch gemeinsam gemacht. Ihr Stipen-dienmodell hat aber erhebliche Tücken:Erstens. Sie koppeln die Studienfinanzierung an dieKonjunktur und an Brancheninteressen. Deswegen war-nen inzwischen sogar CDU-regierte Länder vor diesemKonzept.
Zweitens. Sie versuchen, den Menschen etwas vorzu-machen; denn es ist ja gerade nicht Ihre Absicht, die Stu-dierenden mit einem Geldsegen zu beglücken. Ihre ei-gentliche Absicht ist es – das haben alle erkannt –, dieStudiengebühren, die Sie in Ihren Ländern eingeführthaben, zu zementieren.
Diese Studiengebühren sollen jetzt auch noch durchBundesgelder subventioniert werden.
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Dagmar ZieglerDrittens. Stipendien sorgen nicht für gleiche Chancen.Kein Stipendiensystem kann eine Fördergarantie für Stu-dentinnen und Studenten aus sozial schwächeren Fami-lien ersetzen. Deshalb wird für die SPD das BAföG im-mer oberste Priorität haben. Frau Schavan hat eineErhöhung des BAföG in dieser Legislaturperiode ausge-schlossen, wenn sie auch gerade in ihrer Rede etwas an-deres verkündet hat, frei nach dem Motto: Jetzt, wo ichdie SPD los bin, kann ich machen, was ich will. – Ichsage Ihnen: Beim Thema BAföG werden Sie uns nichtlos. Wenn die Lebenshaltungskosten steigen, muss auchdas BAföG steigen. Verlassen Sie sich darauf, daranwerden wir Sie immer wieder erinnern!
Diese drei Beispiele, Betreuungsgeld, Bildungssparenund Stipendienprogramm, zeigen, was Schwarz-Gelb fürdie Bildung bedeutet: weniger Chancengleichheit undein Abwälzen von Bildungskosten auf die Familien.Gute Bildung haben für Union und FDP nur diejenigenverdient, die sich gute Bildung leisten können. Das istdas Gegenteil dessen, was wir in der Bildung tatsächlichbrauchen. Wir brauchen frühe individuelle Förderung,gemeinsame Erziehung und Beschulung von behindertenund nichtbehinderten Kindern,
mehr Ganztagsschulen, mehr Sozialarbeiter, ein neuesSchüler-BAföG, ein starkes Studenten-BAföG und ge-bührenfreie Bildung. Das wäre der richtige Weg; aber esist leider nicht der Ihre.Die schwarz-gelbe Logik ist eine andere. Bildung istfür diese Regierung keine öffentliche Aufgabe, sondernreines Privatvergnügen. Deswegen hat diese Regierungauch keine Ideen, wie sie den dringend notwendigenQualitätssprung in der Bildung bewerkstelligen kann.Das zeigt sich auch bei der Aus- und Weiterbildung undbei den Hochschulen.Bei der Aus- und Weiterbildung geben Sie keineAntwort auf die Frage, wie Sie dafür sorgen wollen, dassalle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz bekommen.Sie geben keine Antwort auf die Frage, wie Sie die Wei-terbildung endlich zur vierten Säule des Bildungssystemsmachen wollen. Sie setzen in der Aus- und Weiterbildungauf den Markt und überlassen die Ausbildungschancender jungen Menschen der Konjunkturlage. Das ist derFehler. Wenn Sie Ideen brauchen, wie man es besser ma-chen kann, schauen Sie in das Wahlprogramm der SPD.
– Bildung schadete auch Ihnen nicht, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Koalition.Wir brauchen neue Förderinstrumente und Rechtsan-sprüche, um gute Übergänge von der Schule ins Berufs-leben zu organisieren und die Weiterbildung zu stärken.Dazu gehört ein Rechtsanspruch auf Nachholen desSchulabschlusses für alle. Dazu gehört eine gesetzlicheBerufsausbildungsgarantie. Dazu gehört die Arbeitsver-sicherung, und dazu gehört die konsequente Ausrichtungvon BAföG und Meister-BAföG auf die Anforderungeneines lebenslangen Lernens.
Als im Sommer die Studierenden auf die Straße gin-gen, um für bessere Studienbedingungen zu demonstrie-ren, haben Sie, Frau Schavan, erst einmal erklärt, dieForderungen seien von gestern. Aber der Handlungs-druck ist da. Die Probleme bei den Bologna-Reformensind immer noch nicht gelöst. Die Frage des Masterzu-gangs für alle ist offen. Wir brauchen eine Qualitätsof-fensive in der Lehre.Jetzt wird im Koalitionsvertrag angekündigt, dass einBologna-Qualitäts- und Mobilitätspaket geschnürtwerden soll. Was dieses Paket konkret enthalten soll, er-fahren wir nicht, auch nicht aus Ihrer Rede. Die SPDsagt: Die Studentinnen und Studenten brauchen kein un-verbindliches Paket aus Absichtserklärungen, sonderneinen verbindlichen Qualitätspakt für ein gutes Studium.
Deswegen fordern wir Sie auf, Geld in die Hand zu neh-men und mit den Ländern einen solchen Qualitätspaktfür ein gutes Studium abzuschließen.
Im Übrigen sind die 275 000 Studienplätze, die Siehier ankündigen, nichts Neues. Dies haben wir bereits inder Großen Koalition gemeinsam so beschlossen; daskann man dann auch einmal sagen.
Damit komme ich zum letzten Stichwort: Bildungs-partnerschaft. Sie haben gerade davon gesprochen, dieZusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen inder Bildung stärken zu wollen. Auch das ist leider eineMogelpackung. Denn faktisch machen Sie auch hier ge-nau das Gegenteil. Statt die Partnerschaft zu stärken,verschärfen Sie damit die Konkurrenz. Das wird an zweiPunkten ganz deutlich.Erstens. Wer es mit der Bildungspartnerschaft ernstmeint, muss im Grundgesetz die Voraussetzungen dafürschaffen, dass mehr Kooperation von Bund, Ländernund Kommunen überhaupt erst möglich wird. Schwarz-Gelb will alles so lassen, wie es ist. Ringen Sie sich end-lich dazu durch, das Kooperationsverbot im Grundgesetzwieder abzuschaffen! Erst dann kann eine echte Bil-dungspartnerschaft gelingen.
– Ich bin nicht vergesslich.Lebenslanges Lernen ist das Stichwort. Lebenslan-ges Lernen gilt für uns alle, auch für dieses Parlament.
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Dagmar ZieglerZweitens. Sie kündigen an, mehr Geld in die Bildungzu investieren, und Sie kündigen an, dass Sie es denLändern erleichtern wollen, ebenfalls mehr Geld für Bil-dung auszugeben. Ich frage Sie: Wie? Mit den Steuerplä-nen machen Sie genau das Gegenteil. Sie erschweren diedringend notwendigen Mehrausgaben für die Bildung,Sie verengen die Haushaltsspielräume, und Sie nehmenden Ländern und Kommunen das Geld, das sie für denAusbau einer guten Bildungsinfrastruktur brauchen.Die überwiegende Mehrheit der Menschen findet,dass zusätzliche Ausgaben für Schulen und Hochschulenwichtiger sind als unfinanzierbare Steuersenkungen aufPump.
Im Klartext: Union und FDP setzen damit die falschenPrioritäten. Sehr geehrte Frau Ministerin, steuern Sie imDenken und Handeln um! Auch für Sie gilt lebenslangesLernen. Investieren Sie tatsächlich in Bildung für alle!Danke schön.
Patrick Meinhardt spricht für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Diese Regierung der Mitte setzt ein klaresZeichen: Wir wollen Bildungsarmut in diesem Land be-kämpfen. Wir wollen einen Politikwechsel für mehr Bil-dungsgerechtigkeit in Deutschland. Wir wollen mit allenzusammen in einer neuen Bildungspartnerschaft dafürkämpfen, dass Deutschland zu einem Bildungsland mitden besten Kindertagesstätten, mit den besten Schulenund Berufsschulen, mit den besten Hochschulen undForschungseinrichtungen wird. Für diese Regierung derMitte gilt: Bildung ist Bürgerrecht.
Genau deswegen hat die frühkindliche Bildung füruns solch einen hohen Stellenwert.
Deswegen gilt: Diese Regierung unterstützt verbindli-che, bundesweit vergleichbare Sprachstandstests für alleKinder im Alter von spätestens vier Jahren und eine da-ran ansetzende gezielte Sprachförderung. Denn jedesKind muss vor Schuleintritt die deutsche Sprache be-herrschen.
Das heißt, dass wir verstärkt auch auf die Kompetenz derErzieherinnen und Erzieher in Deutschland setzen müs-sen. Es ist richtig, dass wir für die 350 000 Erzieherin-nen und Erzieher mit einer wirklichen Fortbildungsof-fensive durchstarten.
Wir brauchen auch Veränderungen in der pädagogi-schen Ausbildung bei Lehrerinnen und Lehrern. Wirbrauchen einen Modernisierungsschub, der sowohl Bil-dungsinhalte als auch Lernmethoden und Lernmedienumfasst.Das müssen wir zusammen mit den Lehrerinnen undLehrern organisieren. Wir setzen auf Partnerschaft, wiees unser Bundespräsident in seiner Berliner Rede 2006formuliert hat:Lehrerinnen und Lehrer arbeiten oft unter schwieri-gen Voraussetzungen. … Engagierte Lehrerinnenund Lehrer, die nicht aufgeben, die darauf brennen,jungen Menschen etwas beizubringen – das sind fürmich Helden des Alltags.Das ist deutlich zu unterstreichen.
– Ja, ihnen müssen wir den Rücken stärken.Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, es kommtnoch ein Zweites hinzu: Starke Kinder brauchen starkeEltern. Mehr Beratungsangebote, mehr Familienzen-tren, eine stärkere Förderung der Erziehungskompe-tenz der Eltern, auch das steht auf der Agenda. Es istrichtig, dass mehr Ganztagsangebote erforderlich sindund dass wir eine starke Vereinskultur brauchen. Esmuss in diesem Hohen Haus aber auch formuliert wer-den dürfen: Erziehung ist zuerst einmal Elternsache.
Umso wichtiger ist, dass Eltern, Schüler und Lehrerdann auch mehr Gestaltungsrechte in der Bildung be-kommen. Hier können wir viel von den Schulen in freierTrägerschaft lernen.
Für die Hochschulen gilt: Sie sollen autonom werden.Für die Schulen gilt: Sie sollen über ihre eigenen Ange-legenheiten auch eigenständig entscheiden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein richtigesZeichen, Bildungsbündnisse vor Ort zu stärken undauszubauen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.Denn jeder junge Mensch – über 20 Prozent von ihnenhaben erhebliche Lese- und Rechenprobleme –, den wirnicht fördern, läuft Gefahr, später ein Sozialfall zu wer-
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Patrick Meinhardtden. Deswegen ist es ein Ausdruck von Bildungsgerech-tigkeit, hier aktiv zu werden.
Umso wichtiger wird die Bedeutung der beruflichenBildung, ihre Fortentwicklung und Modernisierung. Wirmüssen die überbetriebliche Ausbildung ausbauen, dieEinstiegsqualifizierung stärken und den erfolgreichenAusbildungspakt mit der Wirtschaft ausweiten und fort-führen.Gerade mit Blick auf den Mittelstand gilt: Ob sichjunge Menschen für ein Studium oder eine Ausbildungentscheiden, ob sie einen Beruf erlernen oder sich selbst-ständig machen, ist für uns gleich wichtig. Für uns sindberufliche und akademische Ausbildung gleichwertig.
Für den Wettbewerb um die beste Bildung muss auchmutig Geld in die Hand genommen werden.
FDP, CDU und CSU haben gemeinsam entschieden,dass wir das 10-Prozent-Ziel bezogen auf den Bundschon 2013 erreichen und damit Vorbildfunktion für alleanderen haben wollen. Wir haben entschieden, dass in-nerhalb der kommenden vier Jahre zusätzliche Bildungs-investitionen in Höhe von 12 Milliarden Euro fließen.
12 Milliarden Euro, das ist ein gigantisches Investi-tionsprogramm. Das ist Vorfahrt für Bildung.FDP, CDU und CSU haben gemeinsam entschieden,dass der Dreiklang aus BAföG, Bildungsdarlehen, auchüber das 30. Lebensjahr hinaus, und Stipendien starkausgebaut werden soll. Dafür brauchen wir ein nationa-les Stipendienprogramm. 10 Prozent der Studierendensollen die Chance auf ein Stipendium erhalten. Das istim Vergleich zu heute eine Verfünffachung. Begabungs-förderung darf nicht an finanziellen Hürden scheitern.Das ist Vorfahrt für Bildung.
FDP, CDU und CSU haben gemeinsam entschieden,dass wir in der Weiterbildung deutliche Zeichen setzenmüssen,
im Interesse von Erzieherinnen und Erziehern, älterenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie kleinenund mittleren Unternehmen. Die Zukunftskonten, diepersönlichen Bildungskonten, sind der überfällige intel-ligente Einstieg in ein Bildungssparen ein Leben lang.Das ist Vorfahrt für Bildung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Bildung brauchtGeld. Bildung braucht aber auch den richtigen Geist unddie richtigen Werte. Wer die Talente junger Menschenfördern will, wer sich in die Pflicht nimmt und die Hoch-begabtenförderung zum Programm macht, dem geht esauch darum, dass jungen Menschen Verantwortung fürsich selbst beigebracht wird. Das geht aber nur mit derrichtigen Einstellung, und das geht nur mit der richtigenLeistungsbereitschaft. Leistungswille ist ein Wertbegriff,den wir im deutschen Bildungssystem wieder neuetablieren, neu denken und neu mit Leben füllen müssen.
Im gleichen Umfang brauchen wir auch eine Schär-fung der Verantwortung für andere – für die Gemein-schaft, für den Staat –, wie es Theodor Heuss als Erzie-her im Hinblick auf die Demokratie eingefordert hat.Deswegen erhält die Bundeszentrale für politische Bil-dung 20 Jahre nach dem Mauerfall den Arbeitsschwer-punkt „Aufarbeitung der SED-Diktatur“. Wir nehmen esnicht hin, dass ein Hauptschüler aus Bayern mehr überdas Unrechtsregime in der DDR weiß als ein Gymnasiastaus Brandenburg. Wir nehmen es nicht hin, dass nichteinmal jeder zweite ostdeutsche Jugendliche die DDRfür eine Diktatur hält. Wir nehmen es nicht hin, dass ineiner Schülergeneration, die die Mauer nicht selbst er-lebt hat, eine Verklärung der SED-Diktatur stattfindet.Diese Bundesregierung will den Wert der Freiheit wie-der ins Zentrum der politischen Bildung setzen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, für diese Regie-rung der Mitte ist unter dem Motto „Freiheit für Verant-wortung“ Bildung das Schlüsselthema für die Zukunft.Auch für die Bevölkerung in Deutschland ist Bildungdas Schlüsselthema für die Zukunft. Das Kursbuch fürmehr Bildungsgerechtigkeit ist dieser Koalitionsvertrag.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichwerde in diesen Tagen in meinem Wahlkreis immer wie-der besorgt gefragt: Wie wird es mir ergehen unterSchwarz-Gelb?
Welche Konsequenzen hat die schwarz-gelbe Regierungfür meine persönliche Lebenssituation?
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Dr. Petra SitteWelche Perspektiven werde ich in diesen vier Jahren be-kommen – oder eben auch nicht? Vor allem: Was blühtmeinen Kindern?Wissen Sie, ich komme aus Halle . Halle isteine ostdeutsche Stadt mit einer der höchsten Armuts-quoten in diesem Land: 45 Prozent der Familien in mei-ner Stadt erhalten Transferleistungen. Halle hat Stadt-viertel, in denen jedes zweite Kind Sozialgeld bekommt.Das verfügbare Jahresdurchschnittseinkommen liegt inHalle nur knapp über 14 000 Euro. Es ist also völlig klar,dass in meiner Stadt – in vielen anderen Regionen ist esähnlich – Ihr Koalitionsvertrag und Ihre Politik nur be-stehen können, wenn sie aus der Sicht dieser Menschenganz konkret spürbare Verbesserungen bewirken.
Schaue ich mir Ihren Koalitionsvertrag unter diesemBlickwinkel an, kann ich den Leuten ihre Sorgen nichtnehmen.Die Ministerin und andere Redner der Koalition wieHerr Meinhardt schwärmen schon davon, dass sie Mil-liarden in Bildung, Wissenschaft und Forschung inves-tieren wollen. Das hört sich gewaltig an, wohl wahr!Aber dort, wo das Geld am dringendsten benötigt wird,bei genau diesen einkommensschwachen Familien, beiihren Kindern und Jugendlichen, kommt es nicht an. In-sofern, Frau Ministerin, besteht zwischen meiner Ein-schätzung und der Ihren eine gravierende Differenz.
Das zentrale Defizit Ihres Koalitionsvertrages schlägtsich mit dramatischen Folgen auch im Bildungsteil nie-der. Auch hier koppeln Sie sehenden Auges mittlerweileetwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen von Zu-kunftsperspektiven ab. Jene, die heute knapp unter derArmutsgrenze oder knapp über der Armutsgrenze leben,erfahren durch diese Politik weiter Ausgrenzung. SeitJahren ist bekannt, dass in diesem Land die Bil-dungschancen und damit natürlich auch die Lebensper-spektiven extrem von der sozialen Herkunft abhängen.In kaum einem anderen europäischen Land fällt die Pro-gnose für den Fachkräftemangel so dramatisch aus. Mansollte glauben, dass der Koalition völlig klar ist, wo sieansetzen muss, nämlich an diesen Punkten.Dazu müssten Sie, wie wir es mit unserem nationalenBildungspakt vorgeschlagen haben, gemeinsam mit denLändern und mit den Kommunen bei der Unterfinanzie-rung des öffentlichen Bildungswesens konsequent ge-gensteuern.
Das beginnt bei Kindertagesstätten, wohl wahr, setztsich aber fort über Schule und Ausbildung und geht biszur Hochschule und zur Weiterbildung. An der Basisbröckelt das öffentliche Bildungssystem am meisten, inQuantität und Qualität. Es bietet immer weniger Kindernoptimale Startbedingungen. Ich habe vorhin erwähnt,aus welcher Stadt ich komme, und weiß genau, unterwelchen Bedingungen viele Kinder dort aufwachsen.Umgekehrt stellen wir fest, dass immer mehr Fami-lien, immer mehr Eltern, die es sich leisten können, mitdem öffentlichen Bildungssystem brechen: Immer mehrKinder und Jugendliche besuchen Kindertagesstättenund Schulen in freier Trägerschaft oder privater Hand,die Gebühren erheben. Gelöhnt wird auch für privateNachhilfe. Auch private berufsbildende Schulen stehenhoch im Kurs. Tausende, die in diesem Land an öffentli-chen Hochschulen studieren, müssen Geld für Studien-gebühren aufbringen. Wen wundert es, wenn am Endeprivate Hochschulen immer mehr bevorzugt werden?Nun will die Koalition die Ausgaben für Bildung undForschung bis 2015 auf etwa 10 Prozent des Bruttoin-landsproduktes anheben. Der Bund will seinen Anteil bis2013 aufgebracht haben, und zwar mit 3 Milliarden Eurozusätzlich im Jahr. Ich sage Ihnen aber eines: Ihre Rech-nung stimmt hinten und vorne nicht; denn im Oktober2008, also vor gut einem Jahr, wollten Bund und Länder7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes allein für Bildungaufbringen. Damals befand eine Strategiegruppe ausVertretern von Kanzleramt und Ländern, dass dafür je-des Jahr rund 25 Milliarden Euro ausgegeben werdenmüssten.Die Mittel für die nun geplanten Ausgaben müssendann eben auch von den Ländern aufgebracht werden.Für Sie selbst heißt es: Die Mittel sind eigentlich gebun-den, weil Sie den Hochschulpakt, die Exzellenzinitiativeund den Pakt für Forschung und Innovation verbindlichim Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Mit diesendrei Pakten werden die meisten Gelder aber in den Be-reich Forschung und nicht in den Bereich Bildung ge-steuert.
Jetzt sollen die Länder nachziehen. Na, die Idee istgroßartig, kann ich nur sagen. Wir haben jetzt schon Ein-nahmedefizite durch die Krise. Sie senken die Steuern.Es ist doch völlig logisch, dass sich das in den Landes-haushalten niederschlägt. Das heißt am Ende, dass es sosein wird wie in meinem Land, in dem schon jetzt klarangekündigt wird: Das Geld für die Hochschulen wirdgekürzt. – Und wir sind nicht das einzige Land. Die Vor-stellung, dass die Länder das Defizit beheben können, istalso natürlich völlig illusorisch.An dieser Stelle kommt dann auch noch hinzu, dassdie Koalition offensichtlich der Auffassung ist, dass derRest von der Wirtschaft erbracht wird. Das ist ungefährso wie beim Ausbildungspakt: Appelle, Appelle, Ap-pelle! Wann und wo das am Ende wirklich verbindlichgeregelt wird, bleibt Ihr ganz kleines schwarz-gelbesGeheimnis. Das ist nämlich nirgendwo im Koalitions-vertrag verankert oder ausgewiesen.
Mit zwei Ideen schlägt die Koalition nach meinemDafürhalten neue Nägel in den Sarg des öffentlichen Bil-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. November 2009 243
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Dr. Petra Sittedungssystems und will sie Verantwortung an private In-vestoren abgeben. Statt nun das BAföG elternunabhän-gig und zuschussbasiert auszubauen, mindestens jedochan die Lebenshaltungskosten anzupassen und für einenBezug über das 30. Lebensjahr nach einer ersten Berufs-phase zu öffnen, bietet die Koalition Bildungskrediteinklusive Schuldenberge für alle an.Für wenige, nämlich für 10 Prozent der Studierenden– davon war ja schon die Rede –, soll es jedoch ein Sti-pendienprogramm geben. Erst habe ich gedacht: Dasklingt ja gar nicht schlecht. – Dann habe ich gehört, wendas betrifft. Das soll nur die Besten der Besten betreffen.Großartig!
Wenn wir uns in der Praxis umschauen, dann stellen wirfest, dass genau jene kompakt studieren können, dieeben nicht nebenbei jobben müssen und die nicht aus Fa-milien kommen, die sich das nicht leisten können,
und das, liebe Koalition, sind eben wieder Studierendeaus einkommensschwächeren Elternhäusern.Letztlich will die Koalition offensichtlich auch An-reize dafür setzen, dass jeder seine Bildung selbst be-zahlt. Sie nennen das jetzt „privates Bildungssparen“.Das ist ein richtig schönes Zauberwort. Ich nenne das„Bildungsriestern“. Den Familien wird eine Sockel-summe als Anschubfinanzierung geboten; Frau Zieglerhat das schon erwähnt.Auch hier stellt sich aus meiner konkreten Erfahrungin meiner Stadt heraus die Frage: Können sich die El-ternhäuser das denn überhaupt leisten? Die meisten inmeiner Stadt können sich das nämlich gar nicht leisten,und sie rechnen mittlerweile auch gar nicht mehr damit,dass ihre Kinder studieren können. Sie sind ja beispiels-weise als Alleinerziehende, als Hartz-IV-Empfängerin,als Aufstockerin faktisch nicht in der Lage, dieses Geldaufzubringen. Frau Schavan, Sie haben vorhin gesagt,kein Kind solle verloren gehen. Wenn man sich den Ko-alitionsvertrag anschaut, dann erkennt man: Das ist einTitel ohne Handlung.
91 Prozent der Eltern haben sich im Sommer lautUmfrage für ein einheitliches Bildungssystem ausge-sprochen. Statt nun eine weitere Bildungsprivatisierungdurchzuführen und Ihre schönen föderal-bürokratischenBlüten treiben zu lassen, sollte endlich der Ansatz ge-pflegt werden, ein integrierendes Bildungssystem auseinem Guss zu erarbeiten und gemeinsam mit den Län-dern zu vereinbaren. Dann hätten nämlich endlich auchKinder aus sogenannten bildungsferneren Familien eineChance auf gute Abschlüsse.Meine Damen und Herren, ich habe diese beiden Be-reiche herausgegriffen, weil sie ganz konkrete Beispieledafür sind, wie Sie Kinder und Jugendliche aus ärmerenSchichten abkoppeln und von Lebensperspektiven ab-schneiden. Das ist tätige Elitenpflege einer christlich-liberalen Koalition.
Wo es um Bildung geht, darf es nicht Stände geben.Das sagte Konfuzius bereits um 500 vor Christus.Übersetzt in die Moderne heißt das: Bildung ist einRecht für jedermann oder jede Frau. Wie lange soll es ei-gentlich noch dauern, bis das Bildungssystem in diesemLand vom Kopf auf die Füße gestellt wird, bis Bildungs-angebote in der gesamten Breite nicht mehr vom sozia-len Hintergrund abhängig sind? Wie viele Bildungs-streiks müssen denn noch stattfinden? Der nächste Streikfängt am 17. November an. Der Koalitionsvertrag bietetjedenfalls keine Antwort auf die Proteste und die Fragender Studierenden.
In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitungunter dem Titel „Die Amtszeit Schavans aus der Sichtder Betroffenen“ – ich hätte „Ministerin“ gesagt, aber sostand es in dem Artikel – schrieb der promovierendeSprachwissenschaftler Friedemann Vogel von der UniHeidelberg:Die Studenten protestieren inzwischen auf derStraße für eine breite, auf die Förderung individuel-ler Urteilsfähigkeit hin orientierte Bildung. Aller-dings fehlt in einigen Bundesländern selbst dieMöglichkeit, die Erfahrungen der Studierendendurch verfasste Mitbestimmungsrechte einbringenzu können. Es ist höchste Zeit, dass sich die Bil-dungspolitiker mit der Kritik von Lehrenden undLernenden sowie den Problemen vor Ort auseinan-dersetzen, anstatt von hohen Gipfeln und Kongres-sen zu lamentieren oder sich hinter der Finanzpoli-tik zu verstecken.Dem habe ich nichts hinzuzufügen.Danke schön.
Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
spricht nun die Kollegin Krista Sager.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir er-leben hier heute eine Bildungsministerin, deren Selbst-zufriedenheit ausschließlich darauf beruht, dass sie nichtüber den Tellerrand gucken kann. Wenn sie nämlich ein-mal über den Rand hinüberschauen würde, hätte sielängst entdeckt, dass die schwarz-gelbe Steuer- und
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Krista SagerKlientelpolitik der von ihr ausgerufenen Bildungsrepu-blik die finanzielle Grundlage völlig entzieht.
Sie freuen sich hier darüber, dass die See im Auge desOrkans so ruhig ist. Ihre Kolleginnen und Kollegendraußen im Lande, die Bildungspolitiker in Ländern undGemeinden, aber kämpfen mit allerschwerstem Wetter.Und was machen Sie? Sie ziehen ihnen mit Ihrer Klien-telpolitik den letzten Boden unter den Füßen weg.
Das Schlimme ist: Sie machen das auf Kosten der Bil-dungschancen von jungen Menschen und Kindern.„Kampf gegen Bildungsarmut“ ist bei Ihnen eine bloßeFloskel.
In Ihrem Koalitionsvertrag findet sich hierfür kein einzi-ges Instrument. Das ist eine große schwarz-gelbe Null.
Die Transfers im Bereich der Familienpolitik gehenzielgenau an den armen Familien vorbei. Genauso gehtIhre Bildungspolitik an den Schwachen vorbei.
Kinder brauchen in allererster Linie gute, frei zugängli-che Bildungsinstitutionen und eine gute Bildungsinfra-struktur. In diesem Bereich haben Sie sich nichts vorge-nommen: keinen weiteren Ausbau der ganztägigenFrühförderung und keine Einräumung eines gesetzlichenAnspruchs darauf. Im Gegenteil: Eltern, die ihre Kindervon der Frühförderung fernhalten, sollen dafür eine Prä-mie bekommen. Wenn Eltern ihr Kind im Alter von zweiJahren zur Frühförderung schicken, wird ihnen zurStrafe das Geld vorenthalten. Was sagt die Bildungs-ministerin dazu? Es herrscht Schweigen im Walde.
Hier geschieht großer bildungspolitischer Irrsinn,aber sie duckt sich einfach weg. Wenn Sie das Geld fürdie Prämie in die Frühförderung stecken würden,müssten Sie nicht hinterher, kurz bevor die Kinder in dieSchule gehen, Reparaturmaßnahmen im Bereich derSprachförderung vornehmen. Das, was Sie hier machen,stimmt doch hinten und vorne nicht.
Das Wort „Ganztagsschulen“ kommt im BildungsteilIhres Koalitionsvertrages überhaupt nicht vor. Wir wis-sen, dass das Ganztagsschulprogramm des Bundes aus-läuft. Sie bekennen sich zum Kooperationsverbot. Dageschieht also nichts. Mit Ihrer Steuerpolitik geben Sieden Ländern zudem keine Möglichkeit, hier eigene Ak-zente zu setzen. Das alles stört die BildungspolitikerinSchavan aber nicht.Offensichtlich sollen Startkonten, Gutscheine undeinseitige Transfers jetzt das Allheilmittel sein. Es ist of-fenkundig, dass Sie hier auf Anreize für kommerzielleBildungsmärkte zielen, auf denen sich am ehesten dieeinkommensstärkeren Familien bewegen können. Start-konten sind weder ein Ersatz für gute Bildungsinstitutio-nen noch ein Ersatz für ein echtes Erwachsenenbildungs-förderungsgesetz, das endlich einmal denjenigen eineChance geben würde, die schlecht qualifiziert sind undbessere Zukunftschancen brauchen.
Für die berufliche Bildung und die Weiterbildung ge-hen von Ihrem Koalitionsvertrag keinerlei neue Impulseaus. Damit setzen Sie offenbar auf die Fortsetzung Ihrerbisherigen unzulänglichen Politik. Gerade in der Krisemüsste es doch darum gehen, das Ausbildungssystemendlich konjunkturunabhängig zu machen und die unsin-nigen Warteschleifen in einem teuren Übergangssystemendlich abzuschaffen. Aber da herrschen bei Ihnen totaleIdeenlosigkeit und ein hilfloses Weiter-so.
Auch in der Hochschulpolitik setzen Sie falsche Prio-ritäten. Der Hochschulpakt ist nach wie vor unterfinan-ziert. Durch die Mitfinanzierungsprobleme der Ländersteht er auch noch auf tönernen Füßen. Deswegen sagenSie schon gar nichts mehr zur Studierendenquote. DennSie haben sich längst damit abgefunden, dass es die Stu-dienplätze, die wir brauchen, gar nicht geben wird. Dasist doch das Traurige.Stattdessen wollen Sie jetzt ein Stipendienprogrammfür Begabte auflegen. Damit erreichen Sie diejenigen, diesowieso studieren. Aber für die Menschen, für die derWeg an eine Hochschule mit einem selektiven Hürdenlaufdurch das ganze System verbunden ist, tun Sie gar nichts;denn für die ist dann kein Geld mehr da.
Von den 3 Milliarden Euro, die Sie jährlich mehr ha-ben, geht der überwiegende Teil in den Hochschulpakt,in die Exzellenzinitiative und in den Pakt für Forschungund Innovation. Doch: Selbst diese Vorhaben sind durchIhre Klientelpolitik akut gefährdet. Fünf Regierungs-chefs haben schon im Sommer erklärt, dass sie die Mit-finanzierung nur dann leisten können, wenn es Steuer-mehreinnahmen gibt. Jetzt hauen Sie denen durch IhrePolitik noch mehr Einnahmen weg. Glauben Sie imErnst, dass die Länder, die bei den Schulen und Kinder-gärten kaum den Status quo erhalten können, Ihnen5 Prozent Aufwuchs bei den Forschungsorganisationenmitfinanzieren? Glauben Sie im Ernst, dass die Länder,die vor ihren eigenen Hochschulen und Universitätenmit leeren Händen dastehen, ihr letztes Hemd hergeben,um Ihr Begabtenstipendienprogramm zu finanzieren?
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Krista Sager
Ich kann nicht begreifen, Frau Schavan, wie jemand,der aus der Landespolitik kommt, so blauäugig sein unddie Tatsachen so verkennen kann.
Ihre eigenen schwarzen Landeskapitäne kämpfen nochmit der hohen See der Krise. Dann kommen Sie mit IhrerKlientelpolitik und schießen denen zusätzlich ein großesLeck ins Schiff.
Jetzt glauben Sie, dass die mit Lobeshymnen aufSchwarz-Gelb tapfer untergehen. Aber kurz bevor sieabsaufen, sollen sie Ihnen noch den letzten Bordproviantzuwerfen. Wer soll denn das glauben?
Wulff, Carstensen, Koch und von Beust haben dochalle einen gesunden Selbsterhaltungstrieb. Das sind dochkeine japanischen Samurais, die sich für Glanz und Gloriaeiner Bundesbildungsministerin freiwillig ins Schwertstürzen.
In welcher Welt leben Sie denn? Sie haben in Ihrem Ko-alitionsvertrag chaotische Vorstellungen von der zukünf-tigen Ausgestaltung der Bund-Länder-Beziehungen. Da-gegen war das verfassungsrechtliche Verfahren der Bund-Länder-Kooperation in früheren Zeiten solide, geordnetund transparent. Glauben Sie im Ernst, irgendeine Ge-meinde ist beeindruckt, wenn Sie sozusagen mit dem er-hobenen Zeigefinger der Bundesbildungsgouvernanteankommen und sich beschweren, dass die von Ihnenweitergebildeten Erzieherinnen von denen nun nicht ein-gestellt werden, weil sie kein Geld mehr dafür haben?Das glauben Sie doch selber nicht.
Vielleicht noch eines zu dem Einfluss der FDP: Wennman den Koalitionsvertrag liest, dann hat man geradezuden Eindruck, dass Risikobewertung und Technikfolgen-abschätzung jetzt durch schwarz-gelben Frohsinn ersetztwerden sollen.
Es ist eigentlich Common Sense, dass die Risikobewer-tung zur Forschung dazugehört. Wohin ein solcher Froh-sinn führt, können wir noch heute im ForschungslagerAsse bewundern.Ich komme zum Schluss. Sie setzen die falschen Prio-ritäten. Sie verschärfen die Probleme der Unterfinanzie-rung. Sie bekämpfen nicht die Bildungsarmut, sondernsteigern die Bildungsspaltung. Sie sind völlig ignorantgegenüber den Problemen in den Ländern und Gemein-den. Sie werden es nicht nur mit der Opposition im Bun-destag zu tun haben, sondern auch ganz harten Wind vonvorne von allen Bildungspolitikerinnen und Bildungs-politikern in dieser Republik bekommen. Das kann ichIhnen schon heute versprechen.
Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichfinde, der Gedanke der Bildungsrepublik ist in unseremKoalitionsvertrag wirklich mit Leben erfüllt worden.
Sehr viele konkrete Punkte sind beschrieben. Liebe FrauKollegin Sager, man darf bei allem Schimpfen das Den-ken nicht vergessen. Wie Sie uns gerade unterhalten ha-ben, war durchaus amüsant, aber an der Sache vorbei.
Wir setzen in finanziell schwierigen Zeiten einen kla-ren Schwerpunkt auf Bildung und Forschung. Dahintersteckt die Strategie, Deutschland international wettbe-werbsfähig zu halten, Wachstum zu erzeugen und Wohl-stand für unser Land zu generieren. Wir können Wohl-stand nicht mit niedrigen Löhnen, sondern nur mit derguten Qualität unserer Produkte im internationalen Wett-bewerb erhalten und ausbauen. Wir wollen der Welt un-sere Innovationen verkaufen. Deswegen fördern wir For-schung und Entwicklung in einem ganz erheblichenMaß.
Wir haben vor vier Jahren mit BundeskanzlerinAngela Merkel und Bundesforschungsministerin AnnetteSchavan damit begonnen und haben seitdem kontinuier-lich die Ausgaben für Bildung und Forschung gesteigert.Das Volumen des Haushalts des BMBF ist um sage undschreibe 36 Prozent gestiegen und beträgt heute über10 Milliarden Euro. Das ist ein tolles Signal, und daswird in den nächsten Jahren so weitergehen.
Die Bildungs- und Forschungslandschaft hat nachJahren von Rot-Grün, in denen gekürzt wurde, die Haus-
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Michael Kretschmerhalte also nicht aufgewachsen sind und es große Sorgengab, deutlich an Auftrieb gewonnen.
Wir werden trotz der aktuellen Wirtschaftskrise und ge-rade deshalb an diesem Weg festhalten. Mit den Bundes-ländern haben wir vereinbart, 10 Prozent des Bruttoin-landsprodukts für Bildung und Forschung auszugeben.Es war nicht einfach, diesen nationalen Pakt zu errei-chen. Voraussetzung war, dass man mit den Ländern re-det und sie ernst nimmt. Das ist ein großer Unterschiedzur ehemaligen Bundesforschungsministerin EdelgardBulmahn, die immer mit dem Kopf durch die Wandwollte und den Protest der Länder hervorgerufen hat.Nein, wir gehen einen anderen Weg. Wir setzen auf Ko-operation und Zusammenarbeit. Wir sind dabei sehr er-folgreich und werden das in den nächsten Jahren fortset-zen. 12 Milliarden Euro mehr vom Bund für Bildungund Forschung bis 2013 ist eine klare Ansage.Man kann sich schmollend in die Ecke stellen und im-mer nur schimpfen. Man kann aber auch mitmachen. Ichkann nur dazu aufrufen, mitzutun. Der Wahlkampf istvorbei. Die Ideen, die wir in unseren Koalitionsvertraggeschrieben haben, gilt es jetzt mit Leben zu erfüllen.Dabei sind alle eingeladen, die guten Willens sind.
Wir stehen für Chancengerechtigkeit, Durchlässigkeitund Aufstiegsmöglichkeiten. Ich glaube, dass jeder, derernsthaft und guten Willens unseren Koalitionsvertragliest, auch erkennt, wie das möglich ist. Wir haben klarPosition zur frühkindlichen Bildung bezogen. JedesKind, das eingeschult wird, muss Deutsch können. An-sonsten kann es dem Unterricht nicht vernünftig folgen.Das ist noch immer keine Selbstverständlichkeit, erstrecht nicht im Land Berlin, wo Rot-Rot regiert; da ist dasam wenigsten der Fall. Dass wir, der Bund, uns gezwun-gen sehen, hier einzugreifen, ist zuallererst ein Armuts-zeugnis für die Bildungspolitik in diesem Land, für dieRot-Rot seit vielen Jahren Verantwortung trägt.
Die Probleme sind beschrieben. Es wird im Jahr 2010100 000 Schulabgänger weniger geben als 2006.Deswegen sind wir in der Pflicht, und es ist einegroße Herausforderung, mehr aus den vorhandenen jun-gen Leuten zu machen. Keiner soll auf der Strecke blei-ben. Wir haben das als ein klares Ziel für uns formuliert.Stichwort Bildungssparen. Frau Kollegin Sitte, ichmöchte nicht, dass Sie die neuen Bundesländer für das inMithaftung nehmen, was Sie heute gesagt haben; dennes stimmt nicht. Auch ich komme aus Ostdeutschland,und ich habe eine andere Wahrnehmung. Dort gibt esLeute, die wollen und auch können. Das hat überhauptnichts mit dem Einkommen zu tun. Gerade das Bil-dungssparen mit zunächst einmal 150 Euro als Anreizund später weiteren Prämien ist ein Signal an diejenigen,die aus bildungsferneren Schichten kommen. Wir wollenden Aufstieg durch Bildung. Dieser Koalitionsvertrag isteine klare Ansage an alle, da mitzutun.
275 000 neue Studienplätze, ein Hochschulpakt mitden Ländern, vereinbart über die nächsten Jahre und mitsehr viel Geld, einem mehrstelligen Milliardenbetrag,ausgestattet – das muss man in diesen Zeiten erst einmaldurchsetzen. Wir haben es getan. Wir gehen mit dem Sti-pendienprogramm einen weiteren Schritt. Ich finde esrichtig, dass wir die Wirtschaft, die Unternehmen mit indie Pflicht nehmen, dass wir die Länder einladen, mitzu-tun. Wir wollen denjenigen ein Stipendium geben, diegute Leistungen erbringen, egal aus welchen sozialenSchichten sie kommen.
Wir wollen, dass eine Stipendienkultur in diesem Landentsteht.
Wie lange reden wir schon darüber, dass es in Deutsch-land keine Stipendienkultur gibt? Es gab verschiedensteAnsätze. Ich glaube, mit diesem neuen Modell, mit demwir 10 Prozent aller Studierenden erreichen wollen – dasist eine klare Ansage –, werden wir eine Stipendienkul-tur in Deutschland erzeugen. Auch da kann ich nur sa-gen: Machen Sie mit, und stehen Sie nicht abseits!
Ich möchte auch etwas zum Thema Bologna sagen.Ich fand es gut und richtig, dass die Bundesforschungs-ministerin die Sorgen der jungen Leute ernst genommenhat, sie eingeladen hat und mit ihnen ins Gespräch ge-kommen ist. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, füreine hohe Qualität in der Lehre zu sorgen. Wenn Ände-rungen am Bologna-Prozess notwendig sind, dann müs-sen sie erfolgen. Ich finde es positiv, wie gerade die Kul-tusministerkonferenz gemeinsam mit dem Stifterverbandfür die Deutsche Wissenschaft einen Wettbewerb für diebessere Lehre ausgelobt hat. Wir setzen auch in demnächsten Hochschulpakt einen Schwerpunkt auf eine ex-zellente Lehre im Rahmen der Exzellenzinitiative.Wichtig ist die Zusammenarbeit von Forschung undWissenschaft. Wir werden die Hightech-Strategie mitSchwerpunkten auf Klimaschutz, Energie, Gesundheitund Mobilität fortsetzen und konzentrieren uns zudemauf die Förderung von Schlüsseltechnologien. Wir wol-len, dass der Bewerbungs- und der Verwaltungsaufwandbei den Förderverfahren kritisch untersucht wird. Wirwollen auch dort weniger Bürokratie für die Unterneh-men und für die Wissenschaftler, die sich um For-schungsgelder bewerben, und wir wollen insgesamt diebürokratischen Fesseln in den Forschungseinrichtungenlockern. Dazu gab es bereits die Initiative „Wissen-schaftsfreiheit“. Wir wollen sie in Zukunft mit einemWissenschaftsfreiheitsgesetz neu aufgreifen.
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Michael Kretschmer
Ich glaube, es ist das Gebot der Stunde, mehr aus demvorhandenen Geld zu machen.
Die CDU/CSU steht dafür ein, dass neue Technolo-gien sicher gemacht werden. Das gilt für die Nanotech-nologie genauso wie für die Bio- und Gentechnologie.Das ist ein anderer Ansatz als die Verhinderungspolitikvon Rot-Grün. Nein, wir dürfen keine Angst haben,
sondern müssen klug und mutig vorangehen. Wir brau-chen neue Technologien. Deutschland kann nur mitneuen Technologien seinen Wohlstand halten.
Ich kann zum Abschluss nur noch einmal sagen: Ma-chen Sie mit! 12 Milliarden Euro sind eine ganze MengeGeld. Viele Chancen liegen darin, die es gemeinsam zunutzen gilt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Angesichts der großen Ansprüche meine ich: Da mussdann auch geliefert werden. So wie ich es sehe, FrauSitte, Frau Sager, wird das eine fröhliche Opposition.
Erstens. Um es auf den Punkt zu bringen: Den Irrtum,den Sie mit dem Kooperationsverbot begangen haben,toppen Sie jetzt noch mit der Finanzierungsfalle für dieLänder.
Um es ganz klar zu sagen – für alle, die das vielleichtnicht wissen –: Bildung wird zu 8,5 Prozent vom Bundund zu über 50 Prozent von den Ländern finanziert. Werjetzt nahelegt, die Gesamtausgaben für den Bildungsbe-reich auf 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu stei-gern, der erwartet von den Ländern, dass sie 15 Milliar-den Euro mehr finanzieren. Gleichzeitig sollen denLändern 15 Milliarden Euro genommen werden. Diese30-Milliarden-Euro-Lücke wird Sie verfolgen.
Deshalb kann ich nur sagen: Sie erwartet eine fröhlicheOpposition.Hoffentlich trägt unser Streit dazu bei, dass Sie nochdie Einsicht gewinnen, dass man mit einer 30-Miliarden-Euro-Lücke keinen Bildungsaufbau betreiben kann. Daswerden Ihnen die Ministerpräsidenten schon im Dezem-ber sagen. Frau Schavan, wir wollen sehen, mit welchemErgebnis Sie von dieser Zusammenkunft zurückkehren.Zweitens. Frau Schavan, Sie begehen den Irrtum, sichmit der Bildungsförderung an die Spendenbereitschaftvon Firmen zu wenden. Frau Sager, aus Gründen derFrauensolidarität haben Sie sich gefragt: Wie konntesich Frau Schavan eigentlich darauf einlassen? Ichglaube, sie wollte sich gar nicht darauf einlassen, son-dern sie musste sich darauf einlassen. Nur, FrauSchavan, „200 000 bis 2013“, das ist jetzt Ihr Projekt;Sie müssen liefern. Mal sehen, ob Sie liefern können. Ichbin da nicht so sicher.Wenn es so sein sollte, dass das BAföG erhaltenbleibt, dann kommen Sie gerne mit: Schüler-BAföG,BAföG mit regelmäßiger Anpassung, Master-BAföG,Meister-BAföG. Das ist tatsächlich ein Sozialstipen-dium. In Bezug auf das andere: Wir werden sehen, obSie dort wirklich liefern können.Drittens. Herr Kretschmer, ich will ausdrücklich aufeinen Unterschied eingehen, was das Bildungssparenangeht. Ja, auch in der Großen Koalition haben wir Er-wachsenen ein Angebot zum Bildungssparen hinsicht-lich der Weiterbildung gemacht. Aber es ist ein funda-mentaler Unterschied, die Bildungschancen von Kinderndaran zu knüpfen, dass ihre Eltern für ihren Bildungs-weg gespart haben.
Jetzt wird nahegelegt, dass Eltern darüber entscheidensollen, ob für ihre Kinder ein Bildungskonto angelegtwird. Es ist gut, wenn sie es tun. Aber was ist mit demBildungsrecht derjenigen Kinder, deren Eltern es nichttun? Herr Trittin hat gestern gesagt: Man kann die Fragevon Gerechtigkeit aus der Sicht des Bourgeois oder desCitoyen betrachten. Ihre Sicht ist die des Bourgeois.
Das Recht auf Bildung ist nicht an materielle Vorausset-zungen gebunden; vielmehr ist es ein Menschenrecht:Jeder Mensch muss eine erste, eine zweite, eine dritteChance haben, Bildung zu erwerben.Dieses Recht ist auch daran gebunden, dass die Insti-tutionen stark gemacht werden. Ich finde, der bessereAnsatz ist, Kindertagesstätten zu Eltern-Kind-Zentrenauszubauen.
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Dr. Ernst Dieter RossmannWeshalb steht hier eigentlich „Kindertagesstätten alsHaus der Forscher“ und nicht „Kindertagesstätten als El-tern-Kind-Zentren“? Frau von der Leyen, ich glaube,auch Ihnen wäre es wichtig, wenn aus der Bildungsein-richtung Kindertagesstätte qualitativ richtig gute Eltern-Kind-Zentren würden.Stichwort „Institution stärken“. Die Institution Schulesollte über Schulsozialarbeit gestärkt werden und nichtüber Bildungsschecks, da diese nicht zu einem gemein-samen Lernen ganz vieler in einer gemeinsamen Schuleführen. Als Sie noch mit uns in einer Koalition waren,waren Sie da weiter.Recht auf Bildung heißt, mit modernsten Berufsbil-dungseinrichtungen dafür zu sorgen, dass Menschenohne Ausbildung eine zweite oder dritte Chance bekom-men, eine Ausbildung zu machen. Ich will gern anerken-nen, dass bei Ihnen von modernsten beruflichen Bil-dungseinrichtungen die Rede ist; für diese Einrichtungenwollen Sie auch Investitionen tätigen. Hoffen wir, dassSie Ihr Vorhaben umsetzen.Recht auf Bildung heißt auch, Priorität auf Weiterbil-dungsberatung und Weiterbildungsnetzwerke und natür-lich auf ein echtes Hochschulpaket, also auf ein gutesStudium. Da haben wir einen Konsens. Frau Sager, FrauSitte, wir wollen sehen, wie wir Koalition und Regierungtreiben können und wie wir sie dazu bringen können,dass sie liefern. Ich betone: Was geschrieben steht, liestsich gut; aber sie müssen liefern.Da sehr viel Geld in die Forschung fließen soll, willich an dieser Stelle zwei weitere Themen ansprechen.Die Verknüpfung von Bildung und Forschung ist das,was nachhaltiges Wachstum, qualitatives Wachstum ei-gentlich ausmacht. Zur Forschungsförderung gehörengute Universitäten, gute außeruniversitäre Forschungs-einrichtungen und eine gute öffentlich verantworteteProgrammförderung. Außerdem gehört dazu, dass dieWirtschaft in die Lage versetzt wird, die Märkte vonmorgen zu entwickeln und sich forschungsmäßig daranzu orientieren.An der Stelle haben wir eine Frage an Sie. Im Koali-tionsvertrag steht im Zusammenhang mit den Instrumen-ten der Hightech-Strategie, dass Sie prüfen wollen, obSie die Forschung von kleinen und mittleren Unterneh-men steuerlich fördern. Das ist ja etwas, was Sozialde-mokraten und andere mit in die Diskussion gebracht ha-ben. Es stand zum Beispiel auch im Wahlprogramm vonFrank-Walter Steinmeier: Hier waren „tax credits“ inHöhe von 8 Prozent bei einer Deckelung von 1,5 Millio-nen Euro pro Unternehmen vorgesehen. Aber was istjetzt eigentlich passiert? Sie wollen prüfen, aber HerrKeitel vom BDI sagt schon jetzt, es könne nicht ange-hen, dass es diese Förderung nur für kleine und mittlereUnternehmen gibt, sondern sie müsse für alle gelten. Da-rin begründet sich der Unterschied von 1,5 Milliardenund 4 Milliarden Euro im Umfang der Förderung.
Frau Schavan, wo stehen Sie? Sind Sie bei den4 Milliarden oder bei den 1,5 Milliarden? Wollen Sie,dass es Mitnahmeeffekte gibt, oder wollen Sie, dass sichdie Förderung wirklich auf die kleinen und mittleren Un-ternehmen konzentriert, die die größte Wertschöpfunghaben, nämlich circa 50 Prozent, von denen aber nur15 Prozent der Unternehmen Forschungsmittel erhalten?Wenn man sich dann noch vor Augen führt, dass Groß-unternehmen 5 Prozent in die Forschung investierenkönnen, kleine und mittelständische Unternehmen abernur 3 Prozent, dann ist doch evident, an welcher Stelledie Mittel konzentriert werden müssen. Das ist besser,als die Mittel zu zerstreuen.Wir von der sozialdemokratischen Seite aus appellie-ren ausdrücklich an Sie – ich vermute, das wird auch vonIhnen so geteilt –: Bleiben Sie dabei, die Forschungs-förderung auf kleine und mittlere Unternehmen zu kon-zentrieren.
Bleiben Sie dabei, ihnen den Zugang zu Venture Capitalzu ermöglichen. Bleiben Sie dabei, auch eine gute insti-tutionelle Förderung und eine Programmförderung vor-zusehen. Sonst bekommen Sie nämlich Schwierigkeitenmit der Nachhaltigkeit des Forschungsförderungspro-gramms; denn es könnte nicht mehr effizient umgesetztwerden.Ein zweiter Punkt bezüglich der Forschungsförde-rung: Wir teilen Ihre Einsicht, dass die Hightech-Stra-tegie auf bestimmte, gesellschaftlich relevante Hand-lungsfelder konzentriert werden muss. Das sagen wirausdrücklich auch angesichts unserer globalen Verant-wortung. Wir haben verinnerlicht, dass anstelle desGrundsatzes „Global denken, lokal handeln“ jetzt gilt:lokal forschen, um global handeln zu können. Das istnachhaltige globale Verantwortungspolitik; denn alleshängt zusammen: Wenn man über Sicherheitsforschungnachdenkt, muss man auch die Konflikt- und Friedens-forschung mit einbeziehen und entsprechend fördern.Wenn man über Mobilität und Gesundheit nachdenkt,muss man auch die Auswirkungen von Demografie undMigration mit erforschen. Wenn man über die Wert-schöpfung von morgen nachdenkt, muss man auch hu-manitäre Aspekte von Arbeit und die Entwicklung vonder Dienstleistungs- zur modernen Forschungsgesell-schaft in den Evaluierungsprozess einbeziehen. Wir ha-ben die Sorge, dass Sie hier auf einem Auge etwas blindsind. Zerstreuen Sie unsere Sorge. Wir unterstützen Siegerne dabei.Eine letzte Bemerkung zum Bürgerdialog. Den Blickauf den Dialog zwischen Forschung und Gesellschaft zurichten, ist angesichts der Bildungs- und Wissensgesell-schaft von morgen grundrichtig. Die Frage, wie das kon-kret geschehen soll, wird im Koalitionsvertrag mit derPlanung, zusammen mit der Wirtschaft ein „Haus derZukunft“ einzurichten, beantwortet. Wir meinen, derBürgerdialog muss mehr umfassen. Der Bürgerdialogüber Wissenschaft und Forschung bekommt dann einenstarken Kern, wenn dieser Bundestag zum Haus der Wis-senschaft wird, wenn man in diesem Bundestag überWissenschaft, über Forschung, über Forschungsschwer-punkte und -strukturen mehr als bisher diskutiert. Wir
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Dr. Ernst Dieter Rossmannwollen Ihnen anbieten, dieses Parlament, dieses Hausder Bürger in Zukunft zu einem Haus zu machen, in demauch über Forschungs- und Wissenschaftspolitik gestrit-ten wird. Das nützt uns allen. Frei nach der Devise vonHartmut von Hentig – das ist ein sozialdemokratischerLehrsatz –: Worauf kommt es an? Sachen klären, Men-schen stärken – das ist unsere Mission.Danke.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor
Dr. Martin Neumann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn wir uns an die richtigen Worte der Bun-deskanzlerin in der Regierungserklärung erinnern oderwenn wir uns die Aussagen unseres Koalitionsvertragesanschauen, dann kommen einem vier wesentliche Bot-schaften in den Kopf, die ich an dieser Stelle hervorhe-ben möchte:Erstens. Diese Bundesregierung wird sich den rasantwachsenden Herausforderungen des globalen Wettbe-werbs stellen.Zweitens. Sie wird die Leistungsfähigkeit des deut-schen Wissenschaftssystems wahrnehmbar steigern.Drittens wird sie dafür Sorge tragen, dass die deut-sche Wirtschaft bei internationalen Entwicklungen wie-der Schritt halten kann.Viertens wird sie Deutschland für die besten Köpfeder Welt wieder attraktiv machen.
Nicht von ungefähr beschreibt die neue Bundesregie-rung ihr innovationspolitisches Handeln mit folgendemSatz:Moderne Technologien sind keine Bedrohung, son-dern Chance für Deutschland. Mit ihnen begegnenwir den großen Herausforderungen der Menschheitwie Hunger, Armut, Krankheit und Naturkatastro-phen. Deutschlands Technologieführerschaft sichertuns Teilhabe an großen Zukunftschancen, Beschäf-tigung und Ressourcen schonendem Wohlstand.Kurz gesagt: Diese Bundesregierung wird einer neuenKultur für Wissenschaft und Innovation den Weg berei-ten.
An dieser Stelle sage ich ganz deutlich: Wir müssenmehr Freiheit wagen, und, meine Damen und Herren,wir werden mehr Freiheit wagen. Aus diesem Grundwerden wir gemeinsam einen mutigen Schritt in die Zu-kunft machen und Ihnen den Entwurf eines Wissen-schaftsfreiheitsgesetzes vorlegen.
Es ist ein Gesetz, das der Wissenschaft und der Wirtschaftgleichermaßen die notwendige Luft zum Atmen gibt. Esist ein Gesetz, das Barrieren abbaut und das – drittens –Forschung und Lehre wieder enger zusammenführt. Es istein Gesetz, das Eigenverantwortung in der Wissenschaftstärkt und Bürokratie abbaut.
Es ist ein Gesetz, das Grenzen für Fachkräfte öffnet undbestehende Forschungsinfrastrukturen für alle zugäng-lich macht.
Sie haben das Kredo unseres Koalitionsvertrages ver-nommen: Angst schafft keine Zukunft.
Es war gerade die Angst der letzten Jahre, die sich wieMehltau über neue Forschungsfelder, neue Erfindungenund Entdeckungen sowie über neue Technologien legte.Egal, ob Grüne Biotechnologie, Stammzellenforschung,kerntechnische Sicherheitsforschung oder Validierungs-forschung: Diese Bundesregierung setzt wieder verant-wortungsbewusst auf Chancen und schützt die Men-schen dabei zugleich vor möglichen Risiken.
Deutschland braucht ein positives Forschungsklima,frei von ideologischen Debatten. Die herrschende, oftangstbesetzte Kultur des Risikos muss sich zu einer zu-kunftsorientierten Kultur der Chancen wandeln.
Diese Bundesregierung wird die Leistungsfähigkeitdes deutschen Wissenschaftssystems im internationalenWettbewerb stärken. Das heißt, wir wollen die Koopera-tionsmöglichkeiten zwischen Universitäten, außeruni-versitären Forschungseinrichtungen und der Wirtschafterweitern und dabei die Eigenverantwortung der Wis-senschaftler stärken. Wir wollen gemeinsam mit denLändern eine Landkarte der FuE-Infrastruktur zeichnen,um Kooperationsverträge über die gegenseitige Nutzungder FuE-Infrastruktur zu ermöglichen.Die staatliche FuE-Förderung der Wirtschaft ist inDeutschland über Jahre hinweg zurückgegangen. Sie istheute niedriger als in einem Großteil der OECD-Staaten,die allerdings FuE-Projektförderung und steuerlicheFuE-Förderung als Eines betrachten. Eine verstärkteFuE-Tätigkeit der Wirtschaft ist aber eine der Grundvo-raussetzungen für eine Steigerung der Wertschöpfung.
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250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. November 2009
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Dr. Martin Neumann
Was Deutschland heute fehlt, ist eine gezielte steuerli-che FuE-Förderung aller in Deutschland forschendenUnternehmen.
Während die Zuschussförderung die Durchführung einesForschungsprojektes erst ermöglicht, schafft die steuerli-che FuE-Förderung zusätzliche Liquiditätsspielräumefür Innovationsvorhaben. Daher wird auch diese Bun-desregierung eine steuerliche Förderung anstreben, diezusätzliche Forschungsimpulse in kleineren und mittle-ren Unternehmen sowie in großen in Deutschland for-schenden Unternehmen auslöst.Zum Abschluss wünsche ich Ihnen, sehr geehrte FrauMinisterin, in Ihrem Amt alles Gute und eine glücklicheHand für die richtigen Entscheidungen.Ich bedanke mich.
Kollege Neumann, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und
wünsche Ihnen Erfolg in Ihrer Arbeit.
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Albert
Rupprecht.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Regierunghat den Titel „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt“. Bil-dungspolitik ist in den Mittelpunkt gerückt. Wir werdenfür Forschung und Bildung insgesamt 12 Milliar-den Euro mehr bereitstellen. Das ist mit Abstand dergrößte Zuwachs, den ein Ressort überhaupt zu verzeich-nen hat. Das ist eine ganz klare Prioritätensetzung fürBildung und Forschung.
Es geht dabei um weit mehr als um Finanzmittel. Wirverstehen den Bildungsbegriff im Sinne des christlichenMenschenbildes. Das heißt, der Mensch ist als EbenbildGottes zur Freiheit berufen. Bildung ist die Vorausset-zung für innere und äußere Freiheit. Bildung schafftgeistige Selbstständigkeit und Urteilsvermögen. Deshalbist Bildung auch eine Voraussetzung für die Wahrneh-mung demokratischer Rechte und Pflichten.Ein hoher Bildungsstand sichert nicht nur Wohlstandund Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch unsere freiheit-liche Grundordnung als solche. Deswegen ist es gut,dass wir über Bildungspolitik leidenschaftlich streitenund diskutieren. Das Ringen um die beste Bildung fürunsere Kinder ist den politischen Wettstreit wert.Bildung hat auch aus Sicht der Bevölkerung höchstePriorität. Die Bildungsrepublik Deutschland ist an denKüchentischen der deutschen Familien längst angekom-men. Die Eltern stellen viele Fragen. Es ist unsere Auf-gabe, auch Antworten und Orientierungen zu geben. Esgehört trotz aller Mängel dazu, ein realistisches Bild zuzeichnen. Die Mühen der letzten Jahrzehnte haben sichgelohnt. Nie zuvor war der Bildungsstand in Deutsch-land höher als heute. Auch das gehört zur Wahrheit, undauch das sollten wir den Eltern sagen, die Angst um dieZukunft ihrer Kinder haben.Nur 3 Prozent der Erwachsenen haben keinen Schul-abschluss. In Schweden sind es 6 Prozent, in Finnlandsind es 10 Prozent und in Frankreich 14 Prozent. Immer-hin haben 83 Prozent der Erwachsenen einen Berufsab-schluss – Tendenz steigend. Im EU-Schnitt sind es nur69 Prozent. Nie zuvor gab es mehr Akademiker inDeutschland als heute. 309 000 junge Menschen haben2008 ihr Studium abgeschlossen. Das ist die Hälfte mehrals im Jahr 2002. Fast 40 Prozent der Schulabsolventenhaben 2008 ein Studium aufgenommen. Das ist ein Drit-tel mehr als 1998. Nirgends auf der Welt gibt es mehrHöchstqualifizierte als in Deutschland. 2,6 Promotionenkommen auf 1 000 Erwachsene. Im EU-Schnitt sind daslediglich 1,4. In den USA sind es nur 1,3.Das sollte uns durchaus mit Stolz erfüllen und unsmotivieren, engagiert weiterzustreiten: streiten über dasrichtige Wertefundament, streiten über die richtigenLeitbilder und Instrumente, aber immer in dem Wissen,dass in einer vernetzten und komplexen GesellschaftDogmatismus nicht weiterhilft.
Neben den Erfolgen der Vergangenheit gibt es natür-lich große aktuelle Herausforderungen, die es vor20 Jahren in der Art nicht gab: Globalisierung, Demo-grafie und Migration.Zum Ersten: Schon heute fehlen jährlich 15 000 Inge-nieure und Naturwissenschaftler. Ohne Ingenieure wer-den wir den Wohlstand in Deutschland im globalenWettbewerb nicht sichern können. Es geht ganz klar umeinen Wettstreit um die besten Köpfe. Wir wollen, dassdie besten Köpfe nicht in Zürich, Harvard und in Oxford,sondern in Aachen, Karlsruhe und in München studie-ren.
Deswegen werden wir die Attraktivität Deutschlands fürHochqualifizierte steigern. Deswegen werden wir dietechnischen Fächer stärken und Hochbegabungen früherfördern, und das auch im Rahmen eines nationalen Sti-pendiensystems unter Beteiligung – ich meine, das istrichtig – der Wirtschaft.Zum Zweiten, zur Demografie. 2010 gibt es 100 000Schulabgänger weniger als 2006. Trotz Krise bleiben2009 17 000 Lehrstellen in Deutschland unbesetzt. Inden nächsten 40 Jahren steigt der Altersdurchschnitt derDeutschen um zehn Jahre. Die Betriebe werden hände-ringend auf ältere Arbeitnehmer angewiesen sein. VieleSenioren werden rüstig sein. Deswegen sind starre Al-tersgrenzen in Zukunft kaum mehr zu begründen.Zum Dritten. 15 Millionen Menschen mit Migra-tionshintergrund leben in Deutschland. Das ist mehr
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Albert Rupprecht
als ein Fünftel der deutschen Bevölkerung. Viele sindzum Glück gut integriert. Trotzdem beträgt der Anteilder jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund undohne qualifizierten Berufsabschluss 41 Prozent im Ver-gleich zu einem Anteil von 15 Prozent, wenn man diegesamte Bevölkerungsgruppe berücksichtigt.Ich glaube, hier ist etwas massiv falsch gelaufen. Eskann nicht sein, dass die zweite oder dritte Generationschlechter integriert ist als die erste. Deswegen ist eszwingend, dass künftig jedes Kind vor Schuleintritt diedeutsche Sprache beherrscht.
Wer in der Schule nichts versteht, verliert schnell denAnschluss und das Interesse. Es muss daher für alle Kin-der im Alter von vier Jahren Sprachstandserhebungenund bei Bedarf verpflichtenden Sprachförderunterrichtgeben. Zudem werden wir benachteiligten Kindern mitBildungsschecks beistehen – vor allem in den Klassenvier bis sechs als unterrichtsbegleitende Förderung.Dies und vieles mehr werden wir tun, um die Bildungder Menschen in Deutschland voranzubringen undDeutschlands Zukunft zu sichern. Hierzu begründen wireine Bildungspartnerschaft zwischen Bund, Ländernund Kommunen. Wir erhöhen die Ausgaben des Bundesfür Bildung und Forschung um insgesamt 12 MilliardenEuro bis 2013, und wir werden bis 2015 gesamtstaatlich10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung undForschung aufwenden. Von Beginn der Amtszeit der Mi-nisterin Schavan im Jahre 2005 bis zum Ende dieser Le-gislatur wird sich der Etat des Bildungs- und Forschungs-ministeriums insgesamt verdoppeln. Ich glaube, das isteine außerordentlich klare Prioritätensetzung zugunstenvon Bildung und Forschung.
Es ist zwingend und muss uns gemeinsam gelingen,Deutschland zur Bildungsrepublik zu machen. Wir brau-chen eines der besten Bildungssysteme der Welt, wennwir gesellschaftlichen Zusammenhalt, Wohlstand undsoziale Sicherheit in Deutschland bewahren wollen.Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichenliegen nicht vor.Wir kommen nun zu den Themenbereichen Familie,Senioren, Frauen und Jugend. Das Wort hat die Bun-desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,Dr. Ursula von der Leyen.Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Politikfür Familien ist Politik für die Zukunft. Wer die Zukunftgewinnen will, muss bereit sein, neue Wege zu gehenund neue Akzente zu setzen. Wir haben in den vergange-nen Jahren eine gute Grundlage für eine neue, moderneund nachhaltige Familienpolitik gelegt. Wir haben es ge-schafft, einen breiten gesellschaftlichen Konsens herzu-stellen. Wir haben es geschafft, dass eine moderne Fami-lienpolitik ein kluger Mix aus Zeit, Infrastruktur undGeld ist und nicht nur ein einzelnes Teil zählt. Familien-politik ist vom Rand in die Mitte der gesellschaftlichenDiskussionen gerückt. Das ist wichtig gewesen, um hiereine solide Grundlage zu haben.Stellvertretend dafür stehen Themen wie zum Bei-spiel das Elterngeld und neue Chancen für Väter – bei-des sind Themen, die wir weiterentwickeln werden –,der Ausbau der Kinderbetreuung, Mehrgenerationenhäu-ser, Freiwilligendienste aller Generationen, frühe Hilfenam Lebensanfang bis hin zu Demenzbegleitern am Le-bensende. Wir sind erst am Anfang des Weges. Es istnoch eine große Strecke zu gehen. Aber es ist durch diebreite Übereinstimmung, was die Richtung, in die wiruns bewegen wollen, angeht, gelungen, dass wir jetztmehr in die Tiefe sehen können und vor allen Dingensensibler und aufmerksamer für die Brüche im Lebens-verlauf werden können.Was bedeutet es, wenn Kinder in Armut aufwachsen?Was bedeutet es für Jugendliche, wenn sie in der Puber-tät den Einstieg aus der Schule oder aus der Ausbildungin den Beruf nicht schaffen? Was bedeutet es für Frauenim Hinblick auf Aufstiegs- und Erwerbschancen, wennsie an die „gläserne Decke“ stoßen, wenn sie Kinder be-kommen? Was bedeutet es für Menschen um die 50, diegerade wieder eingestiegen sind, wenn sie merken, dassPflegeaufgaben auf sie zukommen und Pflege und Berufunvereinbar sind?Natürlich sind Lebensläufe nicht immer geradlinig.Ich weiß auch, dass zur Freiheit und Verantwortung ei-nes jeden Menschen dazugehört, den Weg durchs Lebenselbst zu finden. Aber es gibt auch typische Brüche, dieverpasste Chancen bedeuten: verpasste Chancen fürden Einzelnen oder die Einzelne, aber auch verpassteChancen für dieses Land, wenn die Talente, die Mög-lichkeiten, die Einsatzfreude von Menschen nicht ge-nutzt werden. Zu viele verpasste Chancen kann sich die-ses Land nicht leisten, meine Damen und Herren. DiesesLand braucht eine Chancengesellschaft.
Es gibt kaum ein Thema, bei dem verpasste Chancenso augenfällig werden, wie das der Kinderarmut.2,4 Millionen Kinder leben in Armut. Kinderarmut hatviele Gesichter. Sie hat zunächst das Gesicht der Bil-dungsarmut. Deshalb werden wir den Ausbau einer qua-litativ hochwertigen Kinderbetreuung weiter vorantrei-ben. Die heute vorgelegten Zahlen sind ermutigend.Trotz der Wirtschaftskrise hat sich die Zahl der Bewilli-gungen für die Schaffung neuer Plätze in diesem Jahr imVergleich zum Jahr 2008 verdreifacht. Es ist ein Volu-men von 150 000 Plätzen. Aber ich sage auch deutlich:Dies reicht nicht; diese Dynamik wird noch weiter stei-gen müssen. Auch die Qualifikation von Tageseltern, Ta-gesmüttern mit der Bundesagentur für Arbeit und denJugendämtern werden wir weiter ausbauen.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der LeyenWenn Armut Bildungsarmut bedeutet, dann heißtdies, dass die Kinder, die zu Hause zu wenig Ansprache,keine Alltagsstruktur oder zu wenig Förderung erhalten,vor allem davon profitieren, wenn sie mit Gleichaltrigenzusammen sind, weil sie dadurch spielerisch Sprache,Fantasie und Kreativität entwickeln,
weil sie dadurch spielerisch mit anderen ihre Welt entde-cken. Deshalb möchte ich die kommenden drei Jahre da-für nutzen, mit Ihnen die gesellschaftspolitische Diskus-sion darüber zu führen, wie ein Betreuungsgeld soausgestaltet werden kann, dass es Kinder nicht von An-fang an von so wichtigen Lernorten ausschließt.
Anerkennung von Erziehungsleistung ja, aber liebevolleErziehung und frühe Bildung müssen Hand in Hand ge-hen.Kinderarmut hat auch das Gesicht der materiellen Ar-mut. Ein Kind bringt sicherlich ganz viel Liebe und Le-bensfreude in eine Familie hinein. Aber es kostet auchGeld, und mehrere Kinder kosten mehr Geld. Deshalb istes richtig, das Kindergeld zu erhöhen; denn Kindergeldverhindert das Abrutschen in Armut. Hätten wir keinKindergeld in diesem Land, dann läge die Armutsquotevon Kindern nicht bei 14 Prozent, sondern mehr als dop-pelt so hoch bei 30 Prozent.Wir werden auch den Kinderzuschlag weiterentwi-ckeln, der den Erwerbsanreiz für die Eltern deutlichstärkt: Wenn ihr genügend Einkommen für euch selberverdient, dann sollt ihr nicht nur wegen der Kinder inHartz IV rutschen.Die größte Gruppe der Kinder in Armut sind Kindervon Alleinerziehenden. Sie brauchen neben den bereitserwähnten Hilfen – gute Kinderbetreuung, Kinderzu-schlag, materielle Hilfen – vor allem Netze der Unter-stützung. Im Koalitionsvertrag haben wir uns vorgenom-men, mit einem Maßnahmenpaket solche Netzwerkeauszubauen. Das beginnt bei der Zusammenarbeit in denneuen Kooperationen mit der Bundesagentur für Arbeit,mit lokalen Trägern, wenn es um eine bessere Vereinbar-keit von Beruf und Familie für diese Alleinerziehendenin ihrem schwierigen Alltag geht, und reicht bis hin zuden inzwischen über 600 lokalen Bündnisse für Familieund den 500 Mehrgenerationenhäusern. Das heißt, wirhaben bereits eine Plattform aufgebaut, um die Halt ge-benden, ermutigenden und einfach zugänglichen Netz-werke für diese Kinder auszubauen. Es gibt das schönealte afrikanische Sprichwort „Es braucht ein ganzesDorf, um ein Kind großzuziehen“.
Das ist und bleibt die richtige Philosophie. Es gibt vieleMenschen, die ehrenamtlich etwas tun wollen und tunkönnen. Wir dürfen es nicht dem Zufall überlassen, ob esan einem Ort diese Unterstützungsnetzwerke gibt odernicht.Armut, meine Damen und Herren, trägt aber auch dasGesicht der Chancen- und der Teilhabearmut von Ju-gendlichen, der verpassten Schulabschlüsse in der Pu-bertät, des misslungenen Einstiegs in die Arbeitswelt,des Gefühls, nichts wert zu sein, und der verzweifeltenVersuche, sich auf andere Weise Respekt zu verschaffen.
Deshalb müssen wir uns stärker darauf besinnen, dass je-der Jugendliche eine faire Chance bekommt, wertge-schätzt, mit Perspektiven und gesund durch die schwieri-gen Jahre der Pubertät zu kommen und, wenn es nötigist, auch eine zweite Chance zu erhalten.Wir wollen deshalb die Jugendlichen beim Übergangvon der Ausbildung in den Beruf besser unterstützen, in-dem wir die Netzwerke, die wir aufgebaut haben, durchKompetenzagenturen mit Initiativen wie „2. Chance“oder „Jugend stärken“ ausbauen. Dieses Fundamentmüssen wir nutzen, um die Chancen für die Jugendli-chen zu verbessern.Verpasste Chancen in diesem Lebensalter sind aberauch verpasste Chancen, sich mit diesem Land, diesemStaat und dieser Demokratie zu identifizieren, mitzuma-chen, sich zu engagieren. Die Gleichgültigkeit gegen-über Politik und Demokratie ist heute ebenso eine Ge-fahr wie der Extremismus. Deshalb gehört es auch zueiner eigenständigen Jugendpolitik – zu der wir uns imKoalitionsvertrag bekennen –, die Wichtigkeit von Parti-zipation und Teilhabe, Jugendarbeit und politischer Bil-dung hervorzuheben, die wir mit dem Kinder- und Ju-gendplan fördern.Wir brauchen eine eigenständige Jugendpolitik und– das ist im Koalitionsvertrag festgehalten – vor allemeine eigenständige Politik für Jungen und Männer.
Denn es sind gerade die Jungen, deren Lebensverläufeim Jugendalter zu brechen drohen. Wir müssen uns dieFrage stellen: Was ist los, dass die Jungen nicht mehr– wie die Mädchen – am Bildungsaufwuchs teilnehmen?Warum bleiben sie zurück?
Bei den Frauen kommt der typische Bruch später imLeben. In den Anfängen der Ausbildung sind sie besser,sie sind schneller in der Schule, sie sind qualifiziert, aberdann kommt der Lebensbruch – verursacht durch die„gläserne Decke“ – in dem Augenblick, wenn Kinder dasind und es um Erwerbs- und Aufstiegschancen fürFrauen geht. Wir wollen: mehr Frauen in Führungsposi-tionen im öffentlichen Dienst wie in der Wirtschaft, glei-chen Lohn für gleiche Arbeit, bessere Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf, aber auch von Pflege und Beruf. Dassind die gleichstellungspolitischen Eckpfeiler einerChancengesellschaft für Frauen.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der LeyenEine Chancengesellschaft umfasst schließlich undendlich auch die Älteren. Wenn der Ausstieg aus demBeruf einen Bruch mit Aktivitäten, Aufgaben, Kontaktenund Wertschätzung bedeutet, dann ist die Chance auf eingutes Alter nicht gegeben. Das wiegt umso schwerer ineiner Gesellschaft, in der immer mehr Menschen immerlänger leben. Wir haben in den vergangenen Jahren da-mit begonnen, neue Orte zu schaffen, neue Wege, neueChancen für ein aktives, ein anderes Altersbild zu ent-wickeln. „Alter schafft Neues“ – das ist eines dieserThemen. Es gibt generationsübergreifende Freiwilligen-dienste. Dieses Leitbild werden wir weiter ausbauen.Wir wissen, dass es mehr ältere Menschen gebenwird. Ich möchte die deutliche Ansage machen, dass daskeine Alterslast, sondern eine Chance, ein Fortschritt ist.Deshalb ist es unser Ziel, einladende Angebote zu ma-chen und Strukturen zu schaffen, damit sich mehr ältereMenschen in ehrenamtliche oder bürgerschaftliche Akti-vitäten einbringen können.Wer Leihgroßmutter in einem Netz der „frühen Hil-fen“ ist oder wer Mentor für Schüler mit einer besonde-ren Schwierigkeit ist, der erfährt nicht nur hohe Wert-schätzung für sich durch eine sinnvolle Tätigkeit,sondern der gibt den jungen Menschen zum ersten Maldas gute Gefühl, dass sich jemand um sie kümmert.Alle geschilderten Lebenssituationen haben eines ge-meinsam: Man kann sie überwinden, wenn man eigeneKräfte mobilisiert, wenn man auf Menschen, Netze undStrukturen bauen kann, die einen dabei unterstützen. Ge-sellschaftspolitik für alle Generationen zu machen, heißt,dass wir die Menschen stärken, damit sie ihr Leben indie eigene Hand nehmen können, und wir müssen dieMenschen stärken, damit sie einander stärken und unter-stützen können.Eine Gesellschaft der Chancen ist auch eine Gesell-schaft des Zusammenhalts, der gegenseitigen Hilfe unddes Engagements. Lassen Sie uns gemeinsam an dieserChancengesellschaft arbeiten.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Ziegler für die
SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau von der Leyen,zunächst einmal: Glückwunsch zu Ihrem Amt und vielErfolg; das kann man Ihnen wirklich nur wünschen.Mit Verlaub: Ich habe nicht gewusst, ob Sie zu langean den Gesundheitsverhandlungen teilgenommen habenoder ob Sie einen anderen Vortrag halten. Sie haben dieVerantwortung entweder auf die Länder, auf die Netz-werke oder das Ehrenamt abgeschoben, die eigene Ver-antwortung der Bundesregierung habe ich aber nicht er-kennen können. Tut mir leid.
Der Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb sieht in derFamilienpolitik eine Erhöhung des Kindergeldes unddes Kinderfreibetrages vor. Die Financial TimesDeutschland titelte letzte Woche – wie ich finde, zutref-fend –: „Goldene Zeiten für reiche Eltern“. In der Tatprofitieren Eltern mit höherem Einkommen davon; dennder Steuervorteil durch den Freibetrag ist höher als dasKindergeld, und von der Erhöhung des Kindergeldes um20 Euro haben Eltern im Arbeitslosengeld-II-Bezug garnichts. Die geschätzten Kosten von rund 4,6 MilliardenEuro hätten wir besser in Infrastrukturen für Kinder in-vestieren sollen.
Morgen, wenn wir über den Entwurf des Wachstums-beschleunigungsgesetzes Streit führen, wird sicher nochGelegenheit sein, dazu etwas zu sagen. Deshalb hier nurso viel: Der Argumentation, dass mit diesen staatlichenLeistungen die Konjunktur angekurbelt wird, kann mannicht folgen. Bei den Familien mit höherem Einkommenwird möglicherweise die Sparquote erhöht, mehr aberauch nicht. Auch 20 Euro mehr Kindergeld werden nichtzu einer messbaren Belebung der Konjunktur beitragen.Es wird aber sicherlich Folgendes passieren: Die Scherezwischen wohlhabenden Familien und Familien mit ge-ringem Einkommen wird weiter auseinandergehen. Dasungerechte System des Familienlastenausgleichs wirddamit verfestigt. Aber das scheint sowohl von der CDU/CSU als auch von der FDP gewollt zu sein. Ihre gesell-schaftspolitischen und familienpolitischen Vorstellungensind geprägt von einem Bild der Verfestigung von un-gleichen Lebenschancen, auch wenn Sie ständig etwasanderes behaupten.
Für die SPD gilt: Wir stehen für Chancengleichheit. Wirsind dafür, dass alle Kinder gleich viel wert sind, unab-hängig vom Geldbeutel ihrer Eltern.Zur Förderung von Familien zählt auch das Eltern-geld. Sie sehen vor, dass das Elterngeld flexibilisiert,entbürokratisiert und die Partnermonate gestärkt werden.Es soll ein Teilelterngeld bis zu 28 Monaten eingeführtund der doppelte Anspruchsverbrauch bei gleichzeitigerTeilzeitbeschäftigung beider Eltern beseitigt werden.Aber was haben wir unter einer Entbürokratisierung undFlexibilisierung, was unter einer Stärkung der Partner-monate zu verstehen? Nichts davon haben Sie uns hierberichtet. Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Fa-milie findet nicht statt, nur das Angebot der Einführungeines Teilelterngeldes von 28 Monaten. Sicher, auf denersten Blick ist das ein Angebot für Eltern, keine Frage.Aber werden es nicht wieder vor allem die Frauen sein,die diese Regelung in Anspruch nehmen?
Wo ist der Anreiz für echte Partnerschaftlichkeit zwi-schen Männern und Frauen?
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Dagmar ZieglerAngesichts einer Teilzeitquote bei Vätern von 5 Prozentkann von einer Partnerschaftlichkeit zwischen Frauenund Männern ja wohl nicht die Rede sein.
Die Abschaffung des doppelten Anspruchsverbrauchsist richtig und wird von uns unterstützt. Diese Abschaf-fung haben wir immer gefordert, aber die CDU/CSU-Fraktion hat das bei der Erarbeitung des Gesetzes immerwieder abgelehnt. Wir freuen uns, dass Sie offensichtlichdazugelernt haben. Wir wollen mehr Partnerschaftlich-keit; deswegen ist eine Erhöhung der verbindlichen Part-nermonate für uns das Ziel.Die Aussagen in der Koalitionsvereinbarung zur Kin-derbetreuung bleiben weit hinter Ihren vollmundigenAnkündigungen zurück, die Sie noch im Wahlkampf vonsich gegeben haben. Sie sind wenig konkret. Schlimmernoch: Die von Ihnen angekündigten Steuersenkungendrücken Bund, Ländern und Kommunen die Luft ab; dashaben wir heute schon mehrfach in den Debatten zu al-len Politikfeldern gehört. Dadurch ist es nicht möglich,den Betreuungsausbau voranzutreiben. Erhebliche Ein-nahmeausfälle in Milliardenhöhe sind vorprogrammiert.Sie haben auch hier nicht die Frage beantwortet, wiemehr Plätze und mehr Qualität in der Kinderbetreuungrealisiert werden sollen. Frühkindliche Bildung be-ginnt für die Koalition übrigens erst bei sechs Jahren,was die Sprachstandserhebung angeht, möglicherweisebei vier Jahren. Für uns setzt der Begriff „frühkindlicheBildung“ viel früher an. Darüber muss man noch einmaldiskutieren.Wie wollen Sie es schaffen, ab 2013 die Verwirkli-chung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatzfür unter Dreijährige zu garantieren? All das bleibt heuteunbeantwortet. Vielleicht kann ich Ihnen die Antwortgeben: Der Koalitionsvertrag hat nicht den Titel „Wachs-tum. Bildung. Zusammenhalt“ verdient, sondern: Rück-schritt, Bildungsnotstand und Unterfinanzierung.
Wir wollen starke Länder und Kommunen, die in derLage sind, bis 2013 das Ausbauziel und den Rechtsan-spruch zu erreichen. Wir wollen mehr in die Qualität derKinderbetreuung investieren. Wir wollen eben nicht nurden bereits beschlossenen Rechtsanspruch auf einen Be-treuungsplatz ab 2013 schaffen, sondern auch einenRechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz. Wir wollenferner die Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Uni.Dazu sind Investitionen statt Steuergeschenke notwen-dig.Die Bundesregierung kündigt ein neues Kinder-schutzgesetz an und distanziert sich zu Recht von demalten Entwurf der letzten Legislaturperiode. In diesemEntwurf war nämlich keine Spur von präventiven Maß-nahmen zu finden. Die Prävention soll in dem neuen Ge-setz nun endlich eine Rolle spielen. Darüber freuen wiruns sehr. Damit greifen Sie ja auch eine Forderung derSPD auf.Sie haben endlich verstanden, dass ein guter Kinder-schutz früh ansetzt. Familien müssen rechtzeitig präven-tive Hilfen angeboten werden, um Gefährdungen derKinder und Jugendlichen vorzubeugen. Präventive An-gebote sind beispielsweise Netzwerke für gesunde Kin-der, aufsuchende Familienhilfen, Elternkurse oder Erst-besuche rund um die Geburt. Solche Angebote brauchenwir flächendeckend in ganz Deutschland. Es ist mehr alsenttäuschend, dass der Koalitionsvertrag keine Aussagezu dem dringend notwendigen Präventionsgesetz ent-hält. Damit verspielt die neue Regierung erneut eine ent-scheidende Chance für den Kinderschutz.Was hat die neue Regierung älteren Menschen zu bie-ten? Welche Antwort gibt sie auf eine immer älter wer-dende Gesellschaft? Zum demografischen Wandel wirdein neuer Bericht der Bundesregierung ab 2011 ange-kündigt. Das war es im Wesentlichen. Zu Senioren ent-hält der Koalitionsvertrag nur einige mehr oder wenigerallgemeine Absichtserklärungen zu Altersbildern undAltersgrenzen, zum sozial vernetzten Wohnen und zurForschung.Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege soll verbes-sert werden. Aber wie? Keine Antwort. Das ist typischfür die Haltung von CDU/CSU und FDP, die eine gesetz-liche Verankerung beispielsweise von bezahlter Pflege-zeit – wie von uns seinerzeit gefordert – abgelehnt hat-ten.Hier wird deutlich, was die Koalition für welche Fa-milien bereithält: viel für die Gutverdiener und so gutwie nichts für die Geringverdiener und Arbeitslosen.Entsolidarisierung und Spaltung der Gesellschaft werdenleider das Ergebnis Ihrer Politik sein.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin
Miriam Gruß.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe FrauZiegler, herzlich willkommen im Bundestag! Wir habenin den letzten Jahren im Familienausschuss schon vielüber Familienpolitik diskutiert. Ich war damals in derOpposition. Deswegen kann ich Ihre Haltung, dass Sienicht nur Freude über den Koalitionsvertrag empfinden,grundsätzlich verstehen. Aber wir haben viele Diskus-sionen geführt und auch in vielen Ergebnissen festge-stellt, dass die rot-grüne Familienpolitik, die Sie veran-staltet haben, auch keine besseren Ergebnisse gelieferthat. Deshalb würde ich Sie einfach bitten, uns jetzt ein-mal zuzuhören.
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Miriam Gruß– Keine besseren Ergebnisse als Schwarz-Rot.Deswegen haben wir jetzt eine bürgerlich-liberaleKoalition und ambitionierte Ziele im Koalitionsvertragfestgehalten.
Weil Sie immer sagen, der Koalitionsvertrag sei so vage,sage ich Ihnen: Schauen Sie sich doch einmal Ihren letz-ten Koalitionsvertrag an! Er ist auch nicht detaillierter.Dann schauen Sie sich einmal an, wie viel davon tat-sächlich umgesetzt wurde. Es bleibt noch weiter hinterden Erwartungen zurück.
Ich will mit dem Thema Kinder beginnen.
Wir haben, auch hier im Bundestag, in den letzten Jahrenzu Recht viel über den Ausbau der Betreuungsplätze dis-kutiert. Wir haben immer angemahnt, dass wir auch überdie Qualität sprechen müssen. Das findet sich jetzt imKoalitionsvertrag wieder. Wir wollen einheitliche Stan-dards in Zusammenarbeit mit den Ländern finden, umdie frühkindliche Bildung bundesweit qualitativ nachvorne zu bringen. Dazu gehört beispielsweise auch Trä-gervielfalt, die der FDP sehr wichtig ist.
Zum Thema Kinderschutz. Dies haben die FrauMinisterin und auch Sie, Frau Ziegler, schon angespro-chen. Ihnen war Prävention wichtig. In der Tat steht Prä-vention jetzt im Koalitionsvertrag. Wir setzen darauf,dass das in dem geplanten Gesetz einen großen Teil ein-nimmt, das nicht nur ein Eingriffsgesetz, sondern tat-sächlich ein Schutzgesetz werden soll, wobei der Schutzmit früher Prävention beginnt, beispielsweise mit demAusbau von frühen Strukturen, Hilfestrukturen, nieder-schwelligen Strukturen und Familienhebammen. Daswar die Intention dieser Koalition.Darüber hinaus wollen wir die Kinder- und Jugend-hilfe insgesamt reformieren, weil es uns wichtig ist,überall dort, wo es bürokratische Strukturen gibt, zuschauen, wie man sie effektiver gestalten kann, sodasssie zielgenauer denjenigen helfen, die Hilfe brauchen.Auch das ist das Ziel dieser Koalition.Es sollte hier im Haus allgemeine Freude auslösen,dass sich eine Forderung der Kinderkommission imKoalitionsvertrag wiederfindet: die Rücknahme der Vor-behalte zur UN-Kinderrechtskonvention.
Fraktionsübergreifend besteht Einigkeit, dass dies einrichtiges und wichtiges Signal in Deutschland ist, dasdiese Koalition setzt.Eine weitere Forderung der Kinderkommission, dassKinderlärm nicht mehr zu gerichtlichen Auseinanderset-zungen führen darf,
findet sich aufgrund dieser neuen Konstellation jetzterstmals in einem Koalitionsvertrag.Sicherlich, Kinderarmut ist für uns alle ein sehrernstes Thema. Kinderarmut muss bekämpft werden.Auch wir haben weiterhin dieses Ziel.
– Doch, dazu steht einiges in unserem Koalitionsvertrag. –Darüber hinaus spreche ich mich persönlich ganz deut-lich dafür aus, dass die Regelsätze für Kinder bedarfsge-recht ausgestaltet werden müssen.Zum Thema Jugendpolitik. Uns war es in den letztenJahren immer wichtig, dass wir eine eigenständige Ju-gendpolitik bekommen. Das ist auch ein erklärtes Zielder jetzigen Regierungskoalition. Wir brauchen eine ei-genständige Jugendpolitik, die Gewalt- und Suchtprä-vention – auch hier ist Prävention wieder das wichtigsteWort –, die Partizipation, die Beteiligung der jungenMenschen, und die Medienkompetenz auch junger Men-schen in den Vordergrund rückt. Dabei geht es allerdingsnicht nur um die Medienkompetenz junger Menschen.Das Ziel Medienkompetenz haben wir in unserem Koali-tionsvertrag generationenübergreifend festgehalten.
Nach der Jugendpolitik will ich nun auf die Jungen-politik zu sprechen kommen. Wir haben festgestellt, dasswir hier Defizite haben, dass Jungs die Bildungsverlierersind; deshalb die deutliche Passage in unserem Koali-tionsvertrag. Natürlich brauchen wir mehr als nur einenBoys’ Day im Jahr. Würde es ihn in Deutschland flä-chendeckend geben, wäre dies allerdings ein gutes, rich-tiges und wichtiges Signal; vereinzelt gibt es ihn jaschon. All das darf aber nicht dazu führen, dass es baldeine Männerquote in Krippen gibt, so wünschenswert esauch wäre, dass der Anteil des männlichen pädagogi-schen Personals im frühkindlichen Bereich steigt.
Damit komme ich zu den Familien. Uns war wichtig,in unserem Koalitionsvertrag ein modernes Familienbildniederzuschreiben; auch dies finden Sie wieder. Uns warwichtig, im Hinblick auf das Umfeld der Familien dafürzu sorgen, dass sich Frauen und Männer frei entscheidenkönnen, wie sie ihr Leben gestalten. Es war wichtig, dassauch Männer, die von früh an am Aufwachsen ihrer Kin-der teilhaben wollen, die Chance dazu bekommen. Dasist eine neue Gleichstellungspolitik. Wir betreiben
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Miriam GrußGleichstellung auch für Männer und sorgen dafür, dasssie sich Zeit für ihre Familie nehmen können.
Deswegen finden Sie in unserem Koalitionsvertrag bei-spielsweise auch das Thema Sabbaticals.
Bei der finanziellen Entlastung setzen wir vor allemauf eine steuerliche Entlastung, natürlich aber auch aufdie Kindergelderhöhung. Frau Ziegler, ich kann es wirk-lich nicht verstehen, dass Sie Kritik an der Kindergeld-erhöhung vorgetragen haben.
Auf die letzte Kindergelderhöhung – hören Sie mir jetztbitte zu – mussten wir sieben Jahre warten, und das für10 Euro mehr Kindergeld. Die jetzige Regierungskoali-tion wird das Kindergeld zum 1. Januar nächsten Jahresum 20 Euro erhöhen.
Seien Sie also bitte ganz still, wenn es um das ThemaKindergelderhöhung geht. Sie und Ihre Regierung habenden Familien erst einmal Geld aus der Tasche gezogen– das entspricht ja auch Ihrer Denkweise –, und nun wol-len Sie es großgönnerhaft verteilen. Wir belassen dasGeld bei den Familien. Wir wollen, dass die Familienfrei entscheiden können, wofür sie ihr Geld ausgeben;
das haben wir in unserem Koalitionsvertrag auch so nie-dergelegt. Die familienpolitischen Leistungen, die esderzeit gibt, werden wir auf den Prüfstand stellen, umdie Menschen effektiv zu fördern und ihnen die notwen-digen Leistungen zuteilwerden zu lassen.Zum Thema Betreuungsgeld. Wie Sie gelesen haben,sind in unserem Koalitionsvertrag auch Gutscheine er-wähnt.
Hier ist das letzte Wort allerdings noch nicht gesprochen.Meine Kritik am Betreuungsgeld gilt weiterhin.
– Beruhigen Sie sich erst einmal, und stecken Sie dieWaffen wieder ein.
Ich kann Ihnen versichern: Soziale Kälte ist in dieserKoalition Fehlanzeige.
Ich freue mich auf die Debatten im Ausschuss, Sie wer-den aber nur wenige Argumente finden.
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
Schönen Dank. – Frau Präsidentin! Frau Ministerinvon der Leyen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! OhneWachstum kein Wachsen. Das ist im Grunde die Kern-aussage des Koalitionsvertrages, die wir in den letztenbeiden Tagen von der Kanzlerin und anderen immer wie-der gehört haben. Ohne Wachstum kein Wachsen – dasweiß eigentlich jedes Kind. Aber was soll wachsen? DieZahl der verpassten Chancen, die uns Frau von derLeyen heute genannt hat? Die Zahl der Kinder, die in Ar-mut leben? Die Zahl der Frauen in prekären Beschäfti-gungsverhältnissen? Die Zahl der Frauen, die aus derArbeitslosenstatistik herausfallen? Die Zahl der Allein-erziehenden, die weiterhin zum Amt gehen müssen? DieZahl der Frauen, die immer noch weniger verdienen alsdie Männer? Die Zahl der Steuervergünstigungen fürBesserverdienende? All dies legt der Koalitionsvertragnahe. Ich habe ihn hier, Schwarz auf Weiß, etwa130 Seiten, viel Text, wenig Inhalt und wenn, dann ent-weder altbekannt oder gruselig und diskriminierend.
– Ja, so ist es. Wenn das so weitergeht, überlege ich mirnoch meinen letzten Satz.Es scheint angebracht, die großen Versprechungenunter die Lupe zu nehmen und sie zu hinterfragen. Aufeinzelne Punkte möchte ich eingehen:Zu den Alleinerziehenden. Die Ministerin hat es an-gesprochen – ich zitiere einmal aus dem Koalitionsver-trag –:Wir wollen die Rahmenbedingungen für Allein-erziehende durch ein Maßnahmenpaket verbessern.Dieses soll insbesondere in verlässlichen Netzwerk-strukturen für Alleinerziehende lückenlos, flexibelund niedrigschwellig bereitgestellt werden.Wir werden prüfen, inwieweit die Umgestaltungdes bisherigen steuerlichen Entlastungsbetrages in
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Jörn Wunderlicheinen Abzug von der Steuerschuld möglich und in-teressengerecht ist.Toll!
Was sollen diese Worthülsen? Jeder Familienpolitikerweiß doch, dass die Zahl der Ein-Eltern-Familien – inder Mehrheit alleinerziehende Mütter – und ihr Anteil anallen Familienhaushalten beständig wächst. Jedes siebteKind in den alten und jedes fünfte Kind in den neuenBundesländern wird von einem Elternteil allein erzogen.
„Wir wollen verbessern und prüfen …“ – ja, nennen Siedoch einmal Ihre konkreten Vorhaben!
Zum Kinderzuschlag findet sich keine Aussage.Im Kampf gegen Kinderarmut müssen endlich kon-krete Maßnahmen auf die Tagesordnung.
Über zweieinhalb Millionen Kinder in Deutschland le-ben unterhalb der Armutsgrenze. Doch weder eine rea-listische Höhe des Regelsatzes noch eine existenz-sichernde Grundsicherung für Kinder werden irgendwiein Betracht gezogen. Beschämend! Zu den Kinderregel-sätzen im Rahmen von Hartz IV ist nichts geplant. DieDevise heißt: Abwarten!Betreuungsgeld. Das Betreuungsgeld, das geplantist, ist fatal und diskriminierend – konservativer geht eseigentlich nicht mehr.
Das Betreuungsgeld ist frauenfeindlich, bildungsfeind-lich und wird verstärkt zum Ausstieg junger Frauen ausdem Berufsleben führen.
Interessant ist auch: Warum soll das Betreuungsgeld ge-rade im Jahr 2013 eingeführt werden? Ich erinnere da-ran: Im Jahr 2013 soll es einen Rechtsanspruch auf einenKindergartenplatz für alle Kinder geben. Es ist längstklar, dass die Zahl der Plätze dem Anspruch nicht ge-recht wird, dass Plätze fehlen werden.
Also muss man etwas machen. Die Zahl der Kitaplätzeverstärkt ausbauen? Nein, weit gefehlt. Stattdessen willdiese Regierung durch finanzielle Anreize die Kinderaus den Kindergärten verbannen, um so ihre verfehltePolitik zu kaschieren.
Noch eines: Eltern, die ihre Kinder zu Hause erzie-hen, sollen dafür Geld erhalten. Was soll das? Ja, erzie-hen denn Eltern, die ihre Kinder in den Kindergartenbringen, nicht? Verdienen diese Eltern etwa keine Aner-kennung? Die Koalition ist offensichtlich der Ansicht,dass diese Eltern ihre Kinder im Kindergarten abgeben,sie Jahre später wieder abholen und dann sagen: Kerl,wat bist du groß geworden!
Deshalb lehnt die Linke ein derartiges Betreuungsgeldab.Ehegattensplitting. Mein Gott, Frau Gruß! FrauLaurischk, was hat die FDP dagegen gekämpft! Undjetzt? Umgefallen.
Die Alleinverdienerehe wird weiter privilegiert. Was ha-ben wir im Ausschuss dafür gekämpft, dass das abge-schafft wird! Wie sind die Kolleginnen der FDP seiner-zeit auf die Barrikaden gegangen! Was ist davon geblie-ben? Da kann man nur aus Konstantin Weckers Lied Waspassierte in den Jahren zitieren:… und für die, die du bekämpft hast, machst dujetzt den Buckel krumm.Das scheint das Lied der FDP zu sein.Qualität der Kindertagesstätten? Allgemeine Appellean die insolventen Länder. Erst wird ihnen das Geldweggenommen, und dann heißt es: Jetzt zahlt mal! Ichhabe ernsthaft die Befürchtung, dass im Zusammenhangmit dem qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung dieGefahr der Privatisierung und Kommerzialisierungdroht.
Bleibt die Abkehr von der Gemeinnützigkeit im Rahmenvon Bildung und Daseinsvorsorge weiter Regierungs-programm?Kinderarmut. Wird durch die Regierung – Frau vonder Leyen, das ist wichtig – im Koalitionsvertrag völligausgeblendet! Nur einmal heißt es in einem Sowie-Satzbeiläufig „Kinderarmut“ – und das in dem Wissen da-rum, dass, wie gesagt, über zweieinhalb Millionen Kin-der in diesem Lande in Armut leben. Es macht mich wü-tend, wenn ich hier immer wieder erleben muss, dasssich die Regierungsparteien für alternativlos halten. Hö-ren Sie wenigstens hin und wieder auf das Volk und dieOpposition! Damit wäre den Kindern jedenfalls gehol-fen.
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258 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. November 2009
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Jörn WunderlichZum Elterngeld. Die Maßnahmen kommen mir ir-gendwie bekannt vor. Der Antrag klingt fast wie der An-trag der Linken aus der 16. Wahlperiode, aber auch nurfast; denn so, wie das jetzt ausgestaltet ist, droht dochwieder, dass verstärkt Frauen in Teilzeit gehen.Zum Unterhaltsvorschussgesetz. Klasse, der Vor-schlag, die Zwölf-Jahres-Grenze fallen zu lassen, standin dem ersten Gesetzentwurf, den ich eingebracht habe;das war im Jahr 2005. Was wurde darüber gelacht! Allehaben gesagt: Guter Gesetzentwurf; aber du bist in derfalschen Partei. – Abgelehnt! Jetzt wollen Sie diesenVorschlag umsetzen. Na, besser späte Einsicht als garkeine.Kindergeld. Warum wird die Erhöhung des Kinder-geldes kritisiert? Es wird doch an alle gezahlt. Richtig!Was Sie verschweigen, ist aber folgende Tatsache: Kin-der, die in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften leben – Frauvon der Leyen, hören Sie einmal zu, dann begreifen Siees vielleicht auch –,
haben nämlich nichts davon. Bei ihnen wird die Kinder-gelderhöhung nämlich voll auf die Sozialleistung ange-rechnet. Sie sollten sich schämen.
Die Besserverdienenden werden hier wieder finanziellbezuschusst, und Familien, die es tatsächlich bräuchten,gehen leer aus. Es ist so, wie es vorhin schon zitiertwurde: Goldene Zeiten für reiche Familien.Kinderrechte. Miriam Gruß hat es angesprochen – ichzitiere –:Wir setzen uns für eine Stärkung der Kinderrechteein. Diese Rechte müssen im Bewusstsein der Er-wachsenen stärker verankert werden. Wir wollen inallen Bereichen … kindgerechte Lebensverhält-nisse schaffen. Wir wollen die Vorbehaltserklärungzur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen.Da kann ich nur sagen: Völker, hört die Signale! Eineüber Jahrzehnte währende, lähmende Debatte lässt michan dieser Aussage im Koalitionsvertrag zweifeln. DieRegierungsparteien wollten doch immer wieder den Ein-druck erwecken, dass die deutsche Rechtslage im Asyl-und Aufenthaltsrecht bereits im Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention stünde. Jetzt kommt es plötzlichzu diesem Sinneswandel – und das gerade bei dieserKoalition bzw. der CDU? Da bin ich aber gespannt, wiedann die Abstimmung ausfallen wird, wenn es darumgehen wird, sich auch weiter dazu zu bekennen. Ich sagenur: Na, ihr Umfaller, das ist doch wieder etwas füreuch.Frauen- und Gleichstellungspolitik. In dem Koaliti-onsvertrag ist im Wesentlichen der Status quo als Zieldes künftigen Regierungshandelns festgeschrieben. Dassind verbale Bekenntnisse ohne jede konkrete Umset-zung. Stattdessen gibt es viele Prüfaufträge und zu er-stellende Gutachten. Es wird weiter auf Freiwilligkeit inder Wirtschaft gesetzt und ein nebulöser Rahmenplanzur gleichberechtigten Teilhabe versprochen. Super!Der Koalitionsvertrag entspricht in seiner Grundsub-stanz in keinster Weise den Auflagen, den der CEDAW-Ausschuss, also der Fachausschuss der Vereinten Natio-nen zur Gleichstellung von Männern und Frauen, gegen-über der Bundesregierung 2009 ausgesprochen hat. DerAusschuss hat die Regierung nachdrücklich darauf hin-gewiesen, dass die Gleichstellung die Verpflichtung desVertragsstaates ist. Gleichzeitig wurden konkrete – ichwiederhole: konkrete – Ziele wie Quoten und Fristen ge-fordert. Nichts davon wurde umgesetzt; es gab nur Lip-penbekenntnisse. Frau von der Leyen, da sagen Sie, ver-passte Chancen könnten wir uns nicht leisten. Hohn undSpott!Seniorenpolitik. Zum Schluss noch einige Sätzedazu. Die Koalition will eine erfolgreiche Generationen-politik voranbringen. Na, da bin ich aber gespannt. Diejetzigen Regierungsparteien hatten vor einem halbenJahr auf dem 9. Seniorentag in Leipzig jedenfalls nichtsKonkretes dazu vorzuweisen. Dann aber mal los! AlsBildungslektüre kann ich nur die seniorenpolitischenLeitlinien der Linken empfehlen.
In diesem Koalitionsvertrag steht nichts Konkretes:nur wollen, abwarten, mal sehen, prüfen oder verteilenvon unten nach oben. Wenn das die Familienpolitik die-ser schwarz-gelben Regierung in den nächsten Jahrensein soll, dann kann ich nur fragen: Das soll eine Biene-Maja-Koalition sein? Maja war immer eine fleißige undintelligente Biene. Deshalb kann diese Koalition nichtBiene Maja heißen, sondern bestenfalls Drohne Willi:unbedarft, bemitleidenswert, teilweise sympathisch, aberimmer dringend hilfebedürftig.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Ekin Deligöz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau von der Leyen, Sie haben Ihre Rede hier mitFragen begonnen, die Sie sich stellen, und Sie habeneine ganze Menge Fragen gestellt. Ich frage mich nur, obdas die richtige Herangehensweise für eine Ministerinist, weil es ja nicht Ihre Aufgabe ist, Fragen zu stellen,sondern Antworten zu geben,
und die Antworten, die in diesem Koalitionsvertrag ge-geben werden, sind alle falsch; das wissen Sie. Sie wis-sen auch, dass durch diesen Koalitionsvertrag die Mög-lichkeit, eine moderne und gerechtere Kinder- undFamilienpolitik zu gestalten, auf Jahrzehnte hinaus ver-baut und zerstört wird.
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Ekin Deligöz
Fangen wir doch einmal mit den Beispielen an. Sie re-den von Kindergelderhöhung. Es geht dem Wesen nachnicht um die Kindergelderhöhung, sondern um die Frei-betragserhöhung, Frau Gruß.
Durch diese Freibetrags- und Kindergelderhöhung wer-den enorme Mittel, nämlich 4,5 Milliarden Euro jährlich,gebunden. Überlegen Sie doch einmal, wie lange und in-tensiv wir hier gekämpft haben, um 2 Milliarden Eurofür die Kinderbetreuung herauszuschlagen. Jetzt wollensie von heute auf morgen in unbedachter Weise hoppla-hopp 4,6 Milliarden Euro ausgeben. Darüber hinaus ver-sprechen Sie in einem zweiten Schritt 2,5 MilliardenEuro mehr. Bei diesen Entscheidungen blenden Sie jegli-chen familienpolitischen, sozialen und fiskalischen Ver-stand aus. Damit wollen Sie letztendlich das umsetzen,was die FDP immer propagiert: Das Einzige, worum esin der Politik gehen darf, ist die Senkung von Steuern.
Dafür nehmen Sie sogar die „bildungspolitische Kata-strophe“ – das ist nicht mein Zitat; das ist ein Zitat vonFrau von der Leyen – eines Betreuungsgeldes in Kauf,
für das Sie 1,5 Milliarden Euro ausgeben wollen. Dieganze Debatte um Gutscheine usw. ist doch nur der Ver-such, von der eigentlichen Katastrophe abzulenken; dasführt zu nichts. Sie von der FDP müssen eingestehen,dass man Ihnen an dieser Stelle nur eines vorwerfenkann: Verhandlungsversagen erster Güte auf ganzer Li-nie.
Sie knüpfen an überholte Prinzipien bei der Familien-förderung an: Die einen erhalten 20 Euro mehr, die an-deren, die vom höheren Freibetrag profitieren, erhaltendas Doppelte, also 40 Euro mehr. Damit geben Sie denFamilien am meisten Geld, die es am allerwenigstenbrauchen. Hier geht es um Kernfragen der Gerechtigkeitund der Ungerechtigkeit.Frau von der Leyen, Sie haben hier und im Tagesspie-gel gesagt, dass die Bekämpfung der Kinderarmut einHauptthema Ihrer Politik sein soll. Beantworten Siedoch die Frage, warum ausgerechnet die Kinder, dievom ALG-II-Bezug leben, leer ausgehen sollen, warumsie nichts bekommen sollen!
Beantworten Sie die Frage, warum Sie für die Bekämp-fung der Kinderarmut – hier geht es nicht nur um die1,8 Millionen Kinder in ALG-II-Bezug, sondern auchum 2,5 Millionen Kinder, die in Haushalten mit niedri-gem Einkommen leben – keine konkreten Maßnahmenvorsehen! Hier reichen uns Fragen nicht; wir brauchenschon längst Antworten. Wir kennen die Antworten; esgeht darum, sie umzusetzen. In Ihrem Koalitionsvertragkann man nichts, aber rein gar nichts dazu lesen.
Damit aber nicht genug: Sie reden zwar von einemKinderzuschlag, aber davon steht nichts im Koalitions-vertrag. Warum ist kein Cent dafür vorgesehen? Warumwird das unter Finanzierungsvorbehalt gestellt? Oderhabe ich Ihr Interview falsch verstanden? Sie kündigenhier etwas an, meinen es aber gar nicht so, weil Sie esunter Finanzierungsvorbehalt stellen. Warum gibt es die-sen Finanzierungsvorbehalt nicht, wenn man zugunstender Gut- und Besserverdienenden in diesem Land dieFreibeträge erhöhen will? Das müssen Sie uns irgend-wann schon erklären.Ich komme zur Frage der Kinderregelsätze. Inzwi-schen gibt es hierzu mehrere Entscheidungen des Bun-desverfassungsgerichtes. Auch hier bleiben Sie untätig,Sie sagen dazu nichts. Anscheinend verstehen Sie unterGerechtigkeit, denen mehr zu geben, die mehr haben,und denen nichts zu geben, die wenig haben. Das ent-spricht nicht meinem Gerechtigkeitsbegriff, aber auchnicht dem des Bundesverfassungsgerichts. Sie müssenmit weiteren Entscheidungen des Gerichts rechnen, aufdie Sie irgendwann einmal reagieren müssen.
Ich komme zu den Kinderbetreuungsplätzen. Auchhier bin ich sehr enttäuscht. Viele in diesem Haus habenfür den Ausbau der Kinderbetreuung gekämpft. Inzwi-schen bluten die Kommunen aus. Ihre Politik, Steuern zusenken, wird dazu führen, dass gerade die Kommunen,die sich in diesem Bereich anstrengen und daher diehöchsten Belastungen zu tragen haben, nicht mehr übergenügend finanzielle Mittel verfügen werden. Wir kön-nen bei der Kinderbetreuung noch lange nicht von echterWahlfreiheit sprechen – wir sind meilenweit davon ent-fernt –, ganz zu schweigen von der Qualität. Wenn Sie sotun, als sei diese Frage erledigt, kann ich nur sagen: Ma-chen Sie mal Ihre Augen auf! Reden Sie mit den Mit-gliedern der Kreistage und Stadträte und mit den Bürger-meistern! Nicht ohne Grund klagen Bürgermeister inNordrhein-Westfalen, aber auch in anderen Bundeslän-dern dagegen, dass die Kommunen zwar die Aufgabeder Kinderbetreuung erfüllen sollen, aber dafür keinenCent Unterstützung vom Bund erhalten.
Leere Versprechen reichen hier nicht aus.Die Kritik am Betreuungsgeld ebbt nicht ab. Die Ein-führung eines Betreuungsgeldes ist eine Politik der ideo-logischen Scheuklappen.
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Ekin DeligözSie geht komplett am Bedarf der Menschen vorbei. Sie ig-norieren auch einfach, dass wir schon eine ganze Mengefür die Wahlfreiheit in Deutschland ausgeben. Ehegatten-splitting, Sozialversicherung und Elterngeld – das sindMaßnahmen zur Unterstützung der Familie. Immer nochzu wenig tun wir aber im Bereich der Bildung und der Be-treuung, der Qualifizierung und besseren Bezahlung unse-rer Erzieherinnen. Quoten sind womöglich die falscheAntwort. Eine bessere Bezahlung wäre aber eine guteAntwort. Auch davon sind wir meilenweit entfernt.
Jetzt komme ich zu den anderen Bereichen. Was Siezur Jugendpolitik präsentieren, sind alles warme Worte.Wenn man sich den Maßnahmenkatalog ansieht, den Sieumsetzen wollen, dann liest man nur eines: Sie wollenRepressionen. Mit Repressionen kann man aber keineJugendpolitik machen.
Das kann und darf nicht die einzige Antwort sein, die Siehier geben.Oder nehmen wir die Frauen- und Gleichstellungs-politik. Für mich ist die Gleichstellungspolitik übrigensauch immer eine Politik für Männer. Das ist selbstver-ständlich, falls Sie das noch nicht im Kopf haben.
Die Kernfragen der Gleichstellung rühren Sie aber nichtan. Was ist mit der Entgeltungleichheit? Sie könnendoch nicht von Gleichstellung reden und zu diesemThema ein komisches Lohntestverfahren anbieten, dasnicht wirken und ins Leere laufen wird.
Was ist mit dem Ehegattensplitting? Es benachteiligtFrauen. Was ist mit der Abschaffung der Lohnsteuerklasse V,die schon immer von der FDP gefordert wurde? Ganz plötz-lich bleibt sie unangetastet.
Ganz plötzlich ist das Thema abgehakt und verschwun-den.Was ist mit der eigenständigen Existenzsicherungvon Frauen? Keine einzige Zeile dazu. Das existiertnicht mehr, nicht einmal mehr in Ihren Gedanken. Sieglauben, wenn Frauen zu Hause bleiben, dann wäre dasdie eigenständige Existenzsicherung. Das ist es abernicht. Das ist nicht das, Herr Singhammer, was dieFrauen in diesem Land von Ihnen einfordern. Sie werdendie eigenständige Existenzsicherung auch weiter von Ih-nen einfordern.Ganz schlimm finde ich – das muss ich besonders be-tonen –, dass wir gerade in solchen historischen Tagen,wie wir sie zurzeit erleben, auch über die Programmegegen Rechtsextremismus reden müssen. Sie wollendie Ausgaben für diese Maßnahmen senken.
Ihnen ist es egal, wie erfolgreich diese Maßnahmen sind.Sie lassen gute Arbeit im Regen stehen. Sie lassen guteProjekte in diesem Bereich verkümmern und verkom-men. Das ist nicht zu verantworten, und das sollte Ihnenzu denken geben.
Ich komme zu meinem allerletzten Satz. Ich schauemir das Ganze an und komme zu dem Schluss: Sie habenweder den Mut noch die Kraft noch die Ideen für einemoderne Gesellschaft. Das bleibt Tatsache.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich weiß manchmal zu Beginn einerRede, wenn ich einige Kollegen gehört habe, nicht, wasich sagen soll. Frau Ziegler, von Ihnen weiß ich, dass Siein der letzten Legislaturperiode nicht dabei waren. Des-wegen verzeihe ich Ihnen einiges.
Sie müssen einmal Ihre Kolleginnen fragen, was sie allesmachen wollten und wozu sie alles zugestimmt haben.Wenn ich mich recht an das Ende der letzten Legislatur-periode erinnere, dann haben Ihre Kolleginnen gesagt,dass sie den Ausschlag dafür gegeben haben, dass wir soviel Erfolg hatten; dass die Frau Ministerin so gut war,lag nur an der SPD.
– Ja, aber Sie haben sich immer auf die Vergangenheit,auf die letzte Legislaturperiode bezogen.
Sie sprechen über ein Präventionsgesetz. Dieses Gesetzversuchte Rot-Grün schon auf den Weg zu bringen. Da-rauf warte ich schon, seit ich hier bin, also elf Jahre. Soviel zum Präventionsgesetz.
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Ingrid Fischbach
Zu Herrn Wunderlich wollte ich einiges zum Inhaltli-chen sagen. Aber ich kann nur feststellen: Sie werden zuWilli Wunderlich. Sie machen also Ihrem Namen alleEhre.
– Aber Willi Wunderlich ist WW und macht doch auchSpaß. Wir werden uns bestimmt noch des Öfteren auchbei der Namensgebung wiederfinden.Frau Deligöz, ich verstehe, dass es für Sie schwierigist. Ich glaube, auch Sie haben vergessen, was in IhrerRegierungszeit beschlossen wurde. Sie waren immerhinsieben Jahre dabei. Ich kann mich erinnern – das ist derVorteil, wenn man länger dabei ist –, dass Sie damals, alses um das Stichwort Kinderarmut ging, noch nicht wahr-haben wollten, wie viele Kinder in Armut leben.
Damals haben Sie sich gedrückt und gewunden wie einAal. Wir haben die Zahl offen genannt. Die Frau Minis-terin sagt: So viele Kinder sind es, und das darf nicht sobleiben.
Deshalb werden wir jetzt in der neuen Koalition diesemProblem begegnen, und wir werden es hinkriegen.
– Bleiben Sie ganz ruhig! Nicht nur ich, sondern auchdie Kollegen und die Menschen draußen kennen Ihre Re-gierungsprogramme und wissen, was dabei herausge-kommen ist.Lassen Sie uns zusammenarbeiten. Es geht um wirk-lich wichtige Probleme – deshalb war das Kasperlethea-ter, das Sie, Herr Wunderlich, hier aufgeführt haben,nicht sinnvoll –, für die wir Lösungen anbieten müssen.Ich lade Sie, die Opposition, ein, dabei mitzumachen.
Ich möchte in meiner Redezeit vor allem die Jugend-politik und die Situation der Jugend ansprechen. DieKanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung deutlich ge-macht, vor welchen alarmierenden Zuständen wir ste-hen. Wenn wir uns die Zahlen genau anschauen, dannwissen wir, dass bis 2020 die Zahl der unter 25-Jährigenum fast 15 Prozent zurückgehen wird. Hier stehen wirvor großen Problemen. Es ist daher wichtig, dass wir dieJugend zu einem zentralen Thema machen. Keine Frage,Jugend ist unsere Zukunft und unsere Ressource. Des-wegen müssen wir die Jugendpolitik aktiv in den Fokusnehmen. Ich freue mich, dass es gelungen ist, im Koali-tionsvertrag festzuhalten, dass wir eine eigenständige Ju-gendpolitik betreiben wollen. Das ist wirklich ein Fort-schritt, das ist ein Signal. Wir werden diesen Weg gehenund Ihnen sicherlich Erfolge mitteilen können.
Wir brauchen eine starke Jugendhilfe; auch hier müs-sen wir ansetzen. Das haben wir in der Vergangenheitnicht in ausreichendem Maß getan. Wir haben uns zu-dem für eine starke Jugendarbeit ausgesprochen. Hierwird deutlich, dass wir unterschiedliche Beteiligte brau-chen, um dem Problem begegnen zu können und ver-nünftige Lösungen auf den Weg zu bringen. Eine einsei-tige Sichtweise ist dabei nicht hilfreich. Wir müssenvielmehr schauen, dass wir die Beteiligten stärken, umetwas für die Jugend auf den Weg zu bringen.
Unser Ziel ist und bleibt, junge Menschen nicht nuran den Entscheidungen, die sie betreffen, sondern vor al-len Dingen auch an den Möglichkeiten teilhaben zu las-sen, die unsere Gesellschaft bietet. Das Wichtigste istauf jeden Fall die Bildung; darüber haben wir schon ge-sprochen. Junge Menschen, die Schwierigkeiten beimLernen und in der Schule sowie dabei haben, einen Aus-bildungsplatz zu finden, können wir nicht alleine lassen.Wir müssen diesen jungen Menschen Hilfen anbieten. Esist richtig und wichtig, dass sie frühzeitig Unterstützungbekommen. Deshalb tun wir gut daran, den von der Mi-nisterin angesprochenen ersten Übergang von der Schulein die Ausbildung viel stärker in den Fokus zu nehmen.Es gibt viele junge Menschen, die Schwierigkeiten ha-ben, angenommen, begleitet und gefördert zu werden.Für sie brauchen wir Angebote. Diese können wir nurgemeinsam schaffen. Wir dürfen uns nicht nur auf dieöffentlichen Angebote verlassen – diese sind sicherlichrichtig und wichtig und verdienen unsere Unterstützung –,sondern müssen bei diesen Angeboten auch die Familienstärker in den Fokus nehmen. Deshalb macht es Sinn, dieFamilien zu stärken, wie wir es vorhaben.
Das heißt aber auch, die Wünsche, die Probleme und dieSorgen der Familien ernst zu nehmen. Deshalb ist esauch richtig und wichtig, nicht nur das Kindergeld, son-dern auch den Kinderfreibetrag zu erhöhen.
Frau Marks, können Sie mir erklären, warum einFacharbeiter, der verheiratet ist und keine Kinder hat,genauso viele Steuern zahlt wie ein Facharbeiter, dereine Familie hat? Ist das nicht ungerecht? Wir redennicht über die oberen Zehntausend, die Wer-weiß-wie-viel-Tausende Euro verdienen. Es geht vielmehr umganz normale Familien.
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Ingrid FischbachHier macht es Sinn, für einen Ausgleich zu sorgen. Glau-ben Sie es mir! – Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen,dann verlängert sich meine Redezeit, die ohnehin knappist, Frau Deligöz. Tun Sie es bitte! Dann kann ich nochetwas länger reden.Wir haben in der letzten Legislaturperiode einige Pro-gramme und Projekte auf den Weg gebracht, die jungenMenschen helfen. Wir wollen dies verstärken. Wir wer-den ein effektives Fördersystem unter dem Stichwort„Jugend stärken – Chancen nutzen“ schaffen, das Chan-cengerechtigkeit und vor allen Dingen die Integrationsozial benachteiligter junger Menschen zum Ziel hat.Daran werden wir festhalten. Wir werden alles in unsererMacht Stehende tun, um für die jungen Menschen einewirkliche Verbesserung zu erreichen.Wir werden uns intensiv mit den Schnittstellen be-schäftigen – Frau Ministerin und auch ich haben es ge-sagt –, nicht nur der von der Schule in den Beruf, son-dern auch der von der Ausbildung in den Beruf. Wirwollen mit der Bildungsministerin zusammen für Förder-instrumente sorgen. Die Jugendpolitik – auch dasmöchte ich Ihnen sagen –, die Sie jetzt vielleicht nur un-ter dem Kapitel „Jugendliche“ nachgeschlagen haben, istnicht das Einzige, was wir für junge Menschen tun undwas im Koalitionsvertrag steht. Schauen Sie, HerrWunderlich, einmal im Kapitel „Bildung“ nach. Da wer-den Sie die eine oder andere Antwort finden, die wir zurLösung der Probleme anbieten.Die Zeiten sind nicht einfach.
Die Zeiten sind wirklich nicht einfach, sie sind schwer.Wir dürfen unsere jungen Leute nicht im Regen stehenlassen.
Wenn Sie es ernst meinen, dann arbeiten Sie mit. Wirbieten Ihnen an, mit Ihnen gemeinsam etwas für unserejungen Leute zu verändern und ihnen eine Perspektivezu geben.
Wir werden die Vorarbeit liefern, und wir würden unsfreuen, wenn Sie sich dem einen oder anderen anschlie-ßen könnten.
Das Wort hat die Kollegin Caren Marks für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch fürden Bereich Familie, Senioren, Frauen und Jugend gibtder schwarz-gelbe Koalitionsvertrag keinen Anlass zurFreude. Ganz im Gegenteil: Ihre ideenlose, rückwärtsge-wandte Familienpolitik ist eine Klientelpolitik für Bes-serverdienende, und sie vergrößert die Schere zwischenArm und Reich.
Mindestens genauso ideenlos ist Ihre Gleichstel-lungspolitik. Die Ungerechtigkeit der Lohnungleichheitzwischen Männern und Frauen wollen Sie nach wie vorlediglich mit freiwilligen Maßnahmen der Wirtschaft be-seitigen. Seit über acht Jahren besteht eine freiwilligeVereinbarung zwischen der Bundesregierung und denSpitzenverbänden der privaten Wirtschaft – ohne Erfolg.Schwarz-Gelb hat nichts, aber auch wirklich nichts da-zugelernt. Frauen verdienen nach wie vor 23 Prozentweniger als Männer,
arbeiten verstärkt in Teilzeit und im Niedriglohnsektor,sind kaum in Führungspositionen, Vorständen und Auf-sichtsräten zu finden. Und was bietet die neue Regierungzur Herstellung von Chancengleichheit an? Außer un-verbindlichen Ankündigungen nichts. Bei der Wirtschaftwill Schwarz-Gelb lediglich darum werben, Entgelt-ungleichheit zu beseitigen. Viel Spaß und Erfolg beimWerben! Es bleibt festzuhalten: keine gesetzlichen Maß-nahmen, keine sinnvollen Überlegungen zur Einführungvon Quoten, keine zielführenden Vorschläge zur Beseiti-gung der Entgeltungleichheit, keine Überlegungen zurBegrenzung von Minijobs. Schwarz-Gelb – das mussman feststellen – ist an einer wirklichen Teilhabe vonFrauen an dieser Gesellschaft nicht wirklich interessiert.
Gleichstellungspolitik wird mit Frau von der Leyenals Ministerin nach wie vor nicht stattfinden. Allenfallswird es – das versteht sie – aufgeblasene PR-Aktionenund ein paar wohlwollende Worte beispielsweise amEqual Pay Day geben. Aber ich sage Ihnen, Frau Minis-terin, die Frauen haben die Nase voll von Appellen, siewollen Taten sehen.
Wir haben gute Konzepte zur Gleichstellung und auchkonkrete Vorschläge unterbreitet. Sie können sicher sein:Wir werden Ihre Untätigkeit nicht hinnehmen.Nehmen wir den Bereich der Entgeltungleichheit.Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleich-wertige Arbeit“ muss endlich verwirklicht werden.
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Caren MarksDa deutlich mehr Frauen als Männer im Niedriglohnsek-tor arbeiten, ist gerade für sie die Einführung eines Min-destlohns besonders wichtig.
Die Bekämpfung von Lohndumping lehnen Union undFDP aber rigoros ab.Wir, die SPD, wollen eine Stelle einrichten, die Lohn-messungen bei Unternehmen veranlassen kann. Gleich-zeitig sollen Betriebsräte das Recht erhalten, vom Ar-beitgeber Informationen darüber zu verlangen, ob dieLöhne in einem Unternehmen gerecht sind; die Betriebs-räte wären dann keine Bittsteller mehr, die sich mit un-verbindlichen Auskünften zufriedengeben müssten. DieSPD will mehr Frauen in Führungsfunktionen, und diesnicht als Lippenbekenntnis, sondern mit klaren gesetzli-chen Regelungen.
Die Benachteiligung von Frauen im Beruf beschnei-det ihre Lebenschancen; sie schadet aber auch unsererWirtschaft und unserer Demokratie. Damit werden wiruns in der SPD nicht abfinden. Wir brauchen einen ver-bindlichen rechtlichen Rahmen, der es Frauen und Be-triebsräten ermöglicht, gegen Lohndiskriminierung vor-zugehen.
Durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetzsind die Abhilfemöglichkeiten bei Entgeltdiskriminie-rungen durchaus verbessert worden. Benachteiligte Per-sonen können sich besser zur Wehr setzen. Wir wollendas Antidiskriminierungsgesetz noch schlagkräftigermachen und weiterentwickeln; denn das ist notwendig.
Wir wissen alle, meine Damen und Herren von Unionund FDP, dass das AGG noch nie Ihr Herzensanliegenwar. Eigentlich haben Sie es immer abgelehnt. Daherwundert es auch nicht, dass Sie das AGG von, wie es soschön heißt, Bürokratie befreien wollen. Dahinter ver-birgt sich wahrscheinlich der Abbau von Rechten Be-nachteiligter.
Bezeichnend ist aber auch, dass Sie zur Antidiskriminie-rungsstelle des Bundes überhaupt kein Wort verlieren.Ihre Arbeit muss deutlich verbessert werden.
Ob die neue Leiterin die Betroffenen besser unterstütztals ihre Vorgängerin, bleibt abzuwarten. Schlechter kannes jedenfalls nicht werden.Sehr geehrte Damen und Herren von Union und FDP,das in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbarte Betreuungs-geld ist reaktionär und wird Chancen von Kindern ver-hindern. Die Zahlung einer solchen Zu-Hause-bleib-Prämie ist bildungs-, integrations-, arbeitsmarkt- undgleichstellungspolitisch katastrophal.
Die Erfahrungen in Thüringen zeigen doch, dass einesolche Geldleistung den Fehlanreiz bietet, Kinder ebennicht in eine Kindertagesstätte zu schicken. Dadurchwerden insbesondere für benachteiligte Kinder Bil-dungschancen ganz bewusst vertan, und dadurch wirdBildungsarmut verfestigt.Frau Ministerin, es ist wirklich ein Hohn, wenn Sievon Chancengesellschaft und Armutsbekämpfung spre-chen. Es reicht auch nicht aus, zu verkünden, das Kon-zept des Betreuungsgeldes sei in sich noch nicht stim-mig. An diesem Betreuungsgeld – von einem Konzeptkann man wohl überhaupt nicht sprechen – wird nie et-was stimmig sein.
Es ist unsinnig und eine Verschwendung von Geld, dasan anderer Stelle für Qualität und Ausbau von Bildungs-und Betreuungseinrichtungen dringend gebraucht wird.Vor Monaten äußerten Sie als Familienministerin undauch die FDP klar und deutlich Ihre Ablehnung zum Be-treuungsgeld. Wir fragen Sie nun zu Recht: Wie ernst istIhnen Ihr Nein zum Betreuungsgeld eigentlich?Es bleibt festzuhalten: Mit Schwarz-Gelb ist keinStaat für eine moderne und gerechte Familien- undGleichstellungspolitik zu machen. Es zeigt sich viel-mehr: Sie sind alles andere als die selbsternannte Koali-tion der Mitte. Sie sind die Koalition des Rückschritts,
der Ideenlosigkeit und der gesellschaftlichen Spaltung,und das nicht nur in diesem Fachbereich.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Frau Marks, dass Sie bis vor Kur-zem mitregiert haben, kann man schier nicht fassen,wenn man Sie heute hört.
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Sibylle LaurischkGanz offensichtlich leiden Sie unter vielen verpasstenChancen.
Der Koalitionsvertrag setzt auch in der Familien- undGesellschaftspolitik neue Zeichen. Unmittelbar nach denfamilienpolitischen Zielsetzungen ist das Thema „Inte-gration und Zuwanderung“ aufgeführt, das man traditio-nell im innenpolitischen Bereich vermutet. Hier wirddeutlich, dass wir die Bandbreite des Themas Integra-tion nicht auf das Aufenthalts- oder Polizeirecht limitie-ren, sondern es auch als eine Fragestellung in der Mittedieser Gesellschaft verstehen.
Dazu ist natürlich der Erwerb der deutschen Spracheweiterhin von zentraler Bedeutung. Wir haben es in derletzten Legislatur gefordert, und wir fordern es auchjetzt: Wir wollen, dass durch Sprachstandstests schonfrühzeitig erkannt wird, ob Kinder die entsprechendensprachlichen Fähigkeiten haben, und, wenn nicht, ent-sprechende Sprachförderung anbieten, sodass sie gut insSchulleben starten können. Hier sind allerdings auch dieEltern gefordert. Sie müssen das unterstützen. In man-chen Fällen ist sicher auch Unterstützung und Aufklä-rung der Eltern nötig, und unter Umständen brauchenauch diese ihrerseits Sprachförderung.Noch ein Thema war mir in den Koalitionsverhand-lungen besonders wichtig: die Würdigung der Lebens-leistungen von Migrantinnen und Migranten und dabeiinsbesondere die Anerkennung der im Heimatland er-worbenen Bildungsabschlüsse. Es ist ein Erfolg, dass wireinen gesetzlichen Anspruch auf ein Anerkennungsver-fahren schaffen werden.
Uns ist aber auch wichtig, dass familiäre Gewalt be-kämpft wird. Sie ist in keinster Weise zu tolerieren.Hierzu bedarf es ausreichender sogenannter flankieren-der Maßnahmen. Darunter verstehen wir Beratungsange-bote, aber ganz konkret auch die Frauen- und Kinder-schutzhäuser. Das Hilfesystem im Fall von Gewalt gegenFrauen wird im Rahmen der Bundeszuständigkeit weitergestützt werden. Hierzu gehören auch die Einrichtung ei-ner bundesweiten Notrufnummer sowie die Vorlage einesBerichts zur Lage der Frauen- und Kinderschutzhäuserund der darüber hinausgehenden Hilfeinfrastruktur. Wirhaben, Herr Wunderlich, den CEDAW-Bericht sehr wohlgelesen und auch entsprechend umgesetzt.
Weiter haben wir vor, dass das Problem Zwangshei-rat nicht so im Raum stehen bleibt. Es soll ein eigenerStraftatbestand geschaffen werden. Entsprechende recht-liche Regelungen – ich nenne das Stichwort Rückkehr-recht – sollen unter dem Gesichtspunkt des Opferschut-zes neu gestaltet werden.Noch eine andere Bevölkerungsgruppe, die gern über-sehen wird, ist Thema unserer familienpolitischen Ziel-setzung. Ich meine die mittlerweile knapp 1,6 MillionenAlleinerziehenden in Deutschland, die rund 2,6 Millio-nen Kinder erziehen. Gerade sie brauchen den Ausbauder Betreuungsangebote. Dazu haben wir heute schon ei-niges gehört. Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesre-gierung hier noch einiges auf den Weg bringt. Es ist imÜbrigen vereinbart, dass das Unterhaltsvorschussgesetzdahin gehend geändert wird, dass die Gewährung vonUnterhaltsvorschuss entbürokratisiert und dieser künftigbis zur Vollendung des 14. Lebensjahres eines Kindesgewährt wird.
Wir brauchen in dieser Gesellschaft aber auch dasfreiwillige Engagement und wollen es deshalb fördern.So ist uns die Stärkung des bürgerschaftlichen Engage-ments ein wichtiges Anliegen, das durch eine entspre-chende Rahmengesetzgebung gestärkt werden soll.Darüber hinaus haben wir vereinbart, die Wehrpflichtauf sechs Monate zu reduzieren und den Zivildienst ent-sprechend anzupassen.
Das hat auch etwas mit Wehrgerechtigkeit zu tun. ImÜbrigen wird die Verkürzung des Zivildienstes, den wirals eine Art Zwangsdienst – er ist ja bislang kein Frei-willigendienst – kritisieren,
zu einer Umstellung führen. Ich bin sehr zuversichtlich,dass es jetzt endlich gelingt, die Freiwilligendienste stär-ker in den Fokus zu stellen,
zum Beispiel, indem der Ausbau von Maßnahmen wieFreiwilliges Soziales Jahr und von anderen Freiwilligen-diensten, nicht zuletzt auch unter Einbeziehung von jun-gen Menschen mit Migrationshintergrund, vorangetrie-ben wird. Eine freiwillige Verlängerung des Zivildiensteslehnen wir allerdings ab.
Meine Damen und Herren, wir wollen solche Zielewie Integration und Stärkung von Familien in Problem-lagen, aber auch mehr freiwilliges bürgerliches Engage-ment erreichen. Wir sollten gemeinsam darauf hinarbei-ten.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege JohannesSinghammer das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 4. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 11. November 2009 265
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben es ge-schafft, in den vergangenen vier Jahren der Gerechtigkeitfür Familien einen ähnlichen Stellenwert in der öffentli-chen Aufmerksamkeit zu verschaffen wie den Arbeitslo-senzahlen oder den Haushaltszahlen. Glückwunsch! Ichwünsche Ihnen für die nächsten vier Jahre weiterhin vielErfolg. In meinen Glückwunsch beziehe ich ausdrücklichIhren Staatssekretär ein. Ich hoffe, dass es so erfolgreichfür die Familien weitergeht.
Es ist nicht völlig ungewöhnlich, dass die Oppositionden Koalitionsvertrag, den wir gerade unterschrieben ha-ben, kritisiert.
Ich möchte Sie einfach bitten, zu prüfen, ob Ihre Vor-würfe, dass darin eine Ansammlung von Versprechun-gen ohne Taten aufgeführt sei, standhalten.
Wir haben im Koalitionsvertrag, der am 26. Oktober2009 besiegelt wurde, formuliert:Der Kinderfreibetrag wird in einem ersten Schrittzum 01.01.2010 auf 7 008 Euro und das Kindergeldum je 20 Euro erhöht.Im Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das wir in dieserWoche in erster Lesung behandeln, steht:… werden die Freibeträge für jedes Kind von insge-samt 6 024 Euro auf 7 008 Euro ab dem Veranla-gungszeitraum 2010 angehoben. Zugleich wird – umFamilien in unteren und mittleren Einkommensbe-reichen zu fördern – das Kindergeld ab dem 1. Januar2010 für jedes zu berücksichtigende Kind um20 Euro erhöht.Versprochen und gehalten – und das in Rekordzeit.
Wer hier behauptet, der Koalitionsvertrag sei eine An-sammlung von Versprechungen ohne Taten, der solltedas zur Kenntnis nehmen.
Wenn man die Halbwertszeiten zugrunde legte, mit de-nen früher Kindergelderhöhungen verbunden waren– Kollegin Gruß hat es angesprochen –, nämlich 10 Euroin sieben Jahren, hätten wir für diese Erhöhung 14 Jahregebraucht. Wir haben das innerhalb von acht Wochengemacht.
Sie sollten wissen, dass auch alle anderen Perspekti-ven für die Familien umgesetzt werden, und zwar Zugum Zug.
Wir wollen, dass es den Familien durch mehr Kinder-und Familienfreundlichkeit besser geht. Dazu zähltauch ein anderes Verständnis von Kinderlachen oder ge-legentlichem Kinderlärm.
Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag formuliert, dassKinderlärm kein Anlass für gerichtliche Auseinanderset-zungen sein darf. Wir werden die Gesetzeslage entspre-chend ändern. Darauf können Sie sich verlassen.
Wir bekennen uns zur Erziehungsverantwortungder Eltern. Sie tragen diese Verantwortung vor allen an-deren. Die Eltern zu stärken, ist unser Ziel; denn starkeKinder brauchen selbstverständlich auch starke Eltern.
Wir lassen die Eltern nicht allein.
Das bezieht sich auch auf alle anderen, die in der Erzie-hungsverantwortung stehen. Wir sagen: Moderne Erzie-hung braucht Werte. Wir wollen die Eltern und diejeni-gen, die in Betreuungseinrichtungen tätig sind, auch inder Jugendarbeit, unterstützen.Wenn wir die Gewaltexzesse beklagen, die uns be-kümmern und über die die Medien berichten, dann ist esganz wichtig,
dass wir keinen unscharf gewordenen Toleranzbegriffverwenden, sondern klar sagen, worum es geht. DieWürde des Menschen ist unantastbar, und Gewalt darfnie ein Mittel der Auseinandersetzung sein. Auch dasgehört zu einer modernen Familienpolitik.
Das Wesen der Familie ist eine Gemeinschaft. EinePolitik, die einzelne Familienmitglieder isoliert betrach-tet, springt zu kurz. Wer sich – zu Recht – über Kinder-armut beklagt, der muss auch sehen, dass die Situationder Eltern damit zusammenhängt. Arme Kinder ohnearme Eltern trifft man selten. Deshalb ist eine ganzheitli-che Familienpolitik so wichtig. Dazu zählt auch unserHauptziel, die Wirtschaftskrise zu überwinden, die Gei-ßel der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und dadurch vorallem die Eltern zu stärken und aus der Armut herauszu-bringen.
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Johannes SinghammerDenjenigen, die in besonderen Lebenslagen Unter-stützung brauchen, wollen wir ganz konkret helfen.
Das betrifft auch Schwangere in Notlagen. Lesen Sie un-seren Koalitionsvertrag genau durch, dann finden SieFormulierungen wie: Frauen können bei einer Schwan-gerschaft aus unterschiedlichen Gründen in eine Notlagegeraten. – Wir wollen beispielsweise das Angebot dervertraulichen Geburt entsprechend prüfen.
Wir haben uns auch als Ziel gesetzt, dass die Entschei-dung für ein Kind nicht an finanziellen Notlagen schei-tern darf.
Das Ziel von Schwarz-Gelb ist: Wir wollen die Wahl-freiheit der Familien hinsichtlich des von ihnen ge-wünschten Lebensmodells verbessern. Familien sollenihr Lebensmodell nach ihren Wünschen wählen und ge-stalten können. Das führt mich direkt zum Betreuungs-geld. Mit dem Betreuungsgeld haben Sie mittlerweileein Feindbild gefunden. Eigentlich wollen Sie ein be-stimmtes Lebensmodell von Familien in Deutschlandzum Feindbild hochstilisieren. Dieses Lebensmodellkönnen Sie offensichtlich nicht ertragen.
Sie kritisieren das Betreuungsgeld und unterstellen indiesem Zusammenhang immer, Eltern könnten mit die-sem Geld nichts Sinnvolles anfangen.
Sie sagen, die 150 Euro Betreuungsgeld würden nicht imInteresse der Kinder eingesetzt werden. Damit stellenSie die Eltern unter Generalverdacht.
Wenn das von allen zu Recht gelobte Elterngeld in Höhevon mindestens 300 Euro ausläuft, kann im Monat da-rauf Betreuungsgeld in Höhe von 150 Euro beantragtwerden, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Ich fragenSie: Mit welcher Begründung können Sie behaupten,dass das Elterngeld zum Wohl der Kinder eingesetztwird, aber das Betreuungsgeld, das danach ausgezahltwerden kann, Teufelszeug ist?
Das zeigt, vorsichtig formuliert, eine gewisse Asymme-trie in Ihrer politischen Argumentation.
Wir werden die Eltern und die Familien fördern. Wirwollen keine Strategie entwickeln, wie Kinder vor ihrenEltern geschützt werden,
sondern wir wollen die Familien – Väter, Mütter undKinder gemeinsam – ganzheitlich fördern, damit es denFamilien besser geht.
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich bin fast gezwungen, noch einmal zum Be-treuungsgeld Stellung zu beziehen. Aber da meine Kol-leginnen von den Grünen und von der Linkspartei dazuStellung genommen haben, will ich es bei der Feststel-lung belassen, dass Sie es einfach nicht verstanden ha-ben. Ich will daher nicht noch einmal erklären, warumwir das Betreuungsgeld ablehnen.
Vielleicht sollten wir das Thema vertiefen, wenn wir imAusschuss den entsprechenden Gesetzentwurf behan-deln. Ich bin sehr gespannt, ob und wann der Gesetzent-wurf kommt. Vor allen Dingen bin ich sehr gespannt,wie sich die FDP dazu verhalten wird. Sie hat das Be-treuungsgeld einmal sehr viel kritischer gesehen, als esjetzt im Koalitionsvertrag zum Ausdruck kommt.
Als ich mir den Koalitionsvertrag angeschaut habe,habe ich mich über viele Dinge gar nicht gewundert;denn Punkte wie Kopfpauschale, Mehrbelastung derKommunen und Betreuungsgeld, die im Wahlkampf an-gesprochen wurden, finden sich nun im Koalitionsver-trag wieder. Sehr gewundert habe ich mich aber über dieRegelung zur Wehrpflicht. Die Dauer des Wehrdienstessoll auf sechs Monate verkürzt werden. Keiner kennt dieGründe dafür. Es wurde gerade von Wehrgerechtigkeitgesprochen. Jeder – sei es die FDP oder die CDU/CSU –versucht, für sich einen Grund zu finden, warum er miteiner Wehrdienstzeit von sechs Monaten zufrieden ist.Als Jugendausschuss sind wir für den Zivildienst zustän-dig. Eine Verkürzung auf sechs Monate ist für die Trägerein Schlag ins Gesicht. Was sollen sie mit Zivildienst-leistenden anfangen, die nur sechs Monate ihren Dienstin der Einrichtung leisten? Diese Frage müssen Sie be-
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Sönke Rixantworten. Ich glaube, dieser Weg ist konzeptlos undführt in die Sackgasse.
– Wenn Sie sich durchgesetzt hätten, dann hätten wireine Aussetzung der Wehrpflicht. Das hätte mich sehrgefreut.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Fricke? – Bitte schön.
Herr Kollege Rix, ich weiß, dass die Opposition kriti-
sieren muss. Sie muss dann aber auch sagen, was ihre ei-
gene Position ist.
Wenn Sie sagen, dass Sie wie wir auch lieber eine Aus-
setzung der Wehrpflicht hätten, könnten Sie mir dann er-
klären, wie es möglich war, dass es der FDP-Fraktion ge-
lungen ist, die CDU/CSU zu einer Verkürzung der
Wehrdienstzeit zu bewegen, während es der SPD-Frak-
tion in den vergangenen vier Jahren nicht gelungen ist?
Mich würde interessieren, warum Sie es in vier Jahren
nicht geschafft haben und wir es immerhin – ich gebe zu,
wir konnten uns nicht komplett durchsetzen – geschafft
haben, eine Verkürzung zu erreichen.
Ein verkürzter Zwangsdienst ist immer noch einZwangsdienst, auch wenn er nur sechs Monate dauert.Ich sage Ihnen: Ein Zivildienst von sechs Monaten ist fürdie Träger und die Einrichtungen nicht zu machen. Dasmuss man einfach hinnehmen. Haben Sie die Reaktionender Diakonie, des Roten Kreuzes und der Arbeiterwohl-fahrt nicht zur Kenntnis genommen? Haben Sie davonnichts gehört? Wir haben den Zivildienst bisher fastfraktionsübergreifend zu einem Lerndienst weiterentwi-ckeln wollen. Wie sollen wir denn in diesen sechs Mona-ten genügend Bildungseinheiten vorsehen, wenn die Be-troffenen noch Urlaub haben sollen und zwischendurchvielleicht noch krank sind?
Ein anderes Vorgehen hat mit der Union nicht ge-klappt. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich durchset-zen können. Das habe ich an dieser Stelle bereits gesagt.Das ist leider nicht passiert. Dies ist Murks. Die alte Re-gelung wäre vielleicht sogar besser gewesen als das, wasjetzt geplant ist. Viel besser aber wäre es gewesen, wennSie sich für unser Modell entschieden hätten. Daraushätte sich mehr Freiwilligkeit und weniger Pflicht entwi-ckelt.
Denn es gibt einen großen Bedarf bei den Freiwilli-gendiensten; Frau Laurischk hat es angesprochen. Esgibt weniger Plätze als Anfragen. Das Geld, das dort zurVerfügung steht – im Koalitionsvertrag steht übrigensnicht, was mit den bei einem verkürzten Zivildienst freiwerdenden Mitteln passieren soll –, muss eins zu eins indie Freiwilligendienste fließen. Es ist immer noch so,dass auf jeden Platz drei Anfragen kommen. Dies ist einInstrument, das dem Jugendministerium und uns im Ju-gendausschuss zur Verfügung steht, um Jugendlichennach der Schulzeit eine Perspektive zu bieten. Dazuhätte ich mir erheblich mehr Antworten gewünscht.Dazu steht im Koalitionsvertrag leider nicht viel.Stattdessen sollen der Kinderfreibetrag und das Kin-dergeld erhöht werden. Das alles ist schön und gut. Aberwas im Hinblick auf die Mittel im Jugendhaushalt pas-sieren soll, steht nicht im Koalitionsvertrag. Stattdessenfindet man eine Formulierung, die mich ein bisschenzum Nachdenken gebracht hat, und zwar steht dort:Wir werden das Kinder- und Jugendhilfesystem undseine Rechtsgrundlagen im SGB VII auf Zielgenau-igkeit und Effektivität hin überprüfen.Das klingt erst einmal richtig und gut. Das sollte beiall unseren Gesetzen so sein. Ich habe mich in diesemZusammenhang an einen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion aus dem Jahre 2004 erinnert, an das sogenannteKommunale Entlastungsgesetz, das Sie damals geplanthaben. Es hätte in der Kinder- und Jugendhilfe einenKahlschlag bedeutet.
Die Formulierung im Koalitionsvertrag kann also durch-aus so verstanden werden, dass eine Neuauflage des da-maligen Entwurfes geplant ist. 2004 konnten wir diesenGesetzentwurf noch verhindern. Ich hoffe, Ähnliches istnicht geplant. Ich hoffe, dass solche Formulierungennicht einfach nur deshalb im Koalitionsvertrag stehen,weil sie schön und gut sind. Ich hoffe, dass es nicht zuKürzungen kommt. Wir brauchen jeden Cent und jedenEuro in der Jugendhilfe.
Wenn wir schon bei Streichungen sind, dann sind wirauch beim Thema der Bekämpfung des Rechtsextremis-mus. Ich spreche es gerne noch einmal an; es war heuteschon Thema in der innenpolitischen Debatte. Sie habenes hinbekommen – ich glaube, dies hat auch die Uniondurchgesetzt –, dass es keine speziellen Programmemehr gegen Rechtsextremismus gibt, sondern nur nochgegen Linksextremismus und den gesamten anderen Ex-tremismus, ohne aber festzulegen, dass es dafür auchmehr Mittel gibt. Folge ist: Es gibt weniger Mittel für diejetzt sehr erfolgreichen und guten Projekte.
Da fehlen Antworten, wie das weitergehen soll.Sie haben immer noch nicht begriffen, dass die Pro-gramme gegen Rechtsextremismus nicht einfach mit
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Sönke RixProgrammen gegen Linksextremismus gleichzustellensind. Hier wird eine völlig unterschiedliche Art der Be-kämpfung durchgeführt. Das sind völlig unterschiedli-che Dinge. Das in einen Topf zu schmeißen, ist verkehrt,ideologisch und schadet den guten Projekten vor Ort.
Sie haben geschrieben: Vieles muss in Kindergärten,in der Jugendbetreuung und in der Schule zu diesemThema passieren. Aber die jetzigen Projekte, die in Ih-rem Hause angesiedelt sind, sind von Vereinen, Sozial-verbänden und Kirchen organisiert. Dazu schreiben Siekein Wort. Ich hoffe, das lässt sich noch richtigstellen.Wir brauchen dort jeden Cent. Die Bekämpfung desRechtsextremismus bleibt ein dauerhaftes Thema undkann nicht mit der Bekämpfung des Linksextremismuszusammengefasst werden.Danke.
Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Ministerin, Herr Staatssekretär, ichmöchte Ihnen erst einmal gratulieren. Ich bin froh, dassSie unsere Ministerin geblieben sind; denn ich habe Siein den letzten vier Jahren – das gilt auch für die Herr-schaften auf der Oppositionsbank –
als wirklich engagierte und durchsetzungsstarke Fami-lienministerin kennengelernt, die sich für alle Gruppeneingesetzt hat, ob jung, ob alt, ob alleinerziehend etc.
Deswegen empfinde ich es als ausgesprochen schade– so lange sitzen Sie ja noch nicht auf der Oppositions-bank –, dass Sie heute nicht in der Lage sind, anzuerken-nen, was wirklich geleistet worden ist. Ich mache nichtalles schlecht, was wir in vier Jahren gemacht haben. Icherwähne hier noch einmal ganz kurz das Elterngeld, denKinderzuschlag, den Ausbau der Kinderbetreuung, die„Zweite Chance“, die Mehrgenerationenhäuser.
Wir haben uns vorgenommen, an dieser Stelle weiter-zumachen. Ich erinnere Sie daran, dass es einige Punktegab, die sich mit unserem Koalitionspartner, damals mitIhnen, äußerst schwierig gestaltet haben.
Darauf werde ich gleich noch eingehen; Stichwort Kin-derschutz. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt endlichmit der FDP neue Akzente setzen können.
Ich komme gleich noch auf das Thema Jungen zu spre-chen, das der Kollegin Gruß und mir am Herzen liegt.Endlich haben wir dieses Thema auch im Koalitionsver-trag.Ministerin von der Leyen, Sie haben eben noch ein-mal den Spannungsbogen dargelegt. Es wäre einfachschön gewesen, wenn die Kollegen von der Oppositions-bank auch einmal zugehört hätten. Sie haben nämlichdas Thema Kinderarmut breit und mit allen Facettenangesprochen.
Sie haben über verpasste Chancen sowie darüber gespro-chen, dass wir etwas gegen Bildungsarmut machenmüssen. Sie haben gezielt die Alleinerziehenden ange-sprochen, die auf den Ausbau der Kinderbetreuung an-gewiesen sind, und gesagt, dass wir Netzwerke brau-chen. Sie haben von einer zweiten Chance gesprochen,von der besseren Vernetzung von Kompetenzagenturen.Ich frage mich einfach, wie es kommen kann, dass dieKollegen von der Opposition die ganze Zeit hier sitzenkönnen, ohne zuzuhören.
Nun zu Ihnen, Frau Ziegler: Sie sind ja neu, zumin-dest hier bei uns. Ich weiß nicht, wie tief bei Ihnen odergenerell bei der Opposition der Frust sitzt. Er muss ganzschön tief sitzen; denn manche Sachen, die Sie von sichgegeben haben, kann ich nicht ansatzweise nachvollzie-hen.
– Nein, einfach deshalb, weil Sie gar nicht hier waren.Also können Sie gar nicht in dieser Form mitdiskutieren.
Nehmen wir einmal die Betreuung der unter Dreijäh-rigen. Jeder von Ihnen weiß – die Kollegin Hummeweiß es auch; ich komme ebenfalls aus Nordrhein-West-falen –, dass in Nordrhein-Westfalen Gott sei Dank seit2005 eine schwarz-gelbe Regierung im Amt ist. WelcheFolgen hatte das? Obwohl Schwarz-Gelb einen giganti-schen Schuldenberg von Ihnen übernehmen musste, istes uns gelungen, den Ausbau von Betreuungsplätzen fürKinder unter drei Jahren voranzutreiben und von11 000 auf 74 000 zu erhöhen.
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Michaela Noll
Wenn Sie heute einmal die Presse gelesen hätten, hättenSie auch entdeckt, dass Minister Laschet sagte, bis zumnächsten Jahr werde das Ganze auf 100 000 aufgerundetwerden. Das haben Sie in Ihrer ganzen Regierungszeitnicht geschafft.Nächstes Stichwort! Nehmen wir den Kinderschutz:Aber ich finde es schön, dass wir heute wenigstens amEnde dieser etwas heftigen Debatte gemeinsam lachen.
– Nein, wir verstehen uns sehr gut. Deswegen sprecheich noch kurz einen weiteren Punkt an: Seit 2002 gehöreich dem Deutschen Bundestag an, und seit 2002 habe ichDie von mir wirklich sehr geschätzte Kollegin MarleneRupprecht hat mit mir über ein Jahr lang über den Kin-derschutz verhandelt. Wir haben Expertengespräche ge-führt und Anhörungen durchgeführt; wir haben Tage undNächte miteinander verhandelt. Wir waren beide auf ei-nem wirklich guten Weg. Ich erinnere jetzt noch einmalan das letzte Gespräch: Es ist nicht an uns gescheitert.Das Problem war, dass Sie die Bundestagswahl im Na-cken hatten, die Ihnen mächtig Angst machte. Deshalbsind Sie vorzeitig ausgestiegen. Aber ich bin zuversicht-lich, dass wir in der jetzigen Kombination unter dem As-pekt der Prävention und mit unserer Ministerin an derSpitze ein Kinderschutzgesetz auf den Weg bringen wer-den, an dem auch Sie nichts mehr zu meckern haben.
Herr Wunderlich, ich schätze Sie sehr. Wir haben vierJahre lang gemeinsam in der Kinderkommission geses-sen. Aber heute haben Sie Ihrem Namen alle Ehre ge-macht. Sie haben auch nicht zugehört, als Frau von derLeyen von Kinderarmut sprach. Was das Unterhaltvor-schussgesetz angeht,
bin ich auf Ihrer Seite; da sehe auch ich schon seit länge-rer Zeit Handlungsbedarf. Wir haben es auf den Weg ge-bracht. Aber es wäre auch schön, es einfach einmal an-zuerkennen, wenn in einem Koalitionsvertrag Dingestehen, die praxistauglich sind. –
– Das hat aber nichts mit Umfallen zu tun. Das hat etwasdamit zu tun, dass sich die Dinge auch ändern können.
– Dann ist es okay, dann nehmen wir das zurück.
immer gesagt, wir müssen den Fokus mehr auf die Jun-gen legen. Jungen sind unsere Sorgenkinder, die Jungensind die Bildungsverlierer.
Dank der guten Anfragen unter Federführung der Kolle-gin Miriam Gruß in der letzten Legislaturperiode habenwir dieses Thema endlich in den Koalitionsvertrag auf-genommen. Sprechen Sie mit Lehrern, mit Erziehernund Schulleitern: Wir haben Defizite bei den Jungen.Das hat nichts mit Gleichstellung zu tun.
Sie alle waren bei der Anhörung dabei, als FrauAllmendinger bei uns war. Ich erinnere mich noch ganzgenau an die etwas spitz formulierte Frage von FrauAllmendinger: Was nützt es den kompetentesten Frauen,wenn sie keinen kompetenten Gegenüber mehr haben?Dann nützt auch die beste Familienpolitik nichts, dannist sie am Ende.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen
liegen nicht vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 12. November
2009, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.